Der Kolk - Sonja Schmitz-Herscheidt - E-Book

Der Kolk E-Book

Sonja Schmitz-Herscheidt

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Beschreibung

Eine Woche bei ihren Großeltern an der Nordsee - das ist nicht gerade das, was sich Henri unter spannenden Sommerferien vorstellt. Aber dann lernt sie Beo kennen, und sie stößt auf einen rätselhaften See, dessen Zugang niemand sonst zu kennen scheint. Das glaubt sie zumindest, bis sie und Beo einem gefährlichen Geheimnis auf die Spur kommen, das ihre Vorstellungskraft bei Weitem übersteigt. Plötzlich sehen sie sich mit einer Bedrohung konfrontiert, vor der sie nicht einmal auf der Insel Wangerooge sicher sind. Fantasy in Friesland

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Anmerkungen

1

„Henri ...? Wann sind wir endlich da?“

Lotte klebte mit ihrer Nase an der schmutzigen Scheibe, um einen Blick nach vorn zu erhaschen. Draußen glühte die weite, ostfriesische Landschaft unter der Sommersonne. Schwarz-weiße Kühe standen auf den vorbeiziehenden Wiesen wie Spielzeugtiere.

„Oh, Lotte, das fragst du jetzt schon zum hundertsten Mal!“ Henri verdrehte seufzend die Augen. Sie warf ihrer kleinen Schwester auf der anderen Seite des Fensters einen vernichtenden Blick zu und widmete sich dann wieder ihrem Handy. „Kann nicht mehr lange dauern. Nach dem Plan sollten wir in zehn Minuten da sein, aber ich glaube, wir haben Verspätung.“

Lotte schob sich eine lockige Strähne aus dem Gesicht und fischte das letzte Gummibärchen aus der Tüte. „Mir ist langweilig“, nörgelte sie. „Und schlecht ist mir auch.“

Henri holte tief Luft. „Ja, du wolltest doch unbedingt zu Oma und Opa. Deswegen machen wir doch das Ganze hier. Ich hätte auch gut darauf verzichten können.“ Sie schaute anklagend auf die leere Tüte. „Und von den Gummibärchen hättest du mir auch gern welche übriglassen können.“

Eine ganze Woche bei ihren Großeltern! Früher hatte sie sich immer darauf gefreut. Es war ein Abenteuer gewesen, allein mit dem Zug an die Küste zu fahren. Und die Zeit dort war ihnen immer wie im Flug vergangen, mit Streifzügen durch die Umgebung, Ausflügen an den Strand und Spielen unter den alten Apfelbäumen im Garten. Aber jetzt war Henri fünfzehn. Viel zu alt für so etwas.

„Lotte freut sich doch schon so lange darauf“, hatte Mama versucht, sie zu beschwichtigen.

„Und Oma und Opa freuen sich auch auf euch“, hatte Papa hinzugefügt.

Henri hatte eher das Gefühl, dass es wohl ihre Eltern waren, die sich am meisten freuten, und zwar darüber, dass ihre Töchter für ein paar Tage weg waren. Sturmfreie Bude sozusagen. Und sie musste es ausbaden.

Wie Henri befürchtet hatte, dauerte es noch ganze zwanzig Minuten, bis der Zug endlich sein Tempo verlangsamte und vor dem Fenster draußen die ersten Häuser der kleinen Stadt auftauchten. Neubausiedlungen und Gewerbegebiete zogen vorbei. An den Bahnschranken glitzerten die wartenden Autos in der Sonne. Henri machte sich daran, die zwei Reisetaschen aus der Ablage zu hieven.

Endlich fuhren sie in den Bahnhof ein. Touristen mit bunten Sonnenmützen, Reisetaschen und Rucksäcken tummelten sich auf dem Bahnsteig. Lotte verdrehte sich den Hals, um einen Blick auf die Wartenden zu erhaschen.

„Ich sehe sie!“, kreischte sie jetzt. „Omahega! Oparopa!“

Henri war derweil damit beschäftigt, den Müll zusammenzusuchen, der überall auf den Sitzen herumlag, und ihn in ihren Rucksack zu stopfen.

„Mensch, Lotte, kannst du mir auch mal helfen?“, fragte sie gereizt über das Quietschen der Bremsen hinweg. Nur widerwillig ergriff Lotte ihren Rucksack, aus dem noch der Kopf ihres rosafarbenen Hasen herausschaute, und warf ihn sich über die Schulter.

Kurze Zeit später bugsierte Henri die beiden Taschen durch die Tür des Zuges hinaus auf den Bahnsteig, wo Lotte schon ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfte. Der Nordseewind strich ihnen über die Gesichter, bauschte Lottes lockiges, braunes Haar und fuhr unter Henris schwarzes Shirt. Nach dem Mief im Abteil war die salzige Luft angenehm frisch. Henri spürte, wie sich ihre Laune ein wenig zu heben begann.

„Da sind sie!“ Lotte zeigte auf ihre Großeltern, die ihnen winkend durch das Getümmel entgegenkamen.

„Charlotte! Henriette! Wie schön, dass ihr da seid!“ Helga Brösedom strahlte über das ganze Gesicht beim Anblick ihrer Enkelinnen. Ihre blauen Augen blinkten freudig hinter dicken Brillengläsern. Mit einem Lachen umarmte sie Lotte, die kaum kleiner war als sie, und wandte sich dann Henri zu. „Hat alles geklappt, ihr Lieben? Wie war die Reise?“

Henri umarmte ihre Großmutter ebenfalls, wenn auch weniger stürmisch als ihre Schwester, bevor sie antwortete: „Hat alles super geklappt. Wir hatten zwar Verspätung, aber den Anschlusszug haben wir noch erwischt.“

Sie wandte sich Robert zu, der ein wenig hinter seiner Frau zurückgeblieben war. Wie immer trug er seine blaue Schiffermütze, unter der der silberne Haarkranz hervorschaute. Als er seinen Arm seitlich um Henris Schultern legte, stellte sie fest, dass sie inzwischen größer war als er.

„Na? Geht’s euch gut?“, fragte er und begutachtete Henri eingehend. „Du hast eine neue Frisur!“

„Ja, so kurz!“, stellte auch Helga fest. „Gefällt mir.“ Sie lächelte wohlwollend.

Henri fasste sich unwillkürlich in den Nacken. Ihre Mutter war fast in Ohnmacht gefallen, als sie vor drei Wochen vom Frisör zurückgekommen war, mit Haaren, so kurz, dass man an den Schläfen die weiße Kopfhaut sehen konnte. Inzwischen war es schon wieder ein wenig nachgewachsen, aber Henri war entschlossen, es beim nächsten Mal noch etwas kürzer schneiden zu lassen.

„So ist es im Sommer doch viel kühler am Kopf, nicht wahr?“, meinte Helga gelassen. Henri spürte, wie sie sich entspannte. Eigentlich war es ihr natürlich völlig egal, was die Erwachsenen von ihr dachten, aber bei ihrer Oma Helga war das vielleicht doch etwas anderes.

Sie griff nach ihren zwei Reisetaschen. „Mama und Papa sagen liebe Grüße.“

„Ja, ich werde nachher mal bei ihnen anrufen und Bescheid sagen, dass ihr heil angekommen seid.“

Henri dachte insgeheim, dass eine WhatsApp-Nachricht schneller wäre, aber sie sagte nichts. Helga ergriff Lottes Hand und Robert nahm Henri die Taschen ab. Sie durchquerten das rote Backsteingebäude des Bahnhofs und traten kurze Zeit später auf den sonnenbeschienenen Parkplatz hinaus.

„Habt ihr Hunger?“, wollte Helga wissen. „Zuhause wartet das Mittagessen auf euch.“

„Oh ja!“, rief Lotte begeistert. 11 Jahre alt und immer hungrig! „Was gibt es denn?“

„Natürlich dein Lieblingsessen!“, verkündete Helga. „Spaghetti mit Spezialsoße.“

„Hurra!“ Offenbar war die gummibärchenbedingte Übelkeit schon wieder verflogen. Aber auch Henri musste gestehen, dass ihr bei dem Gedanken an das Essen das Wasser im Munde zusammenlief.

Kurze Zeit später hatten sie das Gepäck im Kofferraum des alten, grünen Mercedes verstaut und machten sich auf den Weg. Robert steuerte den Wagen vom Parkplatz herunter und durch die engen Gassen der Altstadt, bis sie die Vororte und das Industriegebiet hinter sich gelassen hatten.

Jenseits des Ortsschildes empfing sie die Weite der Marschwiesen. Die Straße erstreckte sich schnurgerade in die Richtung der Nordsee, rechts und links gesäumt von alten, hohen Bäumen. Hin und wieder tauchte an der Seite ein Bauernhof auf oder einzelne Häuser, die sich hinter dichten Hecken versteckten. In einiger Entfernung drehten sich Windräder im steifen Westwind.

Eine Viertelstunde später erreichten sie das Dorf, dessen Backsteinhäuser sich um eine uralte, wuchtige Kirche auf einer Warft scharten. Henri drehte das Fenster herunter und schaute hinaus. Dabei bemerkte sie eine Baustelle auf einem Grundstück direkt an der Straße.

„Hey, was ist das denn?“, fragte sie verwundert. „Stand da nicht immer so ein altes Häuschen mit blauen Fensterläden?“

Helga schaute sich um. „Ja, das ist verkauft worden. Dann haben sie es abgerissen. Jetzt kommt was Neues drauf, größer und mit Ferienwohnungen.“

Henri nickte. Auch wenn sie hier noch ungefähr zehn Kilometer von der Küste entfernt waren, gab es sicherlich viele Käufer für eine hübsche, moderne Ferienwohnung.

Sie hatten die Abzweigung an der einzigen Bushaltestelle des Ortes erreicht, und Robert setzte den Blinker, während er den Gegenverkehr abwartete. Henris Blick blieb an der Bank im Wartehäuschen hängen. Ein Junge mit dunklen, zerzausten Locken saß dort, ungefähr so alt wie sie, in schwarzer Hose und braunem T-Shirt. Das wäre nichts Interessantes gewesen, wenn er sie nicht so durchdringend angestarrt hätte. In diesem Moment hob er eine große, schwere Kamera an, hielt sie sich vor das Gesicht und machte ein Foto von ihr. Henri zuckte zurück.

„Der Typ da an der Bushaltestelle. Der hat gerade ein Foto von mir gemacht!“

Helga drehte sich im Sitz um, bis sie ihn sehen konnte. „Ach, das ist Beo. Der wohnt auf der anderen Seite des Dorfes. Ist ständig mit dieser Kamera unterwegs.“ Helga schüttelte missbilligend den Kopf. „Schräger Vogel.“

Sie bogen in die schmale Straße ein, an der Brösedoms Wohnhaus lag. Während das Auto an Vorgärten mit sattgrünen Rasenflächen und unkrautfreien Blumenrabatten vorbeischaukelte, überlegte Henri, warum dieser Beo ein Foto von ihr gemacht hatte. Was er damit wohl vorhatte? Sie wollte sich jedenfalls nicht irgendwann zufällig im Internet wiederfinden.

„Da sind wir“, verkündete Robert das Offensichtliche und fuhr durch ein Tor in die Einfahrt. Gemeinsam holten sie das Gepäck und brachten es ins Haus, wo sie die Taschen erst einmal im Flur stehen ließen. Lotte flitzte gleich in die Küche, um nach dem Essen zu schauen.

Wenig später saß Henri mit einem Glas Apfelschorle in der Hand an dem massiven Esstisch, an dem früher sechs Leute Platz gefunden hatten. Es hatte sich absolut gar nichts verändert. In diesem Haus war immer noch die Küche das Zentrum. Die altmodische, riesige Küchenzeile mit den hölzernen Verkleidungen, der antike Küchenschrank mit den blau bemalten Tellern hinter der Glastür, der Kanonenofen, der im Winter wohlige Wärme verbreitete und die Wanduhr, die bedächtig die Zeit maß. In der Stube nebenan, in der auch der Fernseher stand, schien sich außer Gästen kaum jemals jemand aufzuhalten.

Helga warf Henri einen Blick über die Schulter zu, während sie in einem Topf rührte, dem der untrügliche Geruch ihrer berühmt-berüchtigten Nudelsoße entströmte. „Und, Henriette? Hast du schon Pläne für deine Zeit hier? Was möchtest du gern machen?“

„Ich weiß schon, was wir machen!“, schrie Lotte begeistert dazwischen. „Ich will jeden Tag an den Strand und mindestens einmal mit dem Schiff auf eine Insel. Und dann will ich wieder die Radtour zu dem tollen Café machen. Und kochen wir wieder zusammen Marmelade, Omahega?“

Als Henri ganz klein gewesen war, hatte sie die Namen ihrer Großeltern nie richtig aussprechen können. Immer war so etwas wie „Omahega“ und „Oparopa“ herausgekommen. Dabei war es dann irgendwie geblieben, und auch Lotte hatte es übernommen. Henri jedoch hatte sich dieses Jahr vorgenommen, sie einfach nur noch bei ihren echten Vornamen zu nennen.

Helga hob abwehrend die Hände und lachte. „Ja, Lotte, da müssen wir mal schauen, ob wir all das in den wenigen Tagen überhaupt schaffen!“ Sie schaute wieder zu Henri hinüber. „Und vielleicht hat deine große Schwester ja ganz andere Pläne ...“

Henri stützte das Kinn auf die Hand. „Ach, ich weiß nicht. Ist doch eigentlich egal.“

Helga trat an den Tisch. „Nein, ist nicht egal. Du darfst auch entscheiden, was du machen möchtest. Jetzt bist du 15 geworden und alt genug, um vielleicht mal etwas Eigenes zu unternehmen, nicht wahr?“

Henri blickte überrascht auf. Hatte ihre Oma ihr tatsächlich gerade angeboten, etwas ohne Lotte zu machen? Da ergaben sich plötzlich unerwartete Möglichkeiten. Sie senkte sofort wieder den Blick, damit ihre Begeisterung nicht zu offensichtlich war.

Möglichst unbeeindruckt meinte sie: „Okay, das könnte man ja mal sehen.“ Sie schaute rechtzeitig genug auf, um das Lächeln zu bemerken, das über Helgas Gesicht glitt.

***

2

Henri streckte den Kopf durch die Küchentür, auf der Suche nach Helga. Diese war gerade zusammen mit Lotte damit beschäftigt, die Früchte zu waschen, die sie dann zu Marmelade verarbeiten wollten.

„Hallo Henri, da bist du ja!“, rief Helga ihr zu. „Hast du auch Lust, uns hier zur Hand zu gehen?“

Henri schüttelte den Kopf. „Nein, danke, eher nicht.“ Sie zögerte. „Sag mal, könnte ich dein Rad ausleihen und stattdessen ein bisschen durch die Gegend fahren?“

„Aber klar! Robert ist draußen. Er kann es dir rausholen.“

„Super, danke.“

Helga lächelte ihr zu. „Viel Spaß. Und komm bis 19 Uhr zurück, ja? Dann gibt’s Abendbrot.“

„Alles klar.“ Henri schloss die Tür wieder und ging nach hinten in den Garten, wo sie auf Robert traf. Der hatte ihr schon bald das altmodische Damenfahrrad von Helga aus dem Schuppen geholt und sogar frisch aufgepumpt.

„Wo willst du denn hin?“, erkundigte er sich. „Bis an den Deich ist es wohl ein bisschen weit.“

„Nein, ich wollte einfach so ein bisschen herumfahren. Gibt’s noch den kleinen Tante-Emma-Laden? Ich wollte mir vielleicht noch was kaufen.“

„Aber sicher. Findest du den Weg dahin noch wieder?“

„Klar, ich kenn mich hier doch aus.“

Robert nickte schmunzelnd und stellte das Rad vor Henri hin, sodass sie es entgegennehmen konnte. „Dann los! Viel Spaß.“

„Danke, Tschüs!“

Henri strampelte aus der Einfahrt auf die Straße. An der Bundesstraße angekommen, beschloss sie spontan, erst einmal die Warft hinauf bis zur Kirche zu fahren, ein uraltes Gemäuer aus Findlingen und Backstein mit einem hellroten Ziegeldach. Einen Kirchturm hatte sie nicht. Dafür stand ein paar Meter daneben ein eigenes Gebäude, in dem die Glocken hingen.

Am Friedhof bog sie ab und rollte die Warft gemächlich wieder hinunter, bis sie den kleinen Lebensmittelladen vor sich auftauchen sah, in dem sie immer ihre Brötchen kauften.

Sie schaute zur Uhr. Es war bereits Viertel vor sechs und der Parkplatz vor dem Markt hatte sich schon geleert, aber die Ladentür stand noch offen und ein Aufsteller machte Werbung für Eis am Stiel. Henri schob ihr Rad in einen Ständer und steuerte auf den Eingang zu.

Auf einer weißen Friesenbank neben der Tür saß ein Junge mit einem Eis in der Hand und sonnte sich in den letzten Strahlen, die es noch über die Wipfel der nahen Bäume schafften. Henri stellte fest, dass es derselbe Junge war, den sie an der Bushaltestelle gesehen hatte. Wie hieß er noch gleich? Beo ...

Als sich ihre Blicke kreuzten, unterbrach er das Schlecken und grinste sie an.

„Hi.“ Seine Stimme war tief wie die eines Erwachsenen. Dieser Bass schien nicht so recht zu seinem schlanken Körper zu passen. Seine Haut war kaum von der Sonne gebräunt. Er hatte ungewöhnlich große Augen, fand Henri, die sein ganzes, blasses Gesicht zu beherrschen schienen. Seine braunen, leicht gelockten Haare waren so lang, dass sie sich in störrischen Wellen um seinen Kopf legten und erst im Nacken endeten. Neben ihm auf der Bank lag ein schwarzer Stoffrucksack.

„Hi“, gab Henri zurück. „Warum hast du ein Foto von mir gemacht, heute Mittag an der Bushaltestelle?“ Sie blieb stehen, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

Der Junge lehnte sich zurück. „Es war ein interessantes Motiv, sonst nichts.“

„Aber du kannst nicht so einfach Fotos von mir machen, ohne mich zu fragen“, stellte Henri fest.

„Wie hätte ich dich denn fragen sollen?“, wollte er wissen, zuckte dann jedoch die Schultern. „Okay, ich kann’s ja wieder löschen.“ Er leckte weiter an seinem Eis, als wäre nichts gewesen und starrte sie mit seinen großen, grauen Augen an. Henri beschloss, erst einmal in den Laden zu gehen.

Als sie wenige Minuten später mit ihrem Eis in der Hand wieder herauskam, saß der Junge immer noch da. Sie wollte wortlos an ihm vorübergehen, aber er hielt sie auf.

„Und? Bist du zu Besuch hier?“, fragte er sie.

Widerstrebend drehte Henri sich um. Er hatte inzwischen sein Eis aufgegessen und lehnte sich entspannt zurück, die langen Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet.

„Ja, bei meinen Großeltern. Für ein paar Tage.“

„Wo kommst du her?“

„Aus Hannover.“

„Ah, aus der Großstadt also.“ Er schien sich fast ein wenig über sie lustig machen zu wollen. Oder bildete sie sich das nur ein? „Und gefällt es dir hier bei uns?“

Henri schaute sich um. „Klar. Ist doch schön hier.“ Sie pellte die Verpackung von dem Eis und warf sie in einen roten Plastikmülleimer neben der Tür.

„Sorry, wegen des Fotos. Ich heiße übrigens Beo.“

„Ich weiß“, rutschte es Henri heraus, während sie sich wieder zu ihm umdrehte. „Meine Oma hat es mir gesagt.“

Sie konzentrierte sich auf ihr Eis. Irgendwie fühlte sie sich ertappt. Vielleicht klang sie deswegen etwas spitz, als sie fortfuhr: „Was ist das überhaupt für ein Name? Beo. Ist das nicht ‘n Vogel oder sowas?“

„Ha, ha. Ja, das kommt immer als erstes. Nein, eigentlich heiße ich Beowulf, aber das ist auch nicht besser, oder? Hat meine Mutter verbockt.“ Er zuckte wieder die Achseln. „Sie mochte diese alten Heldensagen und so. Und wie heißt du?“

„Henri, eigentlich Henriette, aber das ist zu lang.“ Sie knabberte ein Stück von der Waffel an ihrem Eis ab.

„Ein Jungenname? Auch nicht schlecht“, grinste Beo.

Auf der Straße kamen zwei Mädchen mit blonden, langen Haaren auf Rädern vorbeigefahren. Sie verlangsamten ihr Tempo und schauten über den Parkplatz hinweg zu ihnen hinüber.

„Na, du Penner?“, rief die Eine.

„Na, du Schlampe?“, rief Beo gleichmütig zurück und hob grüßend die Hand.

Henri betrachtete ihn mit hochgezogener Augenbraue. „Ist das hier so der normale Umgangston?“

„Nur, wenn man in die gleiche Klasse geht“, stellte Beo fest und griff nach seinem Rucksack, um seine Kamera daraus hervorzuziehen. Henri betrachtete sie mit Interesse.

„Ist das deine Kamera?“, wollte sie wissen.

„Yep“, bestätigte Beo. „Eine echte Digitalkamera, wenn du weißt, was das ist“, fügte er nicht ohne hörbaren Stolz hinzu.

Henri wusste absolut nicht, was das ist, aber es klang beeindruckend. Die Leute, die sie kannte, machten ihre Fotos nur noch mit dem Handy. Eine echte Kamera hatte niemand von ihnen.

Beo nahm einen Schutzdeckel von der Linse ab, hob die Kamera an sein Auge und drückte den Auslöser auf der Oberseite. Ein sattes, klickendes Geräusch erklang. Er ließ die Kamera wieder ein Stück sinken und grinste sie herausfordernd an.

„Ich hatte doch gesagt, dass du keine Fotos von mir machen sollst“, stellte Henri fest, aber die Neugierde siegte. „Zeig mal das Bild.“

Sie ließ sich auf die Bank neben Beo fallen, der einen Knopf auf der Rückseite drückte und ihr die Kamera hinhielt. Auf dem Display war das letzte Foto erschienen. Henri betrachtete sich selbst, im Gegenlicht der letzten Strahlen der Abendsonne, die in ihren kurzen Haaren spielten. Es sah richtig gut aus.

„Hey, wow“, rutschte es ihr heraus. „Gar nicht schlecht.“

Beo drückte eine andere Taste, sodass die vorher geschossenen Fotos nacheinander aufleuchteten. In schneller Folge zogen wogende Felder, eine einsame Allee und eine verfallene Windmühle an ihren Augen vorbei, bevor das Fotos eines Autofensters aufleuchtete. Das war wieder sie, Henri, wie sie aus dem dunklen Auto durch das heruntergelassene Fenster hinausschaute. Sie hatte die Stirn gerunzelt und sah wütend aus. Es wirkte irgendwie richtig dramatisch.

„Da hast du das Foto. Soll ich es jetzt löschen?“, wollte Beo wissen.

„Ach, äh“, stotterte Henri. „Du kannst es auch lassen.“ Sie lehnte sich wieder ein wenig zurück. „Aber du darfst es nicht irgendwo hochladen.“

„Keine Sorge, mach ich nicht“, gelobte Beo lässig.

Henri überlegte. „Kannst du mir die zwei Fotos schicken?“

„Klar.“ Er nickte bereitwillig. „Lass uns die Handynummern austauschen, dann können wir das leicht regeln.“ Er zog sein Handy aus der Hosentasche, um es ihr hinzuhalten. „Ruf dich mal selbst an. Dann habe ich deine Nummer und du meine.“

Das war schnell erledigt. Sie reichte Beo das Smartphone zurück und zeigte auf die Kamera, die immer noch auf der Bank neben ihm lag. „Was war das vorhin für ein Foto? Das mit der Windmühle.“

Beo nahm die Kamera hoch und scrollte zurück zu dem Bild. „Das ist eine alte Holländerwindmühle. Sie ist ziemlich verfallen und wird wohl bald abgerissen. Da stehen sogar noch die alten Sachen drin.“

„Cool, du warst da mal drin?“

„Ja, aber nur heimlich. Ist natürlich alles abgesperrt.“ Er scrollte weiter und zeigte ihr ein Bild von einem halb abgerissenen Windmühlenflügel vor einem wolkenverhangenen Himmel.

„Die Fotos sind ziemlich gut“, stellte Henri fest. „Machst du das schon länger?“

Beo stellte die Kamera aus und verstaute sie in seinem Rucksack. „Ja, aber so richtig erst, seitdem ich mir die hier gekauft habe – gebraucht versteht sich.“

Er stand auf, und Henri tat es ihm gleich. Er war ein Stück größer als sie. In dem weiten Ausschnitt seines braunen Shirts war ein schwarzes Lederband sichtbar, an dem irgendein Anhänger befestigt war, den Henri aber nicht sehen konnte. „Ich habe eine ganze Saison gejobbt, um das Geld zusammenzusparen.“

Während sie nebeneinander her zum Fahrradständer schlenderten, dachte Henri, dass sie noch nie gearbeitet hatte. Ihr reichte das Taschengeld, das sie von ihren Eltern bekam, vollkommen aus.

„Wenn du möchtest, könnte ich dir ein paar von den Lost Places zeigen. Ist vielleicht mal was anderes als diese typischen Touri-Fallen.“

Henri zögerte und warf dem Jungen neben ihr einen kurzen Seitenblick zu. Wollte er etwas von ihr? Er erwiderte ihren Blick nicht, sondern ging stattdessen zu seinem abgenutzten und ziemlich verdreckten Mountain Bike hinüber, um sich an dem Kabelschloss zu schaffen zu machen. „Du kannst es dir ja mal überlegen. Ich wohne bei meinem Großvater, ganz in der Nähe von hier, die Straße runter, an der Kreuzung links und dann bis zum Ende. Oder ruf mich an.“ Er hatte das Rad aufgeschlossen und sah Henri dabei zu, wie sie das Rad ihrer Oma aus dem Ständer zerrte.

„Ja, warum nicht?“

Gemeinsam schoben sie ihre Räder über den Parkplatz an die Straße. Gerade fuhr ein fremder Junge an ihnen vorbei, der Beo wortlos den Mittelfinger zeigte. Henri schaute ihm verblüfft nach, bevor ihr Blick zu Beo zurückkehrte. Dieser wirkte völlig unbeeindruckt.

„Was war das denn?“, wollte Henri entrüstet wissen. „War der auch aus deiner Klasse?“

Beo zuckte die Schulter. „Aus meinem Jahrgang.“

„Na, du scheinst ja wirklich sehr beliebt zu sein“, stellte Henri fest. Sie fragte sich, ob Beos Gelassenheit nur eine Fassade war. Seine Hände am Lenker waren weiß geworden, so sehr umklammerten sie die Griffe.

„Das sind die üblichen Ar… Die gibt‘s doch überall. Die hassen alles, was anders ist als sie. Und ich habe keine Lust, mich zu verbiegen und nach ihrer Pfeife zu tanzen.“

„Die kenn ich auch“, pflichtete Henri ihm bei und stellte fest, dass sie sich diesem Jungen mit einem Mal irgendwie verbunden fühlte.

Sie selbst hätte sich nie als Außenseiterin bezeichnet. Sie hatte eine gute Freundin und ein paar andere, mit denen zusammen sie ins Kino ging. Aber sie gehörte andererseits auch nicht zu denen in der Klasse, die den Ton angaben, und das ließen diese sie auch manchmal spüren.

Henri schaute nach rechts die Straße hinunter. „Ich muss hier lang.“

„Ich da“, meinte Beo und wies in die andere Richtung. „Also, war nett, dich kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns die Tage mal! Bis dann!“ Er stieg auf.

„Ja, bis dann“, antwortete Henri automatisch und sah ihm hinterher, wie er die Straße hinunterstrampelte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Was für ein schräger Typ. Aber sie war sich sicher, dass ein Tag mit ihm alles andere als langweilig sein würde.

„Oma Helga, weißt du zufällig, woher der Name ‚Beowulf‘ kommt?“, fragte Henri am Abendbrottisch.

Helga, die gerade dabei war, ihre Scheibe Brot mit Käse zu belegen, schaute auf. „Ach, hast du Beo getroffen?“

Henri hätte fast die Augen verdreht. Ihre Großmutter war einfach zu schnell von Begriff. „Ja, bei dem Laden. Wir haben uns kurz unterhalten. Und woher kommt nun der Name?“

„Na, soweit ich weiß, ist Beowulf die Hauptfigur in einer uralten, englischen Sage. Genau kenne ich sie nicht, aber auf jeden Fall ist Beowulf ein echter Held.

Er bezwingt ein schreckliches Ungeheuer mit bloßen Händen und taucht in einen tiefen See hinab um ein anderes Monster zu töten. Und dann gibt’s da, glaube ich, noch einen Drachen, den er besiegen muss. Was Helden halt so machen...“ Sie beobachtete Henri, die nachdenklich an ihrem Brot kaute.

„Beowulf, ein komischer Name.“

Helga nickte. „Das wundert einen aber auch nicht, wenn man an seine Mutter und seinen Großvater denkt. Beos Mutter starb vor ein paar Jahren. Es war ein Autounfall, glaube ich.

Seitdem lebt er in diesem alten, halb verfallenen Haus zusammen mit seinem Großvater. Ein seltsamer Typ, war früher Taxifahrer. Den Vater hat nie jemand gesehen. Im Dorf munkelt man, dass es ein Tourist auf der Durchreise war. Vielleicht ein Ausländer. So wie der Junge aussieht ...“

Da konnte Henri nur zustimmen. Er sah wirklich irgendwie anders aus, als die anderen Jungen, die sie kannte. Vielleicht lag es an der Frisur. Oder an seinen Augen.

„Wo geht er denn zur Schule?“, wollte sie wissen.

„In der Stadt, denke ich. Die meisten Schüler fahren jeden Morgen mit dem Bus, aber er ist immer mit dem Rad unterwegs. Ich sehe ihn öfters in der Gegend herumfahren und mit seiner Kamera Fotos machen.“

„Ich habe ein paar davon gesehen. Ich fand sie richtig gut“, meinte Henri kauend.

„Ja? Vielleicht hat er ja ein Talent dafür.“

***

3

„Henri? Komm mal hier herüber. Das musst du dir ansehen!“

Henri war gerade dabei gewesen, verschiedene Werkzeuge zu betrachten, die früher für den Deichbau verwendet worden waren. Sie schaute zu Robert hinüber, der vor einer Wand stehengeblieben war, an der mehrere historische und moderne Landkarten hingen. Lotte und Helga waren bereits in einen anderen Teil des Heimatkundemuseums weitergegangen.

Als sie am Abend vorher festgestellt hatten, dass es heute ausnahmsweise ein eher regnerischer Tag werden würde, hatten Helga und Robert vorgeschlagen, nach Carolinensiel zu fahren, um dort das Deutsche Sielhafenmuseum zu besuchen. Es bestand aus gleich mehreren Ausstellungen, die in drei verschiedenen Häusern rund um den alten, urigen Hafen untergebracht waren, und behandelte alles, was hier in der Gegend irgendwie interessant war.

Im Regen waren sie durch den Hafen zu dem ersten Museumsgebäude, dem „Groot Hus“, gestapft. Die eingerollten Segel der historischen Plattbodenschiffe tropften vor Nässe. Nur ein paar, mit bunten Schirmen bewaffnete Touristen trotzten dem Wetter. Dafür war es in dem Sielhafenmuseum dann umso voller.

Henri war kein großer Fan von Museen, aber sie musste zugeben, dass die Ausstellungen gar nicht so schlecht waren. Man konnte überall Filme anschauen und Tondokumente anhören. Für Lotte gab es viele Dinge zum Anfassen und Ausprobieren, von denen sogar Henri heimlich ein paar versucht hatte.

Inzwischen waren sie im dritten und letzten Haus angekommen, das sich mit Deichbau, Landgewinnung und Sturmfluten beschäftigte.

Henri schlenderte zu Robert hinüber, der mit zusammengekniffenen Augen auf die Landkarte an der Wand starrte. Als er bemerkte, dass sie bei ihm stand, zeigte er auf die Stelle, die ihn so faszinierte.

„Hier, Henri, schau mal: Auf dieser historischen Karte kann man sehen, wie sich über die Jahrhunderte der Küstenverlauf verändert hat. Ist das nicht spannend?“ Henri nickte automatisch, ohne Roberts Begeisterung so ganz zu teilen, doch er bemerkte es nicht, da er sich immer noch auf die Karte konzentrierte.

„Siehst du hier? Das war die Harlebucht.“ Er zeigte auf einen großen Einschnitt in der Küstenlinie. „All das ist mit der Zeit als Land dazugewonnen worden, bis diese ganze Bucht ausgefüllt war.“ Sein Finger glitt über die Linien und Jahreszahlen, die die schrittweise Landgewinnung darstellten. „Und ganz genau hier siehst du unser Dorf.“ Er wies auf eine Stelle am Rand der ehemaligen Bucht. Unwillkürlich beugten sie sich beide etwas näher an die Karte. „Da steht der Name, und das Kreuz zeigt, wo die Kirche ist.“

„Das war dann ja direkt am Meer“, stellte Henri mit einem Stirnrunzeln fest.

Robert nickte. „Stimmt. Es muss sogar einen kleinen Hafen gegeben haben. Ich habe mich ein wenig damit beschäftigt. Ein wirklich spannendes Thema.“

„War da ein See?“, wollte Henri wissen und drückte mit dem Finger auf das Glas, dort, wo darunter ein blassblauer Kreis zu sehen war.

„Ja, ein Kolk. Die entstehen, wenn der Deich bei einer Sturmflut bricht und das Meerwasser mit Gewalt hereinströmt. Nachher haben die Leute den Deich wieder repariert, aber die ausgespülte Vertiefung blieb erhalten.“

„Wo ist dieser Kolk denn geblieben? Ich meine, es gibt doch keinen mehr, oder?“

Sie schlenderten weiter, während Robert erklärte: „Nein, den Kolk gibt es nicht mehr. Auch wenn ich mich frage, wie er so spurlos verschwinden konnte. Solch ein Kolk kann sehr, sehr tief sein. Er mag mit der Zeit ausgetrocknet oder aufgefüllt worden sein, aber zumindest müsste man doch irgendwo so etwas wie eine feuchte Senke finden.“

Im nächsten Abschnitt der Ausstellung ging es um Sturmfluten. An der Wand hingen Fotos und Gemälde. Robert zeigte auf ein Ölbild, das auf sehr dramatische Weise zeigte, wie die tosenden Wellen einer Sturmflut durch einen Damm brachen und dabei waren, sämtliche Häuser eines Gehöftes zu verschlingen. Deutlich war zu sehen, wie die windgepeitschten Wellen das Land wegspülten und alles unter sich begruben.

Robert zeigte auf das Gemälde. „So hat es vielleicht damals auch bei uns ausgesehen, als der Deich brach und dieser Kolk entstand.

Es gab da eine alte Geschichte bei uns im Dorf, die sich die Leute früher erzählt haben. Meine Mutter – deine Urgroßmutter – hat sie mir als Kind immer wieder erzählt.

Nach dieser Geschichte gab es vor langer Zeit einen sehr reichen und stolzen Bauern im Dorf. Er hatte den größten und prächtigsten Hof in der ganzen Gegend, niemand konnte ihm das Wasser reichen. Aber er war auch sehr hartherzig.“ Robert machte eine kleine Kunstpause. „Eines Tages klopfte ein Bettler an seine Tür und bat um ein Almosen. Der reiche Bauer aber ließ ihn vom Hof prügeln. Daraufhin verfluchte der Bettler ihn und prophezeite, dass eine Sturmflut kommen und den Bauern mitsamt seinem ganzen Hof verschlingen würde.“

„Lass mich raten: Das ist die Stelle, wo der Kolk war“, meinte Henri trocken.

„Genau das! Die Sturmflut kam, der Bauer ertrank zusammen mit seiner gesamten Familie, sein Haus wurde vernichtet und stattdessen blieb an dieser Stelle – als Mahnung sozusagen – der tiefe See.“ Robert schaute noch einmal zu dem Bild hinauf. „Und seitdem, so erzählten sich die Leute im Dorf, konnte man in dunklen Sturmflutnächten den Bauern und seinen Sohn sehen, wie sie über die Felder irrten, auf der Suche nach ihrem untergegangenen Heim.“ Roberts Stimme war zu einem effektvollen Raunen geworden. „Niemand durfte sich ihnen in den Weg stellen, sonst war er dem Tod geweiht.

Deine Urgroßmutter kannte noch eine alte Frau, die diese dunklen Gestalten selbst gesehen hatte. Sie schwor, dass sie ihre großen Augen in der Dunkelheit hätte leuchten sehen.“

„Mann, Opa!“, beschwerte sich Henri lachend. Was meinte er denn, wie alt sie war? Mit solchen Spukgeschichten konnte er sie nun wirklich nicht mehr beeindrucken. „Lass man gut sein.“

„Wieso?“, wollte Robert unschuldig wissen, konnte sich aber ein Zwinkern nicht verkneifen.

In diesem Moment kam Lotte hereingestürmt.

„Henri, das musst du dir anschauen. Da ist ein Kasten, in dem man selbst Wellen machen kann.“ Henri und Robert schlossen zu ihr auf und ließen sich in den nächsten Raum zerren.

Als sie von ihrem Ausflug zurückgekehrt waren, den sie mit Waffeln in einem der Cafés am Hafen gekrönt hatten, war der Regen zum Glück abgezogen, und die ersten Sonnenstrahlen des Tages bohrten sich durch die grauen Wolken.

Am Abend beschloss Henri, noch einmal ein wenig die Gegend zu erkunden. Vielleicht hegte sie auch die vage Hoffnung, zufällig auf Beo zu treffen, aber sie hatte nicht vor, noch einmal zu dem Laden oder sogar zu seiner Adresse zu fahren. Das hätte zu sehr danach ausgesehen, dass sie sich für ihn interessierte.

Sie schob das Rad aus dem Schuppen und stieg auf. In die Sonne blinzelnd trat sie in die Pedale. Der Abend war so schön. Die Luft war frisch und klar nach dem Regen am Vormittag, und von den Gräben stieg ein feuchter, kühler Dunst auf. Mücken tanzten in der Abendsonne, die das Laub der Bäume orangerot einfärbte.

Spontan beschloss Henri in der Ausfahrt, nicht zur Hauptstraße zurückzufahren, sondern nach links abzubiegen. Einige weitere Häuser standen noch rechts und links des gepflasterten Fahrweges, aber nach hundert Metern endeten die gepflegten Grundstücke und machten Wiesen und Feldern Platz.

Henri atmete tief ein und ließ den Blick schweifen. Eine Weile fuhr sie gemächlich dahin, bis sie spontan an einer Kreuzung nach links abbog. Aus dem Straßenpflaster wurde Schotter. Büsche und Bäume säumten den Weg, der schnurgerade nach Westen führte, der Sonne entgegen.

Henri kannte sich in der Gegend recht gut aus, diesen Weg hatte sie jedoch noch nie ausprobiert. Sie hatte gehofft, dass er bald wieder auf eine andere Straße münden würde, aber stattdessen wurde er immer unwegsamer. Stellenweise war er fast zugewachsen und bestand nur noch aus zwei einzelnen Fahrspuren, ein Zeichen dafür, dass er nur selten benutzt wurde. Der Weg schien ein wenig erhöht zu liegen. Jedenfalls wirkte es so, als würde sich das Land nach rechts und links absenken. Dadurch konnte Henri über die Büsche, die den Weg säumten, hinweg auf die Weiden und Wiesen schauen.

Sie kam nur noch mühsam voran. Der Boden war nach den Regenfällen des Vormittags aufgeweicht und von Pfützen durchsetzt.

Gerade überlegte sie, ob es nicht besser wäre, umzukehren, als urplötzlich irgendetwas aus einem Busch rechts des Weges hervorbrach. Mit Knacken, Rascheln und einem lauten Schrei, der klang wie eine alte Autohupe, schoss direkt vor ihr ein riesiger Fasan in die Höhe.

Unwillkürlich riss Henri am Lenker, sodass das Rad nach links ausbrach. Sofort geriet das Vorderrad ins dichte Gras. Henri versuchte noch gegenzulenken und zu bremsen, aber im nächsten Augenblick wurde sie schon vom Fahrrad geworfen. Wie von einer Riesenhand ergriffen, flog sie im hohen Bogen in einen Haselbusch und kugelte seitwärts durch dichtes, regenfeuchtes Geäst.

Sie spürte, wie Zweige an ihrem T-Shirt rissen und ihre Arme zerkratzten. Für einen Augenblick kniff sie instinktiv die Augen zusammen, während sie weiter durch das Gesträuch rutschte und schließlich unsanft auf dem Boden zwischen zwei Büschen aufkam. Erst jetzt öffnete sie vorsichtig die Augen.

Benommen blinzelte sie durch das dichte, grüne Laub, während sie herauszufinden versuchte, ob sie sich verletzt hatte. Ein vorsichtiges Bewegen der Arme und Beine beruhigte sie ein wenig. Sie spürte zwar das Brennen der Haut, wo die Zweige sie zerkratzt hatten, aber ansonsten schien alles an ihr heil geblieben zu sein.

Henri richtete sich ein wenig auf und begann sich dann unbeholfen aus dem Dickicht herauszuwinden. Sie schob einen Zweig beiseite und schaute sich um.

„What the ...“

Sie war sich ziemlich sicher, dass sich noch vor wenigen Minuten links des Feldweges ein Getreidefeld befunden hatte. Sie hatte sogar die reifen Ähren bewundert. Dennoch: Sie musste sich getäuscht haben. Henri rieb sich die Augen.

Es gab keinen Zweifel. Gesäumt von alten Erlen und Weiden erstreckte sich vor ihr ein großer, dunkler Kolk. Ein Nebelhauch lag über der glatten Wasseroberfläche, sodass er beinahe magisch wirkte. Es herrschte völlige Stille. Keine Vogelstimme war zu hören. Außerdem war es überraschend kalt.

Henri stellte fröstelnd fest, dass ihr Atem eine Wolke vor ihrem Gesicht bildete. Die Kälte schien direkt aus dem Wasser aufzusteigen. Die knorrigen Erlen neigten ihre Zweige über den Kolk, sodass sie beinahe hineintauchten. Anders als bei anderen Teichen konnte Henri keine Enten oder Seevögel auf dem Gewässer ausmachen. Es roch nach Herbst.

„Wo kommt denn jetzt plötzlich dieser verdammte See her?“, flüsterte Henri ungläubig, während sie sich ein wenig weiter aus dem Gebüsch herauskämpfte und sich aufrichtete.

Sie wollte ihr Handy zücken, um ein Foto zu machen, aber eine Bewegung am anderen Ufer ließ sie erstarren.

Da war irgendetwas. Oder irgendjemand? Instinktiv duckte sie sich wieder zurück in das Gebüsch, als sie die Gestalt eines Mannes aus dem tieferen Schatten der Erlen auftauchen sah. Er war groß gewachsen und schlank. Ein junger, sportlicher Typ in dunkler, unauffälliger Kleidung, mit einer Schirmmütze, unter der ein blasses Gesicht mit dunklen Augen über hohen Wangenknochen zu erkennen war.

Sie beobachtete ihn, wie er mit sicheren Schritten am Ufer entlangging, dann jedoch plötzlich zur Seite abbog und in einem Gebüsch verschwand. Wieder lag der Kolk ruhig und verlassen da.

Henri wartete einen Moment, bis sie sicher war, allein zu sein. Sie richtete sich wieder auf und versuchte, durch den Haselbusch zurückzuschauen, wo Helgas Fahrrad liegen musste. Doch hinter ihr tat sich nur eine Wand aus undurchdringlichem Laub auf. Wo war der Weg, den sie gekommen war? Müsste sie ihn nicht auch von hier aus sehen können? Henri trat einen Schritt zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Büsche hinwegzuspähen. Ohne Erfolg.

Langsam begann sie, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Hatte sie vielleicht einen Schlag auf den Schädel bekommen, der nun dazu führte, dass sie fantasierte? Henri befühlte zur Sicherheit ihren Kopf, aber da war keine Beule, und sie konnte sich im Übrigen auch an keinen Aufprall erinnern.

Henri spürte eine unerklärliche Unruhe in ihr aufsteigen. Die Haut in ihrem Nacken begann zu prickeln und ihr Herzschlag legte einen Gang zu. Eine Gänsehaut zog über ihre Arme, und sie war sich nicht ganz sicher, ob es an der Kälte oder ihrer plötzlichen Angst lag. Es war so unwirklich hier, wie in einem Traum, aber einer von der Sorte, aus dem sie schnell wieder erwachen wollte. Nur weg von hier!

Henri suchte im Gebüsch nach der Stelle, durch die sie hereingekommen war. Dort, wo zerknickte Zweige ihr den Weg wiesen, musste sie wieder hinein. Sie zog den Kopf ein und legte die Arme dicht an den Körper, bevor sie sich seitwärts gegen die Zweige stemmte, die kaum vor ihr weichen wollten. Sie musste sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen lehnen, um sich einen Weg zu bahnen.

Sie kniff die Augen zusammen. Wieder rissen die Zweige an ihrer Kleidung, als wollten sie sie zurückhalten. Schließlich gab das Unterholz jedoch nach. Mit einem plötzlichen Ruck rutschte Henri vorwärts.

Sie riss die Augen auf, als sie aus dem Busch heraustaumelte. Direkt vor ihr lag Oma Helgas Fahrrad im Gras. Die Abendsonne malte goldgelbe Strahlen auf die Weiden und Felder. Irgendwo sang ein Vogel. Im Gras zirpten die Grashüpfer. Warme Luft strich über Henris Gesicht.

Ächzend klopfte sie sich die Hose ab, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. Der Weg, Wiesen, Gräben unter einem orange-goldenen Abendhimmel. Aber kein Kolk weit und breit. Er war fort, als hätte es ihn nie gegeben.

Henri schüttelte den Kopf. „Was war das denn?“, murmelte sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und spähte über die Büsche hinweg. Die reifen Getreideähren standen dort auf dem Feld, als wäre nie etwas gewesen.

Schließlich hob Henri das Rad auf, um zu überprüfen, ob es beschädigt war. Zum Glück war ihm nichts passiert. Sie wendete und stieg wieder auf.

Langsam strampelte sie die Furche hinunter, sah sich jedoch nach einigen Metern nochmals um. Ihr Blick glitt über die Weiden und Felder. Kein Kolk.

Sie schüttelte fassungslos den Kopf.

***

4

„Da bist du ja, Henri!“, rief ihr Helga entgegen, als sie durch die Hintertür hereinkam. „Du bist spät dran. Wir haben schon mal angefangen.“

Henri trat in die Küche, wo die anderen bereits am Küchentisch saßen. „Ja, Entschuldigung“, stieß sie hervor und schaute auf die Wanduhr. Erstaunlich, dass es schon so spät war.

„Hast du eine schöne Radtour gemacht?“, fragte Robert.

„So was Ähnliches“, seufzte Henri.

„Na, dann wasch dir mal die Hände und setz dich zu uns.“ Helga zeigte einladend auf den leeren Stuhl.

Kurze Zeit später ließ sich Henri mit einem Stöhnen darauf fallen. „Ihr glaubt ja gar nicht, was mir gerade passiert ist.“

„Hast du Beo getroffen?“, erkundigte sich Helga.

„Was? Nein!“ Den hatte sie ganz vergessen. Verrückt, dass Helga jetzt auf ihn kam. „Etwas ganz anderes. Ihr werdet es nicht glauben.“ Sie schaute in die drei fragenden Gesichter der anderen am Tisch und wandte sich an Robert. „Opa, wir hatten doch diesen Kolk auf der alten Karte im Museum gesehen, erinnerst du dich?“ Robert nickte überrascht.

„Was ist das, ein Kolk?“, fragte Lotte dazwischen.

Robert erklärte: „Hier bei unserem Dorf gab es vor langer Zeit einen See, Kolk oder auch Brack genannt, der durch einen Deichbruch bei einer Sturmflut entstanden war. Heute ist er verschwunden, wahrscheinlich ausgetrocknet oder aufgefüllt.“ Er sah Henri stirnrunzelnd an. „Aber wieso kommst du jetzt darauf?“

Henri holte tief Luft. „Weil ich ihn gerade vorhin gesehen habe, diesen Kolk. Es gibt ihn immer noch! Und er liegt gar nicht weit weg von hier!“

Helga und Robert schauten sie entgeistert an.

„Der alte Kolk? Unmöglich!“, widersprach Helga.

„Du musst dich irren, Henri. Vielleicht bist du bis zu Krautes Mühle gefahren. Dort gibt es einen Karpfenteich“, ergänzte Robert.

Henri jedoch schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ganz sicher. Ich bin doch nicht bescheuert. Ich weiß doch, wo die Mühle ist. Nein, es war ein ziemlich großer See, mit alten Bäumen am Ufer.“ Ein Blick in die Gesichter ihrer Großeltern zeigte ihr, dass sie ihr nicht im mindesten Glauben schenkten.

Robert beugte sich vor und legte eine Hand beruhigend auf Henris Arm. „Henri, glaub es mir doch. Hier gibt es keinen Kolk mehr. Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche. Davon wüsste ich ganz bestimmt.“

Mit einem Ruck zog Henri ihren Arm unter seiner Hand hervor. „Aber ich habe mir das doch nicht eingebildet. Ich bin mir ganz sicher, dass ich diesen Kolk gesehen habe“, insistierte sie ärgerlich.

Lotte schaltete sich ein. „Vielleicht hast du ja eine Pause gemacht und bist eingeschlafen. Und dann hast du es geträumt. Ich habe neulich geträumt, ich hätte ein echtes Pony geschenkt bekommen, und als ich aufgewacht bin, habe ich für einen Moment gedacht, es stände unten im Garten.“

Henri warf ihr einen verachtenden Blick zu. Auf so etwas konnte auch nur ihre Schwester kommen. „Ich schwöre, ich habe es mir nicht eingebildet. Und schließlich gab es doch wirklich früher diesen Kolk. Robert, du hast selbst gesagt, wie seltsam es ist, dass nichts mehr davon zu sehen ist.“

Ihr Opa wiegte den Kopf. „Trotzdem gibt es ihn nicht mehr.“ Einer Eingebung folgend stand er auf, ging zum Schrank hinüber, öffnete eine Schublade und holte eine Karte hervor. Auf dem Weg zurück zum Tisch begann er, diese zu entfalten. Helga schob eilig ein paar Teller beiseite, um ihm Platz zu machen. Vorsichtig halbierte Robert die Karte, sodass nur der entscheidende Teil zu sehen war und legte sie vor Henri auf den Tisch.

„Also, dann zeig mir mal, wo du warst“, forderte er sie auf und wies auf die Straßen des Dorfes, das in der Mitte zu sehen war. Henri brauchte einen Moment, um sich auf der Ansicht zurechtzufinden.

Mit den Augen folgte sie der Bundestraße und bog in die Seitenstraße ab, an der das Haus ihrer Großeltern lag. Ihr Zeigefinger tippte darauf und fuhr dann die helle Linie entlang.

„Ich bin hier runtergefahren, bis die letzten Häuser aufhörten, und dann ein wenig weiter. Moment, und dann ... bin ich hier abgebogen.“ Sie zeigte auf die Abzweigung des Feldweges. „Und nach ein paar hundert Metern kam plötzlich dieser fette Vogel aus dem Gebüsch geflogen. Ich habe mich so erschreckt, dass ich vom Rad gefallen bin, mitten rein in dieses Gebüsch. Und als ich auf der anderen Seite der Büsche herauskam, lag da der See.“

Es war allerdings nur unschwer zu erkennen, dass auch auf der Landkarte weit und breit kein See eingezeichnet war. Robert starrte angestrengt auf die Karte, während er sich den Rand seiner Glatze kratzte.

„Henri, da ist kein See“, wiederholte er. „Obwohl ich zugeben muss, dass die Position ungefähr mit der übereinstimmen könnte, die auf den alten Karten verzeichnet ist. Dort in der Gegend scheint auch vor langer Zeit ein Deich gewesen zu sein.“

„Siehst du?!“, platzte Henri heraus. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass wenigstens ihr Großvater ihr ein kleines Bisschen glaubte. Dieser Eindruck trog jedoch offenbar, denn im nächsten Satz fügte Robert hinzu: „Nein, Henri. Du musst dich einfach irren. Es ist und bleibt so: Den Kolk gibt es nicht mehr. Punkt.“ Er begann, die Karte wieder zusammenzufalten.

Aber so leicht gab sich Henri nicht geschlagen. „Wie wär‘s, wenn wir morgen früh dort hinfahren und uns die Stelle ansehen?“, fragte sie herausfordernd. „Dann kannst du selbst sehen, wo der Kolk ist.“

Ihr Großvater musste lachen. „Okay, okay, Henri. Wir fahren morgen früh dorthin und schauen gemeinsam nach.“ Er stand auf, um die Karte wegzuräumen. „Aber ich glaube es erst, wenn ich meine Hand in das Wasser tauchen kann.“

„Du wirst schon sehen“, versprach Henri und griff nun endlich nach ihrem Brötchen.

„Da sind wir“, stellte Henri fest, als sie am nächsten Morgen den zugewachsenen Feldweg hinuntergingen. Auch Lotte und Helga hatten sich angeschlossen.

Da es ein warmer Tag zu werden versprach, hatten sie beschlossen, einen gemeinsamen Ausflug an die Küste zu unternehmen. Sobald sie nach dem Kolk gesucht hatten, wollten sie aufbrechen.

Henri wies mit einer Handbewegung auf die Sträucher auf der linken Seite. „Hier irgendwo muss es gewesen sein, wo ich in die Büsche gefallen bin.“

„Aber da ist nur ein Feld, Henri“, stellte Lotte nüchtern fest.

„Ja, das habe ich ja auch gedacht“, erwiderte Henri etwas gereizt. „Aber dann war da hinter den Büschen der See.“

Helga stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Blick schweifen. „Ich war schon ewig nicht mehr hier. Man merkt tatsächlich, dass der Weg auf einem alten Deich verläuft. Aber ein See war hier noch nie.“

Henri war der Verzweiflung nahe. Aber auch sie selbst musste sich eingestehen, dass kein Kolk zu sehen war. So ein Gewässer war einfach zu groß, um es zu übersehen. Entweder es war da, oder es war nicht da. Über seine Existenz konnte es wohl kaum zwei verschiedene Meinungen geben.

Sie ging zu einem Haselbusch, der so aussah wie jener, in den sie am Abend zuvor gefallen war, und versuchte, sich zwischen den Zweigen hindurchzuschieben.

„Er muss doch hier irgendwo sein!“

Sie blieb im Dickicht stecken und musste wieder kehrtmachen. „Ich versteh‘s nicht! Ich bin doch nicht bescheuert!“

Helga legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern. „Mach dir nichts draus. Wahrscheinlich warst du tatsächlich bei dem Karpfenteich. Die Richtung würde ja stimmen. Kommt, wir gehen wieder zurück.“

Gemeinsam kehrten sie zum Auto zurück, das an der Abzweigung auf sie wartete. Dort angekommen, sah sich Henri noch einmal um. Die anderen schienen mit dem Thema abgeschlossen zu haben. Der Himmel wusste, was sie jetzt von ihr dachten. Vielleicht, dass sie Drogen genommen hatte oder sowas. Aber für Henri war die Sache noch lange nicht erledigt. Ganz sicher nicht!

Während der gesamten Fahrt ans Meer schaute Henri gedankenverloren aus dem Fenster. Lotte dagegen plapperte unaufhörlich.

„Wo fahren wir denn hin?“, wollte sie wissen.

„In einen Ort, der heißt Schillig“, erklärte Helga geduldig.

„Chillig? Das passt ja super!“, schrie Lotte begeistert.

Robert korrigierte sie lachend. „Schillig, nicht chillig. Da gibt es einen riesigen Campingplatz, aber auch einen schönen Sandstrand. Hoffentlich ergattern wir noch einen Strandkorb.“

Kurze Zeit später sah Henri das Ortsschild vorbeiziehen, dann eine sehr ungewöhnlich aussehende, moderne Kirche und zuletzt einen langgestreckten Kreisverkehr mit einem großen, bunt bemalten Seehund in der Mitte.

Robert fand noch ein Plätzchen auf einem gut gefüllten Parkplatz, hinter dem schon der Deich zu sehen war. Sie stiegen aus und schnappten sich jeder eine Tasche aus dem Kofferraum, um gleich darauf den Deich zu erklimmen.

Oben angekommen ließen sie den Blick schweifen über Wiesen, Dünen und das Meer dahinter. Henri konnte die Scharen von Touristen sehen, die sich auf den Wegen und zwischen den zahlreichen Strandkörben tummelten.

Tatsächlich war es so voll, dass bereits alle Körbe vermietet waren. Sie ließen sich davon jedoch nicht den Tag verderben und gingen stattdessen direkt an den Strand.

Eine halbe Stunde später saß Henri mit einem Eis in der Hand auf einer Decke im Sand und sah zu, wie Lotte einige Meter weiter andächtig ihre nackten Füße im Wasser badete. Robert hatte eine Strandmuschel aufgestellt, in der er nun mit Helga saß. Sie hatte einen Roman mit dem Titel „Der Meermann in der Gartenlaube“ herausgeholt und las darin.

Henri grübelte immer noch über den Kolk nach. Wie konnte es sein, dass sie etwas gesehen hatte, das es eigentlich nicht gab? Was war in diesen Sekunden passiert, als sie vom Rad fiel?

Warum war dieser See nicht einfach für alle sichtbar? Es hatte ihn doch schließlich früher auch schon gegeben! Wann war er so unsichtbar geworden? Und wie?

Oder hatte sie sich das Ganze doch nur eingebildet? Was hatte es mit diesem Mann auf sich, den sie beobachtet hatte? Für ihn war es offenbar völlig normal gewesen, sich an dem Kolk aufzuhalten.

Henri biss von der Eiswaffel ab und ließ den Blick über die Leute um sie herum schweifen: eifrige Kinder, die mit Schaufel und Eimer im Sand spielten, dünn bekleidete Familien, die sich um ihre Strandmuschel gruppierten, Rentner in kurzen Hosen, die langsam am Wassersaum entlang flanierten.

Bei so viel nackter Haut fiel ein junger Mann regelrecht aus dem Rahmen, der von rechts an Henri vorbeiwanderte und tatsächlich vollkommen bekleidet war, in ein langärmeliges, graues Shirt und eine lange Hose, die er an den Beinen ein wenig hochgekrempelt hatte. Unter der Sonnenmütze war ein kaum gebräuntes Gesicht mit hohen Wangenknochen zu sehen.

Henri starrte dem Mann mit der athletischen Figur nach, wie er zwischen den Touristenscharen verschwand. Hatte der Typ gerade nicht genauso ausgesehen, wie der, den sie am See beobachtet hatte? War das möglich?

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Vielleicht hatte sie auch Halluzinationen ...

„Komm, Henri, du musst auch mal ins Wasser!“, schrie Lotte, die gerade auf sie zu gerannt kam. „Es ist ganz toll!“

Widerwillig schob sich Henri den Rest ihrer Eiswaffel in den Mund und stand auf.

Es war Nachmittag, als sie wieder nach Hause zurückkehrten. Sie brachten ihre sandigen Taschen ins Haus und stellten sie im Flur ab. Während sich Henri unter die Dusche begab, sortierte Lotte die Muscheln, die sie am Strand gesammelt hatten. Die Großeltern brauchten erst einmal eine kleine Pause.