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Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, eine zweite Chance zu bekommen? Einen Neuanfang, bei dem man alle Pläne, die man sich fürs Leben vorgenommen hat, anpacken und in die Tat umsetzen könnte? Marcello Filippelli ist genau das passiert. Aber nicht so, wie man es sich wünschen würde, sondern eher auf unfreiwillige Weise: Er wurde krank und schwebte in Lebensgefahr. Sein Weg, den er währenddessen und danach ging, ist inspirierend, emotional und erzählenswert.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Prolog: Spirometrie - 2025 -
Teil 1: SITUS INVERSUS
Kapitel 1: Home Coming
Kapitel 2: Tiefer Schlaf
Kapitel 3: Ein Traum in einem Traum?
Kapitel 4: Ich bin im Irrenhaus
Ronald - 2025 -
Kapitel 5: Boarding completed
Kapitel 6: Energie aus einer anderen Dimension
Ronald - 2025 -
Kapitel 7: Die schönen Dinge des Lebens
Kapitel 8: Bis zum Hauptfilm dauert es noch eine Weile
Kapitel 9: Glück
Kapitel 10: I’m an Alien
Kapitel 11: Symbiose zweier Welten
Kapitel 12: Ein neues Auto muss her
Kapitel 13: Traumwelten
Ronald - 2025 -
Kapitel 14: Schöne, neue Welt
Intermezzo 1: Das Tagebuch von Stella
Teil 2: MOTION PICTURE
Kapitel 15: Zurück im Leben – Teil 1
Kapitel 16: Das Leben als Film
Kapitel 17: Zurück im Leben – Teil 2
Kapitel 18: Unvergessen
Kapitel 19: Schüler des Lebens
Kapitel 20: Zurück im Leben – Teil 3
Kapitel 21: Das Elend der Welt in zehn Minuten
Intermezzo 2: Das Tagebuch von Stella
Teil 3: DER PLAN FÜRS LEBEN
Kapitel 22: Niemals aufgebeben, Teil 1
Kapitel 23: Die erste Stufe zur finanziellen Freiheit
Kapitel 24: Niemals aufgebeben, Teil 2
Kapitel 25: Kannst du dir das auch leisten?
Kapitel 26: Bleibt bei mir
Intermezzo 3: Das Tagebuch von Stella
Epilog: Spirometrie – Der Befund - 2025 -
Heute ist Montag, der 27. Januar. Ich sitze bei meinem Lungenarzt und warte darauf, dass ich das Behandlungszimmer betreten kann.
Das Wetter ist schön und es fällt mir nicht schwer, mich über den Tag zu freuen. Zu viel liegt hinter mir, als dass ich solche Tage nicht genießen könnte.
Es ist neun Uhr. In zehn Minuten wäre mein vereinbarter Termin.
»Herr Filippelli?« Eine junge Frau kommt lächelnd auf mich zu und hebt entschuldigend die Schultern. »Der Doktor ist heute nicht da, Sie werden von seiner Vertretung behandelt. Deswegen verzögert sich Ihr Termin leider ein wenig. Tut mir leid.«
»Kein Problem«, antworte ich und lehne mich entspannt zurück.
Ich habe Zeit und kann warten, nutze solche Situationen gerne, um zu reflektieren. Es tut gut, sich nicht dem Stress und der Hektik des modernen Lebens unterwerfen zu müssen.
Heute soll die halbjährliche Spirometrie durchgeführt werden, ein medizinisches Verfahren, um mein Lungenvolumen zu messen.
Sie müssen wissen, ich leide seit meiner Geburt an einer ausgefallenen Anomalie, die als Situs inversus bezeichnet wird.
Als Situs inversus wird ein seltener, genetisch bedingter Entwicklungsdefekt bezeichnet, der während der Embryogenese, das ist der Entwicklungsprozess, bei dem eine befruchtete Eizelle im weiblichen Körper zu einem Embryo wird, passiert. Dabei werden sowohl die Brust- als auch die Bauchorgane und -gefäße spiegel- und seitenverkehrt im Körper angeordnet. Als Beispiel, nur um zu verdeutlichen, wie selten dieser Gendefekt ist, müssen Sie sich vorstellen, dass nur einer zwischen achttausend und fünfundzwanzigtausend Menschen darunter leidet. Und mein Defekt hat sogar noch den Zusatz ›mit Kartagener Syndrom‹, was noch viel seltener vorkommt.
Trotz aller Umstände kann ich mich glücklich schätzen, dass zumindest mein Hintern nicht vorne sitzt.
Nun ja, jedenfalls bin ich eine dieser Ausnahmen. Aber das ist bei Weitem nicht so schlimm, wie es sich jetzt vielleicht anhört, obwohl ich natürlich auf meine Gesundheit achten muss.
Nun, durch diesen Defekt wird jedenfalls meine Lungenfunktion eingeschränkt, sodass ich zweimal im Jahr eine entsprechende Untersuchung über mich ergehen lassen muss, um festzustellen, ob alles in Ordnung ist.
»Sie sind gleich dran«, sagt die Sprechstundenhilfe und geht zurück an ihren Platz.
Ich vernehme ein leises Summen, das von einer der Deckenleuchten kommt. Das gleichmäßige Geräusch wirkt beruhigend auf mich, und ich schließe die Augen. Eine angenehme Ruhe überkommt mich und ich fühle mich irgendwie schwerelos.
Es fühlt sich an, wie vor fünfzehn Jahren. Diese Ruhe, dieses gleichmäßige Summen …
Ich mache mir übrigens keinerlei Gedanken darüber, dass irgendetwas mit meinen Werten nicht stimmen könnte. Ich fühle mich gut, komme mit meiner Krankheit gut zurecht. Ich kenne meinen Rhythmus, weiß, wie ich mit der Fehlfunktion meiner Lunge umgehen muss.
Mir wird leicht schwindelig, so wie es sich anfühlt, wenn man kurz vor dem Einschlafen ist. Ich hole tief Luft und entspanne mich. Es wird ja noch einen kurzen Augenblick dauern, bis ich aufgerufen werde.
Hallo Marcello, ich bin’s, John.
Irritiert öffne ich die Augen und sehe mich im Wartezimmer um. Ich bin sicher, noch nicht eingenickt zu sein und mich immer noch in der Realität zu befinden.
John ist nicht hier, ich habe seine Stimme nur in meinen Gedanken gehört.
Ich reibe mir über die Augen, unterdrücke ein Gähnen.
Es hat sich aber angehört, als würde er direkt neben dir stehen.
Mein Blick fällt auf die Sprechstundenhilfe, die mir gegenüber an der Empfangstheke sitzt, mich freundlich anlächelt und mit der Hand auf die Uhr an der Wand zeigt.
9:20 Uhr.
Es ist gleich so weit, sagen ihre Augen. Der Doktor ist gleich für Sie da.
Ich sitze zwischenzeitlich nicht mehr allein im Wartezimmer. Eine Frau und ein Mann haben sich dazugesellt und lesen angestrengt in Zeitschriften, die sie im Grunde genommen gar nicht interessieren. Ich habe nicht mitbekommen, dass sie das Wartezimmer betreten haben.
Bin ich doch gerade eingeschlafen und habe geträumt?
Meine Atmung geht normal, ich fühle mich fit. Ich starre auf meine Schuhspitzen und hole noch einmal tief Luft. Die Vergangenheit drängt sich immer mehr in meine Gedanken.
All die Schläuche, Schmerzen und Visionen …
John, Ronald …
Sie müssen wissen, John ist ein guter Freund von mir. Allerdings ein imaginärer Freund, der mir vor fünfzehn Jahren neben anderen Schutzengeln geholfen hat, zu überleben. John gibt es nicht wirklich, aber mir kommt es tatsächlich manchmal vor, als wäre genau das Gegenteil der Fall.
Aber Ronald, der ist echt. Er war einer meiner Pfleger, für mich der Pfleger, der sich um mich gekümmert hat, als es mir schlecht ging.
Wie lange das schon her ist. Und doch kommt es mir vor, als wäre es gerade erst gestern gewesen.
Manchmal kommt mir das Geschehen unwirklich vor, als hätte ich einen Film gesehen, dessen Handlung ich mit meiner Person verbunden habe. Noch immer wirken meine Erlebnisse aus dieser Zeit wie ein Film von David Lynch, wie eine cineastische Aufarbeitung eines Drogenrausches.
Ich lehne mich wieder zurück und schließe die Augen.
Leise Klaviermusik dringt von irgendwoher an meine Ohren.
Ist das real oder nur in meiner Einbildung?
Das leise Rascheln der Magazine, die umgeblättert werden, vermischt sich mit dem Summen der Deckenlampe.
Ich bin in deiner Nähe, vernehme ich Johns Stimme. Du bekommst mich nicht mehr los.
Ich grinse.
Wird eh noch dauern, bis der Arzt für mich Zeit hat. Also, was soll’s?
Und so begebe ich mich auf eine Reise in eine Vergangenheit, die fünfzehn Jahre zurückliegt.
Damals, als ich fast mein Leben verlor …
»Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen, das Sie bereits wissen. Die Welt besteht nicht nur aus Sonnenschein und Regenbögen. Es ist ein sehr gemeiner und böser Ort, und es ist mir egal, wie hart Sie sind, es wird Sie in die Knie zwingen und Sie dort dauerhaft halten, wenn Sie es zulassen.«
- Sylvester Stallone
Im Hintergrund lief Home Coming aus Jerry Goldsmiths Partitur zu First Blood, in Deutschland als Rambo bekannt. Es waren wunderbare Klänge, die von Einsamkeit und Frieden erzählten, und die mir das Gefühl vermittelten, ich wäre dick in Watte eingepackt.
Ich lauschte der Musik eine Weile und fühlte mich geborgen, eins mit dem Universum, obwohl ich gar nicht genau wusste, wo ich mich befand. Es war dunkel und hell gleichzeitig, ich war vollkommen allein und trotzdem umgeben von Tausenden Seelen.
»Du musst natürlich vorher deine Hose ausziehen«, forderte mich eine Stimme auf, die mir bekannt vorkam. Noch wusste ich nicht, zu wem sie gehörte, aber als ich die Augen öffnete, entdeckte ich John Rambo neben mir. Zumindest sah er tatsächlich wie der von Sylvester Stallone dargestellte Vietnam-Veteran und nicht wie der Schauspieler selbst aus, der da neben meinem Bett, in dem ich lag, stand und mich mit seinem typisch schiefen Mundwinkel angrinste.
»Das offene Ende muss zu deinen Füßen zeigen«, erklärte er mir gerade und hielt die Bettpfanne vor sein Gesicht. Nach wie vor lächelte er und legte die Schüssel dann sachte neben mir auf das Bett. »Alles klar? Soweit verstanden?«
Ich nickte und überlegte verwirrt, wie es dazu kommen konnte, dass einer meiner Lieblingsschauspieler gerade neben mir stand und mir Anweisungen gab, wie ich eine Bettpfanne zu benutzen hatte.
»Ich … ähm, klar. Habe ich verstanden. Aber … wo bin ich?«
Ein leises Summen erfüllte den Raum. Es war angenehm warm, dennoch spürte ich einen leichten Schauer auf meinem Rücken.
»In Sicherheit«, sagte Rambo knapp und deutete mit dem Kinn auf die Bettpfanne. »Also, los geht’s. Nur zu, versuch’ es.«
Irritiert schloss ich die Augen und hörte einen Moment dem Filmscore zu, der noch immer an meine Ohren drang. Es fühlte sich an, als würde ich träumen. Aber irgendwie war es dann doch auch wieder wie eine Realität, allerdings eine falsche.
Wo bin ich? Was ist passiert? Wo kommt diese wunderschöne Musik her? Und, das Wichtigste und Absurdeste: Wieso steht ein Mann neben meinem Bett, der aussieht wie Sylvester Stallone?
Ich genoss einen Augenblick die Ruhe, die lediglich von den Streichern und sanften Gitarrenklängen untermalt wurde, verspürte eine befreiende Leichtigkeit in mir, fühlte mich glücklich und traurig zugleich. Ich war irgendwie zu Hause.
Home Coming …
In meinen Ohren rauschten die Herzschläge und ich zählte sie, als wäre es ein Spiel.
Eins, zwei, drei, vier …
»Jetzt nicht aufgeben, hörst du? Bloß nicht aufgeben. Du musst kämpfen, mein Freund«, drang die Stimme des Mannes an meine Ohren.
»Wofür?«, stöhnte ich, weil ich die Zusammenhänge immer noch nicht erkennen konnte.
»Na, wofür wohl? Das ist doch nicht so schwer. Für das Leben, für deine Familie …«
»Wer bist du?«
Der Vietnam-Kämpfer richtete sich auf und sah mir eine Weile lang tief in die Augen. »Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du kennst mich nicht?«
»Doch, klar … aber … ich meine, du bist eine Figur aus einem …«
»Moment mal«, unterbrach mich der Mann. »Ich bin hier, du siehst mich doch. Also existiere ich. Auch wenn es nur hier in deinen Gedanken ist.«
»In meinen Gedanken?«
»Egal … nenn’ mich einfach John, okay?«
»John? Klar …«
»Und jetzt kämpfe, verdammt nochmal. Für dich, für deine Liebsten …«
»Ah, okay«, hauchte ich kraftlos und verspürte von einer Sekunde auf die andere starke Müdigkeit. Aber auch unendliche Liebe …
*
Mein Name ist Marcello. Ich bin verheiratet und Vater von drei Kindern: Die Große ist fünfzehn, fast sechzehn Jahre alt, die anderen beiden sind elf. Meine Frau Maria und ich nennen sie der Einfachheit halber ›die Große‹ und die Zwillinge.
Wir schreiben das Jahr 2025.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und denke darüber nach, wie sich mein Leben seit meinem Krankenhausaufenthalt verändert hat. Und ich meine damit wirklich verändert. Fast sechzehn Jahre sind mittlerweile vergangen, dennoch kommt es mir vor, als sei es erst gestern gewesen, dass ich wiedergeboren wurde und eine neue Chance bekommen habe.
Das Ganze passierte im Dezember des Jahres 2009, sechs Tage vor Heiligabend. Zwei Monate nach der Geburt unserer Großen bekam ich eine beidseitige Lungenembolie, die mich von einem Moment auf den anderen sprichwörtlich von den Füßen gerissen hat. Meine Lunge, normalerweise etwa sechsundzwanzig mal fünfzehn Zentimeter groß, hatte plötzlich nur noch die Ausmaße einer Faust.
Als es anfing, hatte ich das Gefühl, dass jemand durch den Mund in meinen Brustkorb greift und versucht, mir die Lunge auf brutale Art und Weise aus meinem Körper zu reißen. Solche Schmerzen hatte ich bis zu diesem Moment noch nie in meinem jungen Leben gespürt. Es war eine unbeschreibliche Qual, der ich ausgesetzt wurde.
Eine Lungenembolie entsteht, wenn ein Blutgerinnsel, das sich irgendwo im Körper gebildet hat, ein Lungengefäß verstopft.
Plötzliche Atemnot, Brustschmerzen, Schwindel, Benommenheit und Herzrasen sind die Folgen. Eine solche Lungenembolie kann lebensbedrohlich sein und muss daher möglichst schnell in einem Krankenhaus behandelt werden.
Ich sollte aber vielleicht ein wenig ausholen, um zu schildern, wie es überhaupt dazu kam.
Es dauerte schon ein paar Wochen, dass ich mich nicht besonders wohlfühlte. Hinzu kamen seit geraumer Zeit dann auch noch heftige Rückenschmerzen. Ich dachte anfangs, letztere kämen von den Arbeiten auf der Baustelle, da ich zu dieser Zeit eine Wohnung sanierte und mich täglich körperlich sehr anstrengte.
Ich suchte meinen Hausarzt auf, der mir sofort eine Spritze in den Rücken verpasste, in der Hoffnung, sie würde meine Schmerzen lindern. Sowohl meine Frau als auch ich gingen davon aus, dass ich beim Heben eines schweren Gegenstands meinen Rücken überstrapazierte, nichtsahnend, dass ich mir zu diesem Zeitpunkt bereits eine versteckte Lungenentzündung eingehandelt hatte.
Da meine Lunge seit Geburt chronisch pfeifende Geräusche verursachte, war bei meinem Arztbesuch nicht klar ersichtlich, dass das Ganze etwas auffälliger als sonst war. Mein Arzt und ich dachten, es wäre alles normal, zumindest in dieser Hinsicht.
Als ich dann nach ein paar Tagen erneut beim Hausarzt vorstellig wurde, stellte dieser fest, dass meine Lunge doch extremer als sonst klang. Ich bekam Medikamente verschrieben und wurde wieder nach Hause geschickt.
Ich kann gar nicht sagen, was genau der Auslöser für die Lungenembolie war, jedenfalls passierte es in der darauffolgenden Nacht, dass mein Atmungsorgan kollabierte.
Wissen Sie, was das Schlimmste bei so einer Sache ist? Es geschieht ohne Vorwarnung. Wie aus dem Nichts wurde ich mit den schlimmsten Schmerzen konfrontiert, die ich bis dahin jemals verspürt hatte. Verzweifelt versuchte ich, nach Luft zu schnappen. Es fühlte sich an, als würde jemand, der sich in meinem Körper befand, meine Lunge fest zusammenpressen, um zu verhindern, dass ich atmen konnte. Ich wand mich in meinem Bett hin und her, krümmte mich vor Schmerzen zusammen und hoffte einfach nur, dass es gleich wieder besser werden würde. Doch mein Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Irgendwann wurde meine Frau wach und ich flehte sie an, mich ins Krankenhaus zu fahren.
»Fahr mich ins Krankenhaus … sofort. Bitte, bitte … sofort. Ich halte das nicht mehr aus.«
Mit jedem Wort schien sich mein Brustkorb immer noch mehr zusammenzuziehen, und ich bekam langsam echte Panik.
Meine Frau – verängstigt und geschockt – reagierte wie in Trance. Sie kann sich rückblickend weder an die Hin- noch die Rückfahrt erinnern.
Sie stand in diesem Augenblick unter Schock und hätte mich in ihrem Zustand gar nicht fahren dürfen. Aber ich bettelte sie vehement an, mich ins Krankenhaus zu bringen, sodass sie gar nicht weiter überlegte und mir nur noch helfen wollte.
Ich wollte, musste diese Schmerzen unbedingt loswerden, sonst konnte ich für nichts mehr garantieren.
Maria fuhr mich also ins nächstgelegene Krankenhaus.
Wir hatten zu dieser Zeit Glück im Unglück, denn meine Schwester Stella wohnte damals noch mit uns zusammen im Haus und konnte daher auf unsere neugeborene Tochter, die vor knapp zweieinhalb Monaten auf die Welt gekommen war, aufpassen.
Im Krankenhaus angekommen, wurde ich, nach einer schnellen ersten Untersuchung und unzähligen Fragen, absurderweise zuerst einmal belehrt, dass ich vollkommen falsche Medikamente eingenommen hätte. Ich verstand die Welt nicht mehr, wollte nur noch diese verdammten Schmerzen loswerden und mir in diesem Augenblick nicht eine mögliche Fehleinschätzung meines Arztes durch einen anderen, mir fremden Arzt anhören. Vor allem machte es die Situation in diesem Moment absolut nicht besser für mich. Ich wollte Hilfe und sonst nichts.
Als man sich dann doch endlich entschloss, mich zu behandeln, kam ich nach weiteren Untersuchungen in einen abgedunkelten Raum. Ich hatte nach wie vor wahnsinnige Schmerzen und stand kurz vor einer Ohnmacht. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich um Schmerzmittel bat, nein, bettelte.
Die Krankenschwester teilte mir mit, dass mir bereits Morphin verabreicht worden sei und ich auf eine weitere Dosierung leider warten müsse.
Ich dachte in diesem Moment nur: Verdammt nochmal … Morphium, das ist eines der stärksten Betäubungsmittel. Und ich habe immer noch Schmerzen.
In diesem Augenblick wurde mir schlagartig bewusst, dass es nicht gut um mich stand.
Mein Blick fiel Richtung Flur, der mir außergewöhnlich hell vorkam. Meine Frau stand dort an der Tür. Sie wirkte verunsichert und schien noch gar nicht richtig zu begreifen, was gerade passierte. Sie sah aus, als würde sie das Szenario aus der Ferne beobachten, als sehe sie fern.
Ich rief sie mit leiser und vollkommen erschöpfter Stimme zu mir.
Auch mir kam das alles wie ein Traum vor, aus dem ich schnellstmöglich wieder erwachen wollte. Alles wirkte vernebelt und, obwohl ich Schmerzen hatte, fühlte ich plötzlich auch eine seltsame Müdigkeit, die von mir Besitz ergriff.
Maria wirkte traurig, aber sie nahm sich für mich zusammen und zeigte nach außen hin Stärke, die mich tatsächlich ein wenig beruhigen konnte. Sie erzählte mir, dass es hier im Krankenhaus keine freien Zimmer auf der Intensivstation gäbe, und sie mich deshalb ins Klinikum nach Frankfurt- Höchst bringen würden.
Ich stöhnte auf, meinte aber, dass das völlig okay für mich wäre und sie doch besser nach Hause zu unserem Baby fahren sollte und sich keine Sorgen machen müsste. Alles würde wieder gut werden. In meinen Gedanken fragte ich mich allerdings, wem ich gerade etwas vormachte, denn ich hatte große Angst. Ich dachte in diesem Moment, dass ich Maria vielleicht zum letzten Mal sehen würde, als sie das Zimmer verließ.
Maria fuhr widerwillig los, weil ihr von den Ärzten und Schwestern klargemacht wurde, dass sie im Moment ohnehin nichts weiter für mich tun könnte, und ich blieb erst einmal in diesem abgedunkelten Raum zurück.
Alleine. Mit all den wirren Gedanken, was gerade passiert war und wie es weitergehen würde, ständig begleitet von dem Gefühl, dass die Schmerzen gleich wieder stärker werden könnten.
Ich dachte an unsere neugeborene Tochter, meine Schwester Stella, an wichtige und vollkommen unwichtige Dinge, und vor allem daran, wie es wäre, wenn der Schmerz verschwinden würde.
Man kann sich gar nicht vorstellen, was einem in einer solchen Situation durch den Kopf geht und wie viele Dinge in den Hintergrund geraten. Es ist unglaublich, wie der menschliche Körper arbeitet, wenn er unter einer solchen Stresssituation steht.
Schmerz hat viele Dimensionen. Angst vor Ungewissheit und Hilflosigkeit gegenüber der Ursache verstärken das Empfinden. Da kann man machen, was man will, eine solche Wahrnehmung ist die Hölle. Und je mehr ich diese Schmerzen fürchtete, desto mehr Raum nahmen sie ein.
Später, ich kann die genaue Zeitspanne beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen, wurde ich in einem Krankenwagen nach Frankfurt-Höchst transportiert. Eine ältere Dame befand sich zusammen mit mir im Krankenwagen, und ich hatte kurzen Blickkontakt mit ihr. Sie lächelte mir freundlich zu und vermittelte mir ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit. Noch heute würde ich gerne ihren Namen erfahren, weil ich mich unendlich glücklich fühlte, dass sie in diesem Moment in meiner Nähe war.
Ich nahm sehr intensiv wahr, wie der Fahrer zügig losfuhr. Jedes Ruckeln des Asphalts wurde auf meinen Körper übertragen, es kam mir vor, als würden nur ein paar Zentimeter zwischen mir und der Straße liegen.
Während der Fahrt verspürte ich eine tiefe Dankbarkeit, da sich die beiden Menschen, die bei mir waren, so sehr für mich einsetzten und sich beeilten. Ich konnte jede einzelne Gangschaltung mit einer unnatürlichen Klarheit hören, vermeinte sogar zu spüren, wie die Zahnräder im Getriebe miteinander verkuppelt wurden.
Ich war so dankerfüllt, dass die ältere Dame und der Fahrer in meiner Nähe waren und dafür sorgten, dass ich so schnell wie möglich in eine Klinik kam. Sie taten das alles für ihren leidenden Patienten, für mich.
Ich sah Maria vor meinem inneren Auge, schöpfte Kraft aus ihrem Lächeln und erhielt dadurch das Gefühl, dass die Situation nicht vollkommen hoffnungslos war.
Man half mir. Ich war nicht auf mich alleine gestellt. Alles würde wieder gut werden. Es würde nur ein wenig dauern, bis es so weit war.
Als wir im Krankenhaus angekommen waren, wurde ich sofort auf die Intensivstation gebracht.
Alles wird wieder gut …
Meine eigenen Worte hallten in meinem Schädel nach. Ich verfolgte irritiert, wie sie sich unentwegt wiederholten, mal leiser und dann wieder lauter werdend, bis sie irgendwann in der Ewigkeit verklangen.
Alles wird wieder gut … alles wird wieder gut …
»Alles klar mit der Bettpfanne?« John grinste mich noch immer an, als ich die Augen öffnete. Sein Blick zeigte Zuversicht und Hoffnung. Ich befand mich also wieder an diesem unbekannten Ort, von dem ich überhaupt nicht wusste, wo genau er lag. Auch das Zeitempfinden hatte mich verlassen und brachte mich durcheinander.
Ich spürte das angewärmte Metall unter meinem Hintern, versuchte, es mir einigermaßen bequem zu machen, aber da übermannte mich schon wieder eine tiefe Müdigkeit, verbunden mit dem Gefühl, in einer endlosen Weite zu existieren und mit unendlich vielen Seelen verbunden zu sein. Ich war vollkommen allein und dennoch Teil eines Ganzen.
»Was ist passiert?«, krächzte ich. »Ich war doch gerade noch in einem Krankenwagen …«
»Lungenembolie. Beidseitig«, antwortete der Mann und verdrehte seine Augen nach oben. »Das volle Programm, mein Lieber. Du bist echt nicht zu beneiden, Kumpel. Aber das wird schon wieder. Ich versuche dir zu helfen, okay?«
Ich wollte mich auf die andere Seite drehen, um zu sehen, wo ich mich befand, aber mein Körper reagierte nicht, fühlte sich wie gelähmt an. Der Schlag meines Herzens dröhnte in meinen Ohren.
Bumbum, bumbum, bumbum …
Ein Tosen erfüllte plötzlich den Raum, die Filmmusik von Jerry Goldsmith wurde in den Hintergrund gedrängt und ich verspürte Müdigkeit.
Bumbum, bumbum, bumbum …
»Du solltest ein wenig schlafen«, meinte John und legte seine gefalteten Hände auf seine Wange. Dann beugte er sich über mich und legte seine Handfläche auf meine Stirn. »Zu schlafen wird dir guttun. Mach die Augen zu und lass dich fallen. Schlaf ist ein Heiler.«
Aber schlafe ich nicht ohnehin schon die ganze Zeit? Lebe ich überhaupt noch?
*
Das Erste, an das ich mich danach erinnern konnte, war die Erkenntnis, dass ich mich im Klinikum Frankfurt-Höchst befand. Und erneut lag ich in einem abgedunkelten Raum.
Woher ich wusste, dass ich in Frankfurt-Höchst gelandet war? Ich kann es nicht zufriedenstellend beantworten, da ich meine Ankunft überhaupt nicht mitbekommen habe. Aber ich wusste es, weil vorhin noch darüber geredet wurde. Maria hatte mir außerdem erklärt, dass ich dorthin gebracht werden würde, also lag es doch eigentlich auf der Hand, dass ich jetzt auch hier lag.
Von irgendwoher schien dämmriges Licht ins Zimmer. Erst nach einer Weile, nachdem sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, erkannte ich die Silhouette einer großen Person, die direkt neben mir stand.
In diesem Augenblick habe ich zum ersten Mal meinen Schutzengel gesehen: Intensivpfleger Ronald. Ich nenne ihn übrigens noch heute Schutzengel.
Ronald hatte diese ruhige und satte Stimme, die man sich von ganzem Herzen wünschte, wenn man sich in einer Situation wie der meinen befand. Sowohl seine Tonlage als auch seine Worte haben mich von Anfang an beruhigt und mir ein Gefühl von Sicherheit verschafft. Er war es, der mir auf die bestmögliche Art und Weise vermittelte, in guten Händen zu sein.
Obwohl ich Ronald gar nicht kannte, vertraute ich ihm vom ersten Moment an, als er in mein an einem seidenen Faden hängendes Leben getreten war. Seine Anwesenheit bedeutete für mich nicht nur Schutz, sondern auch Ruhe und Geborgenheit.
Ich war mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren mit Abstand der jüngste Patient auf der Intensivstation, auf der er arbeitet. Ronald gehörte zu den erfahrensten Pflegern auf der Station und war geschockt, als er mich sah. Er meinte, dass ich viel zu jung sei, um hier in seinem Bereich zu liegen. Außerdem wussten sie von Maria, dass es ein kleines Baby gab, das daheim auf seinen Papa wartete.
Menschen wie Ronald sind wahre Engel. Sie leben ihren Job und leisten Tag für Tag großartige Arbeit. Es stecken unglaubliche Kräfte in ihnen, die sie, so gut es ihnen möglich ist, auf ihre Patienten übertragen. Hinzu kommt dann noch diese beruhigende Atmosphäre auf der Station. Mit gedimmtem Licht erscheinen diese Stationen wie Oasen der Ruhe, fernab jeglicher Hektik. Und wenn es dann doch einmal irgendwo piepte, waren sie sofort zur Stelle, um zu helfen, Schmerzen zu lindern oder einfach nur da zu sein. Es ist nahezu unbeschreiblich, was diese Pfleger für ihre Patienten tun. Diese Menschen müssten viel mehr Anerkennung bekommen. Sehr viel mehr, denn sie haben es verdient. Die Gesellschaft sollte endlich erkennen, wie hochprofessionell und anstrengend, sowohl in physischer als auch psychischer Sicht, der Beruf einer Pflegerin und eines Pflegers ist.
Leider betrachten heutzutage manche Patienten das Krankenhaus als eine Art Hotel und die Pflegekräfte als Servicepersonal. Doch es geht um medizinische Versorgung und vor allem auch um Menschlichkeit. Doch mit dem Respekt ist das in unserer Zeit ja so eine Sache. Viele Pflegekräfte müssen sich sogar herablassende Sprüche anhören, weil sie ›niedere‹ Arbeiten ausführen und Hilfsbedürftige zum Beispiel waschen. Doch genau das ist der Punkt, für den diese Menschen unseren höchsten Respekt verdienen und absolute Wertschätzung bekommen sollten. Doch genau da liegt wiederum das Problem: Die Öffentlichkeit nimmt die Arbeiten dieser Helfer nicht in dem Ausmaß wahr, wie es eigentlich sein sollte.