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Helena und Taron. Beide haben sie grüne Augen, aber darüber hinaus könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Helena ist eine wohlhabende Tochter aus gutem Hause, Taron ein mittelloser Vagabund, ein Außenseiter, der ein dunkles Geheimnis hütet. Sie begegnen sich, als Taron mit einer Bande von Straßenräubern Helenas Kutsche überfällt. Sofort fühlen sie sich zueinander hingezogen, aber ihre Beziehung wird schon bald auf eine harte Probe gestellt. Gegen Tarons Rat begibt sich Helena in große Gefahr, und dieser sieht schließlich nur noch einen Weg, um sie zu retten: indem er ihr folgt und an ihre Stelle tritt - mit allen Konsequenzen.
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Seitenzahl: 522
Veröffentlichungsjahr: 2025
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EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
Helena musste sich festhalten, als die Kutsche durch ein besonders tiefes Schlagloch schaukelte. Inzwischen legte sich die Dämmerung über den Wald draußen.
Schon bei der Abreise am Vormittag war klar gewesen, dass sie es kaum vor der Dunkelheit bis nach Hause schaffen würden. Aber dass sie nun gerade zu dieser Zeit den großen Wald jenseits des Flusses durchqueren mussten, war mehr als beunruhigend.
„Wie weit ist es denn noch?“, fragte Helenas Schwester Delia, die neben ihr saß und fortwährend aus dem Fenster starrte.
Ihr Vater ihnen gegenüber krauste missmutig die Stirn. „Eine halbe Stunde wird es wohl noch mindestens dauern. Das gefällt mir überhaupt nicht. Jeder weiß doch, was sich hier für Gesindel herumtreibt!“
Der gleichen Meinung schien auch der Kutscher oben auf dem Bock zu sein, denn gerade in diesem Moment knallte er mit seiner Peitsche über den Köpfen der Pferde und trieb sie zur Eile an. Er hatte sich nicht einmal Zeit genommen, die Laternen an den Seiten der Kutsche anzuzünden. Nur raus aus diesem Wald!
Helena beugte sich vor, um wie ihre Schwester einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Eigentlich liebte sie die Wälder rund um ihre Heimatstadt Flussau. Die von alten Eichen umstandenen Lichtungen, die Stellen, wo es im Frühling weiß von Buschwindröschen war. Doch nun fühlte sie sich unbehaglich. Unter den Bäumen lauerte die Dunkelheit. Schatten streckten ihre langen Finger nach ihnen aus.
Sie versuchte, sich zu orientieren. Bald müsste die Wegkreuzung kommen, mit dem großen Findling als Wegweiser. Von dort war es dann nicht mehr weit. Tatsächlich tauchte nun vor ihnen eine Lichtung auf.
Die Kutsche verlangsamte kaum ihre Fahrt, als sie sich dem mannshohen Findling am Wegesrand näherte. Im Zwielicht schien sich der Stein zu bewegen. Er entwickelte Arme, einen Kopf, als wäre es ein lebendiges Wesen. Doch im nächsten Augenblick schon erkannte Helena, dass es ein Mann war, der aus dem tiefen Schatten des Findlings heraustrat.
Sie schrie auf. Dann ging alles sehr schnell. Innerhalb von Sekunden schien der Wald um die Kutsche herum zum Leben erwacht zu sein. Dunkel gekleidete Männer schälten sich aus den Schatten wie teuflische Geister und stellten sich dem Wagen in den Weg.
Der Kutscher fluchte laut und holte mit der Peitsche aus, doch die Männer brachten die Pferde trotzdem so plötzlich zum Stehen, dass die Insassen der Kutsche unsanft durchgeschüttelt wurden.
Helena konnte sich gerade noch an einem Griff festklammern. Ein Bandit bedrohte den Kutscher mit seiner wuchtigen Pistole, ein anderer riss jetzt die Tür auf. Er trug eine halb verdeckte Laterne in der einen und eine Pistole in der anderen Hand.
„Alle raus!“, befahl der Mann barsch. Weitere Laternen flammten auf.
Helenas Vater versuchte in einem ungewöhnlichen Anfall von Tapferkeit, Widerstand zu leisten.
„Was erlauben Sie sich überhaupt? Mein Name ist Greizenich, ich bin ein Bürger, Mitglied im Rat der Stadt. Sie dürfen mit uns nicht so umspringen.“
„So, ein Bürger der Stadt also! Dann hast du sicherlich ein hübsches Sümmchen dabei, das du uns nun möglichst schnell herausrücken könntest?“ Der Mann hatte sein Gesicht mit einem Tuch verhüllt, sodass er nur undeutlich zu verstehen war, aber Helena hörte seinen ironischen Unterton.
„Raus!“, befahl der Mann ein zweites Mal und hielt ihrem Vater die Waffe so dicht vor den rundlichen Bauch, dass er sogleich seinen Widerstand aufgab.
Nacheinander stiegen sie aus der Kutsche und blieben dann im flackernden Schein der Laternen stehen. Während ein anderer Bandit in das Fahrzeug stieg, um es zu durchsuchen, widmete sich der erste Straßenräuber nochmals Helenas Vater.
„Rück raus, was du hast!“, befahl er. Wieder gestikulierte er mit der Pistole.
Herr Greizenich wich zurück und hob verängstigt die Hände. Delia, die neben ihrem Vater stand, drückte sich schutzsuchend an ihn. „Tun Sie uns nichts, bitte“, wimmerte er. Seine Würde und Tapferkeit waren ihm gerade sehr schnell abhandengekommen.
Helena beobachtete das Geschehen mit klopfendem Herzen. Sie versuchte, sich an die Seite zurückzuziehen. Noch hatte niemand der Räuber ihr irgendeine Beachtung geschenkt, aber das würde sich sicherlich schon bald ändern.
Sie widerstand dem Impuls wegzulaufen. Das war absolut sinnlos. Sie würde nicht weit kommen in ihrem engen Kleid und einem Korsett darunter, das ihr die Luft abschnürte.
Eine Bewegung ließ sie zusammenzucken, als sich ihr ein Mann näherte. Er war etwas größer als sie, schlank und breitschultrig. Auch er hatte sich ein Halstuch über das Gesicht gebunden, sodass nur noch seine Augen unter einem Schopf leicht gelockter, dunkler Haare zu sehen waren. Er stand so dicht vor Helena, dass sie selbst in dem tanzenden Licht der Laternen bemerkte, wie durchdringend grün seine Augen waren. Einen kurzen Moment lang studierte er sie mit diesen grünen Augen, die von dunklen Wimpern gesäumt waren.
„Los, rück raus, was du hast.“ Seine Stimme klang überraschend jung.
Helena zögerte. Aus irgendeinem Grund hatte sie keine Angst vor diesem Mann. Wenn es jemand anders gewesen wäre, hätte sie sofort gehorcht.
Mit einem ungeduldigen Runzeln der Augenbrauen hob der Mann einen Dolch, den er gezogen hatte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Helena zuckte unwillkürlich zurück. Wieder glitt ihr Blick suchend zu den grünen Augen hinauf, als könnte sie dort sehen, was von dem Mann zu erwarten war – oder zu befürchten.
Er wusste, dass diese ganze Sache ein einziger Fehler war. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Solche Überfälle waren nicht sein Ding. Sie waren viel zu gefährlich, und am Ende blieb für ihn sowieso nur ein kleiner Rest der Beute übrig.
Er konnte so einem hübschen Mädchen einfach keine Gewalt antun. Das war sein Problem.
Sie war noch jung, um die zwanzig, und elegant gekleidet. In dem Licht der Laternen sah er den Seidenstoff schimmern, aus dem ihr Umhang gemacht war.
Ihre großen, grünen Augen schauten ihn angstvoll an, ihre Lippen waren leicht geöffnet. Rotgoldene Locken umrahmten das blasse Gesicht. Sie war reizend, wirklich reizend …
Er gab sich einen Ruck. Nun steckte er mittendrin, da musste er es auch zu Ende bringen, und das möglichst schnell.
Sein Blick fiel auf die goldene Kette mit dem glitzernden Anhänger, die sie um den Hals trug. Besser als nichts. Er würde die nehmen und dann verschwinden.
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte der Mann plötzlich seine Hand ausgestreckt und mit einer schnellen Bewegung nach ihrem Hals gegriffen. Sie hatte keine Zeit zur Gegenwehr, spürte nur seine Finger auf ihrer Haut und einen Ruck, als sie an der Kette zogen. Helena durchfuhr ein scharfer Schmerz, bevor die Kettenglieder gleich darauf rissen.
Für gewöhnlich machte er dies auf seine Art: kunstfertiger und nicht mit Gewalt, aber für Taschenspielertricks war jetzt keine Zeit. Er zog die Kette so vom Hals der jungen Frau, das der Anhänger nicht verlorenging.
Das war die Kette, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte! Nein, die durfte er ihr nicht nehmen!
Unwillkürlich fuhr ihre linke Hand an ihren Hals, aber seine Finger und die Kette entglitten ihr. Stattdessen griff sie mit der anderen Hand nach dem Tuch in seinem Gesicht und zog daran.
Bevor er den Kopf abwenden konnte, riss sie ihm das Tuch herunter.
Sie kannte den Mann nicht, aber sie war überrascht, wie jung er war, Mitte 20, kaum älter als sie selbst. Jedenfalls sah er nicht so aus, wie sie sich einen Straßenräuber vorgestellt hätte. Nur einen winzigen Augenblick schaute sie in sein Gesicht, aber sie wusste, dass sie ihn wiedererkennen würde.
Ihre Blicke kreuzten sich.
Sofort drehte er sich von ihr weg und zog dabei das Tuch wieder über sein Gesicht. Wie hatte er sich nur so überrumpeln lassen können! Er hatte dieses Mädchen unterschätzt.
Das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, machte ihn wütend. Er hob den Dolch und näherte die Klinge ihrem Hals.
Mit einem leisen Aufschrei wich Helena zurück, stieß jedoch sofort gegen das Rad der Kutsche hinter ihr. Durch das Tuch hörte sie den schnellen Atem des Mannes.
Er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren.
Am besten war es, so schnell wie möglich zu verschwinden. Er wollte nicht auf die anderen warten. Es dauerte jetzt schon alles viel zu lang.
Eine Sekunde musterte der Mann sie, dann wanderte seine Aufmerksamkeit zu der Truhe, die gerade aus der Kutsche gehievt wurde. Helena wusste, was sie darin finden würden.
Offenbar hatten die anderen gerade einen Fund gemacht. Die Truhe war sicherlich ein guter Fang, aber er musste wohl darauf verzichten.
Einer der Männer drehte sich zu ihnen um und hob die Laterne an, die er in der Hand hielt.
„Was ist mit der da?“, wollte er wissen und deutete auf Helena. „Hast du sie abgesucht? Du Anfänger, warte, ich mach das gründlicher!“
Helena versuchte, sich weiter in den Schatten zurückzuziehen. Erst jetzt wurde sie von echter Panik ergriffen. Irgendwie hatte sie eine Ahnung davon, was dieser andere Verbrecher mit ihr anstellen könnte.
Er war der jungen Frau so nahe, dass er spürte, wie sie zusammenfuhr. Sie hatte Angst, das konnte man selbst im Halbdunkel sehen.
Plötzlich erfasste ihn so etwas wie Mitgefühl. Einen wie diesen Kerl hatte sie nicht verdient. Es widerstrebte ihm, sie an ihn auszuliefern. Das Mindeste, was dieser tun würde, wäre, sie von oben bis unten zu begrabschen.
Unwillkürlich machte er einen Schritt nach vorn, sodass er halb vor der Frau stand und sie in seinen Schatten geriet.
„Ich hab sie genug durchsucht, um zu wissen, dass sie nichts bei sich hat. Halt dich an die Truhe, da ist mehr zu holen. An ihr ist nichts dran.“
Sie traute ihren Ohren kaum. Erst bestahl dieser Verbrecher sie, dann beschützte er sie?
Er war sich nicht sicher, ob er den Mann tatsächlich überzeugt hatte, aber in diesem Moment schaffte es jemand, die Truhe mit Gewalt zu öffnen. Sofort kehrte die Aufmerksamkeit des anderen Räubers dorthin zurück.
Sie stieß keuchend die Luft aus. Ihre Knie wurden ganz weich, jetzt, wo ihre Anspannung nachließ. Sie musste sich an das Rad der Kutsche lehnen.
Sie wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Er bemerkte, dass die Frau noch blasser als vorher geworden war. Ihre grünen Augen glänzten feucht.
Er fluchte leise. In was, verdammt nochmal, hatte er sich hier hineingeritten?
Er musste sofort weg von hier. Mit einem Ruck trat er von der Frau zurück, warf ihr einen letzten Blick zu, steckte die Kette in seine Tasche und machte kehrt.
Dann, im nächsten Augenblick, hatte sich der junge Mann umgedreht und war im Dunkel des Waldes verschwunden.
Helena sah zu den anderen hinüber. Die Straßenräuber waren dabei, die Truhe zu durchwühlen. Jetzt stießen sie auch auf das lederne Säckchen, in dem Helenas Vater die Goldmünzen verwahrt hatte. Der Anführer der Bande wog es mit einem anerkennenden Grunzen in der Hand und steckte es in einen Leinensack.
Unruhe erfasste die Gruppe. Offenbar wollten sie sich nicht länger aufhalten als nötig.
„Das war’s“, verkündete der Anführer mit rauer Stimme. „Weg hier!“
Er wandte sich an den Bürger Greizenich: „Gehabt Euch wohl und gute Nacht!“ Er verbeugte sich spöttisch. Nach einem letzten Blick drehte er sich um und gab mit der Hand das Signal zum Aufbruch.
So schnell wie sie gekommen waren, verschwanden die Banditen auch wieder. Ein Rascheln noch, dann waren sie fort. Plötzlich war es dunkel und still um die Kutsche.
„Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Bürger Greizenich?“, fragte der Kutscher aus der Dunkelheit. Nach zwei vergeblichen Versuchen gelang es ihm, eine der Kerzen in den Laternen anzuzünden.
Ihr schwacher Schein beleuchtete das bleiche, schweißnasse Gesicht des Mannes. Seinen Hut hatte er verloren, über seine Wange zog sich eine deutliche, rote Schramme. Ansonsten schien er jedoch unverletzt geblieben zu sein.
„Ja, ja, alles in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass wir um einige Taler ärmer sind.“ Herr Greizenich richtete seinen Hut und rang um Fassung. „Fahr uns heim, Kutscher. Es hat keinen Sinn, sie verfolgen zu wollen. Sie sind weg.“
Im schwachen Licht der Laterne tasteten sie sich zurück in das Innere der Kutsche. Helena ließ sich dankbar auf das Polster sinken. Ihre Knie waren noch ganz weich. Ihr Vater zog die Tür zu, woraufhin sich die Kutsche sogleich mit einem Ruck in Bewegung setzte.
Delia schluchzte leise. Die Furcht, die sie ausgestanden hatte, ließ sie nicht so schnell los. Zum Glück war ihr nichts geschehen. Helena drückte aufmunternd ihre Hand und dachte, dass sie sich schon bald wieder erholt haben dürfte und ihren Freundinnen demnächst eine aufregende Geschichte würde erzählen können.
Auch sie selbst war aufgewühlt von den Ereignissen. Sie war noch nie überfallen worden, und die konkrete, direkte Bedrohung hatte sie erschüttert. Sie fühlte sich verletzlich und angreifbar, ein Gefühl, das sie sonst sehr selten kannte. Die meiste Zeit war sie die Herrin der Lage, nicht so hilflos und ausgeliefert.
Dass der junge Räuber sie um etwas bestohlen hatte, das ihr ganz besonders am Herzen lag, schmerzte Helena sehr. Es war die Kette ihrer verstorbenen Mutter gewesen, ein unersetzbares Andenken. Ihre Hand glitt an ihren nackten Hals und blieb dort liegen.
***
Nach einer halben Stunde, die sie schweigend zurückgelegt hatten, passierte die Kutsche die ersten Häuser von Flussau. Das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster hallte laut durch die abendliche Stille des Städtchens.
Aristoteles Greizenich schaute hinaus auf die erleuchteten Fenster, lehnte sich dann zurück und sah Helena an. Dunkle Schatten lagen auf seinem wohlgenährten Gesicht.
„Wir fahren nach Hause. Dort setze ich euch ab und fahre gleich weiter zur Wache, um von dem Überfall zu berichten. Wir müssen morgen sofort einen Trupp losschicken, der diese Straßenräuber dingfest machen soll.“ Er schnaubte. „Sie dürfen nicht mit unserem Geld entkommen.“
Helena lehnte sich zurück. „Morgen werdet ihr doch überhaupt nichts mehr finden!“ Ihre weichen Knie hatten sich wieder beruhigt, genauso wie ihr Herzschlag. „Das Geld ist weg. Die Räuber haben sich in alle Winde zerstreut.“
Sie dachte wieder an den Mann mit den grünen Augen. Wenn sie ihm noch einmal begegnete, würde sie ihn sofort erkennen. Da brauchte sie keinen Suchtrupp.
***
Der flackernde Schein der Laternen hinter ihm wurde schwächer, sobald Taron die ersten Meter durch den Wald zurückgelegt hatte. Nach ein paar Sekunden drehte er sich um. Niemand schien bemerkt zu haben, dass er das Weite gesucht hatte. Und wenn, dann war es ihm jedenfalls egal.
Er gehörte nicht zu dieser Bande von Straßenräubern, hatte sich ihnen nur vorübergehend angeschlossen, weil er seine Gelegenheitsarbeit als Tischler verloren hatte und die Einnahmen der letzten Wochen nicht gereicht hatten, um genug Essen für die Familie zu besorgen. Aber er hätte im Voraus wissen sollen, dass diese Art von Überfällen nicht sein Bier war. Sie waren riskant und brachten zu wenig ein.
Er hoffte, dass der jungen Frau kein Leid zugefügt werden würde. Man wusste nie, auf was für Ideen diese Gesellen noch kommen würden.
Seine Finger schlossen sich um die Kette in seiner Tasche. Wenigstens kam er nicht ganz mit leeren Händen nach Hause. Er zog das Tuch vom Gesicht und begann, sich in einem großen Bogen zu einem der Wege durchzuschlagen, die aus dem Wald herausführten.
***
„Taron? Bist du das?“ Die Stimme seiner Mutter Rubi schallte aus der halb geöffneten Tür des Wagens, noch bevor er die Stufen erreicht hatte, die hinaufführten.
Acht, aus massivem Holz gezimmerte Waggons auf soliden, metallbeschlagenen Rädern standen in einem Kreis um eine Feuerstelle herum. In direkter Nähe grasten die Pferde in einem umzäunten Gelände.
Es war eine günstige Stelle zum Lagern. In der Nähe lag der Fluss, aus dem sie Wasser holen konnten. In Flussau fanden sich genug Zuschauer für ihre kleinen Darbietungen auf dem Marktplatz und Kundschaft für ihre Waren und Dienstleistungen.
Dort führten sie jeden Tag auf einer niedrigen, hölzernen Bühne Musik, Theater und Zauberkunststücke auf. Tarons Schwester Suri sagte den Leuten ihre Zukunft voraus und seine Tante verkaufte Tinkturen und Kräutertränke gegen allerlei Krankheiten.
Taron war für die Zaubereidarbietungen verantwortlich und nahm kleine Aufträge als Tischler an, ein Handwerk in dem er gut war, auch wenn er keine Ausbildung darin besaß.
Sein Geschick und seine flinken Finger waren ihm auch an anderer Stelle immer wieder hilfreich. Wenn er zwischen den Reihen der Zuschauer hin und her ging, um ihnen ein Körbchen unter die Nase zu halten mit der Bitte um eine Spende, dann nutzte er auch manchmal die Gelegenheit, um einige weitere Spenden einzusammeln, die weniger freiwillig gegeben wurden. Seine Berührungen waren so leicht, seine Bewegungen dabei so fließend und unverdächtig, dass niemand den Verlust bemerkte.
Taron sprang die Stufen hinauf zum Eingang des Wagens, aus dem das warme Licht einer Petroleumlampe drang. Seine Mutter saß am Tisch und nähte an einer Hose für Tarons jüngeren Bruder Geron. Als er durch die Tür kam, sah sie von ihrer Arbeit auf.
„Wo bist du gewesen, Junge? Ich habe mir Sorgen gemacht.“
Taron ließ sich auf einen Stuhl fallen. „War unterwegs. Nichts Bestimmtes.“
„Du sollst nicht bei Nacht herumstreunen! Du könntest überfallen werden oder Schlimmeres! Du weißt doch, dass du ganz besonders auf dich aufpassen musst. Du hast eine Verantwortung.“
Taron zuckte die Achseln. Sie hatte dies schon so oft zu ihm gesagt, dass er es einfach überhörte. Er schaute sich um. „Gibt’s noch was zu essen irgendwo?“
„Im Topf müsste noch ein Rest sein.“ Rubi nickte mit dem Kopf hinüber zum Regal, auf dem ein Keramiktopf stand. „Und Brot liegt dort drüben.“
Er sprang auf, ging zum Topf und sah hinein. Seine Augen richteten sich vorwurfsvoll auf seine Mutter. „Das ist alles?“
„Mehr gibt es nicht“, kam die lakonische Antwort.
Er nahm den Topf und den Kanten Brot, griff nach einem Holzlöffel und kehrte damit zu seinem Stuhl zurück.
„Wo sind die andern alle?“, wollte er kauend wissen.
„Die sitzen bei Grato zusammen und besprechen, wie lange wir hierbleiben wollen.“ Rubi vernähte den Faden und biss das Ende ab, bevor sie den Stoff beiseitelegte. „Als nächstes ist die Hauptstadt dran. Aber dann kommt irgendwann der Herbst …“
Taron nickte nachdenklich. „Wir könnten in den Süden ziehen. Dort ist es wärmer als hier.“
„Aber in der Nähe der Hauptstadt sind die Leute wohlhabender“, gab Rubi zu bedenken. „Da sitzt das Geld lockerer.“
Taron stellte den Topf auf den Tisch. Er hatte das Interesse an dem Thema verloren. Eigentlich war es ihm egal, wohin sie zogen. Er war diese Art zu leben gewöhnt. Ein Ort war da wie der andere.
Manchmal versuchte er sich vorzustellen, wie es wäre, nicht weiterzuziehen. Anstatt die Leute um ihr Geld zu bringen oder Gelegenheitsarbeiten zu verrichten, könnte er eine Lehre als Tischler machen und sein eigenes Geld verdienen. Er könnte in einem echten Haus wohnen, mit einem kleinen Garten vielleicht. Aber das war ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen würde. Er schüttelte den Kopf und streckte die Arme, dass es knackte.
„Ich geh mal rüber. Vielleicht gibt’s da noch was zu essen …“ Er stand auf und verließ den Wagen.
***
Helena schlenderte über den Marktplatz, auf dem heute zahlreiche Stände aufgebaut waren. Hier lagen duftende Brotlaibe aufgeschichtet, dort pries jemand sein Gemüse an. Ein Stück weiter konnte man verschiedene Töpferwaren kaufen, von Krügen bis zu großen, kunstvoll bemalten Tellern. Helena flanierte an den Buden vorbei und ließ den Blick schweifen.
Sobald sie am Abend zuvor zu Hause eingetroffen waren, hatte sich die Nachricht von dem Überfall wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Am Morgen war ein Trupp der Bürgerwehr losgezogen. An der Kreuzung im Wald hatten sie nach Spuren gesucht, aber wie erwartet nichts gefunden.
An einem Stand mit Schmuck blieb Helena stehen, um die Ketten zu bewundern, die dort ausgestellt waren. Unwillkürlich musste sie an die andere Kette denken, die ihr gestohlen worden war. Ihre Hand fuhr an ihren Hals, dorthin, wo der Ruck des Abreißens einen roten Striemen auf ihrer Haut hinterlassen hatte. Heute Morgen hatte sie sich im Spiegel begutachtet, tief geseufzt und dann einen Spitzenschal darübergelegt.
Das Rattern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster ließ Helena aufblicken. Eine reich mit Schnitzereien verzierte Kutsche war um eine Hausecke herum auf den Platz gebogen. Es war ein fremdländisch aussehendes Gefährt, gezogen von sechs schwarzen Rössern, das sofort die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog.
Die Fenster waren verhängt, sodass man nicht sehen konnte, wer darin saß, aber die beiden uniformierten Männer auf dem Kutschbock waren schon interessant genug. Ihre bunten Hüte glühten in der Sonne auf. Sie hielten ihren Blick starr nach vorn gerichtet, als würden sie nicht bemerken, dass sie von zahlreichen Augenpaaren neugierig beobachtet wurden.
Auch Helena musterte die Kutsche aufmerksam, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden war.
„Das ist schon die dritte fremde Kutsche in den letzten Tagen, die hier vorbeikommt“, hörte sie den Händler hinter dem Schmuckstand sagen. „Erst kamen sie und fuhren alle zum Palast in der Hauptstadt. Jetzt sieht man sie wieder heimfahren.“
„Ach, wirklich?“ Helena zog interessiert die Augenbrauen hoch.
„Ja, haben Sie es nicht gehört? Die Königin soll sehr krank sein.“
Helena nickte ungeduldig. Man musste wohl auf dem Mond wohnen, wenn man davon noch nichts gehört hatte. Seit Wochen schon wurde über den Gesundheitszustand der Königin spekuliert. Der König war offenbar in großer Sorge um sie. Das Volk war aufgerufen worden, für seine Gattin zu beten.
Der Schmuckhändler fuhr mit wichtiger Miene fort: „Die Hofärzte haben alles versucht, aber es hat nichts geholfen. Stattdessen ist ihr Zustand immer schlechter geworden. Daraufhin hat der König Boten ausgesandt in alle Teile des Landes und sogar über die Grenzen hinaus, um Ärzte, Heilkundige und weise Männer herbeizuholen, die ihr helfen sollten. Bisher war offenbar noch niemand von ihnen erfolgreich. Sie mussten alle wieder gehen.“
Helena schaute zu der Hausecke, hinter der die Kutsche verschwunden war. Sie hatte die Königin erst einmal und damals auch nur von Ferne gesehen, aber es waren sich alle einig, dass sie sehr schön und eine gütige Frau war. Das ganze Land war betrübt darüber, dass es ihr so schlecht ging.
„Wollen wir hoffen, dass unsere Königin doch noch gesund wird.“ Sie lächelte flüchtig, während sie dem Mann einen Blick zuwarf.
Er nickte und kam dann schnell wieder zum Geschäft. „Und, mein Fräulein? Gefällt Ihnen eine von meinen Ketten? Wollen sie diese hier einmal in die Hand nehmen?“ Er zeigte auf eine, die Helena länger angeschaut hatte, als die anderen.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, ich danke Ihnen. Ich wollte nur ein wenig schauen. Guten Tag!“ Sie schlenderte weiter.
Hinter den Ständen befand sich auf einem freien Platz eine kleine Bühne. Ein niedriger, offener Wagen war von einem rahmenartigen Gerüst überspannt, von dem rote Tücher herabhingen, sodass sie aussahen wie ein beiseite gezogener Vorhang. Davor standen mehrere Reihen Holzbänke, auf denen die Zuschauer Platz nehmen konnten.
Auf dieser Bühne war soeben ein farbenfroh gekleidetes Pärchen damit beschäftigt, derbe Späße zum Gelächter der zahlreichen Zuschauer zum Besten zu geben. Auch Helena sah den Schaustellern für einen Moment zu, aber ihre Witze waren ihr zu grob. Sie rümpfte abfällig die Nase und ließ ihren Blick von der Bühne weg über die Gesichter der Zuschauerinnen und Zuschauer gleiten.
Viele von ihnen fanden das Programm offenbar ausgesprochen unterhaltsam. Einige klatschten begeistert Beifall, andere wischten sich Tränen aus den Augen. Jetzt tauchte von der Seite eine Gestalt auf, die ein Körbchen in der Hand hielt. Offenbar sollten die Leute nun auch für ihr Vergnügen bezahlen.
Der Mann mit dem Körbchen steuerte die ersten Zuschauer an und bat um eine Spende, die gezahlt wurde, wenn auch etwas widerwillig. Jetzt schob er sich an der Bank entlang, um auch die anderen erreichen zu können.
Helena kniff die Augen zusammen. Irgendetwas an diesem Mann kam ihr bekannt vor. Aber was? War es die schlanke Gestalt? Die dunklen Haare? Er näherte sich ihr um einige weitere Schritte. Zufällig drehte er sich so, dass Helena seine Gesichtszüge besser erkennen konnte. Seine überraschend hellen, grünen Augen glitten über das Gesicht einer Frau vor ihm.
Das war es! Helena sog die Luft ein. Diese Augen in diesem Gesicht kannte sie! Es war der Straßenräuber aus dem Wald, der ihr die Kette gestohlen hatte.
Als hätte der Mann gespürt, dass sie ihn anstarrte, hob er plötzlich den Kopf und sah sie an. Es dauerte nur eine Sekunde, da hatte er sich mit einem Ruck umgedreht. Er hatte sie erkannt! Ganz sicher hatte er sie erkannt!
Helena sah sich um. Wenn sie jetzt schreien würde, dass der Mann ein Dieb war, würde irgendein Zuschauer aufspringen und ihn packen. Dann würde er verhaftet werden.
Taron unterdrückte ein Fluchen. Es war die Frau aus der Kutsche. Er war sich ganz sicher. Und er wusste auch, dass sie ihn erkannt hatte. Verdammt! Gleich würde sie anfangen zu schreien und die halbe Stadt auf ihn hetzen.
Schon öffnete sie den Mund, um Luft zu holen. Da schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf: Wenn man ihn jetzt verhaftete, dann wurde es eine öffentliche Angelegenheit. Sie würde die Kontrolle über das verlieren, was dann passieren würde. Sie schloss den Mund wieder.
Er versuchte, sich möglichst unauffällig an den Zuschauern vorbeizuschieben. Er wagte nicht, sich umzusehen.
Nein, diese Sache wollte sie selber klären, ohne dass ihr Vater oder irgendein Amtmann ihr hineinredete. Es ging um ihre Kette. Der Rest war ihr egal.
Jetzt hatte er den Rand des Platzes erreicht, ohne dass irgendetwas passiert wäre.
Schon keimte wieder Hoffnung in ihm auf. Vielleicht war es ein Irrtum. Er würde einfach für ein paar Minuten in Deckung gehen, zur Sicherheit, und das war’s dann.
Aber wenn sie allein ihn erwischen wollte, musste sie sich beeilen. Er war schon dabei, sich zu entfernen.
Helena hob den Saum ihres Kleides an und setzte sich in Bewegung. Sie spürte, wie ihr Herz schneller klopfte. Sie durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Sie musste ihn unbedingt stellen.
Taron hatte die Gasse erreicht, die vom Marktplatz wegführte, als er schnelle Schritte hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah die junge Frau nur noch wenige Meter entfernt, direkt auf sich zukommen.
„Halt, bleib stehen!“, keuchte sie. Das war natürlich Unsinn. Er würde nicht ihr zuliebe stehenbleiben.
Taron hätte einfach weiterlaufen können. Er war sicherlich schneller als sie, hätte sie leicht abhängen können. Irgendetwas brachte ihn jedoch dazu, nach einigen Schritten anzuhalten.
Vielleicht war es ihr hübsches, erhitztes Gesicht, vielleicht war es eine dieser Vorahnungen, die er manchmal hatte. Dass er dieser Frau nicht würde entkommen können.
Zu Helenas Verblüffung blieb der junge Mann tatsächlich in der Gasse stehen, drehte sich um und starrte sie an. Sie war so überrascht, dass ihr für einen Moment die Worte fehlten.
„Ich kenne dich“, brachte sie schließlich heraus. „Du warst das im Wald. Du hast meine Kette.“ Sie reckte herausfordernd das Kinn.
Taron beobachtete die Frau misstrauisch. Er versuchte abzuschätzen, was für ein Typ sie war. Sie wirkte nicht schüchtern oder verängstigt. Sie wusste, was sie wollte.
Und sie hatte Geld. Er bewunderte ihr perfekt geschnittenes, türkisfarbenes Kleid und den zarten Seidenschal um ihren Hals.
Jetzt bei Tageslicht konnte sie sein Gesicht besser sehen: tiefbraune Haut, kräftige Augenbrauen, eine gerade Nase, volle Lippen.
Um den Hals trug der Mann ein Lederband mit einem Anhänger, der in der Grube am Hals ruhte, wo sich die Schlüsselbeine trafen. Es war ein Drache aus dunklem Metall mit grün schimmernden, eingesetzten Augen.
Der Mann trug ein einfaches Hemd mit einer grünen Weste darüber und dunkle Kniebundhosen ohne Strümpfe.
„Kette?“, fragte er unschuldig. „Was für eine Kette?“
„Die du mir gestohlen hast“, meinte sie noch etwas energischer. „Sie war von meiner Mutter. Du musst sie mir zurückgeben.“
„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“
„Du weißt ganz genau, welche Kette ich meine! Red dich nicht raus, ich habe dich sofort wiedererkannt!“
„Ich habe sie nicht.“
Helena konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. „Du hast sie schon verkauft?“
Es war beinahe amüsant, das Wechselbad ihrer Gefühle zu beobachten.
„Nein, ich habe sie nicht bei mir. Aber selbst wenn ich sie dir zurückgeben würde, dann würdest du mich doch trotzdem verhaften lassen. Warum sollte ich das also tun?“
Helena schöpfte neue Hoff- nung. „Wenn du sie mir zurückgibst, verspreche ich dir, dass ich dich nicht anzeigen werde. Ich werde niemandem von dir erzählen. Das schwöre ich!“
Sie hob die Hand zum Schwur. Sie meinte es ernst. Wenn sie nur die Kette wiederbekam, war ihr dieser Mann ganz egal. Sie hatte absolut nicht das Verlangen, ihn im Gefängnis zu sehen. Dafür war er viel zu attraktiv.
„Und das soll ich dir glauben?“, lächelte er. Er hatte selten Gelegenheit mit so einem Fräulein aus der Stadt zu flirten.
„Du gibst mir die Kette zurück, und ich verrate dich nicht. Schließlich bin ich dir etwas schuldig. Du hast mich vor diesem grässlichen Banditen bewahrt.“ Helena schauderte, wenn sie nur an den Mann dachte.
Taron betrachtete die junge Frau abwägend. Sie hatte etwas sehr Überzeugendes an sich. Irgendwie fühlte er, dass er einen Handel mit ihr machen konnte. Sie tickten ähnlich. Die Frau wollte nicht etwa Gerechtigkeit oder Rache, sie wollte nur ihre Kette zurück.
„Also gut, ich gebe dir die Kette, und du erzählst nichts.“
Wie erleichtert sie war, dass sie ihre Kette wiederbekommen würde. Sie hatte es kaum zu hoffen gewagt.
Er überlegte, wie er sie treffen konnte, ohne dass es irgendjemand sonst mitbekam. Bisher wusste keiner davon. Das sollte am besten so bleiben.
„Okay, wir treffen uns heute Abend in der Dämmerung am See. Da, wo der große Steg ist, weißt du?“
Die Gelegenheit, eine so hübsche Frau wiederzutreffen, ließ er sich auf jeden Fall nicht entgehen.
Helena nickte sofort. Es würde zwar nicht ganz einfach werden, sich aus dem Haus zu schleichen, aber sie würde das schon hinbekommen.
Eine Bewegung am Ende der Gasse ließ sie beide zusammenfahren. Ein älterer Herr mit Gehstock bog vom Platz aus in ihre Richtung ein und kam auf sie zu.
„Bis dann“, murmelte der junge Mann und verschwand, ohne sich umzudrehen. Helena schaute ihm nach, ließ den älteren Herrn passieren, der sie mit einem Nicken grüßte, und kehrte dann ebenfalls zum Markt zurück.
Sie schaute noch einmal zur Bühne hinüber, wo der junge Mann sich gerade mit einer Frau unterhielt. Sie beobachtete, wie er dann wieder das Körbchen zur Hand nahm, als wäre nichts gewesen.
Sie drehte sich um. Wenn er heute Abend nicht kam, wüsste sie immerhin, wo sie ihn auftreiben könnte. Während sie an einigen Ständen vorbeischlenderte, ohne die Auslagen zu sehen, dachte sie darüber nach, was an diesem Abend geschehen würde.
Es war recht gewagt, allein in der Dämmerung zum See zu gehen, aber nun hatte sie zugestimmt, da würde sie sicherlich nicht kneifen. Sie wollte die Kette zurück, dann musste sie auch etwas riskieren.
***
Als Taron zur Bühne zurückkehrte und das Körbchen wiederaufnehmen wollte, fasste ihn seine ältere Schwester Suri am Ellenbogen und beugte sich zu ihm hin.
„Cara ist zurück vom Schloss“, raunte sie ihm ins Ohr.
Er schaute sie fragend an. „Und? Wie war es?“
Suri schüttelte den Kopf. „Viel hat sie nicht erzählt. Sie sagt, dass sie bis zur Königin vorgelassen wurde und sie kurz untersuchen durfte. Das war immerhin eine sehr große Ehre.“ Sie ließ Tarons Ellenbogen los und blieb stehen, während er das Körbchen in die Hand nahm.
„Und? Weiter?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts weiter. Cara konnte ihr nicht helfen, denke ich. Sonst wäre sie nicht so schnell wieder hier gewesen.“
„Hat sie sonst nichts erzählt?“
„Ach, sie war müde. Frag sie später selber.“ Suri wandte sich ab und überließ es Taron, seinen Weg durch die Reihen fortzusetzen.
***
Helena zog die Hintertür zu so leise sie konnte. Eigentlich war es ganz einfach gewesen, sich fortzuschleichen, ohne dass die anderen davon etwas mitbekamen. Sie hatte nach dem Abendessen vorgegeben, starke Kopfschmerzen zu haben und war auf ihr Zimmer gegangen, mit der Bitte, sie nicht mehr zu stören.
Als ihr Vater eine halbe Stunde später noch einmal angeklopft hatte, war sie in heller Panik in ihr Bett gesprungen und hatte die Decke bis ans Kinn gezogen. Zum Glück war er nicht hereingekommen, sondern hatte ihr nur aus der Ferne eine gute Nacht gewünscht.
Das Schwierigste war nun gewesen, durch den Flur bis zur Hintertür zu gelangen, ohne einem Dienstboten oder einem Familienmitglied in die Arme zu laufen. Helena hatte das Gefühl, fünf Minuten die Luft angehalten zu haben, als sie schließlich erleichtert ausatmete und den Weg durch den Garten hinunter bis zu der Pforte in der Mauer eilte. Diese schloss sie so leise wie möglich auf und huschte hindurch.
Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, als Helena die kleine Kapelle erreichte, hinter der sich der See erstreckte. Ruhig lag das Gewässer im Zwielicht da. Irgendwo im Schilfrohr sang ein Vogel sein letztes Abendlied.
Es war niemand zu sehen. Helena ging ein Stück näher an den See heran, bis vor ihr der Steg auftauchte, von dem der Mann gesprochen hatte. Leichter Nebel lag über dem schwarzen Wasser. Über ihr wölbte sich der klare, rosa-violette Himmel, an dem die ersten Sterne zu funkeln begannen.
Was, wenn jetzt plötzlich eine ganze Bande von Banditen vor ihr auftauchte? Was, wenn das Treffen eine Falle war? Oder wenn der junge Mann einfach überhaupt nicht kam und sie hier versauern ließ? Helena blieb am Anfang des Steges stehen und drehte sich einmal um ihre eigene Achse.
Als sie wieder stillstand, war er da, direkt vor ihr, als sei er dort wie durch Zauberei aus dem Boden gewachsen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen.
„Du hast mich erschreckt!“, stieß sie hervor. Im Dämmerlicht konnte sie seine weißen Zähne aufschimmern sehen, als er lachte.
Wie schon zuvor hatte sie überhaupt keine Angst mehr, sobald er da war. Sie wusste sofort, dass niemand sonst gekommen war, nur er. Sie brauchte sich gar nicht mehr umzuschauen.
Es amüsierte ihn, dass er sie erschreckt hatte. Sie wirkte wie jemand, dem man nicht so schnell Angst einjagen konnte. Er mochte das.
Sein Gesicht schien im nachlassenden Licht zu verschwimmen. Seine grünen Augen waren zu grauen Schatten geworden.
„Guten Abend“, sagte er leise.
Ein leichter Duft von Parfum wehte ihm entgegen. Es roch nach Rosen.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, als hätten sie sich schon ganz oft getroffen, nicht erst zum zweiten, nein, dritten Mal. Wie sie dort standen, umhüllt vom letzten Abendlicht, fühlte es sich nicht fremd an, sondern ganz vertraut.
„Hast du die Kette?“
Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, hier.“ Er griff in seine Tasche und zog sie heraus, um sie auf seine linke Handfläche zu legen. So hielt er sie ihr hin.
Helena griff nach der Kette. Dabei berührte sie die Hand des Mannes. Sofort schlossen sich seine Finger um ihre und strichen an ihnen entlang.
Er erhaschte eine flüchtige Berührung, als sie die Kette nahm.
Helena zog ihren Arm zurück und presste die geschlossene Faust an die Brust.
Hatte er sie zurückhalten wollen? Sie konnte seine Gedanken nicht ergründen, aber sie selbst spürte, dass sich etwas in ihr bewegte, sich rührte, das sie gar nicht erwartet hatte.
Als er sie berührte, überkam ihn ein ganz seltsames Gefühl, fast wie eine Vorahnung. Dies geschah ihm manchmal, wenn auch lange nicht so klar und deutlich, wie bei seiner Schwester, die in die Zukunft sehen konnte. Es fühlte sich an, wie eine Erinnerung, nur, dass er genau wusste, dass er es nie erlebt hatte, sondern dass es noch gar nicht geschehen war. Es war wie ein Bild, ein Blick in eine Variante der Zukunft, von denen es viele gab.
Er fühlte sich dieser Frau plötzlich sehr nahe, viel näher als irgendjemandem sonst. Und einen winzigen Moment lang sah er sie, ihre Kette glitzerte in der Sonne, sie schaute zu ihm hoch, und er küsste sie.
Dann war das Bild weg und sie stand wieder vor ihm in der Dämmerung, die Kette in der Faust. Nur das Gefühl ihrer Lippen auf seinen blieb einen Moment länger.
„Danke“, sagte sie leise. „Obwohl ich mich eigentlich gar nicht bedanken muss, weil du mir gerade nur zurückgibst, was sowieso mir gehört.“ Sie runzelte die Stirn.
„Trotzdem danke. Die Kette ist von meiner Mutter. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. Dies ist das Wichtigste, was ich von ihr habe.“
„Sie ist zerrissen. Pass auf, dass der Anhänger nicht herunterrutscht.“
Sie nickte. Ihr Blick glitt zur Seite. Jetzt war wohl der beste Augenblick zu gehen. Sie hatte die Kette. Das war es, was sie wollte. Schnell nach Haus, bevor doch noch jemand ihr Fehlen bemerkte. Aber irgendwie blieb sie stehen.
Er sah ihr an, dass sie eigentlich gehen wollte. Es gab nichts mehr zu sagen.
Er versuchte, den Moment hinauszuzögern.
„Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen begegnet sind. Sonst hätte ich gesagt, dass es mir ein Vergnügen gewesen ist, dich kennenzulernen.“
„Na ja, die Umstände waren alles andere als ein Vergnügen, sollte ich sagen. Von Straßenräubern überfallen zu werden …“ Sie dachte an die Angst, das Gefühl der Ohnmacht.
„Das war eine einmalige Sache. Ich gehöre nicht zu dieser Bande. Denk nicht, dass ich das ständig mache. So einer bin ich nicht!“ Es war ihm plötzlich wichtig, das richtigzustellen.
Trotzdem hatte er es zumindest einmal getan. „Aber du warst dabei …“
„Ja, es war ein Fehler, ich geb es zu. Ich hätte es nicht machen sollen.“ Es geschah selten, dass er so etwas eingestand.
„Wenn ich meinem Vater sagen würde, dass du an dem Überfall beteiligt warst, dann hättest du ein ernstes Problem. Er ist ein einflussreicher Kaufmann, Mitglied im Rat der Stadt.“
Wollte sie ihm drohen? „Aber du wirst es nicht tun. Du hast es mir versprochen.“
Es war unangenehm zu wissen, dass sie die Macht hatte, ihn ins Gefängnis werfen zu lassen.
Sie lächelte. „Nein, werd ich nicht.“ Sie konnte sehen, dass sie ihn beunruhigt hatte.
„Du gehörst zu diesen Leuten, die die Bühne in der Stadt aufgebaut haben, nicht wahr? Ihr seid fahrendes Volk.“
„Spielt das eine Rolle?“ Die typische Reaktion der Leute war immer, dass sie sich abwandten.
Fahrendes Volk, das war der untere Rand der Gesellschaft, die, die keinen festen Wohnsitz hatten und keine ordentliche Arbeit. Mit so jemandem wollte keiner Umgang pflegen.
Sie war erstaunt darüber, wie kühl seine Stimme plötzlich geworden war.
„Eigentlich nicht, ich war nur neugierig. Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen. Habt ihr hier in der Nähe euer Lager?“
Er betrachtete sie, fast ein wenig überrascht. Diese Frau hatte offenbar weniger Berührungsängste, als er erwartet hätte.
„Unten am Fluss.“
„Weiß deine Familie, was du so treibst?“
Er fühlte sich unbehaglich. Er wollte die anderen lieber da heraushalten. Sie sollten nichts von dem Raub wissen, nichts von diesem Treffen hier. Und auf keinen Fall sollten sie darunter zu leiden haben.
„Nein, natürlich nicht! Die anderen haben nichts mit dieser Sache zu tun, okay?“ Er klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte, aber er spürte den Druck.
„Das meinte ich auch gar nicht“, versuchte sie lächelnd, ihn zu beruhigen. Sie fand ihn sehr attraktiv.
„Versprich mir, dass du sie aus dem Spiel lässt, ja?“
„Ist es denn ein Spiel?“, fragte sie provozierend lächelnd.
Gerade hatte sie ihm noch gedroht, jetzt flirtete sie mit ihm?!
„Das hängt davon ab …“
Wieder sah sie seine weißen Zähne im Dunkeln aufschimmern.
„Wovon?“
Es war schwer, ihm zu widerstehen. Sie beobachtete, wie er sich eine Strähne seines leicht gelockten Haares aus dem Gesicht schob. Sie hatte noch nie jemanden wie ihn getroffen. Er war so direkt, ohne Umschweife.
Schade, dass es jetzt zunehmend dunkel wurde. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr klar erkennen, um herauszufinden, was sie von ihm dachte.
„Wie heißt du überhaupt?“
Er mochte es, dass sie ihn so unverblümt fragte. „Taron. Und du?“
„Helena, ich heiße Helena.
Helena Greizenich.“
„Sehr erfreut …“
Zu ihrer Überraschung ergriff er in einer geschliffenen Geste ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf, nur um dann das vorgebeugte Gesicht zu heben und lächelnd zu ihr hinauf zu schauen.
Er ließ seinen Charme spielen. Schließlich beherrschte er auch diese Gesten.
Sie entzog ihm ihre Hand und fragte sich, wie sie an diesen Punkt gekommen waren. Sie konnte es sich nicht erklären.
Sie wusste nur, dass ihr Herz schneller schlug. Dieses fremde Gefühl beunruhigte sie. Es bedeutete, dass sie nicht mehr die Kontrolle hatte.
Er spürte ihre Unsicherheit. Wie es aussah, war er wohl zu weit gegangen. Er fluchte innerlich.
Es entstand eine Pause, in der sie sich anschauten. Das Dämmerlicht des Sommerabends lag über ihnen. Helena hatte plötzlich das Gefühl, eine Entscheidung treffen zu müssen, ohne zu wissen, worüber.
„Nochmal danke für die Kette. Es ist spät geworden. Ich sollte jetzt gehen.“
„Vielleicht laufen wir uns noch einmal über den Weg …?“ Er fand es sehr schade, sie auf diese Weise gehen zu lassen.
„Vielleicht …“ Sie wollte sich umdrehen, blieb jedoch gleich wieder stehen.
„Es war nett, dich kennenzulernen, Taron.“
Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, machte sie sich auf den Heimweg.
Taron schaute ihr nach, wie sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er fragte sich, ob er sie tatsächlich wiedersehen würde, unter welchen Umständen auch immer.
***
Dunkelheit hatte sich über den Fluss gelegt, als Taron zum Lager zurückkehrte. In den Fenstern flackerten Kerzen und in der Mitte des Kreises war ein Feuer entzündet worden. Dort saßen einige alte Frauen beisammen und unterhielten sich. Taron entdeckte auch seine Tante Cara unter ihnen und machte kehrt, um zu ihr zu gehen. Die Frauen schauten hoch, als er sich näherte.
„Taron! Setz dich zu uns!“, lud seine Tante ihn ein und zeigte auf einen leeren Hocker. Sie war eine warmherzige, gütige Frau mit einem schmalen Gesicht und langen, grauen Haaren, die sie geflochten und aufgesteckt trug. Ihre grün-braunen Augen konnten sehr tief blicken. Im Moment sahen sie müde aus.
Taron setzte sich und schaute in die Gesichter der anderen. „Redet ihr über Caras Ausflug zum Schloss?“, wollte er ein wenig scherzhaft wissen. „Wie war es denn, Tante?“
Die Angesprochene wiegte den Kopf. „Oh, es war sehr aufregend. Ins Schloss hineingelassen zu werden und dann bis in die Gemächer der Königin: Das war schon ein beeindruckendes Erlebnis. Überall standen Wachen, aber ich wurde an ihnen vorbeigeführt, als wäre ich ein hoher Gast. Ein paar Stunden musste ich in einem Saal sitzen, wo auch andere Leute darauf warteten, vorgelassen zu werden. Aber schließlich war dann ich an der Reihe.“
„Und wie stand es um die Königin?“, wollte eine der anderen Frauen, Hela, wissen.
Cara schüttelte mitleidig den Kopf. „Gar nicht gut. Sie lag in diesem riesigen Himmelbett, umgeben von all der Pracht und Herrlichkeit, aber sie selbst sah so bleich aus, dass ich zuerst dachte, sie sei schon tot.
Ich untersuchte sie vorsichtig, aber ich wusste gleich, dass ich ihr mit meinen Mitteln nicht helfen konnte.“ Sie seufzte. „Ich habe ihr einen Trank zur Stärkung dagelassen, aber ich musste dem Arzt an ihrem Bett sagen, dass ich keinen Rat weiß.“
Cara atmete tief ein, wie um die Erinnerungen zu vertreiben und rieb sich die runzligen Hände über die Knie. „Dann haben sie mir zum Dank eine Münze in die Hand gedrückt und mich wieder hinausgeleitet bis zu dem Tor, an dem Loro auf mich wartete.“
Für einen Moment herrschte Stille, bis Hela leise meinte: „So gibt es wohl keine Hoffnung mehr für die Königin.“
„Nein, leider, so gesehen nicht“, stimmte Cara zu.
Taron wartete darauf, dass sie weitersprechen würde. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass ihr Gedankengang an dieser Stelle noch nicht zu Ende war.
Schließlich beugte er sich ein wenig vor, um in ihr gesenktes Gesicht zu schauen. „Aber …?“, ergänzte er ihren letzten Satz.
„Was, aber?“ Sie hob den Kopf, als sei sie tief in Gedanken gewesen, und schaute Taron geradeheraus an.
„Ich meine nur, es klang so, als gäbe es vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit, der Königin zu helfen.“
Cara seufzte traurig. „Nein, sie haben alles getan, was für sie möglich ist.“
Ihre Blicke begegneten sich, ohne dass die anderen es bemerkten, und er wusste, dass da noch mehr war, dass es seine Tante aber nicht sagen wollte.
***
Am nächsten Morgen traf Helena ihren Vater am Frühstückstisch. Sie war am Abend zuvor unbemerkt durch das Gartentor zurück ins Haus gelangt, hatte sich in ihr Zimmer geschlichen, sich ausgezogen und war zu Bett gegangen.
Sie hatte gedacht, dass die Müdigkeit sie schnell übermannen würde. Stattdessen hatte sie noch eine ganze Weile wach gelegen und über die Begegnung mit Taron nachgedacht.
Anders als sie erwartet hatte, war die Übergabe der Kette am Ende zu einer Nebensache geworden. Viel interessanter war dieser junge Mann, Taron, mit seinen blitzenden, grünen Augen und seiner tiefen, weichen Stimme. Sie ertappte sich dabei, wie sie überlegte, wann sie ihn wiedersehen könnte.
Aristoteles Greizenich sah von seiner Zeitung auf, als er seine Tochter hereinkommen sah. „Guten Morgen, meine Liebe. Geht es dir wieder besser?“
Helena sank auf einen Stuhl und ließ sich eine Tasse Kaffee einschenken. „Guten Morgen, Vater. Ja, ja, viel besser.“ Sie war nur müde, weil sie so wenig geschlafen hatte.
Aristoteles faltete die Zeitung mit einer resoluten Geste zusammen und legte sie neben dem Teller auf den Tisch. „Ich muss dich leider gleich allein lassen. In einer Stunde beginnt die Ratssitzung im großen Saal. Da muss ich unbedingt anwesend sein. Schließlich soll es auch darum gehen, dass die Raubüberfälle rund um die Stadt in letzter Zeit so massiv zugenommen haben. Davon kann ich ja leider aus eigener Anschauung berichten. Es muss unbedingt etwas geschehen. Dem Verbrechen in dieser Gegend muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden.“
Mit einem Ruck schob Helenas Vater den Stuhl zurück und stand auf. So energisch hatte sie ihn selten erlebt. Der Verlust seines Geldes und das Erleben der eigenen Ohnmacht hatten ihn offenbar tief getroffen.
„Viel Erfolg, Vater“, wünschte Helena ihm, als er an ihr vorbeiging und ihr einen kleinen Kuss auf den Scheitel drückte, bevor er aus dem Zimmer ging.
Eine Viertelstunde später hörte sie ihn das Haus verlassen. Da saß Helena noch am Tisch und unterhielt sich mit ihrer Schwester Delia, die nun zum Frühstück heruntergekommen war. Eigentlich musste sie schon längst bei ihrem Privatlehrer zum Unterricht erscheinen, aber da sie die einzige Schülerin war, würde er wohl oder übel auf sie warten müssen.
Helena hatte ihre schulische Ausbildung bereits beendet. Einen Beruf zu lernen war für sie nicht vorgesehen. Ihr Vater wünschte sich für seine Töchter nur das Beste. Das bestand darin, sie möglichst gut zu verheiraten.
Helena hatte dies nie in Frage gestellt. Trotzdem beneidete sie die Männer in ihrer Verwandtschaft, die eine Karriere machen konnten und sich im Leben behaupteten. Sie selbst fühlte sich manchmal von einer unerklärlichen Leere erfüllt, die sie mit Besuchen von gesellschaftlichen Veranstaltungen und häuslichen Aktivitäten zu füllen versuchte.
Als auch Delia gegangen war, beschloss Helena, noch einmal auf den Markt zu gehen, der heute zum letzten Mal in diesem Monat abgehalten wurde. Sie sagte sich selbst, dass sie noch nach einem Geschenk für ihre alleinstehende und mittellose Tante schauen wollte, aber eigentlich war sie darauf aus, einen Blick auf Taron zu erhaschen.
So verließ Helena schließlich das Haus, nachdem sie sich besonders sorgfältig für den Ausgang feingemacht hatte. Ein Samthütchen saß auf ihren makellos frisierten, rotblonden Locken und ihr grüner Mantel betonte die schmale Taille.
Auf dem Markplatz vor dem Rathaus angekommen, hielt sich Helena eine Weile bei den Silberwaren und den Schmuckbändern auf, beschloss jedoch schließlich, ihrer Tante eines von ihren selbstbestickten Kissen zu schenken. Nachdem diese Frage geklärt war, steuerte sie auf die Seite des Platzes zu, wo die Bühne stand.
Eine Vorstellung hatte offenbar gerade begonnen. Helena blieb am Rand der Bankreihen stehen und beobachtete einen Jongleur bei seinen Kunststücken. Ihre Blicke wanderten auch zu den Seiten, aber Taron war zu ihrer Enttäuschung nicht zu sehen.
Sie applaudierte höflich, als der Jongleur sich verbeugte. Ein weiterer Mann betrat die Bühne, den Helena sofort erkannte. Mit neu erwachter Aufmerksamkeit beobachtete sie Taron, der sich zu dem Jongleur hinzugesellte und sich verbeugte.
In den nächsten Minuten führten die beiden in schneller Folge eine ganze Reihe von Zaubertricks vor, die vor allem daraus bestanden, dass Dinge verschwanden und woanders wieder auftauchten. Mit klopfendem Herzen wartete Helena darauf, dass Taron irgendwann einmal zu ihr herüberschauen würde, aber er schien sie nicht zu bemerken.
Zum Ende der Vorstellung nahm er ein buntes Seidentuch und stopfte es sich in die geschlossene Faust. Er hob beschwörend die andere Hand und sprach ein paar Worte, die Helena nicht verstehen konnte. Als er die Hand wieder öffnete, zog er eine Papierblume daraus hervor. Die Zuschauer applaudierten.
Die beiden Männer verneigten sich lächelnd, bevor Taron die Hand hob und die Blume ins Publikum warf, genau auf Helena zu. Sie musste nur einen kleinen Schritt nach vorn machen und sie auffangen. Sie lachte atemlos, als sie sich wiederaufrichtete, die Blume in der Hand. Mit einem Blick auf die Bühne sah sie jedoch, dass Taron bereits verschwunden war.
Stattdessen trat jetzt eine junge Frau auf, die damit warb, dass sie in einem Zelt hinter der Bühne für einen kleinen Geldbetrag denen, die sich trauten, die Zukunft voraussagen konnte.
Helena schaute sich um, die Blume in der Hand. In diesem Augenblick kamen zwei junge Frauen lachend auf sie zu.
„Guten Morgen, meine liebe Helena“, rief die eine ihr entgegen. „Wir haben es genau gesehen! Du hast einen Verehrer!“ Ihre Augen blitzten vergnügt. Sie trug ähnliche Kleidung wie Helena, nur in Brauntönen, die auf ihr glattes, kastanienbraunes Haar abgestimmt waren. Ihre Hände steckten in zarten Spitzenhandschuhen. Helena kannte sie schon seit Kindertagen. Es war ihre Cousine mütterlicherseits, Ariadne.
Die andere junge Frau, Persephone, war eine gute Bekannte. Ihre Kleidung war von schlichterer Machart und entsprach, wie Helena mit einem Blick feststellte, nicht dem modischen Chic, der gerade ganz neu aus der Hauptstadt herübergetragen wurde.
Helena begrüßte die beiden Frauen mit einem Lächeln. Sie wollte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. „Was meinst du, Cousine?“
Ariadne wies auf die nun leere Bühne. „Na, der junge, gutaussehende Zauberer eben, der dir die Blume zugeworfen hat!“
Helena schüttelte lachend den Kopf, während sie zu ihrem Ärger spürte, wie sie errötete.
Persephone schien es zu bemerken, jedoch andere Schlüsse daraus zu ziehen. „Ariadne, ich bitte dich, hör auf, unsere Freundin so in Verlegenheit zu bringen. Natürlich würde sie sich nie mit so einem Lump abgeben. Dies fahrende Volk ist doch weit unter unserer Würde, nicht wahr?“ Sie lachte etwas schrill.
Ariadne hob abwehrend die Hand. „Ach, es war doch auch nur ein Scherz. Helena versteht mich schon richtig und weiß, dass es nicht ernst gemeint war …“
Sie hakte sich vertraulich bei Helena unter und zog sie kurz an sich. Diese lächelte steif und schaute auf die Blume herab, die sie immer noch in der Hand hielt, die aber nun ganz zerknickt war.
Persephones Augen folgten ihrem Blick. „Wie schade, nun ist sie hin. Du wirst sie wegwerfen müssen.“
Ariadne schaltete sich ein. „Ich habe eine grandiose Idee. Habt ihr nicht auch gerade gehört, dass diese Frau auf der Bühne sagte, man könnte sich von ihr die Zukunft weissagen lassen? Wie wäre es, wenn wir es gleich einmal zusammen ausprobieren würden? Was haltet ihr davon?“
„Wir drei zusammen? Wie aufregend!“, stimmte Persephone sofort zu und klatschte begeistert in die Hände. „Helena, was sagst du dazu?“
Helenas Blick glitt zu dem Zelt hinter der Bühne. Ob sie dort auf Taron treffen würde? Vielleicht, aber dann war sie in Begleitung ihrer zwei Freundinnen und konnte nicht mit ihm sprechen. Und möglicherweise wollte sie das auch gar nicht mehr. Persephones Worte hallten noch in ihr nach. Sich mit einem Mann wie ihm abzugeben, war für sie nicht schicklich.
Die anderen beiden missverstanden ihr Zögern. „Komm, komm, Helena. Sei nicht so scheu. Es ist doch nur ein Spaß!“, versuchte Ariadne sie zu überreden. „Wir glauben sowieso nicht, was da erzählt wird. Wir werden uns nur lustig machen darüber.“ Sie nahm Helenas Hand und zog daran.
Widerwillig ließ sich Helena von den beiden anderen an der Bühne vorbeizerren, bis sie vor einem Zelt aus rotbraunem Stoff standen, der am Eingang zur Seite gebunden war. Ein Schild daneben warb dafür, dass man für eine Münze Auskunft über seine Zukunft erhalten konnte und dass man einzeln eintreten sollte.
Ariadne ignorierte den letzteren Hinweis und schob ihre Freundinnen nacheinander in das Zelt hinein. Sie blieben einen Moment stehen, während sich ihre Augen an das rötliche Dämmerlicht gewöhnten.
Vor ihnen befand sich ein Tischchen mit einer dunklen Decke, auf dem ein Leuchter stand. Das flackernde Licht der Kerzen fiel auf die Frau, die dahinter saß und sie interessiert betrachtete. Sie war nur wenig älter als sie und hatte dunkles, leicht gelocktes Haar, das sie zu einer losen Frisur aufgesteckt und mit einem Tuch befestigt hatte. Sie trug ein dunkles, schimmerndes Gewand, das den Effekt hatte, dass Hals und Kopf der Frau im Dämmerlicht zu schweben schienen. Helena spürte eine Gänsehaut über ihren Nacken ziehen.
„Guten Tag, kommen Sie nur herein!“, begrüßte die Hellseherin sie mit einer weichen, dunklen Stimme. „Möchten zwei von Ihnen bitte draußen warten?“
Ariadne übernahm die Führung. „Guten Tag. Wir möchten gern zusammenbleiben.“ Sie drehte sich lächelnd zu den anderen um. „Ich denke, wir haben keine Geheimnisse voreinander, nicht wahr?“ Persephone lachte leise.
Die Wahrsagerin nickte langsam. Helenas Augen hatte sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie die Frau etwas besser erkennen konnte. Für einen Moment glaubte sie, die Frau zu kennen, weil ihre Gesichtszüge ihr vage bekannt vorkamen. Dann stellte Helena fest, dass sie Taron ähnlichsah. Sie mussten verwandt sein.
„Wer von Ihnen möchte denn beginnen?“
Ariadne stand sowieso ein wenig vor den anderen. Also setzte sie sich vorsichtig auf die Kante des Stuhles, der vor dem Tischchen stand. Helena und Persephone wichen zurück.
Die Hellseherin konzentrierte sich nun auf Ariadne. Sie betrachtete die junge Frau für einen Moment mit ernster Miene und forderte sie dann auf, ihr ihre Hand zu geben, damit sie daraus lesen könne. Ariadne entledigte sich bereitwillig ihrer Handschuhe und streckte ihre rechte Hand aus, nicht ohne jedoch ihren Freundinnen einen Blick zuzuwerfen, der augenzwinkernd sagte: „Ich werde ihr nichts glauben!“
Die Wahrsagerin schien dies zu bemerken, ignorierte es aber und begann stattdessen, die Handfläche zu studieren.
„Sie haben eine schöne Hand, die leicht zu lesen ist.“ Mit dem Zeigefinger fuhr sie sanft über die Linien. „Sie haben es gut getroffen im Leben. Sie genießen Sicherheit, Wohlstand. Sogar die Liebe ist Ihnen schon begegnet.“
Das alles war nicht schwierig zu sehen. Ariadnes Kleidung und Haltung verrieten ihre Herkunft und ihren Wohlstand, der Verlobungsring am Finger erzählte den Rest.
„Das Glück wird Ihnen auch weiterhin hold sein. Sie werden vier Kinder haben, die Ihnen viel Freude machen werden.“ Persephone unterdrückte ein Kichern. Vielleicht wusste sie mehr als Helena.
Diese hatte bereits genug gehört, um ihre Erwartungen bestätigt zu sehen. Das war keine Wahrsagerei, sondern nur das Resultat von einer guten Beobachtungsgabe und der Kombination aus Hinweisen.
Nachdem die Wahrsagerin Ariadne mit einem freundlichen Lächeln entlassen und das Geld entgegengenommen hatte, schob Helena Persephone nach vorn. Sie hatte keine Lust auf dieses Theater. Sollten die anderen ihren Spaß haben.
Mit Persephone verfuhr die Wahrsagerin auf ähnliche Weise. Es blieb bei Gemeinplätzen und vagen Anspielungen. Immerhin waren in ihrem Fall die Zukunftsaussichten nicht ganz so rosig wie bei Ariadne. So warnte sie auch vor einer unglücklichen Liebe und einem schweren Schicksalsschlag.
Obwohl Persephone geschworen hatte, alles als einen Spaß zu betrachten, war sie doch immer ernster geworden und wirkte regelrecht beunruhigt, als sie schließlich aufstand und bezahlte. Da half auch das aufmunternde Lächeln ihrer Freundinnen nicht.
Helena wäre nun am liebsten gegangen, aber Ariadne nahm ihre Hand und zog daran. „Jetzt fehlst nur noch du!“
„Ich habe keine Lust auf diesen Unsinn!“, zischte Helena, aber da hatten die anderen beiden sie schon zu dem Stuhl geschoben und darauf gedrückt. Widerwillig streckte sie ihre Hand aus und schaute hoch in das Gesicht der Frau, die auch sie nun intensiv musterte.
Die Finger der Frau waren kühl, als sie Helenas Hand umfassten. Wie bei den anderen strich der Zeigefinger über die Linien ihre Handfläche – aber anders als bei ihnen verharrte er plötzlich bewegungslos in der Luft.
Helena blickte auf. Das Gesicht der Frau war wie gefroren. Ihr Lächeln war verschwunden und durch einen starren, fast gespenstischen Ausdruck ersetzt worden. Wenn das gespielt war, so war es gut eingeübt. Helena fühlte sich mit einem Mal sehr unbehaglich. Der bisher so sanfte Griff der Finger wurde hart wie ein Schraubstock.
„Was …?“, setzte sie an, kam aber nicht dazu, den Satz zu vollenden, weil die Hellseherin in diesem Augenblick ihre Hand losließ und mit einem Ruck von sich stieß. Die Frau lehnte sich zurück und starrte Helena an. Ihr Blick war plötzlich misstrauisch, geradezu feindselig geworden.
„Diese Sitzung ist beendet. Sie brauchen mich nicht zu bezahlen.“
Helena stand benommen auf. Ariadne jedoch fragte hinter ihr: „Aber warum? Warum hören Sie jetzt auf? Sie haben doch noch gar nicht angefangen!“
Die Frau erhob sich ebenfalls. Ihr dunkles Gewand entfaltete sich mit einem leisen Knistern. „Es gibt Menschen, denen ich nicht die Zukunft voraussagen kann. Sie gehören dazu. Es tut mir leid.“
Sie ging um den Tisch herum zu Helena und hielt ihr zum Abschied die Hand hin. Als Helena sie ergriff, zog die Frau sie näher zu sich heran, bis ihr Gesicht sich dem von Helena bis auf wenige Zentimeter genähert hatte. Die Wahrsagerin starrte sie an, ohne zu blinzeln.
„Halten Sie sich von Taron fern.“ Ihre Stimme war so leise, dass nur Helena sie hören konnte. Im nächsten Augenblick hatte die Hellseherin ihre Hand losgelassen und hatte sich hinter ihren Tisch zurückgezogen. Mit lauterer Stimme sagte sie nun: „Ich wünsche den jungen Damen einen schönen Tag. Leben Sie wohl.“
Nacheinander stolperten die drei Freundinnen hinaus ins Freie, wo sie blinzelnd im hellen Sonnenschein stehen blieben.
Sie alle waren ein wenig mitgenommen. Ariadne war ungehalten, dass sie um den Spaß gebracht worden war, auch Helenas Zukunft zu erfahren. Persephone kämpfte mit ihren widerstreitenden Gefühlen, da sie diese Episode als lachhaft abtun wollte, gleichzeitig aber zutiefst beunruhigt war. Helena schließlich hatte immer noch die Worte der Frau im Ohr: „Halten Sie sich von Taron fern ...“
Woher wusste diese Frau überhaupt, dass sie Taron kannte? Hatte sie nur beobachtet, wie er ihr die Blume zugeworfen hatte und daraus ihre Schlüsse gezogen? Nein, es musste mehr dahinterstecken. Vielleicht hatte sie ja soeben wirklich etwas gesehen! Sie wusste etwas über Helena und Taron, oder sie ahnte es zumindest. Aber was hatte das alles zu bedeuten?
Am liebsten wäre Helena noch einmal zurück in das Zelt gegangen, um die Frau zur Rede zu stellen, aber sie wusste auch, dass das keinen Sinn hatte. Sie würde nichts erfahren.
Ariadnes Stimme schnitt durch ihre Gedanken: „Meine Güte, das war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Davon muss ich mich erst einmal erholen. Habt ihr Lust auf einen Kaffee? Ich lade euch ein.“ Gemeinsam steuerten sie auf das Café am Ende des Marktplatzes zu.
***
Als sie das Café wieder verlassen und sich ihre Wege getrennt hatten, ging Helena noch einmal zu der Bühne zurück. Dort war es jedoch menschenleer. Alles lag verlassen da, und auch die Zuschauer waren gegangen. Sie hörte einige Stimmen zwischen den Zelten und sah Bewegung dort, zögerte jedoch, sich zu nähern. Schließlich machte sie kehrt und ging nach Hause.
Die Worte der Hellseherin hatten Helena mehr beeindruckt, als sie zugeben mochte. Andererseits regte sich Widerstand in ihr. Sie war nicht bereit, sich diktieren zu lassen, was sie zu tun oder zu lassen hätte.
***