Die kleine Patisserie in Paris - Julie Caplin - E-Book + Hörbuch

Die kleine Patisserie in Paris Hörbuch

Julie Caplin

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Beschreibung

Eine charmante Liebesgeschichte für Romantiker, Paris-Liebhaber und alle, denen Schokolade zum Frühstück nicht genug ist: sympathische Figuren, warmherziger Humor und viel Lokalkolorit. Schon immer wurde Nina von ihren vier großen Brüdern bevormundet. Deshalb zögert die junge Kellnerin nicht, als sie die Chance erhält, für einen Job nach Paris zu ziehen. In einer Patisserie in der Nähe von Sacré-Cœur soll sie dem Besitzer zur Hand gehen. Sebastians köstliche Macarons sind legendär. Sein Charme leider auch, wobei Nina von diesem nicht allzu viel mitbekommt. Die beiden kennen sich, Sebastian ist der beste Freund ihres Bruders Nick. Und er macht ihr das Leben ganz schön schwer. Zu dumm nur, dass Nina in seiner Gegenwart immer noch weiche Knie bekommt …

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Zeit:11 Std. 22 min

Sprecher:Hannah Baus

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Samina_

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

nicht so gut wie die vorherigen Teile aber trotzdem süß und ganz gut geschrieben.
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Julie Caplin

Die kleine Patisserie in Paris

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Christiane Steen

 

Über dieses Buch

Eine charmante Liebesgeschichte für Romantiker, Paris-Liebhaber und alle, denen Schokolade zum Frühstück nicht genug ist: sympathische Figuren, warmherziger Humor und viel Lokalkolorit.

Schon immer wurde Nina von ihren vier großen Brüdern bevormundet. Deshalb zögert die junge Kellnerin nicht, als sie die Chance erhält, für einen Job nach Paris zu ziehen. In einer Patisserie in der Nähe von Sacré-Cœur soll sie dem Besitzer zur Hand gehen. Sebastians köstliche Macarons sind legendär. Sein Charme leider auch, wobei Nina von diesem nicht allzu viel mitbekommt. Die beiden kennen sich, Sebastian ist der beste Freund ihres Bruders Nick. Und er macht ihr das Leben ganz schön schwer. Zu dumm nur, dass Nina in seiner Gegenwart immer noch weiche Knie bekommt …

Vita

Julie Caplin lebt im Südosten Englands, liebt Reisen und gutes Essen. Als PR-Agentin hat sie in diversen europäischen Großstädten gelebt und gearbeitet. Mittlerweile widmet sie sich ganz dem Schreiben. Nach «Das kleine Café in Kopenhagen» und «Die kleine Bäckerei in Brooklyn» entführt uns Julie Caplin mit diesem Band der Romantic-Escapes-Reihe nach Paris. Die Romane sind aber auch unabhängig voneinander im wahrsten Sinne des Wortes ein köstliches Lesevergnügen.

Für Alison, Büro-Bestie, inoffizielle Cheerleaderin und ein rundum wundervoller Mensch

Kapitel 1

Nina stampfte mit ihren müden Füßen auf den Kiesboden, um sich warm zu halten. Zum fünfundneunzigsten Mal in zehn Minuten schaute sie auf ihr Handy, wobei sie es beinahe fallen ließ. Wo zum Henker blieb Nick? Er war bereits eine Viertelstunde zu spät, und ihre Finger froren ihr langsam ab. Mal ganz abgesehen davon, war ihre Stimmung sowieso schon trübselig. Der Hintereingang der Küche, der auf den Mitarbeiterparkplatz hinausführte, bot nur wenig Schutz vor dem beißend kalten Wind, der um das Sandsteingebäude pfiff – und überhaupt keinen vor den finsteren Gedanken in ihrem Kopf.

«Hey, Nina – bist du sicher, dass du nicht mitfahren willst?», fragte Marcela, eine der anderen Kellnerinnen. Sie hatte das Autofenster heruntergekurbelt, nachdem sie mit ziemlicher Geschwindigkeit rückwärts aus einem der Parkplätze gefahren war.

Nina schüttelte den Kopf. «Alles gut, danke. Mein Bruder ist schon auf dem Weg.» Zumindest hoffte sie das. Sie wünschte, sie könnte jetzt mit Marcela und den anderen beiden Angestellten in dem kleinen Auto mit den beschlagenen Fensterscheiben sitzen, und musste beinahe lachen über die Ironie der Situation. Mum hatte darauf bestanden, dass Nick sie abholte, damit Nina sicher nach Hause kam, und jetzt stand sie in der Dunkelheit auf einem Parkplatz und würde gleich vollkommen allein sein.

«Okay. Dann also bis in acht Wochen.»

«Ha!», ließ sich eine tiefe Stimme mit osteuropäischem Einschlag vom Rücksitz vernehmen – Tomas, Sommelier und Dauerpessimist. «Glaubt ihr wirklich, die Bauarbeiten sind bis dahin fertig?»

Ein gutgelaunter Chor buhte ihn aus.

«Bis bald, Nina!» Alle winkten und riefen zum Abschied durcheinander, Marcela kurbelte das Fenster wieder hoch, und dann raste der alte Polo von dannen, als könnte Marcela es kaum abwarten, ihre Schicht zu beenden und die Füße hochzulegen. Genau danach sehnte Nina sich auch, falls ihr Bruder jemals kommen sollte.

Endlich sah sie, wie sich Scheinwerfer näherten. Das musste Nick sein. Alle anderen waren schon weg. Das Auto kam so abrupt vor Nina zum Stehen, dass die Kiesel spritzten.

Sie riss die Beifahrertür auf.

«Hey, Schwesterchen. Wartest du schon lange? Sorry, Notfall bei den Schafen.»

«Ja», fauchte Nina, dankbar für die Wärme im Auto. «Draußen ist es arschkalt. Ich bin so froh, wenn mein Auto wieder heil ist.»

«Ich auch. Ich bin gerade erst wieder halbwegs warm geworden. Blöde Schafe. Auf dem Moorweg hatte sich eins der Muttertiere im Zaun verhakt. Ich musste anhalten und das dumme Schaf befreien.»

War es schlimm von ihr zu denken, dass das Schaf wenigstens einen schönen Wollmantel trug, während sie an einem kalten Februarabend nur in Rock und Strumpfhose draußen stehen musste?

«Also, wie war der letzte Abend?», fragte Nick und stellte das Radio ab, aus dem in voller Lautstärke die Stimme eines Fußballkommentators schallte. «Hat deine Freundin eine schöne Abschiedsfeier bekommen?»

«Ja. Es war ein bisschen traurig, weil wir uns wegen der Renovierung alle ein paar Wochen nicht sehen. Und Sukie geht nach New York.»

«New York. Mal was ganz anderes.»

«Sie ist eine phantastische Patissière. Die bringt es noch weit.»

«Offensichtlich. Zum Beispiel nach New York. Und was machen die anderen so lange?»

«Die Festangestellten wurden auf andere Restaurants verteilt und bekommen Fortbildungen.»

«Klingt irgendwie nicht fair. Warum du nicht?»

«Weil ich nur Aushilfe bin, schätze ich.»

«Na, bestimmt kannst du ein paar Extrastunden im Hofladen übernehmen und auch im Café. Und Dan kann dir Arbeit in der Brauerei geben. Gails Schwester zahlt vielleicht fürs Babysitten, und George kann noch mal in der Tankstelle nachfragen, die brauchen doch immer Leute. Auch wenn das spätabends wäre, also vielleicht eher nicht.»

Nina schloss die Augen. Es war ihr schon klar, dass alle in ihrer Familie loslaufen würden, um eine Beschäftigung für die ‹arme Nina› zu finden, während das Restaurant Bodenbroke Manor wegen Renovierung geschlossen war – ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sie wollte nicht undankbar sein: Sie meinten es alle gut mit ihr, aber sie war erwachsen und durchaus in der Lage, selbst Arbeit zu finden ohne die langen Arme ihres Familiennetzwerks, die sich ihretwegen in alle Richtungen ausstreckten. Sie liebte ihre Familie, wirklich, aber …

«Was seufzt du so vor dich hin?», fragte Nick und drehte den Kopf zu ihr.

«Nichts», sagte Nina und schloss die Augen wieder. «Mein Gott, bin ich müde. Meine Füße fühlen sich an, als wären zwölf Elefanten darübergelaufen.»

«Memme», neckte Nick.

«Ich bin seit heute Morgen um neun auf den Beinen», verteidigte sich Nina. «Und das Restaurant war proppenvoll. Ich habe noch nicht mal was zu Mittag gegessen.»

«Das ist nicht gut. Du solltest dich beschweren.»

«So einfach ist das nicht. Alle haben so viel zu tun. Heute war einfach keine Zeit für eine anständige Pause.»

«Erzähl mir nicht, dass du heute noch gar nichts gegessen hast!»

Nina zuckte mit den Schultern. Sie war ohne Frühstück aus dem Haus geeilt, sehr zum Verdruss ihrer Mutter. «Ein bisschen was.» In diesem Moment knurrte ihr Magen ziemlich laut, gerade als wollte er sich über ihre Antwort beschweren. Offensichtlich fand er, dass ein Brötchen und eine Scheibe Käse nicht ausreichten.

Nick runzelte die Stirn. «Trotzdem. Willst du, dass ich mal mit dem Manager rede, wenn das Restaurant wieder öffnet?»

«Nein, alles gut. Wir essen ja, wenn wir zu Hause sind.»

«Aber das geht –»

«Du arbeitest nicht da, du verstehst das nicht.» Ninas Stimme hob sich. Typisch Nick, immer glaubte er, alles besser zu wissen.

«Ich muss das nicht verstehen. Es gibt Arbeitnehmergesetze. Pausen sind vorgeschrieben. Das –»

Was auch immer er sagen wollte, ging im Klingelton seines Handys unter, der über seine Freisprechanlage dröhnte.

«Nick Hadley», meldete er sich, nachdem er das Telefonsymbol auf dem Armaturenbrett gedrückt hatte.

Nina ließ sich tiefer in den Beifahrersitz sinken und war froh über die Unterbrechung. Das gab ihr die Möglichkeit, die Augen wieder zu schließen und den Rest der Fahrt so zu tun, als wäre sie eingeschlafen.

«Hey, Schäfer, hast du deine Schäfchen im Trockenen?» Nina zuckte zusammen – jede Faser ihres Körpers spannte sich beim vertrauten Klang der foppenden Stimme an. Viele seiner Freunde nannten ihren Bruder ‹Schäfer› und nahmen ihn damit auf den Arm. Doch so reagierte ihr Körper nur auf die Stimme eines ganz bestimmten Freundes.

«Alles bestens. Und wie ist es bei dir, Messerwerfer? Unterstützt du immer noch dieses peinliche Rugbyteam?» Und offenbar war ‹Messerwerfer› ein dummer Spitzname für Köche. Besonders für arrogante, eingebildete Köche.

«Dafür gab es echt keine Worte, Kumpel. Gegen Frankreich konnten die nichts ausrichten. Dabei habe ich viel Geld für die Tickets bezahlt.»

«Was, du warst im Stade de France? Du Glücklicher!»

«Nicht so glücklich, wenn diese Idioten verlieren.»

«Kommst du zum Calcutta Cup zurück? So lange willst du ja wohl nicht in Frankreich bleiben. Sonst gewöhnst du dir noch komische Sachen an.»

«Hab ein kleines Problem.»

«Was?», fragte Nick.

«Ich bin etwas unpässlich. Darum rufe ich an.»

Nina presste die Lippen aufeinander, um nicht höhnisch zu grinsen. Sebastian wusste offenbar nicht, dass sie mithörte, und das wollte sie auch gar nicht. Wenn man dieser albernen Unterhaltung lauschte, würde man nicht glauben, dass die beiden erwachsene Männer waren, keine Teenager. Und sie wollte sich auf keinen Fall an Sebastian als Teenager erinnern oder wie sie sich seinetwegen komplett lächerlich gemacht hatte. Sich in den besten Freund des eigenen Bruders zu verlieben, war vermutlich das Dümmste, was man tun konnte. Selbst jetzt, nach zehn Jahren, brachte irgendwer in der Familie das Thema immer noch auf.

«Was ist passiert?»

«Hab mir das Bein gebrochen.»

«Scheiße, Mann, wann denn?»

«Vor ein paar Tagen. Einer von diesen bescheuerten Kofferwagen am Flughafen hat mich umgefahren. Und dabei hab ich mir was verdreht.»

«Aua. Kommst du klar?»

«Nein», knurrte Sebastian. «Alles läuft gerade total daneben. Einer der Läden, die ich in Paris gekauft habe, hatte noch eine Überraschung für mich parat. Der vorige Besitzer hat Patisseriekurse gegeben und vergessen, mir zu erzählen, dass noch ein siebenwöchiger Kurs ansteht, der schon ausgebucht und bezahlt ist.»

«Kannst du den nicht absagen?», fragte Nick, stellte den Blinker an und lenkte den Wagen weg von der Hauptstraße in Richtung Dorf.

«Leider habe ich mich dazu verpflichtet. Ich dachte, ich könnte das ruhig machen, weil die Handwerker erst noch die anderen beiden Läden fertig machen müssen, und das dauert ein paar Monate – wäre ja sogar sinnvoll gewesen. Wenn ich mir nicht das Bein gebrochen hätte.»

In der Dunkelheit biss Nina sich auf die Lippen. Sie wünschte normalerweise niemandem etwas Böses, aber irgendwie juckte es sie bei Sebastian. Es war nicht sein Erfolg, um den sie ihn beneidete. Er hatte wirklich hart genug dafür geschuftet, ein sehr guter Koch mit einer eigenen kleinen Restaurantkette zu werden. Zu hart, wenn es nach ihr ging. Nein, es war seine überhebliche Art, die ihre niederen Instinkte weckte. Außerdem hatte sie es in den letzten zehn Jahren bei jeder ihrer Begegnungen irgendwie geschafft, unvorteilhaft rüberzukommen. Und beim letzten Mal war es einfach nur noch beschämend gewesen.

«Kann den Kurs nicht jemand anderes für dich übernehmen?»

«Ich glaube nicht, dass ich so kurzfristig jemanden dafür finde. Der Kurs fängt schon nächste Woche an. Ich brauche einfach ein paar Ersatzbeine, bis ich den Gips wieder los bin.»

«Nina könnte dir helfen. Sie wurde gerade in dem Restaurant gekündigt, in dem sie gearbeitet hat.»

Nina schoss in ihrem Sitz hoch und funkelte ihren dämlichen Bruder an. Hatte er wieder Sprechdurchfall? Nick wandte ihr den Kopf zu, und sie sah im Dunkeln seine Zähne blitzen, als er sie breit angrinste.

«Bei allem Respekt, Nick, aber deine Schwester ist nun wirklich der letzte Mensch auf Erden, von dem ich mir helfen lassen würde.»

Nicks Grinsen erstarb. Das Schweigen im Auto breitete sich aus.

Dann murmelte Sebastian: «Oh Scheiße, sie sitzt neben dir, oder?»

Mit eisigem Lächeln richtete Nina sich auf. «Oh Scheiße, allerdings. Aber keine Sorge, Sebastian, denn bei allem Respekt würde ich lieber die Lämmer auf dem Hof mit meinen eigenen Zähnen kastrieren, als dir zu helfen.»

Und damit lehnte sie sich vor und trennte die Telefonverbindung.

Kapitel 2

In der Küche war der große Tisch für acht Personen gedeckt. Aus verschiedenen Töpfen und Pfannen auf dem großen Herd dampfte und blubberte es, während Ninas Mutter, die Hände in geblümten Ofenhandschuhen, umherhuschte.

«Nina, Nick, ihr kommt gerade richtig!»

«Hier riecht es aber gut», sagte Nick und warf seine Autoschlüssel auf die Kommode zu dem Durcheinander, das sich täglich anzusammeln schien, egal wie oft ihre Mutter aufräumte. Obwohl ihre vier erwachsenen Söhne längst ausgezogen waren, gingen sie immer noch mit der Küche um, als wäre es ihre eigene, was Ninas Mutter nur recht war. Keines ihrer Kinder hatte sich weit von zu Hause entfernt. Nick, der zwei Jahre älter war als Nina, wohnte im Cottage auf der anderen Seite des Hofes und half Dad mit der Farm und den Schafen. Er war unverheiratet und schien es auch nicht eilig damit zu haben, eine Frau zu finden, sondern ließ sich viel Zeit damit, nach potenziellen Kandidatinnen Ausschau zu halten.

«Setzt euch. Ihr müsst ja ganz verhungert sein. Wo sind Dan und Gail? Sie wollten schon vor fünf Minuten hier sein.»

«Mum, wir reden hier über Dan. Der kommt noch zu spät zu seiner eigenen Beerdigung», sagte Nick und zwickte ihr liebevoll in die Wange, während er seinen Schal abnahm.

«Sprich nicht über solche Sachen», bat ihn seine Mutter schaudernd. «Heute haben sie viel zu tun in der Brauerei und im Hofladen. Eine ganze Busladung aus Wales ist gekommen. Die arme Cath.» Ihre Mutter warf Ninas Schwägerin einen mitleidigen Blick zu. Cath hockte zusammengesunken am Tisch über einem leeren Kaffeebecher. Sie war mit Ninas zweitältestem Bruder Jonathon verheiratet, einem der Zwillinge. Jetzt hob sie den Blick unter ihren blonden Locken und winkte Nina kläglich zu.

«Es war schlimm. Sie haben alle Scones und den ganzen Walnusskuchen aufgegessen und den gesamten Kaffee ausgetrunken. Diese Senioren sind die reinsten Heuschrecken. Man könnte meinen, die hätten seit Tagen nichts gegessen. Unsere Vitrinen sind komplett leer.»

Ihre Mutter lächelte Nina besorgt zu.

Nina stöhnte und zog ihren Mantel aus. «Keine Sorge, sobald ich was gegessen habe, backe ich ein paar Bleche mit Scones und rühre einen schnellen Kuchen zusammen. Die Buttercrème kann ich morgen früh zubereiten.»

«Oh, Liebling, du kommst doch gerade von der Arbeit. Du musst ganz kaputt sein. Cath schafft das schon.»

Nina bemerkte, wie Cath kurz die Augen verdrehte. «Mum, das geht ganz schnell.»

«Na, wie du meinst, Schatz.»

Glücklicherweise kam in diesem Moment Dan herein, Jonathons immerhin um fünf Minuten älterer Zwillingsbruder. Er zog seine Frau Gail kichernd durch die Tür hinter sich her.

«Hey, euer Lieblingsfamilienmitglied ist hier», rief er dröhnend. Seine Frau knuffte ihn in die Rippen.

Als Jonathon und ihr Vater auch noch aus dem Flur hereinkamen, stieg der Lärmpegel in der Küche gleich ums Zehnfache an. Stühle wurden über den Fliesenboden gezogen, Bierflaschen klirrten aneinander, die Kronkorken klimperten auf den Tisch, während ihr Dad sich mit dem Korkenzieher an der Weinflasche zu schaffen machte und kurz darauf das befriedigende Ploppen des Korkens zu hören war. Alle setzten sich um den Tisch und plauderten lautstark miteinander. Nina rutschte auf den Platz neben ihrer Mutter am Kopf des Tisches.

«Willst du wirklich noch backen? Ich kann doch morgen früher aufstehen und ein paar Bleche Scones backen, um Cath zu helfen.»

«Mum, ehrlich, das geht schon.» Sie fing einen kurzen Blick zwischen ihren Schwägerinnen auf, und dann blinzelte Gail ihr zu. «Wenn ich erst mal gegessen habe, komme ich schon wieder in Schwung.» Es waren doch schließlich nur ein paar Kuchen, um Himmels willen – und sie würden ihr eine perfekte Ausrede liefern, um das übliche Chaos hier zu verlassen und etwas Ruhe in ihrer eigenen kleinen Wohnung über dem Stall zu finden, ohne dass alle sich wieder Gedanken darüber machten, sie könnte vereinsamen.

Ihre Mutter schürzte die Lippen und wandte ihre Aufmerksamkeit der Kasserolle auf dem Tisch zu.

«Jonathon, du tropfst mit dem Löffel alles voll.»

«Oh, Jonathon!», rief Dan sofort und nutzte die Gelegenheit, seinen Zwillingsbruder aufzuziehen. Der Rest der männlichen Familienmitglieder stimmte in die Neckerei ein.

«Dan, willst du nicht ein bisschen mehr essen?»

«Siehst du, du bist ihr Liebling.» Jonathon deutete mit dem Löffel auf seinen Bruder, nur um von seiner Frau angestoßen zu werden.

Wie immer ähnelte das Abendessen eher der Fütterung im Zoo, doch Nina stellte erleichtert fest, dass keiner mehr auf sie achtete. Es gelang ihr, bis zum letzten Bissen des großen Eintopfgerichts unter dem Radar zu bleiben, während Dan und Jonathon sich darüber stritten, wer das letzte Stück Lamm bekam.

«Was ist denn nun mit deinem Auto, Schatz?», fragte ihr Vater.

«Ist immer noch in der Werkstatt. Sie haben das Ersatzteil nicht bekommen, aber sie hoffen, morgen.»

«Da ist bestimmt mehr als nur ein Ersatzteil nötig, um dieses Ding zu reparieren.» Ihre Mutter schauderte. «Das Auto ist die reinste Todesfalle.»

Nina murmelte vor sich hin, doch niemand hörte sie, weil sie alle bereits ihre eigene Sicht auf ihr Auto zum Besten gaben. Dabei war an ihrem kleinen Fiat überhaupt nichts auszusetzen.

«Mum, du musst dir um Nina keine Sorgen machen, sie kann die Pedale gar nicht so schnell treten, dass es gefährlich werden könnte», spottete Nick.

«Eine Nähmaschine hat mehr PS», fiel Dan ein.

«Ich wünschte wirklich, du würdest dir ein stabileres Auto zulegen. Ich habe immer Angst, dass dich ein größeres Auto zermalmt.»

«Ma, keine Sorge, unter Nicks Laster würde es einfach durchrutschen.» Dan hatte den Kampf um das Stück Lamm gewonnen und ließ sein Besteck auf den Teller fallen.

Mum schauderte noch einmal. «Das ist ja noch schlimmer.»

«Ich liebe mein Auto, seid still», sagte Nina. Im Moment vermisste sie es noch mehr, weil sie so abhängig davon war, dass andere sie fuhren.

«Die Frau von Tom aus dem Pub verkauft ihr Auto. Ich kann’s mir mal ansehen, wenn du willst», meinte Dad. «Es ist ein Ford. Die machen gute, verlässliche Autos. Und sind nicht teuer im Verbrauch.»

Und außerdem todlangweilig, dachte Nina.

«Oh, das ist doch eine gute Idee, Schatz», meinte ihre Mutter.

Nina wollte etwas Vernünftiges erwidern, wie ‹Da ich schon die Reparatur bezahlen muss, ist jetzt vielleicht nicht der beste Moment, noch ein Auto zu kaufen›, aber eigentlich hatte sie genug davon, dass alle ständig zu wissen meinten, was das Beste für sie war. Wirklich, offenbar hielten sie alle immer noch für ein Baby! Deswegen sprang sie auf, blickte sich wütend am Tisch um und brüllte: «Ich mag mein Auto sehr gern, vielen Dank!», dann packte sie ihren Mantel und stürmte durch die Hintertür hinaus in Richtung ihrer Wohnung.

Als sie die Tür hinter sich zuknallte, lauschte sie befriedigt dem erschrockenen Schweigen am Tisch.

 

Als es leise an Ninas Tür klopfte, kühlten bereits vier Biskuitböden auf dem Kuchenrost ab. Sie wusste schon, dass es Nick war. Abgesehen davon, dass er am wenigsten an ihr herumnörgelte, war er auch der fürsorglichste von ihren Brüdern. Ein Teil von ihr wollte ihm nicht öffnen, sondern lieber so tun, als läge sie schon im Bett. Aber natürlich wusste sie, dass ihr untypischer Ausbruch vorhin für Wirbel gesorgt hatte, und wenn sie ihn nun stehen ließ, würde er bestimmt weiterklopfen.

«Ja?» Sie öffnete die Tür nur ein paar Zentimeter, um klarzumachen, dass sie keine Gesellschaft wollte.

«Wollte nur mal gucken, ob alles okay ist bei dir.» Sein fröhliches Grinsen wirkte ein kleines bisschen bemüht.

Schuldbewusst vergrößerte sie den Spalt. «Mir geht’s gut.»

«Nur gut?» Er betrat ihre offene Atelierwohnung und schloss die Tür hinter sich.

«Ja, nur gut.» Sie seufzte. «Willst du einen Tee oder so was?»

Er hob belustigt die Augenbrauen. «Oder so was? Hast du irgendwo Brandy oder Whisky versteckt, von dem ich nichts weiß?»

«Herrgott noch mal, und wenn?» Sie hatte keine Lust mehr darauf, aufgezogen zu werden, und wollte sich auch nicht mehr zusammenreißen. «Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich bin eine erwachsene Frau. Das war bloß eine Redewendung. Und es wird dich erleichtern zu hören, dass in meinen Schränken nichts als ein paar traurige Packungen Tee zu finden sind.»

«Ooh, heute ist aber jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden – oder liegt es an einem gewissen Telefonat von vorhin?» Nick verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand.

«Es hat absolut gar nichts mit deinem bescheuerten Sebastian Finlay zu tun. Ich hab einfach die Nase voll davon, dass mich die ganze Familie wie ein Baby behandelt. Ich bin fast dreißig, verf…» Bei seinem Stirnrunzeln unterbrach sie sich. Wenn sie jetzt fluchte, würde ihn das wirklich beunruhigen. «Mum und Dad behandeln mich wie ein Kleinkind, und Jonathon und Dan machen natürlich sofort mit. Cath und Gail finden es beide völlig lächerlich, wie ihr euch ständig über Albernheiten Sorgen macht. Und du bist der Schlimmste, wie du hier rüberkommst und einen auf großer Bruder machst. Das brauche ich echt nicht.» Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Auch wenn sie die größte Lust hatte, durch das Zimmer zu stürmen und sich aufs Sofa zu werfen, würde das sehr kindisch wirken. Dabei musste sie ihm zeigen, dass sie sie alle wahnsinnig machten. Vielleicht war sie in letzter Zeit wirklich ein wenig hormonell oder auch schlichtweg müde, aber dieses Thema brodelte schon seit Monaten in ihr.

«Du bist uns eben wichtig», erklärte Nick.

«Das weiß ich. Wirklich.»

«Aber?»

«Ich … ich fühle mich …» Das Problem war, dass sie gar nicht richtig wusste, wie sie sich fühlte. Frustriert. Wütend. Schwach. Auf der Stelle tretend. Sukie, ihre Freundin aus dem Restaurant, die Chef-Patissière, war auf dem Weg nach New York. Ihre Karriere nahm richtig Fahrt auf. Nina hatte nicht einmal eine Karriere und schon gar keine Möglichkeit, sie in Schwung zu bringen. Leider hatte sie weder die Erfahrung noch die Qualifikationen, um sich auf Sukies Job zu bewerben. Nick würde das nicht verstehen, ebenso wenig wie der Rest der Familie. Sie waren alle zufrieden und glücklich, auch wenn sie manchmal dachte, dass Nick gern mal die Farm verlassen und seinen Horizont erweitern würde. Bloß Toby, der vier Jahre älter war als Nina, war damals von hier weggezogen, um in Bristol Tiermedizin zu studieren, aber jetzt wohnte er nur fünfzig Meilen entfernt von ihnen – auch wenn das immerhin weit genug entfernt war, um nicht mehr täglich überwacht zu werden.

«Ich weiß, es ist schwer als die Jüngste und dann noch als einziges Mädchen, und Mum und Dad machen sich natürlich immer Sorgen um dich, weil du so einen schweren Start hattest –»

«Fang bloß nicht damit an!» Nina hob die Hand.

«Womit? Dass du bei der Geburt beinahe gestorben wärst? Aber es stimmt.»

Nina vergrub das Gesicht in den Händen. «Ja, aber das ist doch Vergangenheit. Man könnte glauben, ich hätte den Großteil meines Lebens an der Schwelle des Todes verbracht! Mal abgesehen von einer Blinddarmentzündung und den üblichen Erkältungen oder Windpocken, hatte ich doch nie gesundheitliche Probleme!»

Nick sagte nichts.

«Oder?», hakte sie nach.

«Nein», gab er mit widerwilligem Lächeln zu. «Also, kriege ich jetzt einen Tee oder so was?»

«Oh Mann.» Jetzt stürzte Nina doch durchs Zimmer hinüber zum Küchenbereich und setzte einen Kessel auf. Sie konnte ja sowieso noch nicht ins Bett gehen, denn die Biskuitböden mussten erst abkühlen, bevor sie sie mit der Kaffee-Walnuss-Crème bestreichen und zusammenrollen konnte. «Hey!» Sie haute ihm mit dem Teelöffel auf die Finger, als er einen ihrer frisch gebackenen Scones nahm und abbiss.

«Mmm, die sind gut.»

Nina ignorierte ihn und bereitete den Tee zu. Es hatte etwas Beruhigendes, und sie konnte ein bisschen Zeit schinden.

Sie trug die Teekanne zum kleinen, runden Esstisch links der Küche, einen Becher für Nick und für sich eine ihrer Lieblingstassen. Die offene Wohnküche war perfekt für eine Person, und sie hielt die Zahl der Stühle absichtlich klein. Dies war ihr Zufluchtsort, und das sollte auch so bleiben. Sie hatte die Wände in Pastellfarben gestrichen und hübsche, zarte Blumenstoffe für die Vorhänge und Kissen gekauft, um der Wohnung ihren weiblichen Stempel aufzudrücken. Mit vier Brüdern aufzuwachsen, hatte definitiv Einfluss auf sie gehabt, ebenso wie die Farm, in der die meisten Dinge praktisch und robust sein mussten. Farben hatten hier keine große Bedeutung. Jonathon und Dans Vorstellung von Inneneinrichtung war, ihre Schlafzimmerwände schwarz-weiß gestreift anzumalen, um damit ihren geliebten Club Newcastle United zu unterstützen.

«Hier.» Sie schob ihrem Bruder den Teebecher zu.

«Also, warum bist du vorhin so explodiert?», fragte Nick und sah sie mitfühlend an.

«Das brodelt schon eine ganze Weile. Ich habe das Gefühl, ich stecke fest. Als würde ich nirgendwo ankommen und niemals irgendwas erreichen.»

«Was möchtest du denn tun?»

Nina spielte mit dem Rand ihrer Untertasse. Es war eine dumme Idee. Immerhin hatte sie es schon einmal versucht und war grandios gescheitert.

Von all ihren Brüdern war Nick ihr am nächsten. Vielleicht, weil sie beide im selben Boot saßen.

«Willst du nicht auch manchmal nur weg von hier? Für dich allein sein?»

Nicks Mund zuckte. «Gelegentlich frage ich mich, ob ich nicht was verpasse. Es ist nicht gerade einfach, hier Leute kennenzulernen. Aber ich liebe die Landwirtschaft, und leider kann ich die Farm nun mal nicht einpacken und mitnehmen. Und dann stehe ich wieder oben auf dem Hügel und schaue ins Tal, sehe mir die Bruchsteinmauern an, die da schon seit Jahrhunderten stehen, und weiß, dass ich hierhergehöre.»

Nina sah ihn an und lächelte. Er würde immer ihr Held sein – nicht, dass sie ihm das jemals sagen würde. Er war schon eingebildet genug. Trotz all seiner kindischen Frotzeleien war er eine Seele von Mensch, die ihren Platz in der Welt gefunden hatte.

Sie seufzte. Sie wollte nicht undankbar wirken. «Zumindest bist du nützlich. Du hast ein echtes Ziel und einen richtigen Job.»

«Was würdest du denn gern machen?»

Sie verzog das Gesicht und fuhr wieder mit dem Finger an ihrer Untertasse entlang. «Eine Weile weggehen. Ich sein. Herausfinden, wer ich eigentlich bin.»

Nick runzelte verwirrt die Stirn.

«Gerade eben habe ich zum Beispiel nicht geflucht, weil ich wusste, dass du was dagegen hättest.»

Jetzt sah er noch verwirrter aus.

«Ich fühle mich, als würde ich die ganze Zeit nur auf der Stelle treten. Ich möchte … ich möchte richtig in der Küche arbeiten. Nicht bloß hin und wieder ein paar Kuchen machen.»

«Du willst Köchin werden? Aber das hast du doch schon mal versucht.» Er hielt ihr den Finger entgegen. «Du erinnerst dich, die Sache mit dem rohen Fleisch? Als du, äh, diese Panikattacke hattest? Hast du dich nicht sogar übergeben?»

«Danke, dass du mich daran erinnerst, aber damals wusste ich nicht, dass es auch andere Fachgebiete gibt, bei denen man nichts mit rohem Fleisch zu tun hat. Ich könnte Patissière werden. Sukie, die jetzt nach New York fährt, ist – war – einfach umwerfend. Sie hat mich inspiriert. Du solltest mal sehen, was sie für Sachen macht. Ich … Ich …» Nina unterbrach sich. Sie hatte zu Hause ein paar dieser Sachen ausprobiert. Mit unterschiedlichem Erfolg. Es war schwierig, ihrer Kollegin zuzuschauen, wenn sie gleichzeitig Tische bedienen musste, auch wenn Sukie nie etwas dagegen gehabt hatte, dass sie zusah. Aber sie brauchte viel mehr Anleitung. Sie müsste einen Patisserie-Kurs machen.

Seit Sebastians Anruf im Auto hatte sie ständig daran denken müssen, dass er so einen Kurs gab. Und dass er Hilfe brauchte. Sie hatten sieben Wochen frei, na ja, fast. Und Mum und Cath fanden sicher jemand anderen, der ein paar Wochen für sie Kuchen backte.

Dies war das Schicksalhafteste, was ihr jemals passiert war. Sie wäre verrückt, dem Wink nicht zu folgen. Bestimmt sollte es so sein, selbst wenn es etwas mit Sebastian zu tun hatte. Es war die perfekte Möglichkeit, allen zu zeigen, wie leidenschaftlich sie sich für Patisserie interessierte. Und jedem zu beweisen, dass sie endlich ‹ihr Ding› gefunden hatte.

«Würdest du ihn für mich fragen?»

«Wen fragen?»

«Sebastian.»

Kapitel 3

Als sie am Gare du Nord aus dem Eurostar stieg, hätte sie sich am liebsten in den Arm gezwickt, so unglaublich und wundervoll fand sie die Tatsache, dass sie tatsächlich in einem anderen Land war. Und das, indem sie einfach unter dem Kanal hindurch gefahren war! Erst vor zwei Stunden war sie noch am Londoner Bahnhof St. Pancras gewesen, und jetzt war sie in Paris. In Paris. Allein. Ohne ihre Familie. Es fühlte sich an, als hätte sie eine schwere Daunendecke von sich abgeschüttelt, die sie zu ersticken gedroht hatte. Bevor Dad sie mit dem Auto zum Bahnhof fuhr, hatte Mum ihr noch ein paar Euros zugesteckt und gemurmelt: «Für ein Taxi, wenn du in Paris ankommst. Damit du nicht mit deinem ganzen Gebäck mit der Metro fahren musst.»

Und als ihr Dad sie am Bahnhof absetzte, hatte er genau dasselbe getan. Ihre Eltern waren ja süß, und Nina wollte wirklich nicht undankbar sein, aber ganz im Ernst, sie würde ja wohl noch in der Lage sein, allein mit der Metro zu fahren!

Aber obwohl sie während der Zugfahrt die ganze Zeit ihrer Sprach-App gelauscht hatte, stellte Nina enttäuscht fest, dass sie überhaupt nichts von dem verstand, was der Mann am Informationsschalter in einer Geschwindigkeit von etwa tausend Wörtern pro Sekunde von sich gab. Leider war er außerdem eisern entschlossen, kein Englisch zu sprechen, und das einzige Wort, auf das sie sich verständigen konnten, war ‹Taxi›. So viel also zu ihrer Unabhängigkeit. Zumindest wären ihre Eltern zufrieden.

 

Das Taxi brachte Nina zu einem breiten, von Bäumen gesäumten Boulevard. Auf beiden Seiten der Straße ragten fünf- oder sechsgeschossige Häuser mit imposanten Holztüren und schmiedeeisernen Balkongittern in die Höhe. Die Schatten der Bäume am Straßenrand fielen auf die Bistrotische und -stühle der kleinen Straßencafés.

Trotz der alten Mauern und der schweren Holzverkleidung öffnete sich die Tür zum Gebäude mit einem elektrischen Summen, und dann stand Nina in der schlichten Eingangshalle, von der aus sich eine geflieste Treppe nach oben wand. Sebastian war vorerst in ein Hotel umgezogen, da es in seinem Haus keinen Aufzug gab. Seufzend blickte Nina die Stufen hinauf. Wie sollte sie ihren großen Koffer, die schwere Reisetasche und ihre Handtasche bis in den obersten Stock befördern? Das ist Unabhängigkeit. Denk dran – das war es, was du wolltest. Trotzdem sah sie sich um, in der Hoffnung, dass jemand aus dem Nichts auftauchte, um ihr zu helfen. Doch anders als im Film erschien kein gutaussehender Ritter und bot ihr an, ihr Gepäck für sie zu tragen. Seufzend legte sie sich den Riemen ihrer Handtasche über die Brust, schob die Griffe ihrer Reisetasche über die Schulter und ergriff ihren Koffer. Dann stieg sie die Treppe hinauf.

Wie Sebastian ihr geschrieben hatte, klingelte sie an der Wohnung 44b. Kaum hatte sie den Finger von der Klingel genommen, öffnete sich die Tür schon.

Eine schlanke Frau schaute heraus. Ihr glattes blondes Haar war zu einem schmalen Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihre Wangenknochen und ihr selbstbewusstes Kinn betonte. Sie hätte ein Buch über klassischen Chic und kühle Gelassenheit schreiben können, wie sie da in ihren glänzenden Pumps, der weiten crèmefarbenen Hose und der hochgeschlossenen hellblauen Seidenbluse in der Tür stand. Nina fühlte sich gleich doppelt so verschwitzt und klebrig.

«Bonjour, je suis Nina. Je suis ici pour les clés de Sebastian.» Sie sprudelte die Worte hastig hervor, und dem unterdrückten Lächeln im Gesicht der eleganten Frau nach zu urteilen, waren ihre Bemühungen nicht allzu beeindruckend.

«Bonjour, Nina. Ich habe schon gehört, wie Sie die Treppe heraufgekommen sind.» Ihr Missfallen war deutlich zu spüren. «Ich bin Valerie de …» Ihren Nachnamen verstand Nina nicht – es klang, als hätte die Frau sämtliche Silben verschluckt. «Hier sind die Schlüssel.» Sie hielt sie Nina mit ausgestrecktem Arm entgegen wie eine Königin, die sich bemüht, jeden Körperkontakt mit einer Bäuerin zu vermeiden. «Wenn Sie Sebastian treffen, dann grüßen Sie ihn bitte von mir.» Ihr fehlerloses Englisch und ihr sexy Akzent vermittelten Nina nur noch mehr das Gefühl, schlecht angezogen und reiseschmutzig zu sein. «Ich werde ihn vermissen, er ist eine so angenehme Gesellschaft.» Valerie bedachte sie mit einem wissenden, anzüglichen Blick.

Nina schluckte. «Mache ich. Ähm, danke.» Valerie sah mindestens fünfzehn Jahre älter aus als Sebastian. Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür vor Ninas Nase.

«Willkommen in Paris», murmelte Nina vor sich hin. «Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise. Falls Sie irgendetwas brauchen, fragen Sie mich gern, schließlich sind Sie hier in einer fremden Wohnung und in einer fremden Stadt und kennen keine Menschenseele.»

Als sie ihre Gepäckstücke mühsam durch die Tür gezerrt hatte, gab ihr Handy ein Ping von sich.

Ich nehme an, du bist angekommen. Du musst mir ein paar Sachen aus der Wohnung ins Hotel bringen. Ruf mich an, und dann sage ich dir, was ich brauche. Wenn du hier bist, können wir besprechen, was dich erwartet. Ich schlage 15 h vor. Sebastian.

Bei diesem geschäftsmäßigen Ton sackte sie in sich zusammen. Konnte er ihr keine Pause gönnen? Sie war kaum eine Stunde in der Stadt und hatte keine Ahnung, wie weit sein Hotel von hier entfernt war. Momentan wollte sie eigentlich nur einen Wasserkessel und löslichen Kaffee finden. Und irgendwas zu essen. Zumindest konnte er ihr wohl die Zeit geben, sich einzurichten.

 

Sebastian war ein fürchterlicher Pedant, befand Nina, als sie seinen Koffer vom Schrank im Flur herunterhievte. Mit Sicherheit waren seine Sachen hierin viel besser zu transportieren als in der Leinentasche, die er verlangt hatte. Den Koffer, der aussah wie ein übergroßer silberner Käfer mit Schnappschlössern, konnte man wenigstens hinter sich herziehen, statt ihn wie die Tasche zu schleppen.

Während ihres kurzen Telefonats, bei dem er ihr die Adresse seines Hotels gegeben hatte, hatte sie die Dinge, die er haben wollte, schnell auf einen Zettel notiert. Zuerst seinen Laptop und einige Unterlagen, die sie auf dem Esstisch fand. Dann ging sie in sein Schlafzimmer. Sie faltete fünf Hemden und legte sie in den Koffer, dann befüllte sie die Kulturtasche mit Utensilien aus dem Bad, darunter das Tom-Ford-Aftershave, um das er ausdrücklich gebeten hatte – und nein, sie schnüffelte nicht daran wie ein kleines Mädchen, auch wenn sie sich fragte, wie es wohl roch. Als Nächstes: Unterwäsche. Zögernd zog sie die oberste Schublade seiner Kommode auf. Bingo. Irgendwie hatte sie schon geahnt, dass er der Boxershorts-Typ war. Und eher Calvin Klein als Marks & Spencer. Natürlich hatte sie schon einiges an Männerunterwäsche gesehen, aber … das hier fühlte sich irgendwie zu persönlich an. Sich Sebastian darin vorzustellen … nein, das würde sie nicht tun. Er war bloß irgendein Kerl. Nicks Freund. Ein alberner Junge, den sie schon seit Ewigkeiten kannte. Sie riss sich zusammen und griff nach einer Handvoll Unterwäsche. Dabei stieß sie gegen eine Schachtel. Mist. Kondome. Eine Packung mit zwölf Stück. Ultradünn. Geöffnet.

Guck nicht rein. Lass es.

Sie ließ sich auf sein Bett fallen.

Vier Kondome fehlten. Sebastian. Hatte. Sex. Gehabt. Hatte Sex. Mehrfach.

Und es interessierte sie definitiv überhaupt kein bisschen. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Sie würde nicht auf das Haltbarkeitsdatum gucken. Und es gab überhaupt keinen Grund dafür, dass ihr Herz diesen albernen stechenden Schmerz empfand.

Es war kein Geheimnis, dass Sebastian gut aussah. Natürlich war er mit Frauen zusammen. Als sie ihn das letzte Mal getroffen hatte, hatte er eine Freundin. Und davor auch. Eine andere. Er hatte Freundinnen, das wusste sie. Es war kaum eine Überraschung und bedeutete ihr gar nichts.

Oh, verdammt. Was sollte sie jetzt mit den Kondomen anfangen? Sie ignorieren? So tun, als hätte sie sie nicht gesehen? Aber er wusste, dass sie da waren. Und er würde wissen, dass sie sie gesehen hatte. Vielleicht hatte er sie aber auch vergessen. Wenn sie sie einpackte, würde sie ihm damit zeigen, dass es ihr komplett gleichgültig war. Sie würde damit zum Ausdruck bringen, wie erwachsen und erfahren sie mit solchen Sachen umging. Wenn er sie allerdings wirklich brauchte, wäre es schon interessant, wie er das mit einem gebrochenen Bein anstellen wollte. Und wo kam dieser Gedanke jetzt wieder her? Hastig stopfte sie die Kondome in den Koffer. Das war schließlich verantwortungsvoll, oder etwa nicht?

 

Leider hatte die Metro eine Betriebsstörung, weshalb sie sich verspätete, und als Nina auf die Straße trat, hatte es angefangen zu regnen. Natürlich. Das bedeutete, dass ihr perfekter Bob – Ausdruck ihres neuen, erwachseneren Ichs – sich zu locken begann; ihre spitzen, hochhackigen Schuhe, die ihr ein pariserisches, elegantes Flair verleihen sollten, brachten sie beinahe um, und ihre furchtbar teure glänzende Strumpfhose war mit Schmutzwasserflecken übersät. Wie sich außerdem herausstellte, musste man Usain Bolt sein, damit man den Fußweg zum Hotel in fünf Minuten schaffte.

Als sie schließlich die letzten Stufen zu Sebastians Unterkunft hinaufstolperte, ungefähr mit dem Elan von Tony Curtis in «Manche mögen’s heiß», war es beinahe 17 Uhr. Der Portier öffnete ihr die Tür, sie hob den Kopf und brachte ein kleines Lächeln zustande – das ihr sofort wieder aus dem Gesicht fiel, als sie mit ihren nassen Schuhen auf den Fliesen ausrutschte. Sie stürzte auf den Rollkoffer, der aufsprang und seinen farbenfrohen Inhalt über die Fliesen ergoss. Und natürlich musste die verdammte Packung Kondome über den Boden schlittern und erst neben den auf Hochglanz polierten Schuhen eines großen dunklen Grégory-Fitoussi-Doubles anhalten.

Als er sich danach bückte und ihr die Kondome zurückgab, war ihr Gesicht so rot wie eine Tomate mit Sonnenbrand.

«Merci», stammelte sie und bemühte sich um ein unbekümmertes Lächeln, als würde ihr so etwas ständig passieren und als würde sie nicht gerade innerlich vor Scham sterben.

Er lächelte ihr charmant zu, sagte irgendwas in schnellem, unverständlichem Französisch, stieg über ein paar Boxershorts hinweg und ging davon.

Nina merkte, dass sie in der belebten Eingangshalle ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich zog und dass ihr sonst niemand zu Hilfe eilen würde, darum sammelte sie die verstreuten Kleidungsstücke hastig wieder ein, stopfte sie in den Koffer und klappte ihn zu. Dann strich sie sich die Haare glatt und ging zur Rezeption. Sebastian hatte ihr aufgetragen, dort nach einer zweiten Schlüsselkarte für sein Zimmer zu fragen.

Was die Leute jetzt wohl dachten, was sie mit einem Koffer voller Kondome und Männerunterwäsche vorhatte? Die Rezeptionistin schenkte ihr ein eisiges Lächeln. Vermutlich hielten alle sie für ein Callgirl. Die Ironie an der Situation entging ihr nicht: Schließlich würde sie die kommenden Wochen tatsächlich auf Abruf für Sebastians Bedürfnisse sorgen …

Kapitel 4

Sebastians Zimmer lag im neunten Stock und war vom Aufzug aus gut zu erreichen. Sie klopfte mehrmals laut und fest an die Tür, bevor sie die Schlüsselkarte in den Schlitz schob. Drei Versuche später wechselte das kleine rote Licht endlich auf Grün, und sie drückte die Tür auf, während ihr Herz so heftig klopfte, dass sie beinahe ihren Rippenkasten klappern hörte. Was vollkommen lächerlich war.

«Nina?» Seine Stimme drang hinter einer weiteren Tür am Ende des kurzen, gedämpft beleuchteten Flurs hervor.

«Ja, ich bin’s!» Ihre Stimme klang dünn und irgendwie schrill. Sie holte tief Luft. Das alles war zehn Jahre her. Sie waren beide älter und weiser.

«Du bist spät.»

Seufzend öffnete Nina die Innentür.

Sie sah ihn nicht sofort und schaute sich erst mal nur in dem riesigen Zimmer um. Es war feige, das wusste sie, doch ihre Knie fühlten sich weich an, ungefähr so, wie es bei neugeborenen Kälbern zu Hause auf dem Hof sein musste. Eine Welle von Heimweh ergriff sie und die Sehnsucht, die Uhr zurückdrehen zu können bis zu der Zeit, als Sebastian einfach noch der beste Freund ihres Bruders war.

«Ja, das ist eine Suite», ließ sich Sebastians trockene Stimme vom Sofa vernehmen.

Das entsprach so gar nicht der Begrüßung, die sie sich für ihr erstes Treffen ausgemalt hatte. Aber andererseits hatte sie sich überhaupt nichts vorgestellt.

«Offensichtlich», sagte sie und zog es vor, sich weiter umzusehen, anstatt ihn direkt anzuschauen.

Das Zimmer war luxuriös, doppelt so groß wie ihre kleine Wohnung zu Hause. Es gab eine Sofagruppe, mehrere französische Fenster, die sich auf drei Balkone hinaus öffneten, und einen monströsen Fernseher. Antike Möbel reihten sich an den Wänden, und zwei Doppeltüren öffneten sich, wie sie vermutete, zum Schlafzimmer. «Und alles nur für dich.»

«Ich habe nette Freunde», sagte Sebastian mit rauer Stimme, in die sich Verärgerung schlich. «Und es ist nah am Aufzug.» Schließlich sah sie doch auf ihn herab. Er lag, von einem Haufen Kissen gestützt, auf dem Sofa, wobei sich das knallige Blau seines Gipses heftig mit dem Blassgelb der Damastkissen biss.

«Du siehst …» Sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Ihm zu erklären, dass er schlimm aussah, würde vermutlich nicht besonders gut ankommen. Ihr inneres Biest jedoch jubelte im Stillen – Jippieh! Sebastian Finlay sieht furchtbar aus! Schmuddelig. Eklig. Total abstoßend. Seine Haut hatte eine graue Färbung, und seine Haare waren fettig und ja, igitt, über den Scheitel gekämmt. Dunkle Schatten umrahmten seine Augen, und sein Kinn zierten Stoppeln. Sein weißes T-Shirt wirkte schmutzig, und er trug keine Hose. Sebastian in Unterhose. Ihr Mund zuckte. Sie hätte gern einen dieser Siegestänze aufgeführt, wie Fußballer es tun, wenn sie mit dem T-Shirt über dem Kopf über den Platz rennen.

«Vielen Dank», sagte er trocken, weil er anscheinend erriet, was sie hatte sagen wollen. «Entschuldige, wenn ich nicht aufstehe.»

«Das sieht … unbequem aus», sagte sie und stellte auf einmal fest, wie unnormal sie sich verhielt, indem sie sich so verkrampft bemühte, nicht auf die Stelle zu schauen, wo sein Gips auf seine Unterhose traf. Was zur Hölle war nur los mit ihr?

Sein Mund wurde zum Strich, doch er antwortete nicht auf ihre Bemerkung.

«Ich, ähm, hab dir deine Sachen mitgebracht. Wo soll ich den Koffer hinstellen?»

Sebastian schloss die Augen, als versuche er, sich zu beruhigen, dann blickte er betont auf seinen Gips.

«Ach, entschuldige, ich soll ihn bestimmt für dich auspacken», sagte Nina.

«Das würde helfen», meinte er sarkastisch. «Hast du den Laptop mitgebracht? Und mein Handykabel? Kann ich das zuerst haben?»

Nina schob den Koffer zum zweiten Sofa und öffnete ihn.

«Gott, Nina.» Sebastian runzelte die Stirn. «Wieso hast du das alles so reingestopft? Die Hemden waren frisch gebügelt. Jetzt sehen sie so aus, als hätte man damit den Fußboden gewischt.»

Das stimmte, aber bevor sie sich entschuldigen oder die Lage erklären konnte, fuhr er fort: «Wenn du jetzt jedes Mal einen Wutanfall bekommst, wenn ich dich um etwas bitte, wozu du keine Lust hast, dann wird das nicht funktionieren. Ich brauche jemanden, der mir hilft, keine verwöhnte Prinzessin, die ihre Spielsachen aus der Karre schmeißt, wenn die Dinge mal nicht so laufen, wie sie es gerade will. Ich wusste gleich, dass das hier ein Fehler war.» Er legte einen Arm über sein Gesicht.

Nina wirbelte herum und spürte, wie ihre Nasenlöcher bebten. Das war vermutlich ihr unattraktivster Gesichtsausdruck, aber sie hatte ihn auch nur, wenn sie richtig sauer war. Und jetzt war sie wirklich, wirklich sauer.

«Mir ist klar, dass du keine besonders hohe Meinung von mir hast, Mr. Sie-ist-der-letzte-Mensch-von-dem-ich-mir-helfen-lassen-würde, aber so dämlich bin ich auch nicht. Das war keine Absicht! Der blöde Koffer ist von allein aufgesprungen.»

«Erstens solltest du meine Bemerkung am Telefon nicht hören, und es tut mir leid, das war nicht besonders taktvoll. Und zweitens, ja, dieser Koffer springt manchmal auf, weshalb ich dich extra gebeten hatte, die Reisetasche zu nehmen.»

«Und nur, weil ich diese Bemerkung nicht hören sollte, ist sie in Ordnung?», sagte Nina durch zusammengepresste Lippen. «Und zweitens glaube ich nicht, dass deine Anweisung so eindeutig gewesen ist.»

«Wie viel eindeutiger muss es für dich denn noch sein als ‹Bring bitte die Ledertasche oben auf dem Schrank mit›?» Sein Gesicht sah auf einmal verkniffen aus, und seine Augen wurden schmal. «Nina. Das wird nicht funktionieren. Du kannst genauso gut gleich packen und wieder nach Hause fahren.»

Eine Minute lang stand sie da, ballte die Hände zu Fäusten und fühlte sich albern und dumm. Das hier lief vollkommen verkehrt. Dabei hatte sie allen zeigen wollen, dass sie auf eigenen Füßen stehen konnte.

«Hör zu, es tut mir leid. Es ist mein erster Tag hier, und ich war gestresst. Ich kümmere mich darum, dass die Hemden gewaschen werden. Ist ja nicht das Ende der Welt.»

«Nein, ist es nicht», stimmte er gequält zu. «Aber umständlich. Es bedeutet, ich muss den Zimmerservice bitten, mir für den Moment einen Ersatz zu besorgen, und die tun mir schon genügend Gefallen, weil mein Kumpel Alex hier der Manager ist.»

«Muss ein ziemlich guter Freund von dir sein. Das hier sieht teuer aus.»

«Wie gesagt, es ist ein Gefallen. Er hat ein Auge auf mich, sonst wäre ich immer noch im Krankenhaus, also will ich seine Großzügigkeit nicht überstrapazieren. Es hat alle Hände voll zu tun mit diesem Hotel hier. Ich habe ihm gesagt, Hilfe ist unterwegs – und darum wollte ich auch, dass du so schnell wie möglich kommst.» Er schaute bedeutungsvoll auf seine Uhr.

«Tut mir leid. Warst du den ganzen Tag allein?» Jetzt fühlte sie sich noch schlechter. «Wann hast du denn zum letzten Mal etwas gegessen oder getrunken?»

«Gestern Abend», sagte er kurz angebunden. «Aber das ist okay, denn aufs Klo zu gehen, ist ein Riesenaufwand.»

Ah, das erklärte seine schlechte Laune. Damit konnte sie umgehen. Wie man mit hungrigen Männern verfuhr, wusste sie.

«Zu viel Informationen», sagte Nina kühl. «Aber du brauchst vermutlich was zu essen, um bei Kräften zu bleiben.»

Sie nahm die Speisekarte des Zimmerservice zur Hand. «Worauf hast du Appetit?»

«Entscheide du. Mir egal. Das Hotelessen hängt mir langsam zum Hals raus.» Bei seinem entnervten Seufzer hob sie den Kopf und betrachtete ihn prüfend. Er sah wirklich ziemlich mies aus.

Mit der Speisekarte in der Hand ließ sie sich auf das Sofa ihm gegenüber sinken. Selbst auf diese Entfernung hin nahm sie seinen leicht ungewaschenen Geruch war. Ein Teil von ihr freute sich darüber, Sebastian endlich mal so unvorteilhaft zu erleben, doch der nette Teil ihrer Persönlichkeit in ihr verscheuchte all ihren angestauten alten Groll.

«Du musst was essen», sagte sie mit sanfter Stimme. «Ich weiß, du hast keinen Appetit, und ich bin auch nicht medizinisch ausgebildet, aber ich glaube, das würde dir helfen. Wie wäre es mit einer Zwiebelsuppe? Die ist nicht so schwer.»

«Ich brauche keine Krankenschwester», fauchte er, und damit war seine Teilnahmslosigkeit verflogen. «Ich brauche praktische Hilfe. Bestell irgendwas, aber eigentlich würde es mir mehr helfen, wenn du meine Sachen für mich auspackst.»

 

«Wow, die sehen toll aus!» Nina betrachtete die Moodboards, die auf zwei Flipchartständern aufgestellt waren. Sie war froh, ein unverfängliches Thema gefunden zu haben. Sie hatte Sebastians Kleidungsstücke so schnell wie möglich ausgepackt und die verknitterten Hemden aufgehängt, in der Hoffnung, die Falten so etwas zu glätten.

Jetzt betrachtete sie die verschiedenen Designs für die Einrichtung der Restaurants.

«Mit den beiden Restaurants kommen wir gut voran.» Sebastian runzelte die Stirn. «Nur beim Bistro, das ich in der ehemaligen Patisserie unterbringen will, hapert es noch.»

«Sieht alles sehr schick und trendy aus.» Es war nicht ganz ihr Geschmack, aber wenn man den Erfolg seiner Restaurants in England bedachte, dann wusste Sebastian offenbar, was er tat.

«Das ist der Plan.»

Nina nickte und hörte erleichtert das Klopfen des Zimmerservice an der Tür.

Sie nahm dem Kellner das Tablett ab. Als er nicht gleich wegging, sondern in der Tür stehen blieb, begriff sie, dass er auf Trinkgeld wartete. Schnell stellte sie das Tablett auf dem Sofatisch ab, holte ihre Tasche und kramte ein paar Münzen hervor, die sie dem Kellner reichte. Als sie sich umwandte, zappelte Sebastian auf dem Sofa herum wie ein Wurm am Haken und versuchte, an das Tablett zu kommen. Er war dabei zu weit in die Kissen hineingesunken und hatte Schwierigkeiten, sich wieder aufrecht hinzusetzen.

«Hier, warte», sagte sie, als sie nicht länger zusehen konnte.

«Ich hab dir doch gesagt, dass ich keine Hilfe brauche», zischte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Sie achtete gar nicht auf ihn, ging um das Sofa herum und schob die Arme unter seinen hindurch um seine Brust, um ihn wieder hochzuziehen. Sobald sie ihn berührte, klopfte ihr Herz unangenehm schnell in ihrer Brust; eine Flut von Erinnerungen rauschte durch ihren Kopf, die ihr ein Gefühl von Unvermeidbarkeit vermittelten. Es schien, als hätte Sebastian immer noch die Macht, sie innerlich aufzuwühlen. Sie knirschte mit den Zähnen. In Zukunft würde sie ihren Abstand halten.

Trotz seiner Behauptung, keinen Appetit zu haben, verschwand die Suppe ziemlich schnell in Sebastians Magen. Sobald er die Suppenschüssel zur Seite gestellt hatte, nahm er seinen Laptop und die Papiere, die sie mitgebracht hatte, an sich.

«Gut. Dann können wir ja anfangen. Hast du was zu schreiben?», blaffte er sie an.

«Nein, ich bin ja vorhin erst angekommen. Du hast gesagt, der Job wäre zwei Tage die Woche. Und der Kurs fängt erst nächsten Mittwoch an. Ich dachte, heute sollte ich dir nur deine Sachen bringen.»

Sein Mund klappte zu, als hätte er sich das, was er eigentlich hatte sagen wollen, noch einmal anders überlegt.

«Von jetzt an läuft die Uhr. Nimm dir einen von denen.» Er deutete auf einen Notizblock. «Es gibt noch viel zu tun, bevor der Kurs anfängt. Leider war ich davor …», er nickte mit genervtem Gesichtsausdruck in Richtung seines Gipses, «zu beschäftigt mit den Arbeiten in den anderen zwei Restaurants, darum habe ich da noch gar nichts geschafft. Wir müssen ganz von vorn anfangen. Der Kurs läuft sieben Wochen, jeden Mittwoch den ganzen Tag lang, aber an den Dienstagen musst du schon immer alles vorbereiten. In den sieben Wochen werden wir verschiedene Teigsorten und Techniken durchgehen – außer am letzten Tag. Da mache ich vielleicht etwas anderes.»

In der nächsten halben Stunde machte sich Nina hektisch Notizen in ihren Block, und dabei sank ihr das Herz immer tiefer. So hatte sie sich das Ganze nicht vorgestellt. In ihrer Vorstellung würde sie als eine Art OP-Schwester neben dem kundigen Facharzt arbeiten, ihm im richtigen Moment Skalpell und Tupfer reichen, während sie gleichzeitig seine überragenden Kenntnisse in sich aufsaugte. Keiner ihrer Tagträume handelte von der Aufmunterung des Patienten, vom Bettenmachen, vom Putzen des OPs oder der Korridore.

«Hallo, Nina – hörst du mir überhaupt zu?»

Heftig nickend richtete sie sich auf. Konzentrier dich, Nina.

«Meine Lieferanten bringen wöchentlich die frischen Zutaten, also Eier, Butter und Sahne; aber die Basics – Mehl, Puderzucker, Streuzucker – sollten immer in der Küche vorrätig sein. Spezielle Zutaten musst du von einem Großhändler besorgen, den ich kenne. Nicht am ersten Tag, da arbeiten wir mit den Basics. Ich gebe dir noch die Einkaufsliste. Wir brauchen Rosenblätter, Vanilleextrakt, gezuckerte Veilchenblätter, Pistazienpaste, gefrorene Trockenerdbeeren und Mangopulver.»

Sie spitzte die Ohren. Das ging schon mehr in die richtige Richtung. Für den Hofladen zu backen, war nicht gerade eine Herausforderung – eine Biskuitrolle oder einen Kaffee-Walnuss-Kuchen konnte sie mittlerweile im Schlaf zubereiten. Aber mit den Zutaten, die Sebastian gerade aufgezählt hatte, konnte man sicherlich wundervolle Dinge zaubern.

«Äh, hallo? Bist du noch da?» Sebastians verärgerte Stimme drang durch ihre Gedanken.

«Sorry, es ist nur», sie biss sich wieder auf die Lippe, «das ist wirklich Patisserie-Dirty-Talk … Ich freu mich schon so darauf zu sehen, was du mit all diesen Zutaten anstellst.» Monatelang hatte sie der Patissière im Restaurant fasziniert zugesehen, hatte sich von ihren Kreationen begeistern lassen, war aber zu schüchtern gewesen, um zu nachzufragen, wie genau sie zubereitet wurden. «Das hat doch etwas Magisches: Aus Zucker, Schokolade und den verschiedenen Füllungen zaubert man die wundervollsten Dinge.»

«Es ist bloß Wissenschaft», sagte Sebastian und runzelte irritiert die Stirn.

«Nein, ist es nicht», gab Nina zurück. Zuerst dachte sie, er wolle sie aufziehen, doch sein Gesichtsausdruck war vollkommen ernst. «Es ist Magie. All diese wundervollen süßen Zaubertränke aus Zucker und Köstlichkeiten … Wie eine Alchemie des Backens, mit der man aus bloßem Zucker essbare Herrlichkeiten herstellt.»

«Du hast immer noch zu viel Phantasie, Nina», kanzelte Sebastian sie ab und wandte sich wieder seinem Laptop zu. «Wenn man es genau nimmt, dann geht es beim Backen wie beim Kochen hauptsächlich um chemische Abläufe, bei denen zwei oder drei Substanzen miteinander reagieren, um sich in eine neue Substanz zu verwandeln.»

Sie starrte ihn an. «Aber …» Mit achtzehn hatte er sie mit seiner Leidenschaft inspiriert, mit den detaillierten Beschreibungen der Gerichte, die er kochen wollte, mit seinen Pilgerreisen zu ganz speziellen Lieferanten, immer auf der Suche nach diesen besonderen und einzigartigen Zutaten.

«Woher kommt eigentlich dieses plötzliche Interesse an Patisserie?», fragte er und sah sie scharf an.

«Ich … ich will es einfach lernen. Ich habe unsere Patissière einige Zeit beobachtet, und … also, sie ist unglaublich, und ich backe wahnsinnig gerne, also dachte ich –»

«Nina.» Er schüttelte mit bedauerndem Lachen den Kopf. «Du lebst echt hinterm Mond. Sieben Wochen hier als meine Assistentin ersetzen keine Ausbildung. Es dauert Jahre, bis man ein voll ausgebildeter Patissier ist. Du brauchst eine echte Ausbildung.»

Nina spürte, wie ihr die Wutröte ins Gesicht stieg. «Das weiß ich», fauchte sie, um ihre Gekränktheit zu verbergen. «Ich bin ja nicht doof. Aber ich will es lernen, und das hier ist … ein Anfang.»

«Du willst wirklich eine Ausbildung machen? Oder ist das bloß wieder so eine …?»

Eine was?, wollte Nina schon fragen, doch sie wusste ziemlich genau, was er hatte sagen wollen. Für ihn war es so einfach, er hatte immer gewusst, was er werden wollte. Vom ersten Tag an hatte er auf sein Ziel hingearbeitet, obwohl seine Eltern nicht glücklich damit gewesen waren. Dagegen hatten ihre Eltern sie immer unterstützt, ganz egal, was sie anfing – und um ehrlich zu sein, hatte sie schon so einiges angefangen. Sie hatte in einem Gartencenter gearbeitet, weil sie geglaubt hatte, sie wollte Landschaftsgärtnerin werden. Sie hatte sich bei einer Bank beworben, weil sie meinte, sie müsste einen ‹anständigen› Beruf erlernen; dann hatte sie im Kindergarten ausgeholfen, weil sie dachte, sie wollte Erzieherin werden. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie harte Arbeit scheute oder sich nicht genügend anstrengte – es war nur so, dass sich nichts so entwickelte, wie sie es sich ausgemalt hatte. Und sie wollte wirklich lernen, wie man diese wunderschönen Zuckerdinge machte, die Sukie das letzte Jahr über gezaubert hatte.

«Gut, fangen wir lieber an. Es gibt eine Menge zu tun. Ich werde dir ein Schlüsselset geben, auch wenn Marcel da sein wird, der Manager. Er ist ein miesgelaunter Typ, also ignorier ihn einfach.»

«Ich schätze, das liegt daran, dass er bald seinen Job verlieren wird.»

«Wenn das neue Bistro erst mal eröffnet, dann wird es wieder genug Arbeit für ihn geben. Ich brauche schließlich Kellner. Also, wenn noch irgendwas fehlt oder wenn die Zutaten knapp werden, dann musst du sie kaufen. Du kannst die Firmenkreditkarte benutzen.» Mühsam griff er nach seinem abgenutzten Lederportemonnaie auf dem Tisch. «Ich arbeite noch an den Einkaufslisten und den jeweiligen Rezepten – die maile ich dir später. Du musst überprüfen, ob die Küche vernünftig ausgestattet ist und ob für die drei Kursteilnehmer von allem genug da ist.» Er schaute auf den Laptop auf seinem Schoß. «Wenn irgendwas fehlt, dann besorg es. Gott sei Dank sind es nur drei Leute. Mit ein bisschen Glück macht noch einer einen Rückzieher, dann kann ich den Kurs ganz absagen. – Hier ist die Einkaufsliste für die Basics.»

Sie blinzelte. «Du willst mich einkaufen schicken?»

«Ist das ein Problem?»

«Nein, aber es ist viel mehr zu tun, als ich dachte.»

«Sag am besten gleich, wenn du den Job doch nicht machen willst.»

«Natürlich will ich. Ich dachte nur nicht, dass so viel zu tun ist.»

«Ich bezahle dich ja nicht fürs Däumchendrehen. Du wolltest kommen, und es wird kein Spaziergang. Ich erwarte, dass du arbeitest. Und zwar hart.»

Nina richtete sich auf und unterdrückte die aufsteigende Wut. Dann sagte sie: «Ich habe nichts gegen harte Arbeit.»

«Wunderbar.» Er wand sich wieder auf dem Sofa und schob einen Finger unter seinen Gips, bevor er noch einmal auf seine Notizen schaute. «Ich denke, das ist alles. Aber vermutlich hast du recht: Weil doch etwas mehr vorzubereiten ist, als ich ursprünglich dachte, werde ich dir diese Woche einen zusätzlichen Tag bezahlen. Heute ist Donnerstag. Du hast vier Tage, um dich zu organisieren und alles vorzubereiten. Wir treffen uns am Dienstag, dann fahren wir zur Patisserie und bereiten alles für den Beginn des Kurses am Mittwoch vor.»

Er schob den leeren Suppenteller auf ihre Seite des Tisches hinüber und legte seine Notizen hin. «Du kannst die Teller zusammen mit dem Tablett vor die Tür stellen, wenn du gehst.»

«Soll ich dir nicht … also, brauchst du nicht noch Hilfe?» Sie deutete mit dem Kopf zum oberen Rand des Gipses, der gefährlich nah an seinen Schritt reichte. Als sie merkte, wie das aussehen musste, wurde sie rot. «Scheint so, als würde das jucken. Aber ich meinte, ob ich dir helfen soll, beim Haarewaschen oder so.»

Sein wütender Blick hätte sie eigentlich zu Eis gefrieren lassen müssen. «Ich habe eine Assistentin eingestellt, keine Pflegerin.» Es folgte eine längere Pause. «Und was ist mit meinen Haaren?»

Sie riss unschuldig die Augen auf. «Gar nichts.»

Er zog seinen Laptop auf die Knie und begann zu tippen.

«Verstanden. Ich bin also entlassen», sagte Nina und konnte den bissigen Unterton in ihrer Stimme nicht mehr unterdrücken.

Er schürzte die Lippen. Hätte er eine Brille getragen, hätte er sie jetzt über den Rand hinweg angesehen.

«Ich bin dann mal weg.» Sie nahm ihre Tasche, winkte ihm zu und ging zur Tür, wobei sie das Tablett in ihrer freien Hand balancierte. «Tschüss.»

«Tschüss, Nina. Bis Dienstag.»

Als sie den Hotelflur entlangging – erleichtert zu entkommen –, schüttelte sie den Kopf. Sie war definitiv über Sebastian hinweg.

Kapitel 5

Beinahe wäre sie an der Pâtisserie C vorbeigegangen. Das sollte sie sein? Sie unterdrückte ihre Enttäuschung und versuchte, irgendetwas Positives an der Außenfassade zu entdecken. Das war allerdings nicht so einfach in Anbetracht des ziemlich tristen Zustandes der türkisgrünen Farbe, die abblätterte und dadurch die zahlreichen darunterliegenden Farbschichten auf dem hölzernen Rahmen preisgab. Die Ladenfront ähnelte einer alten Dame, die zu viel Make-up aufgelegt hatte, während der Türrahmen beunruhigend verzogen war und die trüben Fenster dringend geputzt werden mussten.

Als sie durch das verschmierte Glas hindurchspähte, konnte sie ein ziemlich funktional wirkendes Café erkennen, das in keiner Weise die traditionelle vergoldete Einrichtung aufwies, die sie sich vorgestellt hatte. Bentwood-Stühle, die schon bessere Tage erlebt hatten, standen um Bistrotische herum, welche in gleichmäßigen Reihen aufgestellt worden waren, womit der Raum eher einem Wartesaal in einem Gefängnis ähnelte als einem Ort, an dem man Kaffee und Kuchen genießen konnte. Es schien, als ob etwas wie sinnlicher Genuss überhaupt nicht auf der Speisekarte stand.

Sie hatte gar nicht vorgehabt, in die Patisserie hineinzugehen, sondern wollte sich erst einmal in der Stadt orientieren und in Sebastians Wohnung einrichten, doch da das Wetter so schlecht war, beschloss sie, sich hier mit einer Tasse Kaffee aufzuwärmen, bevor sie zurück in die Wohnung ging.

Zögernd betrat sie das schlecht beleuchtete Innere. Eine ältere Dame saß an einem der Tische, und ein Mann stand hinter den Vitrinen, in denen eine kleine Auswahl aus Schokoladenéclairs, Obsttartes und Macarons lag. Alle Gebäckstücke lagen in der mittleren Vitrine, als hätten sie sich dort getroffen, um nicht so allein zu sein. Die Kühlung brummte ziemlich laut, als müsste sie sich richtig anstrengen. Der Mann machte sich nicht die Mühe aufzusehen, sondern trocknete nur weiter das Glas in seinen Händen ab.

«Bonjour.» Nina lächelte ihn zaghaft an und erkannte an seiner gerunzelten Stirn, dass er nicht die Sorte Mensch war, die sich für eine freundliche Begrüßung begeistern konnte. Seine abwehrende Körperhaltung sprach Bände.

«Was kann ich für Sie tun?» Mit der Langsamkeit einer Landschildkröte hob er den Kopf.

«Sie sprechen Englisch?» Das war eine Erleichterung. «Woher wussten Sie, dass ich Engländerin bin?»

Der Blick, den er ihr zuwarf, sagte mehr als tausend Worte, und zusätzlich verdrehte er noch die Augen, was der unmissverständliche Ausdruck war für: Sie sind offenbar total belämmert, aber ich ertrage es mit Fassung, weil ich keine andere Wahl habe.

Ernsthaft? Und alles nur nach einem Bonjour?

«Ich bin Nina. Ich … arbeite für Sebastian», sagte sie und versuchte, selbstbewusst zu klingen, was bei seinem völligen Desinteresse nicht ganz einfach war. Wenn sie Sebastian schon einschüchternd gefunden hatte, dann ließ Marcels Kälte sie daran zweifeln, ob sie überhaupt hier sein durfte.

Das gestrige Treffen mit Sebastian hatte sie ganz schön erschüttert und ihre rosige Vorstellung zunichtegemacht, im Handumdrehen eine erfolgreiche Patissière zu werden. In den paar Tagen vor ihrer Ankunft hatte sie sich vorgestellt, wie sie Sebastian bei der Arbeit zuschaute und alles wie ein Schwamm in sich aufsaugte, während sie Zutaten hackte und ihre Fertigkeiten unter seiner Anleitung erweiterte. Nie war es ihr in den Sinn gekommen, dass sie die undankbare Arbeit aufgehalst bekommen würde, sich um den Einkauf und die anderen Vorbereitungen kümmern zu müssen, und dann noch ganz allein.

«Sebastian?» War es möglich, dass seine Mundwinkel sich noch mehr nach unten zogen?

«Sebastian Finlay. Er hat die Patisserie gekauft.»

«Ah.» Oder war es ein Pah? «Der neue Boss.»

«Genau. Er hat mich geschickt, damit ich die Zutaten überprüfe und mir die Küche ansehe.»

«Nur zu.» Er deutete nach hinten in den Laden. «Sie stören niemanden. Vielleicht ein paar Gespenster von früheren Patissières, die sich jetzt in ihren Gräbern umdrehen. Ein Bistro!» Er schüttelte den Kopf, sodass sich eine mit Gel zur Seite drapierte Haarsträhne löste, die er mit einer wütenden Handbewegung zurückstrich.

«Ihr Englisch ist sehr gut.»

«Ich habe in London gelebt. Ich war einige Jahre Oberkellner im Savoy.» Dabei richtete er sich merklich auf, und die Andeutung eines vornehmen Lächelns spielte um seine Mundwinkel. Nina stellte sich vor, dass er hinter dem Tresen die Hacken zusammenschlug.