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Körpererleben und Selbstwahrnehmung sind als grundlegende Elemente moderner Verhaltenstherapie nicht mehr wegzudenken. Ist doch der Körper bei allem, was wir erfahren, zentral und maßgeblich: Nur über unseren Körper können wir den Austausch mit unserer Um- und Mitwelt erleben. Dieses Buch stellt körperbezogene Ansätze für die Verhaltenstherapie vor. Es zeigt, wie sich Konzepte wie Achtsamkeit, Embodiment und Körperbild sowie körperliche Aktivierung, Körperskills, Entspannungstechniken und Tango Argentino unterstützend in die kognitive Verhaltenstherapie integrieren lassen. Neben der theoretischen Einbindung liegt der Schwerpunkt dabei auf der praktischen Anwendung: Fallbeispiele und konkrete Übungsvorschläge machen die Konzepte direkt auf den eigenen Praxisalltag übertragbar.
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hans Gunia • Simone Saurgnani (Hg.)
Der Körper in der Verhaltenstherapie
Methoden und Interventionen für die Praxis
Mit Beiträgen von Ilona Brokuslaus, Andrea Chmitorz, Hans Gunia,Thomas Heidenreich, Beatrice Herzog-Schilling, Michael Huppertz,Eduardo Keegan, Ernst Kern, Florencia Luz Koutsovitis, Johannes Michalak, María Guadalupe Rosales, Simone Saurgnani, Thorsten Welke
Ernst Reinhardt Verlag München
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ISBN 978-3-497-03324-9 (Print)
ISBN 978-3-497-62031-9 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-62032-6 (EPUB)
© 2025 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Satz: Katharina Ehle
Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
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Inhalt
Vorwort
1Einleitung von Hans Gunia und Simone Saurgnani
1.1Die Bedeutung des Körpers im SORKC-Modell
1.2Der Einsatz des Körpers in der modernen Verhaltenstherapie
1.3Überblick über das Buch
1.4Literatur
2Embodiment in der Verhaltenstherapie von Thomas Heidenreich, Andrea Chmitorz und Johannes Michalak
2.1Einleitung
2.2Verhaltenstherapie, Kognition und Körper: ein Blick in die Geschichte
2.3Kognitive Informationsverarbeitungsansätze
2.4Embodiment-Ansätze
2.5Embodiment in klinisch-psychologischen Theorien
2.6Ausgewählte empirische Befunde
2.7Anwendung und Nutzen des Embodiment-Konzepts in der Praxis
2.8Dos & Don’ts
2.9Diskussion und Ausblick
2.10Literatur
3Personzentrierte Körperpsychotherapie von Ernst Kern
3.1Einleitung
3.2Grundannahmen der Personzentrierten Körperpsychotherapie
3.3Die personzentrierten Grundhaltungen in der körperpsychotherapeutischen Arbeit
3.4Focusing als Schnittstelle zwischen Erleben und Symbolisieren
3.5Vom verbalen Sprechen zum Körper: Therapeutische „Eingänge“ über zentrale Körperaspekte
3.6Körperpsychotherapie als Prozess der affektiven Selbstbefragung
3.7Das interaktionelle Erleben im Körpergedächtnis und in der therapeutischen Beziehung
3.8Die Leitprinzipien körperpsychotherapeutischer Praxis nach Geuter
3.9Schlusswort
3.10Literatur
4Körper und Achtsamkeit von Michael Huppertz und Simone Saurgnani
4.1Einleitung
4.2Eine typische Anleitung
4.3Theorie und Datenlage
4.4Kurzer Ausflug in die Geschichte des Körpers in der Psychotherapie
4.5Der Körper in der achtsamkeitsbasierten Therapie und Beratung
4.6Achtsamkeitsbasierte körpertherapeutische Interventionen am Beispiel der Depression
4.7Indikationen und Kontraindikationen
4.8Einige praktische Vorschläge für die achtsame Körperpraxis
4.9Zusammenfassung und Diskussion
4.10Literatur
5Arbeiten mit dem Körper in der Dialektisch Behavioralen Therapie von Ilona Brokuslaus und Torsten Welke
5.1Einleitung
5.2Theorie
5.3Praktische Übungen und konkrete Anleitungen
5.4Dos & Don’ts
5.5Indikationen
5.6Diskussion und Ausblick
5.7Literatur
6Körperliche Aktivität von Florencia Luz Koutsovitis und Eduardo Keegan (aus dem Argentinischen übersetzt von Hans Gunia)
6.1Einleitung
6.2Körperliche Aktivität und körperliche Bewegung: Begriffsbestimmung
6.3Biologische Prozesse
6.4Psychologische Prozesse
6.5Faktoren im Zusammenhang mit der Teilnahme an Programmen zur körperlichen Aktivierung
6.6Körperliche Aktivität als Teil einer kognitiven Verhaltenstherapie
6.7Einschätzung und erste Schritte zur Verschreibung von Übungen in der Sprechstunde
6.8Dos & Don’ts
6.9Indikationen und Kontraindikationen
6.10Diskussion und Perspektiven
6.11Literatur
7Der Körper bei chronischen Schmerzen von María Guadalupe Rosales (aus dem Argentinischen übersetzt von Hans Gunia)
7.1Einleitung
7.2Theorie
7.3Kognitive Verhaltenstherapie bei chronischen Schmerzen
7.4Praktische Übungen
7.5Ändern von Überzeugungen und der Schmerzwahrnehmung
7.6Indikationen und Kontraindikationen
7.7Diskussion und Perspektiven
7.8Literatur
8Der Körper in der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung von Essstörungen von Beatrice Herzog-Schilling
8.1Einleitung
8.2Theoretische Grundlage
8.3Praktische Übungen
8.4Aufbau von positiven körperbezogenen Aktivitäten
8.5Dos & Don’ts
8.6Indikationen und Kontraindikationen
8.7Diskussion und Ausblick
8.8Literatur
9Die Kombination von Tango Argentino und Verhaltenstherapievon Hans Gunia
9.1Einleitung
9.2Theorie
9.3Datenlage
9.4Praktische Übungen mit konkreten Anleitungen (und optionale Variationen)
9.5Dos & Don’ts
9.6Mögliche Problemlagen in den Workshops
9.7Indikationen und Kontraindikationen
9.8Diskussion und Ausblick
9.9Literatur
10Der Körper und Sexualität von Hans Gunia
10.1Einleitung
10.2Theorie
10.3Datenlage
10.4Praktische Übungen mit konkreten Anleitungen
10.5Mögliche Problemlagen
10.6Indikationen und Kontraindikationen
10.7Diskussion und Ausblick
10.8Literatur
Nachwort: Dank an einen Menschenfreund – Abschied von Hans Gunia von Michael Huppertz
Autorinnen und Autoren
Vorwort
„Wollen wir nicht mal eine Tagung über den Körper in der Verhaltenstherapie organisieren?“ So oder so ähnlich formulierten das Ernst Kern und einer der Herausgeber dieses Bandes (Hans Gunia) auf einem DBT-Netzwerktreffen in Köln. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis die beiden Herausgeber dieses Projekt zusammen mit Andreas Fellgiebel und weiteren Kolleg:innen 2024 in Darmstadt umsetzten. Die Tagung war ein voller Erfolg und mündete in die Idee, die Erkenntnisse in einem Buch zu bündeln.
Simone Saurgnani, von der Körpertherapie und Achtsamkeit und Hans Gunia, von Tango Argentino in der Verhaltenstherapie kommend, war es ein Anliegen, mit diesem Band einen Bogen von theoretischen und im engeren Sinn körpertherapeutischen Ideen und Überlegungen bis hin zu praktischen Übungen zu schlagen, die sowohl Achtsamkeitsübungen als auch verhaltenstherapeutische Übungen und Strategien umfassen. Entsprechend kommen auch unsere Mit-Autor:innen von verschiedenen Seiten der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Dieses Buch ist gewollt sehr praxisorientiert geschrieben und soll zum Mitdenken, Mitdiskutieren, Nachmachen und Ausprobieren einladen. Wir wollen mit diesem Band Impulse setzen und erhoffen uns, dass es die Leser:innen animiert, kreativ eigene Ideen zu entwickeln.
Wir möchten uns bei Andreas Fellgiebel, Sabine Koch, Maren Langlotz-Weis und Alexandra Wuttke-Linnemann für ihren Spirit in der Körperarbeit bedanken. Bedanken möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Wir möchten uns bei Eduardo Keegan – einem Freund und Kollegen von Hans Gunia – bedanken, der den Kontakt zu kompetenten Fachkolleg:innen und Autor:innen aus Buenos Aires hergestellt hat. So ist aus unserem Projekt (sogar) ein kleines deutsch-argentinisches Projekt entstanden. Bedanken möchten wir uns bei Frau Landersdorfer vom Reinhardt Verlag für ihre immer wohlwollende und tatkräftige Unterstützung in diesem Buchprojekt.
Nicht zuletzt möchten wir uns bei meiner Ehefrau Anette (Hans Gunia) und meinem Partner Alex (Simone Saurgnani), unseren engen Freunden und Familie bedanken, die sehr geduldig mit uns waren und uns mit allen Kräften unterstützt haben.
Darmstadt im Dezember 2024
Hans Gunia und Simone Saurgnani
1 Einleitung
von Hans Gunia und Simone Saurgnani
Die Beziehung zwischen Körpererleben, Selbstwahrnehmung und Psychotherapie erscheint uns basal und unumgänglich, wenn wir heute beratend, in der Selbsterfahrung oder psychotherapeutisch arbeiten. Ist doch der Körper bei allem, was wir erfahren und erleben, zentral und maßgeblich für die sinnliche Erfahrung: nur über unseren Körper können wir den Austausch mit unserer Um- und Mitwelt erleben.
Dieses Verständnis stand bedauerlicherweise viele Jahre nicht im Vordergrund der Verfahren der Psychotherapie, deren Kosten durch die Krankenkasse übernommen werden, wie z. B. der Verhaltenstherapie. Die neuere Hinwendung zum Körper und die Bedeutsamkeit der Interaktionen zwischen Körper, Seele und Geist wird in Disziplinen wie bspw. Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaften als body turn oder somatic turn, manchmal auch corporeal turn bezeichnet. Diese Körperwende kann als Paradigmenwechsel verstanden werden, im Sinne einer wieder ganzheitlicheren Betrachtungsweise – als Gegenbewegung zu den Aufspaltungen des menschlichen Organismus in eben Körper, Geist und Seele. Im Rahmen der Psychotherapie sind vor allem Körperpsychotherapie und Embodiment-Ansätze Vorreiter der Körperwende: Sie waren von Anfang an überzeugt von der Bedeutsamkeit des Körpers.
Wie in Kapitel 4 von Huppertz und Saurgnani in diesem Buch dargestellt wird, stellt die Wende in Richtung einer Intersubjektivität eine weitere wichtige Öffnung in Richtung Ganzheitlichkeit dar. Bei der intersubjektiven Wende wird das Arbeiten in der therapeutischen Beziehung explizit mit einbezogen. Das Neue an diesem Ansatz ist die relationale Sicht in der Psychotherapie. So versteht Boadella Therapeut:innen nicht als Techniker:innen,
„die mit der Brillanz ihrer Methoden menschliche Probleme reparieren können. Vielmehr sind wir Entdecker, die versuchen, hinter das Problem zu gelangen, um die Ressourcenebene im anderen wie auch in uns selbst zu finden (Boadella 2019,292)“.
Aber ist die Verhaltenstherapie tatsächlich körperabstinent? Schauen wir mal genauer hin.
Wenn wir das SORKC-Schema betrachten, welches Kanfer et al. (2000) entwickelt haben, um funktionelle Zusammenhänge zwischen auslösenden Bedingungen, Reaktionen, Kontingenzen und Konsequenzen von Verhaltensweisen aufzuzeigen, so finden wir den Körper an verschiedenen Stellen.
Auslösende Bedingungen können interne oder externe Auslöser sein, also kann auch der Körper mit seinen Reaktionen ein Auslöser sein. Die Reaktionen auf bestimmte Auslöser haben immer mit dem Körper des jeweiligen Menschen zu tun: Im Körper werden kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Reaktionen analysiert und generiert. Kontingenzen und Konsequenzen werden in diesem Modell als für eine bestimmte Verhaltensweise als aufrechterhaltend verstanden. Das SORKC Schema dient deshalb in der Verhaltenstherapie sowohl der Erklärung von Problemverhaltensweisen als auch als Ausgangspunkt für die Therapieplanung für die Veränderung von Verhalten.
1.1 Die Bedeutung des Körpers im SORKC-Modell
Das Verhaltensmodell arbeitet mit fünf Bestimmungsstücken als Grundlage eines Lernvorganges: Im Folgenden erklären wir an einem Fallbeispiel alle Bestimmungsstücke. Paul ist ein sozial-ängstlicher Mann, der gerne Tango tanzt. Er hat seit seiner Kindheit ein schüchternes Temperament und Erfahrungen von Zurückweisung und Ausgrenzung wegen starker Kurzsichtigkeit in der Schule hinter sich. Heute hat er ein paar Freunde und beschreibt sich als „zurückhaltend“. In der Vergangenheit ist er zwar zu Tanzveranstaltungen gegangen, traute sich aber nicht, andere Menschen aufzufordern. Er stand oft am Rand der Tanzfläche und ging unverrichteter Dinge wieder nach Hause, wenn die Angst und Unsicherheit am größten waren. Wenn er aus der Veranstaltung „geflohen war“, reduzierte sich zunächst sofort die Angst und Unsicherheit. Danach stellte sich jedoch Scham und Resignation ein. Er begab sich in Verhaltenstherapie. Nach Diagnostik, Modellentwicklung, ausführlicher Psychoedukation und Motivationsarbeit zu Exposition und Aufmerksamkeitslenkung sollte er üben, seine Aufmerksamkeit nach außen zu richten und Vermeidungsverhalten abzubauen. Seine Therapeutin hat deswegen Verhaltensexperimente vorgeschlagen, wie das Blickkontakt aufnehmen auf der Straße und auf Tanzveranstaltungen, sowie – als fortgeschrittene Übung – das Auffordern von anderen Menschen zum Tanz.
S (Stimulus) steht im SORKC-Modell für den Auslöser eines Verhaltens, beschreibt den aktuellen Situationsausschnitt und die Hinweisreize für das nachfolgende Verhalten.
Die Stimulus-Variablen in unserem Beispiel vor Aufnahme der Therapie: Paul befindet sich auf einer Tango Tanzveranstaltung und möchte Partner:innen zum Tanz auffordern. Er steht am Rand der Tanzfläche (S-extern). Er ist nervös und spürt ein Herzklopfen (S-intern).
Die O-Variable (Organismusvariable) steht für überdauernde somatische Zustände (z. B. chronischer Schmerz), Eigenschaften (z. B. „ängstlich“) oder auch überdauernde Grundannahmen (z. B. „Ich bin zu schüchtern!“), die die Person mit in eine Situation einbringt. Sie umfasst also die individuellen biologischen Prädispositionen einer Person, Alter, Geschlecht, genetische Vorbelastungen, aber auch die Persönlichkeitseigenschaften, Erfahrungen und Überzeugungen. In unserem Fall hat Paul eine starke Kurzsichtigkeit (durch Brille korrigiert) und durch Erfahrungen in seiner Biographie die Grundannahmen entwickelt „ich bin unattraktiv! Ich werde abgelehnt!“.
R für Reaktion beschreibt das problemrelevante Verhalten auf den verschiedenen Ebenen: physiologische Reaktionen (R-phys), emotionale Reaktionen (R-emot), kognitive Reaktionen (R-kog) und motorische Reaktionen (R-mot).
In unserem Fallbeispiel wären das vermutlich folgende Reaktionen:
R-kog: „Ohje! Ich bin unattraktiv! Ich schaff das nicht! Ich werde abgelehnt!“
R-phys: Anspannung, Herzklopfen, Schwitzen
R-emot: Angst, Hilflosigkeit
R-verh: Am Rand stehen bleiben, Blickkontakt vermeiden, die Veranstaltung fluchtartig verlassen.
K für Kontingenz gibt an, wie regelmäßig und wie häufig kurz- und langfristige Konsequenzen auf das Verhalten folgen. Es geht also um den Zusammenhang zwischen Reaktion und Konsequenz – bspw. dann, wenn nach einer bestimmten Anzahl von Reaktionen verstärkt wird: entweder bei gleichbleibender Reaktionszahl (fester Quotenplan), nach dem Verstreichen eines bestimmten Zeitintervalls (Intervallplan) oder nach wechselnden Quoten (intermittierende Verstärkung). Vermutlich verhält sich Paul bei den meisten (aber nicht bei allen) sozialen Situationen vermeidend.
C (C als Abk. für das englische Consequence) steht für die kurz- und langfristigen Konsequenzen, die auf R folgen, und das Verhalten verstärken.
Dabei steht C+ für eine positive Konsequenz, die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöht. Wenn in unserem Beispiel Paul trotz seiner Angst eine Person auffordert und diese die Aufforderung annimmt, freut sich Paul darüber und ist ein bisschen stolz.
C- steht für das Wegnehmen eines aversiven Reizes (Reduktion von Angst und Unsicherheit). Wenn Paul die Tanzveranstaltung verlässt, was dadurch die Auftretenswahrscheinlichkeit seines Verhaltens (jetzt allerdings des Flucht- oder Vermeidungsverhaltens) erhöht.
C- steht für eine aversive Konsequenz (z. B. als langfristige Konsequenz Scham, wenn man als Reaktion bspw. das Auffordern aus Angst vermeidet und am Rand stehen bleibt; Traurigkeit, weil keine Begegnungen zustande kommen), die die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens reduziert (in diesem Fall vermutlich das Aufsuchen einer Tanzveranstaltung).
C+ steht für die Wegnahme eines positiven Reizes, was ebenso die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens reduziert. Bei Paul ist die langfristige Konsequenz bspw. das Ausbleiben von Kontakten zu anderen Menschen, Nicht-zustandekommen von Tänzen.
Vielleicht: Eine Tänzerin lächelt ihn immer freundlich an (C+), da sie gerne von ihm aufgefordert werden möchte. Er tut dies aber nicht, da er schüchtern ist. Die Tänzerin interpretiert seine Zurückhaltung als Arroganz und lächelt ihn nicht mehr an (C+). Paul geht seltener Tanzen.
Die Konsequenzen können wir unterteilen in kurz- und langfristige Konsequenzen, wobei hauptsächlich die kurzfristigen Konsequenzen das Verhalten beeinflussen.
Wir sehen schon hier, dass Körper sowohl als Stimulus (z. B. Schmerz, Völlegefühl, körperliches Unbehagen, Nervosität, situative Angst), als O-Variable (z. B. chronischer Schmerz, chronische Erektionsstörungen), in allen Reaktionsabteilungen und als Konsequenz (z. B. Schmerzen, Völlegefühle, körperliches Wohlbefinden usw.) auftreten kann.
Das SORKC-Schema können wir weiterhin nutzen, um herauszuarbeiten, an welchem Punkt wir in der Therapie ansetzen können: An der Akzeptanz von Dingen (z. B. durch Achtsamkeitsübungen), oder an Veränderung bzw. wie man Bewältigungsstrategien (z. B. Tango Argentino, Sport, Skills) in die Therapie einbauen kann. So können wir, wie wir später sehen werden, z. B. Tango Argentino als Bewältigungsstrategie nutzen, wenn eine Person etwa chronische Angst vor Nähe hat (O-Variable) oder wir können Tango Argentino als Bewältigungsstrategie gegen situative Einsamkeit (S-Variable) einsetzen: Ebenso eignet sich Tango Argentino als Methode zum Experimentieren von Körperkontakt.
1.2 Der Einsatz des Körpers in der modernen Verhaltenstherapie
In der Verhaltenstherapie setzen wir also den Körper als Verstärker ein (z. B. Körperkontakt beim Tanzen), wir nutzen ihn bei Bewältigungsstrategien (Sport, Tanzen), im Aufbau einer Haltung (Achtsamkeit) und benutzen den Körper beim Habituieren und Überlernen, wenn wir in der Behandlung von Panikattacken etwa künstliche Panikattacken herstellen.
Zusammenfassend spielt der Körper in der modernen kognitiven Verhaltenstherapie auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle. Diese Rolle wurde allerdings in der Vergangenheit oft nicht explizit herausgearbeitet und in Behandlungsplänen benannt.
In unserem Buch wollen wir deshalb versuchen, eine Brücke zu schlagen zwischen grundsätzlichen theoretischen Überlegungen (Heidenreich / Michalak 2004), Überführung von Theorie in praxisnahe Übungen (Kap. 3 von Kern, Kap. 4 von Huppertz & Saurgnani) und eher anwendungsorientierten Kapiteln (z. B. Kap. 5 von Brokuslaus & Welke, Kap. 8 von Herzog-Schilling, Kap. 9 von Gunia, Kap. 7 von Rosales, Kap. 6 von Keegan & Koutsovitis).
Wir erhoffen uns eine spannende und sich gegenseitig befruchtende Diskussion, die Ansätze für notwendige theoretische Fundierungen und Ideen für weitere Anwendungen liefert.
1.3 Überblick über das Buch
In Kapitel 2 setzen sich Thomas Heidenreich, Andrea Chmitorz und Johannes Michalak mit der historischen Rolle des Körpers in der Verhaltenstherapie auseinander. Sie kontrastieren Embodiment als Annahme, dass Kognitionen immer verkörpert, d. h. nicht von sensorischen Erfahrungen und Körperzuständen getrennt werden können, mit rein kognitivistischen Therapieansätzen. An ausgewählten Beispielen zeigen sie, dass Kognitionen durch den physischen Körper und dessen Auseinandersetzung mit der Umwelt geformt werden. Das betrifft ihrer Ansicht nach nicht nur sensorische und motorische Erfahrungen, sondern auch abstrakte Konzepte. Sie zeigen, dass sensorische und körperliche Aspekte insbesondere bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen unerlässlich sind und weitergehend, dass eine rein kognitive, auf Umstrukturierung kognitiver Parameter orientierte Therapie bei emotionalen Problemen wahrscheinlich zu kurz greift.
Anhand einer Fülle von Befunden zu Haltungs-, Gang- und Bewegungsparametern in der Behandlung von Depressionen zeigen sie sehr eindrucksvoll die Effizienz des Einbezugs von Körper in der Behandlung von Depressionen.
Ernst Kern entwickelt in Kapitel 3 ausgehend von einer humanistischen Grundhaltung und Hypothesen von Damasio die Prämisse, dass der für die Grundlegung von Körperpsychotherapie wesentliche Punkt darin besteht, dass Erfahrung immer körperlich fundiert ist. Nach Ernst Kern ist Körpererleben die Basis des Selbsterlebens.
Zusammen mit bspw. Geuter (2023) sieht er das Körpererleben als zentralen Ausgangspunkt von Körperpsychotherapie. Seiner Ansicht nach besteht im genauen Aufspüren, im genauen Wahrnehmen und Vergewissern von Körperempfindungen eine grundlegende und spezifische Vorgehensweise in der Körperpsychotherapie. Seiner Ansicht nach und ausgehend von einer humanistischen Grundhaltung, ist alles Erleben im Körper „eingebettet“, so dass der erlebende und erlebte Körper die zentrale Verbindung der Person zu ihren eigenen Impulsen und Bedürfnissen darstellt. Dabei geht es ihm immer in erster Linie um ein Verstehen, nicht um ein Deuten oder Erklären. Ausgehend von dieser Grundhaltung und in Auseinandersetzung mit Autoren wie Gendlin, Downing, Damasio, Stern und Greenberg entwickelt Ernst Kern wichtige Grundhaltungen, Übungen und Verhaltensweisen. Körperpsychotherapeutische Perspektiven sind seiner Meinung nach transdiagnostisch und in alle Therapieverfahren integrierbar.
Michael Huppertz und Simone Saurgnani stellen in Kapitel 4 nach einer kritischen Würdigung der Rolle des Körpers in der Psychotherapie, der Köpertherapie und der Achtsamkeit, ihr Konzept von Achtsamkeit vor. Ausgehend von einem unter anderem durch die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) inspirierten Konzept der Achtsamkeit schlagen sie einen pluralistischen Weg vor, der sowohl stark strukturierte Übungen enthält als auch solche, die weitestgehend nondirektiv sind und den Teilnehmenden Raum lassen, selbst zu experimentieren. Sie schlagen vor, einfache und körperfreundliche Übungen zu nutzen. Die Übungen sollten ohne Anstrengung möglich sein. Ihrer Meinung nach bieten sich durch den bewussten Einbezug des Körpers in Achtsamkeitsübungen ganzheitliche Möglichkeiten, Aspekte der Mitwelt und Umwelt, eigene Empfindungen inklusive eigener mentaler Prozesse in Verbindung mit Beziehungen zu erleben. Anhand von Übungen in der Arbeit mit Depressionen und anderer Übungen geben sie uns einen Einblick in ihre Arbeitsweise.
In Kapitel 5 stellen Ilona Brokuslaus und Thorsten Welke die, von Ilona Brokuslaus in Zusammenarbeit mit Martin Bohus entwickelten, Körper-Skills im Rahmen der DBT vor. Die DBT Körperskills, die im ursprünglichen DBT-Programm von Marsha Linehan nicht enthalten sind, stellen im deutschsprachigen Raum eine wichtige Ergänzung der DBT dar. Die beiden Autoren beschreiben Körperskills zu den Modulen Stresstoleranz und zwischenmenschliche Skills, außerdem antidissoziative Skills und körperorientierte Achtsamkeitsübungen.
Florencia Luz Koutsovitis und Eduardo Keegan beschreiben in Kapitel 6 körperliche Aktivität als Teil eines kognitiv verhaltenstherapeutischen Programms zur Behandlung einer ganzen Reihe von somatischen und psychischen Störungen. Nach einer Definition und Begriffsbestimmung von körperlicher Aktivität und einem Überblick über die derzeitige Befundlage gehen sie auf biologische und psychologische Prozesse ein. Sie diskutieren Faktoren, die im Rahmen von Programmen zur körperlichen Aktivierung von Bedeutung sind. In einer Fallvignette zeigen die Autoren mögliche Interventionsstrategien und Probleme auf. Schließlich stellen sie einen Algorithmus vor, der in der Planung von körperlicher Aktivierung hilfreich ist.
Maria Gualdalupe Rosales führt in Kapitel 7 in die Natur des chronischen Schmerzes ein. Nach einer theoretischen Einführung und einer Literaturübersicht stellt sie körperorientierte Übungen vor wie z. B. die progressive Muskelentspannung oder bewegungsbasierte Interventionen bei Schmerzen. Die körperorientierten Übungen werden von Rosales im Rahmen eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programmes gesehen, das kognitive Strategien genauso umfasst wie Psychoedukation. Sie rät ausdrücklich zu einer mit Geduld und Empathie ausbalancierten Behandlungsstrategie und befürwortet eine Neuorientierung der kognitiv-behavioralen Therapie des Schmerzes in Richtung eines prozessorientierten Ansatzes.
Beatrice Herzog-Schilling verweist in Kap. 8 darauf, dass in der Behandlung von Essstörungen außer auf einer Fokussierung auf die Normalisierung von Nahrung und Gewicht, der Veränderung des negativen Körperbildes der Betroffenen großes Gewicht beizumessen sei. Sie unterteilt die Störung des Körperbildes in eine affektive, eine perzeptive und eine behaviorale Komponente und beschreibt diese Komponenten anhand von Beispielen. Anhand der perzeptiven Komponente beschreibt sie praktische Übungen wie z. B. Body Scan, Spiegel Exposition und Abtastübungen. Auch sie bettet die Körperübungen in den Rahmen eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gesamtprogramms ein.
Hans Gunia beschreibt in Kap. 9, wie er Tango Argentino mit Strategien aus der kognitiven Verhaltenstherapie kombiniert. Er zeigt, wie man aus Grundschritten des Tangos Achtsamkeitsübungen entwickeln kann. Er beschreibt, wie man aus Paarübungen Achtsamkeit in der Beziehung ableiten kann und wie man die Regeln des argentinischen Tangos und Geschichten aus Buenos Aires nutzen kann, um auf humorvolle Weise Blickkontakt und Small Talk Übungen zu entwickeln und in einen Workshop einzubauen. Er verdeutlicht, wie man durch die Kombination mit Tango Argentino Verhaltenstherapie ressourcen- und spaßorientierter gestalten kann und so quasi nebenbei einen Tangoschritt lernt und möglicherweise ein neues Hobby entdeckt.
In Kap. 10 schließlich geht es um Patient:innen, die krankheits- oder durch eine medikamentöse Behandlung bedingt unter Einschränkungen in ihrem sexuellen Erleben leiden. Hans Gunia stellt zwei Übungen vor, die Betroffenen helfen, den Fokus weg von „Ich muss“ und Leistungsdruck hin zu sexuellem Genuss auch ohne Erektion und Orgasmus zu lenken.
1.4 Literatur
Boadella, D. (2019): Four Forms of Knowledge in Biosynthesis Therapy. In: Payne, H., Koch, S., Tantio, J., Fuchs, T. (Eds.): The Routledge International Handbook of Embodied Perspectives in Psychotherapy. Approaches from Dance Movement and Body Psychotherapies, S. 292.
Geuter, U. (2023): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. 2. Aufl. Springer, Berlin
Gunia, H., Saurgnani, S. (2023): Training sozialer Kompetenzen in der Gruppe. Ein Praxisleitfaden. Hogrefe, Göttingen
Heidenreich, T., Michalak, J. (2004): Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie. dgvt-Verlag, Tübingen
Kanfer, F. H., Reinecker, H. Schmelzer, D. (2000): Selbstmanagement-Therapie. Springer, Berlin
2 Embodiment in der Verhaltenstherapie
von Thomas Heidenreich, Andrea Chmitorz und Johannes Michalak
2.1 Einleitung
Das hier vorliegende Buch zum Thema Körpertherapie in der Verhaltenstherapie liefert vielfältige Einblicke zu einem möglichen stärkeren Körperbezug in der Verhaltenstherapie. In diesem Kapitel soll es im Gegensatz zu den meisten anderen Kapiteln dieses Buches nicht schwerpunktmäßig um die Darstellung konkreter Interventionen zum Einbezug des Körpers in die Verhaltenstherapie gehen – stattdessen liefert es Einblicke in Forschungsarbeiten zur Rolle des Körpers für das Verständnis der Ätiologie psychischer Störungen und für das Verständnis von Wirkmechanismen der Verhaltenstherapie.
2.2 Verhaltenstherapie, Kognition und Körper: ein Blick in die Geschichte
Die Verhaltenstherapie hat seit ihren Anfängen körperliche Prozesse sowohl in die Diagnostik als auch in die Therapie psychischer Störungen integriert. Ein frühes und wegweisendes Beispiel ist das Werk von Joseph Wolpe (1958), der in seiner „Psychotherapy by Reciprocal Inhibition” das Prinzip der systematischen Desensibilisierung vorstellte. Dieses Verfahren nutzt gezielte körperliche Entspannungstechniken, um die physiologische Reaktion auf angstauslösende Reize zu reduzieren. Die Idee dahinter war, dass körperliche Entspannung und Angstzustände sich gegenseitig ausschließen. Fred Kanfer ordnet in seinem SORKC-Schema physiologische und motorische Prozesse – neben der kognitiven und der emotionalen Ebene – zwei der vier grundlegenden Analyseebenen des menschlichen Verhaltens zu (Kanfer / Saslow 1965).
In der frühen, stark lerntheoretisch geprägten Phase der Verhaltenstherapie wurde das Hauptaugenmerk auf das beobachtbare Verhalten gelegt, während kognitive Prozesse als weniger greifbar und daher schwer nach objektiven wissenschaftlichen Kriterien erfassbar galten. Mit der Entwicklung der kognitiven Therapie, die später in die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mündete, verschob sich der Fokus hin zur systematischen Veränderung kognitiver Inhalte und Abläufe (Blackwell / Heidenreich 2021). Mit der Einführung moderner, sogenannter „dritter Welle“-Ansätze in der Verhaltenstherapie erlangte der Körper wieder größere Bedeutung.
2.3 Kognitive Informationsverarbeitungsansätze
Klassische kognitionspsychologische Ansätze verstehen Denken im Allgemeinen als amodal, das heißt, unabhängig von der spezifischen „Hardware“, die die Informationsverarbeitung durchführt. Nach dieser Auffassung repräsentieren Menschen die „äußere Welt“ durch abstrakte Symbole, die in einem mentalen Raum manipuliert werden können. Diese symbolischen Prozesse könnten demnach ebenso gut in anderen Medien ablaufen, bspw. in einem Computer oder in einem körperlosen Gehirn. Gigerenzer und Goldstein (1996, 137) zitieren Herbert Simon (1979, 363), um diese Sichtweise zu verdeutlichen:
“The atoms of this mental chemistry are symbols, which are combinable into larger and more complex associational structures called lists and list structures. The fundamental ‘reactions’ of the mental chemistry employ elementary information processes that operate upon symbols and symbol structures: copying symbols, storing symbols, retrieving symbols, inputting and outputting symbols, and comparing symbols.”
In deutscher Übersetzung:
„Die Atome dieser mentalen Chemie sind Symbole, die zu größeren und komplexeren Assoziationsstrukturen, sogenannten Listen und Listenstrukturen, kombiniert werden können. Die grundlegenden ‚Reaktionen‘ der mentalen Chemie verwenden elementare Informationsprozesse, die mit Symbolen und Symbolstrukturen arbeiten: Kopieren von Symbolen, Speichern von Symbolen, Abrufen von Symbolen, Ein- und Ausgeben von Symbolen sowie Vergleichen von Symbolen.“
Diese Sichtweise legt nahe, dass der Kernprozess zur Veränderung kognitiver Inhalte und Abläufe in der Manipulation abstrakter Symbole liegt. Bezogen auf kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze passt dies vor allem zur „kognitiven Umstrukturierung“, bei der irrationale oder dysfunktionale Denkmuster durch rationale und funktionale Gedanken ersetzt werden. In diesem theoretischen Rahmen haben körperliche Prozesse eine eher randständige Bedeutung. Der Körper wird hier als rein ausführende Instanz begriffen, die Befehle des amodalen symbolverarbeitenden Prozessors umsetzt. Interventionen, die auf den Körper abzielen – wie etwa Atemtechniken oder progressive Muskelentspannung – erscheinen in dieser amodalen Sichtweise von Informationsverarbeitung als weniger zentral.
2.4 Embodiment-Ansätze
Im Gegensatz zu der amodalen Sichtweise kognitiver Prozesse bezeichnet der Begriff „Embodiment“ die Annahme, dass Kognition immer „verkörpert“, das heißt, untrennbar mit Körperzuständen und sensorischen Erfahrungen verknüpft ist (Niedenthal 2007; Niedenthalet al. 2005, Nummenmaa et al. 2018). Dieser interdisziplinäre Forschungsbereich untersucht die wechselseitige Beeinflussung von körperlichen, kognitiven und emotionalen Prozessen und erstreckt sich über verschiedene Disziplinen, darunter die Psychologie (Barsalou 1999; Glenberg / Robertson 2000), Linguistik (Lakoff / Johnson 1999), Philosophie (Clark 1997; Fuchs / Schlimme 2009; Varela et al. 1991) sowie die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz (Pfeifer / Bongard 2006). In diesem Kapitel konzentrieren wir uns insbesondere auf psychologische und linguistische Perspektiven und deren Bezug zur Verhaltenstherapie.
Die Embodiment-Theorie geht davon aus, dass das menschliche Denken durch den physischen Körper und dessen Interaktion mit der Umwelt geformt wird. Dies betrifft nicht nur sensorische und motorische Erfahrungen, sondern auch kognitive Prozesse, die mit abstrakten Konzepten in Verbindung stehen. Verkörperte Metaphern, wie zum Beispiel „eine Idee fassen“ oder „aus der täglichen Routine aussteigen“, verdeutlichen, wie eng Kognition und Körperlichkeit miteinander verknüpft sind (Lakoff / Johnson 1999; Schmitt / Heidenreich 2019).
Aus der Embodiment-Perspektive können Körperhaltungen, Bewegungen und sensorische Erfahrungen kognitive Veränderungen hervorrufen, die die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen denken, Schlussfolgerungen ziehen oder Entscheidungen treffen. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Veränderungen in der Körperhaltung und Bewegung nicht nur die Stimmung und Emotionen beeinflussen, sondern auch tiefgreifende Auswirkungen auf kognitive Prozesse wie Problemlösungsstrategien und Entscheidungsfindungen haben können (Niedenthal et al. 2005).
2.5 Embodiment in klinisch-psychologischen Theorien
Embodiment spielt in der Klinischen Psychologie, insbesondere im Kontext depressiver Störungen, eine zunehmend wichtige Rolle. Ein theoretischer Rahmen, der die Wichtigkeit des Körpers betont, ist der bereits in den 1990er Jahren entwickelte Interacting Cognitive Subsystems (ICS) Ansatz von Teasdale (1999) sowie Teasdale und Barnard (1993). Er betont die Interaktion zwischen sensorischen Inputs, wie bspw. propriozeptiven Informationen, und emotionalen Zuständen. Nach dem ICS-Modell ist die Verbindung kognitiver Informationen, also thematisch-semantischer Kontextinformationen einer Situation, mit sensorischen Signalen entscheidend für das emotionale Erleben. Kognitive Informationen allein – also das bloße Nachdenken über eine traurige Situation – reichen demnach nicht aus, um Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit auszulösen. Erst die Kombination solcher propositionalen Informationen mit sensorischen, z. B. körperlichen, Empfindungen wie einem „Zuschnüren der Kehle“ oder einem „Druck auf der Brust“ führt zu emotionalem Erleben.
Das ICS-Modell unterstützt außerdem die Idee, dass der reine Fokus auf kognitive Umstrukturierung in der Behandlung von Depressionen möglicherweise nicht ausreicht. Stattdessen kann die gezielte Veränderung körperlicher Empfindungen oder das Bewusstmachen dieser Empfindungen – etwa durch Achtsamkeitsübungen oder körperzentrierte Ansätze – eine wichtige Ergänzung zur kognitiven Therapie darstellen. So kann es therapeutisch hilfreich sein, Patient:innen dabei zu unterstützen, frühzeitig körperliche Anzeichen von Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit zu erkennen oder durch gezielte körperliche Interventionen diesen emotionalen Zustand zu modulieren.
2.6 Ausgewählte empirische Befunde
Zahlreiche Studien aus der Grundlagenforschung haben mittlerweile gezeigt, dass Veränderungen in der Körperhaltung oder Bewegungsmustern weitreichende Auswirkungen auf emotionale, behaviorale und physiologische Prozesse haben können, wie sie im Selbstbericht erfasst werden (Elkjær et al. 2022a, Körner et al. 2022). In diesem Abschnitt wollen wir eine Auswahl empirischer Untersuchungen vorstellen, die die Relevanz der Embodiment-Theorie verdeutlichen.
2.6.1 Depression, Körperhaltung und Gangmuster
Die Interaktion zwischen dem motorischen System und psychischen Prozessen rückte seit den 2000er Jahren zunehmend in das Interesse der Psychologie. Eine Vielzahl von Studien hat bspw. den Einfluss motorischer Manipulationen auf affektive Reaktionen untersucht. In diesen Studien wurden Haltungen (z. B. gebeugt, aufrecht oder Kontrollhaltung; Veenstra et al. 2017) oder Bewegungen (z. B. gebeugtes Gehen vs. Gehen mit abwechselndem Arm- und Beinschwingen; Peper / Lin 2012) experimentell induziert und die Auswirkungen auf Stimmungs- und Verhaltensreaktionen wurden gemessen. Obwohl die Replizierbarkeit der Ergebnisse kritisch diskutiert wurde (z. B. Simmons / Simonsohn 2017), zeigen jüngste Meta-Analysen, die den Publikationsbias kontrollieren und methodische Unterschiede zwischen den Studien untersuchen, dass die Effekte von Körpermanipulationen robust sind und motorische Darstellungen konsistent die Stimmung beeinflussen (Elkjær et al. 2022a; Körner et al. 2022).
Im Folgenden sollen einige Studien zum Gangmuster als mögliche Quelle von propriozeptivem Feedback bei depressiven Patient:innen vorgestellt werden. Michalak et al. (2009) konnten nachweisen, dass das Gangmuster von depressiven Patient:innen im Vergleich zu gesunden Personen charakteristische Merkmale aufweist: eine verlangsamte Gehgeschwindigkeit, reduzierte Armschwünge, geringere vertikale Bewegungen des Oberkörpers, ein stärkeres laterales Schwanken und eine zusammengesunkene Körperhaltung.
Aufbauend auf diesen Studien wurde in einem Experiment von Michalak et al. (2015) untersucht, wie sich eine Veränderung des Gangmusters auf die Stimmung auswirkt. Den Proband:innen wurde ein Biofeedbacksignal in Form eines Pfeils auf einem Monitor gezeigt, der ihr habituelles Gangmuster repräsentierte. Die Probanden sollten ihr Gehverhalten so anpassen, dass der Pfeil nach rechts wanderte. Für die eine Gruppe bedeutete dies, ein „fröhlicheres“ Gangmuster anzunehmen, während die andere Gruppe ein „depressiveres“ Gangmuster einnahm. Anschließend sollten die Proband:innen positive und negative Eigenschaftswörter dahingehend beurteilen, ob diese sie beschreiben, und erhielten nach weiteren acht Minuten auf dem Laufband einen überraschenden Gedächtnistest zu diesen Wörtern. Das Ergebnis zeigte: Proband:innen, die „fröhlicher“ gelaufen waren, behielten mehr positive Wörter, während diejenigen, die „depressiver“ gelaufen waren, einen höheren Anteil an negativen Wörtern behielten. Es wurde eine hohe Korrelation zwischen der Gangveränderung und dem Memory Bias (der Tendenz, negatives Material zu behalten) festgestellt.
In einer weiteren Untersuchung von Michalak et al. (2011)
