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Auf ungewöhnliche Art und Weise verknüpft Wolfgang Brunner die Liebesgeschichten dreier Paare zu einem großen, umfassenden Ganzen. Ob es das zauberhafte Märchen von Zira und dem König, die intensive Begegnung zwischen Maria und Bernhard oder der tiefe Einblick in den Alltag von Sara, Manuel und ihrem kleinen Sohn Tristan ist - sie alle entführen die Leserinnen und Leser in unterschiedliche Epochen. Sorgsam eingeflochtene Märchen unterstreichen die Botschaften der drei Haupthandlungsstränge und machen »Der König und der Schmetterling« zu einem unvergesslichen Werk über die Liebe und das Leben, das im Herzen berührt und zum Nachdenken anregt. »Ein Buch voller Gefühl und Wärme. Ich wurde mitgenommen in einen emotionalen Raum, den noch kein Film oder Buch hat erschaffen können.« - Aus einer Amazon-Rezension
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Die singenden Schmetterlinge
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen von der Ehrlichkeit
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Die eifersüchtige Müllerin
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Des einen Besitz ist des anderen Verlust
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Ein Hauch von Unsterblichkeit
Das Märchen der Vergangenheit
Die Gier und die Hoffnung
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Tränen im Regen
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen vom weinenden Helden
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Die Brücke
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Ein einfacher Zauber
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Der Wahrhörer
Das Märchen der Vergangenheit
Valerie
Das Märchen der Vergangenheit
Die Macht der Worte
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Der König und der Schmetterling
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Der König des zerbrochenen Glases
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Ich wünschte, ich wäre du!
Das Märchen der Vergangenheit
Der Fuchs und der Wolf
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Der Traum vom Fliegen
Das Märchen der Vergangenheit
Der gute Schatz des Herzens
Das Märchen der Gegenwart
Das Märchen der Vergangenheit
Das Märchen der Gegenwart
Der Große Geist der Liebe
Das Märchen der Gegenwart
Nactinra
Das Märchen der Vergangenheit wird zum Märchen der Gegen
NACHWORT
»Ein weiser Mann meinte einmal zu mir, es wäre eine besondere Fähigkeit, Erinnerungen zu umarmen«, sagte Zira, die auf dem Boden saß und ihren Rücken an den von der kühlen Nacht noch klammen Baumstamm lehnte.
Pirok, der etwas entfernt neben ihr hockte, lachte leise auf. »Wie soll das denn funktionieren?«
Zira zuckte mit den Schultern. »Das ist das Geheimnis, um das es bei dieser Fähigkeit geht. Wenn du es schaffst, ein Andenken aus deiner Vergangenheit in die Arme zu nehmen, bist du einen großen Schritt weiter in der Frage nach dem Sinn des Lebens.«
»Du übertreibst wieder einmal, meine Liebe.« Er kratzte sich am Hinterkopf und spielte mit den Blüten einer gelben Blume, die dicht neben ihm aus dem Boden wuchs. »Wer war der weise Mann, der diesen Unsinn erzählt hat?« Er lächelte und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um zu demonstrieren, dass er über seine eigene Frage nachdachte. »Ich wette, es war Tallulah.«
Zira schlug erbost mit der Faust auf den Boden. »Wieso sprichst du jedes Mal so schlecht über unseren Freund? Er hat dir nie etwas getan. Ganz im Gegenteil, er hilft uns, wo er kann. Tallulah ist weise. Du solltest ihn nicht herabwürdigen, als wäre er irgendein dummer Mann.« Sie wandte verärgert ihr Gesicht ab und starrte in die Ferne.
Zira und Pirok befanden sich auf einem Hügel, von wo sie einen Teil der Welt, in der sie lebten, überblicken konnten.
Unter ihnen breitete sich Nilreb aus, die zweitgrößte Stadt des Landes. Ein charakteristisches Merkmal der Siedlung stellten die kleinen Türmchen dar, die nahezu auf jedem Wohnhaus zu sehen waren. Die Einwohner pflegten ihre Häuser und Gärten, als wären sie das Wertvollste, das sie je in ihrem Leben besitzen könnten.
Aus diesem Grund galt Ziras und Piroks Geburtsstadt als der sauberste Ort in der ganzen Umgebung.
»Ich habe nicht gesagt, dass er dumm ist«, verteidigte sich Pirok. Seine Augen suchten Blickkontakt mit Zira, die jedoch weiterhin auf die Landschaft starrte, deren Schönheit die beiden schon längst nicht mehr registrierten.
Umsäumt von kleinwüchsigen Bäumen, die einer Mischung aus Eiche und Birke glichen, teilte ein schmaler Bach das flache Tal in fast gleich große Hälften. Während auf der linken Seite ein Meer aus blühenden blauen Blumen wuchs, wurde der rechte Teil von einer Felsenlandschaft eingenommen. Jener Anblick wirkte, als sähe man aus dem All auf zwei verschiedene Welten: Die eine voller Leben und die andere mit nacktem Fels gefüllt, der Einsamkeit ausstrahlte. Am Horizont konnte man schwach die Spitze des Turms erkennen, der das Schloss des Königs zierte.
Als Zira sich schließlich wieder ihrem Freund zuwandte, strahlten ihre Augen eine Kälte aus, die dem jungen Mann Angst einjagte. »Du sprichst meistens schlecht über Tallulah. Das war gerade nicht das erste Mal.«
Pirok seufzte. »Was soll ich sagen? Ich glaube ihm eben nicht alles, was er von sich gibt. Manche Dinge davon sind schön und ergeben durchaus Sinn, andere hingegen wirken lächerlich und … falsch! Als würde er sich diese Weisheiten aus den Fingern saugen, nur um dir zu imponieren.«
Zira schnaubte verächtlich. »Was soll das denn jetzt wieder? Tallulah ist doppelt so alt wie ich. Aus welchen Gründen sollte er also Eindruck auf mich machen wollen?«
Der junge Mann lächelte, doch in seinen Augen lag ein trauriger Ausdruck. »Du kennst noch nicht viel vom Leben. Liebe nimmt keine Rücksicht auf das Alter eines Menschen. Sie tritt in Erscheinung, wenn niemand mit ihr rechnet, und fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit von allen Beteiligten.«
»Woher weißt du denn schon so viel von der Liebe?«, lachte Zira. »Du bist gerade mal ein Jahr älter als ich.« Sie sah ihn herausfordernd an und tippte mit den Fingern der rechten Hand auf ihren Oberschenkel, während sie seine Antwort abwartete.
Pirok rückte etwas näher an Zira heran. Er deutete auf die Landschaft, die sich vor ihnen ausbreitete, und holte tief Luft, bevor er sprach. »Wenn dich jemand liebt, verneigen sich die Sterne des Nachthimmels vor dir. Wenn eine Person deine Zuneigung möchte, schenkt sie dir das Licht ihrer Seele, um den Raum in deinem Körper, der deine Liebe beherbergt, zu erhellen.« Er endete und warf Zira einen flehentlichen Blick zu. »Verstehst du meine Worte?«
Sie überlegte einen Moment, ehe sie antwortete. »Selbstverständlich. Aber falls du wissen willst, ob ich sie spüre: Nein. Ich spüre sie nicht. Und das wäre wohl unabdingbar, um sie in ihrem ganzen Ausmaß zu begreifen und zu lieben.« Ihre Stimme senkte sich zu einem sehnsuchtsvollen Flüstern, während sie die Hände verschränkte und die Augen schloss, als denke sie an jemanden. »Seine Sätze hingegen leben …«
»Willst du mir etwa damit sagen, dass du Tallulah tatsächlich liebst?« Pirok rang sichtlich um Fassung.
Zira schüttelte den Kopf
und
antwortete leise: »Es ist ein anderer, in den ich mich verliebt habe.« Maria betrachtete Robert, ihren Freund seit Kindheitstagen.
»Wer ist es denn?«, wollte dieser wissen und beugte sich neugierig nach vorn. Maria und er saßen unter einem Baum in einem der vielen Parks in Berlin. Der Platz, den sie sich ausgesucht hatten, lag erhöht und gewährte einen Blick auf die darunterliegende Fläche, die von einer Gartenfirma in zwei Hälften aufgeteilt worden war. Links befand sich eine wunderschöne Blumenwiese, während man rechts Brocken aus verschiedenen Felsgesteinen aufgetürmt hatte. Man schrieb das Jahr 1977. Erst vor wenigen Tagen hatte Maria ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Auf dem von Arbeitskollegen organisierten Fest war ihr ein fünfzehn Jahre älterer Mann begegnet, in den sie sich sofort verliebt hatte. Natürlich empfand sie ein großes Bedürfnis, jemandem ihre Sehnsucht nach diesem Menschen anzuvertrauen, und es gab niemanden, der ihr näherstand als Robert. Nun saßen sie hier, damit sie ihm von den Ereignissen erzählen konnte, die dazu geführt hatten, dass sie ihr Herz verlor.
»Er ist fünfzehn Jahre älter als ich«, begann sie ihre Geschichte. »Er hat mich keine Sekunde aus den Augen gelassen und immer wieder angelächelt.«
»Der Altersunterschied ist nicht zu verachten. Wer ist dieser geheimnisvolle Fremde genau?«
»Ich weiß nicht. Ich kenne nur seinen Namen. Und der lautet Bernard König.«
Marias Freund stutzte. »König? Könnte der Sohn von Johann König sein, dem Besitzer des kleinen Jagdschlösschens am Rande der Stadt.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Seit ich denken kann, lebt die Familie in diesem Anwesen. Ich glaube, Johann König schreibt Bücher, genauer gesagt, Märchen.«
Maria schüttelte den Kopf. »Der Autorenname sagt mir nichts. Aber Bernard hat tatsächlich von einem Schloss erzählt.« Sie betrachtete die vor ihnen liegende Landschaft. »Wir haben lediglich ein paar Worte miteinander gewechselt. Seine Art ist … ich muss ununterbrochen an ihn denken.«
Robert holte tief Luft. »Du hörst dich an, als wärst du dir sicher, dass er der Mann ist, mit dem du dein restliches Leben verbringen willst. Erzähl mir mehr von eurem Gespräch.«
Maria sah ihren Schulfreund nachdenklich an. »Ich habe noch nicht viel Erfahrung in solchen Dingen.
Doch wenn ich mir seine Augen vorstelle, erblicke
ich pure Liebe.« Zira seufzte, legte sich neben den Baum ins Gras und starrte in den wolkenlosen Himmel. »Er war zufällig in der Stadt und ich habe ihn einfach so auf offener Straße getroffen.«
Pirok schüttelte ungläubig den Kopf. »Du meinst das nicht im Ernst, oder? Du hast dich in den König verliebt? Er ist aber doch viel älter als du.«
Zira warf einen Seitenblick auf Pirok. »Die Königin ist vor Jahren verstorben. Er ist einsam. Und er mag mich, das hat er zugegeben.« Sie rollte sich auf den Bauch und starrte eine Zeitlang auf den Baumstamm in ihrer Nähe, bevor sie sich zum zweiten Mal umdrehte und dabei eine Blume pflückte. Sie roch an der Blüte und sog genüsslich deren Duft ein. »Er ist so freundlich. Ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Er hat gemeint, ich soll ihn besuchen. Im Schloss!«
»Das hat er gesagt?«, fragte Pirok erstaunt.
Zira nickte. »Ja, hat er.«
»Worüber habt ihr sonst noch geredet, als ihr euch das erste Mal begegnet seid?«
»Weißt du, ich habe ihn anfangs gar nicht erkannt. Er saß zwar auf einem imposanten Ross, aber mir sind zuallererst seine Augen aufgefallen, dieser freundliche Blick. Dazu sein ungewöhnlicher Bart. Oberlippe und Kinn waren behaart, während die Wangen, frei von jeglichem Haar, im Sonnenschein glänzten. Im selben Moment, in dem ich ihn das erste Mal lächeln sah, war es um mich geschehen. Dann stellte er mir eine Frage: Weißt du, ob die Menschen Nilrebs ihren König lieben? Ich habe ihn verdattert angesehen und den Schlag meines eigenen Herzens gespürt. Der König liebt sein Volk, folglich liebt es ihn, antwortete ich.«
Zira hielt einen Augenblick inne und roch versonnen an der Blüte in ihrer Hand.
»Mehr ist mir nicht eingefallen, aber diese Antwort schien ihm zu gefallen, denn er reichte mir seine Hand und ich habe sie wie im Traum ergriffen.
Wie heißt du, mein Engel?, fragte er dann.
Mein Name ist Zira, Tochter des Hufschmieds, gab ich zur Antwort.
Du bist eine wunderschöne junge Frau. Möchtest du mich nicht besuchen? Ich bin nämlich oft sehr einsam. Seine Direktheit hat mich verwundert, aber gleichzeitig fühlte ich mich geehrt. Ihre Worte schmeicheln mir, aber ich wüsste nicht, wo ich einen Edelmann wie euch finden sollte.«
Zira kicherte.
»Da hat er die Augen zusammengekniffen, als müsse er darüber nachdenken, ob er meine Unwissenheit glauben soll.«
Pirok schaute sie ungläubig an. »Dir war wahrhaftig nicht klar, dass es sich um König Miron handelt? Jeder kennt doch den König.«
»Ich in diesem Moment eben nicht. Und ihr seht alle nur den Herrscher, den er in der Öffentlichkeit darstellt«, entgegnete Zira aufgebracht. »Ich jedoch werde schon bald den Mann abseits dieser Fassade entdecken«, fügte sie voller Stolz hinzu. »Denn nicht der König ist es, der das Land regiert, sondern der Mann hinter dem Titel.«
»Also gut, wie du meinst. Erzähl weiter«, forderte
Robert sie auf.
»Okay, pass auf. Er erzählte mir, dass er mich gerne wiedersehen würde, und erkundigte sich, ob ich das kleine Schloss am Rande der Stadt kenne.«
»Also ist es doch der Sohn von Johann König«, bemerkte Robert.
»Ist mir egal, wessen Sohn Bernard ist. Ich kann den Moment einfach nicht vergessen, als er mir in die Augen gesehen und gefragt hat, ob ich ihn einmal besuchen möchte. Er meinte, er sei sehr einsam, da seine Partnerin vor Jahren verstorben sei. Und fügte hinzu, wie sehr er meine Anwesenheit genießt. Mir hat das sehr geschmeichelt und er fasziniert mich über alle Maßen.«
»Aber du bist doch überhaupt nicht mit seiner Person vertraut«, gab Robert zu bedenken.
Maria musterte den Mann, der neben ihr im Gras lag und, wie sie, in den Himmel starrte. »Stimmt. Aber es kommt mir trotzdem so vor, als würde ich ihn besser kennen als jeden anderen Menschen, der mir bisher begegnet ist. Seine Augen … mir war, als blickte ich direkt in sein Herz. Verstehst du das? Ich konnte in seinem Gesichtsausdruck Geschichten lesen.« Sie machte eine Pause und stieß einen leisen Seufzer aus. »Und sein Bart … ich mag ihn.«
»Du wirst also zu ihm gehen?«
Maria nickte. »Ich kann gar nicht anders. Ich möchte unbedingt an seinem Leben teilhaben, ihn näher kennenlernen.«
»Deine Geschichte klingt wie ein Märchen. Bist du sicher, das alles wirklich erlebt zu haben?«, bemerkte Robert mit einem leichten Kopfschütteln. »Sei mir nicht böse, aber ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick.«
»Das war es auch nicht. Es war mehr …« Maria schloss die Augen. »Eine Art Seelenverwandtschaft, die ich nicht erklären kann. Als hätte das Schicksal auf diesen speziellen Augenblick gewartet, um uns aufeinandertreffen zu lassen.« Sie seufzte und faltete die Hände über ihrer Brust, als würde sie beten. »Und eines weiß ich mit Sicherheit. Diese Begegnung wird mein Leben verändern. Ja, ich werde ihn wiedersehen.«
Sie öffnete die Lider und blickte verträumt zu Robert. In dessen Augen lag plötzlich ein seltsam düsterer Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte. »Hast du denn schon etwas mit ihm vereinbart? Einen genauen Termin meine ich«, fragte er mit leicht belegter Stimme, ehe sie nachhaken konnte. Ihre Gedanken wanderten zurück zu Bernard. Sie lächelte verträumt
und
nickte ihrem Jugendfreund zu. »Ich werde schon heute Abend bei ihm sein«, sagte Zira und stützte den Oberkörper auf ihren Ellbogen ab. Sie sah auf die Spitze des Schlossturmes und in ihren Augen blitzte Sehnsucht auf.
»In wenigen Stunden werde ich ihn wiedersehen«, flüsterte sie …
» … und lächelte.«
Sara markierte die Stelle im Buch mit einem Lesezeichen und legte es dann auf den Nachttisch, der neben Tristans Bett stand.
»Das ist ein schönes Märchen«, sagte der Junge und lachte seine Mutter an. »Denkst du, dass sich Zira und der König noch stärker ineinander verlieben?«
Sara verkniff sich ein Schmunzeln. »Das erfahren wir morgen. Wir sind ja erst am Anfang der Geschichte. Noch ist nicht viel passiert.« Sie deckte Tristan zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »So, und jetzt wird geschlafen«, flüsterte sie. »Licht aus.«
»Aber lass bitte die Tür einen Spalt auf«, bettelte der Junge.
»In Ordnung.«
Als sich Sara von der Bettkante erhob, spürte sie, wie so oft, Schmerzen im Rücken. Sie unterdrückte ein Seufzen und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer ihres Sohnes. Der hatte artig die Augen geschlossen und befand sich wahrscheinlich noch in einem fremden Land, zusammen mit Pirok und Zira.
Ihr Blick streifte den Abreißkalender an der Wand und im Vorbeigehen entfernte sie das Blatt des zu Ende gehenden Tages. 10. November 2019! Heute vor zehn Jahren haben Manuel und ich geheiratet, dachte sie. Wie es scheint, hat er unseren Hochzeitstag vergessen. Dieser Tag hat wohl keine Bedeutung mehr für ihn.
Sie lehnte die Tür des Kinderzimmers leicht an, sodass der Schein des Kristallleuchters im Wohnzimmer noch in Tristans Reich fallen konnte.
Ihr Sohn war neun Jahre alt und die meisten Freunde, Bekannten und Verwandten dachten bis heute, der Termin ihrer damaligen Heirat hinge damit zusammen, dass Sara kein uneheliches Kind zur Welt bringen wollte. In Wahrheit war der Junge ein Wunschkind und wurde erst nach ihrer Eheschließung gezeugt. Doch sie und Manuel hatten beschlossen, das Geheimnis für sich zu bewahren. Es machte irgendwie Spaß, dieses Wissen wie einen intimen Schatz zu hüten. Sollten die Anderen denken, was sie wollten.
»Schläft er?«, erkundigte sich ihr Ehemann und sah von dem Buch auf, das er gerade las.
»Noch nicht, aber es wird nicht mehr lange dauern. Ich habe begonnen, ihm aus Der König und der Schmetterling vorzulesen. Die Geschichte scheint ihm zu gefallen.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und zitierte den Titel von Manuels Lektüre. »Die Agonie des Lebens. Hört sich interessant an.«
»Ist es auch«, gab ihr Mann zur Antwort und legte das Buch auf den Wohnzimmertisch. »Es geht um eine Familie, die nach einem Autounfall im Krankenhaus erwacht und über den wahren Sinn des Lebens nachdenkt. So in etwa zumindest.«
»Existiert solch ein Sinn?« Sara schenkte Sekt nach.
Nicht einmal diese Andeutung bezüglich unseres Hochzeitstages versteht er. Sie nippte an ihrem Glas. Ich trinke selten Sekt. Eigentlich hätte er sich fragen müssen, warum ich ausgerechnet heute eine Flasche aufmache.
Sie betrachtete Manuels Profil und stellte fest, dass sie ihn nach wie vor liebte. Er bemerkte ihren Blick, erwiderte ihn und zwinkerte. »Was ist?« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ach, nichts«, antwortete sie und lächelte zurück.
Er wandte seinen Oberkörper in ihre Richtung. »Mach die Augen zu«, flüsterte er, während er seine rechte Hand auf ihren Oberschenkel legte. »Mach schon.«
Sie schloss die Lider und hörte, wie er sich vom Sofa erhob und in der Küche verschwand. Kurze Zeit später vernahm sie das Klirren von Gläsern. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Er hat also doch daran gedacht und etwas vorbereitet!
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, als sie Sekunden später das Lied erkannte, das Manuel in der Küche zu summen begann.
Seit Jahren hatte sie den Song nicht mehr gehört. Dabei war er lange Zeit ihr Lied gewesen. Über Monate hinweg lief er fast jeden Abend, während sie einander streichelten und berührten. Manuel hatte sie dabei Schmetterling genannt und sie hatte ihm daraufhin den Namen Schmetterlingsmann gegeben.
Sie lächelte und dachte an das Märchenbuch, das im Nebenzimmer auf dem Nachttisch ihres Sohnes lag.
Sara mochte Schmetterlinge schon immer. Als kleines Mädchen hatte sie versucht, diese wunderschönen, zerbrechlichen Tiere zu fangen, um sie näher betrachten zu können. Sie liebte die fantastischen Zeichnungen auf deren Flügeln und ihre grazile Anmut.
Sie hörte, wie Manuel das Wohnzimmer betrat und zwei Gläser auf den Tisch stellte. Anschließend schlich er zur Stereoanlage und legte eine CD ein. Sie nahm das leise Schließen der Schublade wahr.
»Du kannst die Augen aufmachen«, flüsterte er kurz darauf dicht neben ihr.
Sie folgte der Aufforderung und sah ihn an. »Du hast daran gedacht. Unser Lied …« Sie lächelte. »Du hast den zehnten Hochzeitstag also nicht vergessen.«
Manuel nahm beide Weingläser und reichte Sara eines davon. »Weiß für dich, rot für mich, wie in alten Zeiten.«
»Ja, wie früher«, erwiderte Sara und stieß mit ihm an. »Mein Schmetterlingsmann …« Sie schmunzelte und trank einen Schluck. »Wie kommt es, dass du dich gerade heute daran erinnert hast?«
»Ich habe das Märchenbuch bei Tristan liegen sehen. Dessen Titel und das Cover …«
Sie sahen sich eine Weile in die Augen. »Ich liebe dich, Schmetterling«, flüsterte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich liebe dich auch, Schmetterlingsmann.«
»Wie schnell doch die Zeit vergeht«, bemerkte Manuel nachdenklich. Er lauschte versonnen dem Lied, dann stahl sich ein Grinsen auf sein Gesicht. »»Ich wette, du hast die ganze Zeit gedacht, ich hätte diesen besonderen Tag vergessen. Sei ehrlich.«
»Ich gebe es zu, stimmt.«
»Du hast ja eine hohe Meinung von mir.« Er stellte das Weinglas auf den Tisch und beugte sich hinab. Sein Gesicht war dicht vor ihrem und ihr Antlitz spiegelte sich in seinen Pupillen. Sara betrachtete ihn. Seine Stirn, seine Augen, seine Nase, die Wangen, die Lippen, sein Kinn. Sie holte tief Luft. Wie gut er riecht! Er möchte mit mir schlafen. Ich nehme den Duft seiner Erregung wahr. Es ist ein wunderbares Gefühl, von diesem Mann begehrt zu werden.
Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite, damit sie ihr Glas ebenfalls abstellen konnte. »Woran denkst du?«, fragte sie ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Es sind zu viele Dinge, die auf mich einstürmen. Es ist wie ein Wirbelsturm aus Gedankenfetzen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich zu einem einzigen, nicht zu begreifenden Ganzen. Ich kann es nicht näher erklä-«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich kenne dieses Chaos an Empfindungen nur allzu gut.«
Manuel kniff die Lider zusammen. »Auch wenn du manchmal denkst, ich würde dich nicht mehr so intensiv lieben wie vor zehn Jahren«, flüsterte er. »Es ist immer noch genauso.« Er seufzte, lehnte sich zurück und fuhr mit der Zunge über seine Oberlippe. »Allerdings kommt es mir manchmal vor, als gerate in Vergessenheit, warum wir uns lieben.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich denke, viele Paare verlieren im Lauf der Zeit all die wunderbaren Dinge aus den Augen, die dazu geführt haben, dass sie sich einst die Liebe schenkten. Verstehst du? Dinge, die einmal eine große Bedeutung besaßen.«
»Etwa Vertrauen, Begehren, Ehrlichkeit und Aufmerksamkeit?«
»Genau das«, bestätigte Manuel und reichte Sara ihr Glas, bevor er nach seinem griff. »Die meisten Menschen schieben die damit verbundene Entfremdung von ihrem Partner auf die Zeit und den Alltag. In Wahrheit liegt es aber doch an den Beteiligten, die versäumen, die Pflanzen im Garten ihrer Liebe zu pflegen.«
Sara nickte. »Aber wir hatten doch bisher selten derlei Probleme miteinander.«
Manuel sah sie durchdringend an. »Bist du sicher?« Er ließ die Frage eine Weile im Raum stehen, bevor er weitersprach. »Auch bei uns zeigen sich schon erste Anzeichen, kleine Unachtsamkeiten, die sich langsam in eine Beziehung einschleichen und sie zerstören.«
Sara dachte nach. »Das Märchen vom König und dem Schmetterling handelt genau davon«, flüsterte sie. »Es geht darin um Liebe und die Facetten, aus denen sie besteht.«
»Bestehen soll«, verbesserte Manuel.
»Oder so.« Sara nippte an ihrem Weißwein und legte ihren Kopf auf die Sofalehne. »Was hältst du davon, wenn wir drei zusammen die Geschichte lesen? Vielleicht löst sie auch in unserer Partnerschaft etwas aus.«
Manuel nickte. »Gute Idee. Einverstanden.«
Zira hatte sich von Pirok verabschiedet und beschlossen, vor dem Besuch beim König noch im Fluss zu baden. Sie konnte es kaum erwarten, den bärtigen Mann wiederzutreffen, der so edel und weise auf sie wirkte. Die Tatsache, dass er älter war als sie, hinderte sie nicht daran, sich ihre Gefühle ihm gegenüber offen einzugestehen.
Sie hatte sich vom ersten Augenblick an in den König verliebt.
Nun kniete sie am Ufer des Flusses in einer kleinen Bucht, die einen geeigneten Ort bot, um sich zu waschen. Die junge Frau betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser. Ob er mich auch heute noch schön finden wird?
Zira besaß ein schmales Gesicht. Ihre Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer weichen Haut ab. Sie verliehen ihr aber keinesfalls das Aussehen eines ausgehungerten Mädchens, sondern verschafften ihr eher die anmutigen Gesichtszüge einer adligen Dame.
Sie achtete auf ihr Äußeres und war stolz auf ihre Figur. Als Tochter eines Hufschmieds hatte sie es selten einfach gehabt. Zira erinnerte sich ungern an die Hänseleien der anderen Kinder. Klauenbeschlagerhexe wurde sie von ihnen genannt.
Mit dem Zeh ihres rechten Fußes prüfte sie die Temperatur des Wassers und wickelte ihre langen Haare kurzerhand zu einem einfachen Knoten zusammen. Für das kurze Bad reichte diese Maßnahme vollkommen, damit diese nicht allzu nass wurden.
Das zurückliegende Gespräch mit ihrem Jugendfreund kam ihr in den Sinn.
Er ist verliebt in mich und nun bestimmt eifersüchtig auf König Miron. Pirok würde seine Gefühle niemals zugeben, aber ich kenne ihn und weiß, dass er sich seit jeher mehr von mir erträumt.
Sie begab sich zu einer Stelle, an der ihr das Wasser bis über den Bauchnabel reichte, und ging langsam in die Knie. Die Kühle des Gewässers bescherte ihr eine angenehme Gänsehaut. Dabei schlossen sich die Poren und Zira spürte, wie sich die Oberfläche ihres gesamten Körpers straffte. Sie seufzte, als sie ein Prickeln bemerkte, verursacht durch kleine Luftperlen, die ihren Weg zurück an die Wasseroberfläche suchten und dabei über ihren Rücken strichen. Das leise Rauschen des Flusses beruhigte sie und die Aufregung wegen des bevorstehenden Treffens verblasste, je länger sie den sanften Tönen des vorbeiziehenden Gewässers lauschte.
Er besitzt Augen, in die ich gerne für immer versinken würde. Seine dunkle Stimme weist einen warmen, angenehmen Klang auf, der mich tief in meinem Inneren berührt. Es wird ein wundervoller Abend.
Während sie vor sich hinträumte, bemerkte sie nicht, wie sich jemand vom Hügel aus näherte.
Zira seufzte, rieb über ihre Oberarme, benetzte ihr Gesicht mit dem erfrischenden Wasser
und
dachte weiter an den Mann, den sie gleich besuchen würde.
Während das Wasser aus dem Duschkopf strömte, stellte sich Maria zum wiederholten Mal Bernards Gesicht vor. Seine Augen faszinierten sie. Dazu der Bart, der seine Gesichtszüge markant und männlich erscheinen ließ. Sie erinnerte sich an seine sanft und ehrlich klingenden Worte, gesprochen mit jener unvergleichlich warmen und dunklen Stimme. Er stellte eine absolute Ausnahme dar! Viel menschlicher und echter als all die prahlenden Artgenossen, die in letzter Zeit um ihre Freundschaft buhlten.
Obwohl sie auf der Party nicht viel miteinander geredet hatten, war ein geheimnisvoller Funke übergesprungen, der die Glut der Sehnsucht zu einem Feuer der Liebe entfacht hatte. Nun lag es an ihnen, diese Flammen zu nähren, und Maria war überzeugt davon, dass sie sich hervorragend verstehen würden.
Sie drehte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Während sie sich abtrocknete, überlegte sie, welche grundlegenden Fragen sie Bernard stellen wollte. Fragen, die seine Sicht auf die Liebe und eine mögliche Beziehung mit ihr betrafen. Sie hegte zwar keine ernsthaften Bedenken, was seine möglichen Antworten anging, doch es war besser, diese vorab aus seinem Mund zu hören.
Sie schaute auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass ihr noch genügend Zeit blieb, um sich in Ruhe auf den Abend vorzubereiten. Ob es sich bei Bernards Vater tatsächlich um den Schriftsteller handelte, von dem Robert gesprochen hatte?
Maria schlug das Badetuch um ihre schlanke Figur, trat vor den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht. Sie mochte ihre schmale Nase nicht, obwohl fast alle Freunde der Meinung waren, dass diese ihr ein sympathisches Aussehen verlieh. Mit der Rechten strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Seit mehr als einem Jahr färbte sie ihre Haare. Deren roter Naturton harmonierte ihrer Meinung nach nicht mit dem Typ Frau, den sie darstellen wollte. Also hatte sie sich für ein warmes Dunkelbraun entschieden und fühlte sich wohl damit.
»Ich mache das schon«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. »Er ist bestimmt genauso nervös wie ich.« Anschließend verließ sie das Badezimmer und sah sich nachdenklich in ihrer Wohnung um. Ob er wohl jemals hierherkommen wird? Und ob ihm gefallen wird, was er dann zu sehen bekommt? Als Schlossherr ist er wahrscheinlich Luxuriöseres gewohnt.
Sie begab sich zum Schlafzimmerschrank, öffnete ihn und starrte auf die wenigen Kleidungsstücke, die zur Auswahl standen. Maria war nicht arm, aber sie besaß auch nicht besonders viel Geld. Sie arbeitete in einer Firma, die Dosen für Fischkonserven produzierte. Der Verdienst war niedrig, dennoch kam sie mühelos über die Runden und das genügte ihr. Sie strebte nicht nach großen Sprüngen im Leben. Ihre Prioritäten lagen abseits von materiellen Dingen. Und doch werde ich in Kürze zu Gast in einem Schloss sein. Bei einem Mann, der mir wie ein Märchenprinz erscheint. Sie lächelte. Trotzdem werde ich nichts überstürzen. Schließlich kann mich der Abend immer noch eines Besseren belehren.
Sekunden später fiel ihre Wahl auf einen eleganten Rock, der auf geschmackvolle Weise ihre Figur betonte. Ein Geschenk ihrer Mutter, damit Maria etwas Gediegenes zum Ausgehen besaß.
Sie schmunzelte amüsiert, als sie vor dem Ankleidespiegel stand, das Kleidungsstück vor ihren halbnackten Körper hielt und an Bernards Nachnamen dachte.
Ein vornehmer Rock. Aber ich treffe mich schließlich mit einem König! Da ist das Beste gerade gut genug.
Sie legte den Rock aufs Bett und suchte eine passende Bluse aus.
Hoffentlich gefalle ich ihm.
Dann ging sie zurück ins Badezimmer. Ihre Haare waren inzwischen fast trocken,
sodass
sie nicht länger warten musste, um sich anzuziehen. Zira fröstelte leicht, griff nach ihrem Kleid und zog es über den Körper. Dessen Stoff fühlte sich gut an und die junge Frau hoffte, dass es noch angenehm roch. Ihr Vater verdiente nicht genügend Geld, um ihr eine umfangreiche Garderobe zur Verfügung stellen zu können. So trug sie jedes ihrer Kleider über mehrere Tage, manchmal sogar länger.
Im selben Augenblick vernahm sie ein leises Geräusch. Sie fuhr erschrocken herum und sah in das freundlich lächelnde Gesicht Tallulahs.
»Du hast mich erschreckt«, begrüßte sie ihn und zupfte die Schulterträger zurecht. »Ich habe dich nicht kommen hören.«
Ob er mir beim Baden zugesehen hat?, fragte sie sich. Ich würde es ihm zutrauen.
»Es lag nicht in meinem Sinn, dich zu erschrecken, Teuerste. Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt und habe jemanden am Fluss bemerkt. Ich wollte lediglich nachsehen, um wen es sich handelt. Mit dir habe ich nicht gerechnet, schöne Zira.«
Schöne Zira, wiederholte die junge Frau in Gedanken. Manchmal muss ich Pirok recht geben, wenn er sagt, Tallulah redet Unsinn. Es wirkt wahrhaft so, als würde er sich diese Worte aus den Fingern saugen, um mir zu imponieren.
»Wieso nennst du mich andauernd schön?«, fragte sie vorsichtig nach.
»Weil du es bist«, antwortete Tallulah ohne zu zögern.
»Machen Männer Frauen nicht immer nur dann Komplimente, wenn sie etwas von ihnen erwarten?«
Tallulah schüttelte den Kopf. »Ist der Punkt nicht eher, dass du etwas von mir erwartest?«
Zira stutzte. Was meinte er damit? Sie mochte und schätzte ihn, aber …
Der Mann trat einen Schritt auf sie zu. Seine langen, schlohweißen Haare wehten in der leichten Brise. In seinen Augen lag plötzlich ein verklärter Ausdruck, der Zira unangenehm war.
Er streckte seine Hände nach ihr aus und legte sie auf ihre Schultern. »Du kannst es ruhig zugeben. Ich habe dein Begehren bemerkt«, flüsterte er und lächelte sie auffordernd an.
Zira traute ihren Ohren nicht. Die ganze Situation erschien ihr immer unwirklicher.
Sie fixierte Tallulahs Augen, im Bemühen, darin zu lesen.
»Was soll ich zugeben?«, fragte sie und bog den Oberkörper zurück.
Er behielt die Hände auf ihren Schultern und hob kopfschüttelnd beide Augenbrauen, unzweifelhaft als Zeichen seiner Verwunderung. »Du erstaunst mich immer wieder, meine Schöne. Erst gestern hast du mir sehnsüchtige Blicke zugeworfen, die tief in mein Herz gedrungen sind.«
»Ich …« Zira schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe nichts dergleichen getan. Deine Weisheiten sind es, die ich schätze. Aber keinesfalls mehr.«
Schnell bückte sie sich, hob ihren Schal vom Boden, trat einen Schritt zurück und legte das Stück Stoff schützend um ihre Schultern. Sie war froh, damit seiner Berührung entkommen zu sein. Dann sah sie verunsichert auf den Mann, der mit ausgebreiteten Armen dastand und sie amüsiert beobachtete. Er wurde ihr von Sekunde zu Sekunde unheimlicher. Sie wollte nicht länger in Tallulahs Nähe sein!
»Zira … Zira … wieso zierst du dich so? Gehört das zum Spiel? Gib doch einfach zu, dass du mich liebst.« Seine Stimme klang ruhig und einschmeichelnd, doch in seinen Augen erkannte sie das genaue Gegenteil. Die pure, triebhafte Gier. Tallulah hatte nichts anderes im Sinn, als sie zu besitzen und seine Lust zu befriedigen.
»Lass mich in Ruhe«, verlangte Zira hastig. Sie wollte so schnell wie möglich fort, damit
sie noch rechtzeitig zu ihrem Rendezvous kam. Maria schloss die Wohnungstür hinter sich und dachte zum wiederholten Mal an den Abend, der sie erwartete. Sie stellte sich vor, wie Bernard sie an der Tür empfing und in sein Zuhause einlud, malte sich in Gedanken aus, wie er ihr den Mantel abnahm und sie anschließend in den Raum führte, in dem sie ihr Beisammensein verbringen würden.
Als sie hinaus auf die Straße trat, begann es leicht zu regnen.
Hoffentlich wird das Wetter nicht schlimmer, dachte sie, als sie über den Bürgersteig auf die Straße zueilte, um ein freies Taxi herbeizurufen. Eine teure Investition, aber das Schloss der Familie König lag am Stadtrand und ihres Wissens nach existierte keine Möglichkeit, mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen. Zumindest nicht, ohne zigmal umzusteigen. Wieso hat er mich eigentlich nicht mit einer weißen Kutsche abholen lassen?, dachte sie amüsiert. Wie in einem Märchen.
Maria lächelte bei dem Gedanken, mit einer solchen Droschke durch die Straßen von Berlin zu fahren und dabei Autofahrer sowie Passanten zum Staunen zu bringen. Sie sah in Bernard tatsächlich so etwas wie einen Märchenprinzen und malte sich die Situation in allen Einzelheiten aus.
»Schöne Frau! Taxi gefällig?«, unterbrach sie plötzlich die Stimme eines Mannes. Maria hatte gar nicht gehört, dass ein Pkw am Straßenrand angehalten und der Fahrer die Beifahrertür geöffnet hatte. »Kommen Sie schon. Sie werden ja tropfnass.«
Sie nickte dem Mann dankbar zu und stieg ein. »Entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken.«
»Kann passieren«, antwortete dieser und lachte. »Sie haben wohl geträumt?«
»Das habe ich«, bestätigte sie. Sie nannte ihm das Fahrziel und er hob erstaunt die Augenbrauen. »Das nenne ich aber mal ’ne noble Adresse. Sehr interessant. Zu wem wollen Sie denn? Vater oder Sohn?«
»Letzterem«, antwortete Maria mit einem verhaltenen Lächeln. »Kennen Sie die Familie König?«
»Ich weiß nur, dass der Vater Bücher schreibt«, antwortete der Taxifahrer und reihte sich in den fließenden Verkehr ein.
Die weitere Fahrt verlief ruhig, obwohl Maria spürte, dass der Mann am Steuer sie immer wieder musterte. Etwas zu intensiv, wie sie fand. Angespannt starrte sie auf die Fahrbahn vor ihnen und wünschte sich, das Schloss läge nicht so weit außerhalb.
Erst als sie in dessen Nähe kamen, begann er wieder zu reden. »Sie machen auf mich den Eindruck, als könnten Sie es gar nicht erwarten, endlich ans Ziel zu kommen. Hab ich recht?«
Maria fühlte sich immer unwohler. In seiner Stimme lag ein anzüglicher Klang. Trotzdem bemühte sie sich um Höflichkeit und antwortete: »Sie haben recht. Ich freue mich sehr auf dieses Treffen.«
Der Fahrer warf ihr einen forschenden Blick zu und steuerte den Wagen auf den Vorplatz des Schlosses, das am Ende einer privaten, mit Kies gefüllten Zufahrtsstraße lag.
Sie beeilte sich, zu bezahlen, und wollte gerade aussteigen, als der
Mann
nach ihr griff. »Bleib, Zira! Du wirst dich erst entfernen, wenn ich dir die Erlaubnis dazu gebe«, knurrte er drohend. »Du weißt, dass dein Vater mich schätzt, und wenn du mir Schwierigkeiten bereitest …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber Zira verstand den Ernst der Drohung.
»Was willst du von mir?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
Tallulah riss sie ungestüm an seine Brust. »Dich. Und deine Liebe.«
Mit einem entschlossenen Ruck drückte Zira Tallulah fort, doch jener umfasste fest ihre Handgelenke und hinderte sie so an der Flucht.
»Du bleibst«, flüsterte er. »Und du erfüllst mir diesen Wunsch, hast du verstanden?«
Zira schüttelte heftig den Kopf und ihre Arme. »Nein! Lass mich los! Du wirst meine Liebe niemals bekommen!«
Tallulah fluchte, löste seine Rechte von ihrem Handgelenk und drückte deren Finger fest gegen Ziras Wange, damit sie ihn ansah.
Die junge Frau roch seinen stinkenden Atem. »Was ist nur los mit dir?«, schrie sie.
Tallulahs Lippen öffneten sich ein wenig mehr.
Zira erschrak. Er will mich küssen! Nein! Ich will das nicht!
Tallulah schien ihre Abscheu zu bemerken, und ein boshaftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, das nur wir Zauberer kennen«, flüsterte er. »Selbst wenn du nicht freiwillig bereit bist, mich zu lieben, so wirst du es doch tun. Hält man nämlich einen Schmetterling in der Hand und flüstert diesem seinen größten Liebestraum zu, wird jener vom Großen Geist der Liebe erfüllt. Genau in dem Augenblick, in dem man den Schmetterling wieder aus der Hand in die Freiheit entlässt. Zwischen dem Großen Geist der Liebe und den Schmetterlingen herrscht nämlich eine besondere Verbindung. Sie dienen als Übermittler von Herzensbotschaften.«
Nun versuchte Tallulah wirklich, Zira zu küssen, doch ihr gelang es gerade noch rechtzeitig, sich wegzudrehen.
»Wie du willst. Du verstehst sicher, dass mir damit keine andere Möglichkeit bleibt. Und da es mir zu mühsam ist, irgendeinen Schmetterling zu fangen, werde ich dich einfach in einen verwandeln.«
»Aber was hättest du davon? Du begehrst mich als Frau, nicht als Schmetterling!«, keuchte Zira.
»Natürlich. Ich will dich als Frau. Deshalb gebe ich dir kurz nach dem Aussprechen meines Wunsches und dem Öffnen meiner Hand deine menschliche Gestalt zurück, sorge dich nicht.«
Tallulah stieß Zira grob von sich und streckte beide Arme in den Himmel.
»Kind der Schönheit mit deinen engelsgleichen Zügen, hab acht und sei bereit. Verwandeln werden dich meine Worte in ein Wesen voller Anmut, jedoch stumm. Zu einem Schmetterling sollst du erblühen, damit ich dich fangen kann, um dir meinen größten Seelenwunsch zuzuflüstern.«
Zira, die auf den Boden gestürzt war, starrte ihn aus geweiteten Augen an. »Und was passiert, wenn ich dir vorher davonfliege?«, fragte sie. Verwunderlicherweise verspürte sie keinerlei Furcht vor dem Zauber, mit dem Tallulah ihr drohte.
»Dann wirst du für immer ein Schmetterling bleiben, bis an dein Lebensende. Es sei denn, du könntest dem Großen Geist der Liebe eben dieses Gefühl erklären. Dann könnte auch er dich zurückverwandeln. Aber wie willst du das bewerkstelligen? Wen könntest du um Hilfe bitten? Wer sollte dir das Wissen über die Liebe vermitteln? In wenigen Sekunden wirst du ein stummer Falter sein.«
Zira schüttelte den Kopf. »Das glaube ich dir nicht. Wenn du mich verwandelst, fliehe ich. Nie und nimmer gebe ich dir meine Liebe.«
»Du hast keine Möglichkeit, diesem Bann zu entkommen«, sprach Tallulah.
»Wir werden sehen«, entgegnete die junge Frau.
Der Zauberer breitete erneut die Arme aus. »Verwandle dich in eine Blume der Luft«, schrie er und sah sein Opfer dabei mit weit aufgerissenen Augen an.
Zira spürte die Metamorphose nicht. Sie merkte nur, wie sie immer leichter wurde, erfüllt von einem euphorischen Gefühl der Freude. Dann fühlte sie plötzlich Flügel an ihren Seiten und bereits beim ersten Versuch gelang es ihr, sich in die Luft zu erheben. Welch herrlicher Zustand! Doch ihr Entzücken währte nur wenige Augenblicke.
Eine riesige Hand griff nach ihr und schlagartig herrschte Dunkelheit.
Tallulah!, durchzuckte es Zira.
Die Finger, die ihren zierlichen Körper umschlossen, öffneten sich einen Spalt breit, und sie vernahm die Worte, die sie niemals hören wollte:
»Jetzt nenne ich dem Großen Geist der Liebe mein Gesuch, Zira«, dröhnte laut die Stimme des Zauberers, und Zira bekam Angst. »Mein Wunsch lautet …«
… liebe mich, Zira. Von ganzem Herzen und bis zum Ende deines Lebens. Doch wenige Sekunden, bevor Tallulah dem Schmetterling seine Freiheit zurückgeben konnte, damit sein Wunsch in Erfüllung ging, schaffte Zira es, durch den engen Spalt zwischen seinen Fingern zu schlüpfen und zu entkommen.«
Sara schlug das Buch zu und betrachtete Tristan, der mit offenem Mund im Bett lag. Seine Augen hingen gebannt an den Lippen seiner Mutter. Dann stieß er lautstark den angehaltenen Atem aus. »Wow, das ist aber echt spannend«, setzte er flüsternd hinzu.
Manuel stand auf der anderen Seite des Bettes und stimmte zu. »Das ist es wirklich.« Er sah zu Sara, die erst ihn und dann Tristan anlächelte. »Schlafenszeit. Morgen Abend lesen wir die Geschichte von Zira weiter.«
Ihr Sohn seufzte ergeben, obwohl er den Fortgang des Märchens kaum erwarten konnte. Andererseits wusste er, dass die Erzählung zwischen den Deckeln des Buches gefangen war. Die Fabel würde am nächsten Tag genauso enden wie jetzt.
»Schlaf gut.« Sara küsste Tristan wie jeden Abend auf die Stirn.
Manuel strich durch die dichten Haare des Kindes und wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht. »Morgen geht’s weiter, in Ordnung?«
Der Junge nickte, doch eine Frage ließ ihm dann doch keine Ruhe. »Wieso will Tallulah eigentlich die Liebe von Zira erzwingen? Was sie auf diese Weise fühlt, ist doch gar nicht echt, oder?«
»Das ist eine sehr gute Frage, mein Sohn«, antwortete Manuel. »Im wirklichen Leben kann man Zuneigung nicht erzwingen, aber in einem Märchen ist das möglich. Es ist nun einmal ein Zauber, den Tallulah anwendet. Und wenn ihm sein Wunsch erfüllt wird, kann sich Zira bestimmt nicht mehr daran erinnern, dass sie ihn in Wahrheit überhaupt nicht liebt.«
»Aber sie ist doch jetzt entkommen«, warf der Junge ein.
»Ja«, sagte Sara, die bereits im Flur stand. »Und nun wird sie wahrscheinlich jemanden suchen, der ihr dabei hilft, sich wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln.«
»Sie fliegt bestimmt zum König«, vermutete Tristan.
»Das werden wir morgen Abend herausfinden.«
»Gute Nacht«, murmelte der Junge und war bereits wenige Augenblicke später eingeschlafen.
*
»Denkst du, die Geschichte ist zu kompliziert für einen Neunjährigen?« Manuel blickte nachdenklich auf seine Frau.
Sara schüttelte den Kopf. »Tristan weiß genau, worum es in diesem Märchen geht. Du hast gesehen, wie er mitfiebert.«
»Ja, das stimmt. Er kann es wirklich kaum erwarten. Es ist so schön, dass er sich dafür interessiert.« Manuel setzte sich neben Sara aufs Sofa. »Mittlerweile bin ich sogar selbst gespannt, wie Zira es schafft, ihre wahre Gestalt zurückzubekommen.«