Der Krankheitswahn - Sebastian Herrmann - E-Book

Der Krankheitswahn E-Book

Sebastian Herrmann

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Beschreibung

Vor lauter Symptomen verlieren wir den Blick für die Gesundheit

Haben wir völlig das Gefühl für unseren Körper verloren?
Jede Befindlichkeitsstörung wird als ernsthafte Erkrankung empfunden. Wir ignorieren Fakten und sehen Risiken und Nebenwirkungen, wo keine sind. Studien zeigen: Wir halten uns für kränker, als wir tatsächlich sind. Sebastian Herrmann begibt sich auf eine Spurensuche: Seine Zeitdiagnose demontiert auf anschauliche Weise die Mythen um Globuli, Placebos, Nocebos und Co. Ein hellsichtiger Beitrag zur Psychosomatik-Debatte, mit dem der Autor Entwarnung geben will: Wir sind gesünder, als wir meinen.

  • Je gesünder eine Gesellschaft wird, desto kränker fühlen sich die Menschen
  • Die Industrie zieht mit immer neueren Ernährungs- und Gesundheitsangeboten Profit aus den Sorgen der Verbraucher
  • Ein Buch, das hilft, eigene Leiden richtig einzuordnen und dazu ermuntert, sich nicht unnötig selbst zum Patienten zu machen

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Seitenzahl: 276

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Sebastian Herrmann

DER

KRANKHEITS

Wir sind gesünder, als wir uns fühlen und die Industrie uns glauben lässt

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-15319-9

www.gtvh.de

INHALT

Einleitung: On a Highway to Health

1.

GESUNDHEIT!

Was ist das eigentlich?

2.

FÜR ALLES EIN MITTELCHEN:

Da kann man sicher etwas tun

3.

KRANKHEITSGEFÜHLE:

Unser Körper, das rätselhafte Wesen

4.

IM KRANKHEITSWAHN:

Alles ist gesund, alles ist ungesund

5.

DUNKLE GEDANKEN:

Über die destruktive Kraft der Psyche

6.

LEIDEN LERNEN:

Wie sich Symptome verfestigen und verbreiten

7.

VORAUSEILENDE BESTÄTIGUNG:

Wir sehen, wonach wir suchen

8.

DIAGNOSE ALS DROGE:

Wir brauchen für alles eine Erklärung

9.

DIE NATUR HAT IMMER RECHT:

Warum Chemie böse und Bio gut ist

10.

DIE ABSOLUTE SICHERHEIT:

Bloß kein Risiko eingehen!

11.

GUTE BESSERUNG!

Wovon eigentlich?

Quellen und Literatur

Register

EINLEITUNG: ON A HIGHWAY TO HEALTH

Für alles haben wir ein Mittelchen. Die Vielfalt der heutigen Gesundheitssorgen gleicht dem überbordenden Angebot eines riesigen Supermarkts. Es gibt fast keinen Bereich des Lebens mehr, in dem die Gesundheit nicht bedroht ist. Wir fürchten uns in zunehmendem Maße vor Stoffen wie Laktose oder Gluten. Zucker gilt vielen als weißes Gift und süchtig machende Droge; Süßstoffe stehen in Verruf, sie seien Nervengifte oder verursachten Diabetes und Übergewicht. Fleisch gilt als ungesund, als von Hormonen, Antibiotika-Rückständen und von Keimen verseuchtes Nahrungsmittel. Wir sorgen uns vor Stress, vor Pestizid-Rückständen und anderen Widrigkeiten. Wir bekommen Burn-out, leiden an Rückenschmerzen oder einer der vielen Formen der Lebensmittelunverträglichkeiten. Was ist da passiert, was treibt an sich gesunde Menschen in eine Spirale der Sorgen?

Warnungen über Warnungen

Es prasseln so viele Warnungen, Geschichten und Hysterien auf jeden einzelnen Bürger ein, dass es fast unmöglich ist, nicht in sich hineinzuhorchen – und sich am Ende tatsächlich krank zu fühlen. Das nämlich ist die Konsequenz all der Warnungen, Ängste und Sorgen: Wir fühlen uns kränker, als wir tatsächlich sind. Wir konzentrieren uns auf das Negative und verstärken bedrohliche Empfindungen. Wir ernennen uns kollektiv zu Patienten, obwohl das meistens überhaupt nicht nötig ist. Die objektiv messbaren Gesundheitsparameter haben sich in den vergangenen Jahren verbessert, die subjektive Wahrnehmung der eigenen Gesundheit vieler Menschen sich in der gleichen Zeit aber verschlechtert, beobachten viele Mediziner. Oft tauchen die Ängste und Warnungen sogar dort auf, wo man sie zu allerletzt vermutet.

Eigenheime gefährden die Gesundheit

Der Kirschbaum hing voller reifer, roter Früchte. Einige Schritte weiter raschelte der Wind in den Blättern vier großer Birken. In einem Baum nistete ein Starenpärchen in einer kleinen Höhle im Stamm. Ein Buntspecht, der in den Kronen über die Äste der alten Bäume kletterte, bearbeitete fleißig das Holz. Ein Apfelbaum trug bereits schwer an einer großen Menge Früchte. Der übrige Garten war verwildert; das Gras stand kniehoch, die Hecken fransten aus, die Blumenbeete gingen ohne klare Grenze in die Wiese über – ein Traum, diese sich selbst überlassene Natur.

Inmitten dieser begehbaren Kitschpostkarte schauten wir uns um. Zwei Paare in dem Alter, in dem eine Immobilie auf dem inneren Wunschzettel aufgetaucht und an die Spitzenposition dieser Liste gerückt ist. Zwei Paare in dem Alter, in dem die vollgestopfte Drei-Zimmer-Wohnung in der Münchner Innenstadt an Reiz verloren hat, weil man die vielen Angebote des Viertels nur noch selten wahrnimmt – wegen der Kinder, wegen des Berufs, wegen der übrigen Pflichten. Urbane Zerstreuungen wie Kino, Konzerte und Restaurants waren immer häufiger ungenutzt geblieben.

In dieser Lebensphase klettert der Wunsch nach einem kleinen Häuschen im Grünen die Prioritätenliste immer weiter nach oben. Töchter und Söhne werden ja schließlich auch älter, und mit denen rechtfertigt man gerne den ganzen Wahnsinn vom Hausbau oder Immobilienkauf: Alles für die Kinder! Das sind sie uns wert! Sie sollten im Grünen aufwachsen. Warum eigentlich? Dann tauchte auf einmal und unverhofft das Angebot mit Kirschbaum, Birken und orangenem Gartenschuppen auf. Die Lage schien perfekt zu sein: Direkt am Stadtrand, keine fünf Minuten zu Fuß zur S-Bahn, die nicht einmal eine halbe Stunde Fahrtzeit ins Zentrum braucht. Ein Wald war in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen. Die Distanz zu den Badeseen des Sommers war deutlich kürzer als zuvor. Nur der Arbeitsweg dehnte sich dadurch erheblich – aber wer will schon über seinen Arbeitsweg grübeln, wenn die Idee vom Traumhaus durch den Kopf spukt? Wir trafen uns zu einem Besichtigungstermin im verwunschenen Garten.

Unser damals zweijähriger Sohn stopfte sich Kirschen in den Mund. Er sprang um den Baum und pflückte alle Früchte in seiner Reichweite. Roter Saft troff aus seinen Mundwinkeln, er aß, er verteilte Kirschen, er war glücklich. Als typische besorgte Eltern achteten wir darauf, dass er keine Kirschkerne verschluckte und schärften ihm immer wieder ein, dass er sie ausspucken sollte. Er ließ sich von uns so schnell nicht aus der Ruhe bringen, und auch wir entspannten uns endlich und tauchten immer tiefer in den Traum vom Häuschen im Grünen ein.

»Und?« Wir tauschten Blicke aus. Niemand musste viel sagen, die Antwort ließ sich wie eine rote Kirsche aus den Zweigen des Baumes pflücken: Das sollte es sein, dieser Ort war perfekt, als hätte er darauf gewartet, dass zwei befreundete Paare ein Doppelhaus darauf bauen, um dann glücklich in der Sonne zu sitzen und gut Kirschen zu essen.

Ganz so schnell fiel die Entscheidung für das Bauprojekt in der Vorstadt dann doch nicht, natürlich schlichen sich noch ein paar Zweifel ein, als wir wieder in unserer Wohnung in der Innenstadt saßen und grübelten. Tatsächlich fielen uns immer mehr Argumente dafür ein, dass es vielleicht doch keine gute Idee wäre, den Lebensabschnitt im Trendviertel zu beenden und zwischen die Eigenheimbesitzer des Großstadt-Speckgürtels zu ziehen, die jeden Samstag zum Wertstoffhof fahren und dann vor der Garage das Auto polieren.

Wir zerbrachen uns den Kopf und merkten: Wer ein Haus bauen möchte, der lernt das Fürchten. Die Ängste eines Bauherrn beschränken sich nicht auf das Geld.

Und plötzlich wurde es wirklich ernst: Es ging um Leben und Tod. Jetzt handelten die Schauergeschichten nicht mehr von Baumängeln, geplatzten Terminplänen und überhöhten Rechnungen. Nein, die Gesundheit stand nun auf dem Spiel. Der Grundstein für die eigenen vier Wände war noch nicht einmal gelegt, da nisteten sich schon Warnungen vor üblen Gefahren in dem Projekt ein. Ziegelsteine, Mauern und Gesundheit, wie passt das zusammen? Vor Beginn des Bauprojektes fehlte uns die Vorstellungskraft, dass hier angeblich Leib und Leben gefährdet sein könnten. Natürlich ging es nicht um Stürze auf der Baustelle oder später die Treppe hinab, nein, die Rede war von unsichtbaren Gefahren, die im Verborgenen schleichend ihre schädliche Wirkung entfalten und so unweigerlich Körper und Geist der Eigenheimler angreifen würden.

Bauen gefährdet ihre Gesundheit? Wohnen kann ihr Leben verkürzen? Ziegelsteine lassen ihre Haut frühzeitig altern? Die Bedenkenträger und Gesundheitswarner warteten auf einem großen Gelände im Osten Münchens. Dort entwarfen sie in einer großen Fertighausausstellung ihr Schreckensszenario. Zu Beginn unseres Daseins als Bauherren, also kurz nachdem die Entscheidung besiegelt worden war, fuhren wir in dieses sogenannte Bauzentrum. Wir wollten dort eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, was für ein Haus wir gerne hätten, wie es aussehen könnte, was so etwas kostet, ob wir es überhaupt bezahlen könnten und die Frage klären, ob vielleicht ein Fertighausanbieter infrage käme.

Ein Haus gefiel uns besonders gut. Die Beraterin schien nett zu sein. »So«, sagte sie mit einem Lächeln, »was kann ich für Sie tun?« Wir erklärten ihr, dass wir ganz am Anfang unseres Hausbaus stünden und erst einmal einen ganz groben Einblick wollten. Welche Bauweisen die Firma anbiete und vor allem, mit welchen Preisen man rechnen müsse. Die Frau wechselte in ihren Verkaufsmodus. Es war deutlich zu merken, dass sie diese Inhalte regelmäßig vortrug. Sie sprach davon, dass dieser Anbieter Wert auf hohe Qualität lege, deshalb aus gutem Grund auch ein wenig teurer sei als die Billigkonkurrenz und man es hier außerdem mit einem sogenannten Ökohaus-Pionier zu tun habe.

Dann führte sie uns in einen abgetrennten Bereich des Musterhaus-Wohnzimmers und präsentierte einen seltsamen Holz-Plexiglas-Würfel, den sie auf einen Eichentisch stellte. Es war ein Modell des Querschnitts der Wände, mit denen die Ökohäuser aufgebaut wurden. Die Verkäuferin begann einen Vortrag über Raumklima, über Stromleitungen, sprach über elektromagnetische Felder, verfiel in einen raunenden, warnenden Ton und verwendete dann immer wieder den Begriff »Elektrosmog«.

Wir wurden ein wenig nervös und versuchten, den Vortrag der Frau zu unterbrechen. Ob man das mit dem Elektrosmog vielleicht später diskutieren könne? Momentan sei das nicht unsere Priorität, sagten wir. Stattdessen interessierten wir uns für ungefähre Preise, was ein Haus mit den folgenden Ausmaßen denn ungefähr koste, wenn es der Ökohaus-Pionier bauen würde? Die Verkäuferin sah uns mit milder Strenge an und sagte: »Aber das ist doch gar nicht relevant, wenn ihre Gesundheit auf dem Spiel steht!« Sie begann, die Gefahren zu konkretisieren, die das Wohnen im falschen Haus ihrer Meinung nach birgt. Wenn die Stromleitungen nicht gut abgeschirmt seien, so sagte sie, dann drohten Schlaflosigkeit, Sehstörungen, Herzrasen, Kopfschmerzen, Erschöpfung, ja sogar Burn-out! Und das sei gar nicht alles, fuhr sie fort, hier gehe es darum, unvorhersehbare, noch gänzlich unbekannte Risiken zu vermeiden, Elektrosmog stehe schließlich ganz oben auf der Liste der modernen Gesundheitsgefahren!

Zack, da war sie, die neue Angst! Und erscheint Nervosität angesichts jahrelanger Schulden und einem Rohbau ohne Dach nicht etwas lächerlich, wenn man in seinem neuen Haus eingehen könnte wie eine ungewässerte Büropflanze? Nur weil man Geld sparen wollte? Hätte man sich nicht vor Gift und Strahlung schützen sollen? Überall scheinen Gefahren zu lauern, sogar dort, wo man sie gar nicht erwartet, etwa beim Bau eines Hauses.

Die Warnungen des Ökohaus-Anbieters haben nicht wirklich eine wissenschaftliche Grundlage. Die Studienlage zur Wirkung elektromagnetischer Felder auf die Gesundheit der Menschen ist dünn, um es mal sehr vorsichtig auszudrücken. Aber nur weil Studien keinen direkten Zusammenhang zwischen Stromleitungen in der Wand und Schlafstörungen finden können – ja, bedeutet das etwa, das alles sei gar keine Gefahr? Menschen bewerten Gefahren und Risiken nicht objektiv. Deshalb sind wir alle auch so empfänglich für Warnungen und die daraus resultierenden Ängste. Wie sollten wir das auch kühl bewerten? Jedes Mal in wissenschaftlichen Datenbanken sämtliche Studien zu einem Thema recherchieren, durcharbeiten, Studienaufbau und Rohdaten analysieren, zu einem Schluss kommen und dann der Ökohaus-Verkäuferin überzeugt mitteilen, dass ihr Schreckensszenario jeglicher Grundlage entbehrt?

Nein, die schiere Möglichkeit einer Gefahr reicht aus, um einen zu verunsichern. Sollte man nicht doch? Man weiß ja nicht. Und es schadet ja auch bestimmt nicht, oder? In einer Anzeige des Ökohaus-Pioniers in einem Wohnmagazin blickt ein Junge vom Typ Grundschulstreber keck in die Kamera, reckt ein Stück Kreide, mit dem er offenbar die Formeln auf die Tafel geschrieben hat, die hinter ihm aufgebaut ist. Über ihm steht der Claim: »Hey Mama, unsere Gesundheit sollte uns schon 2 Euro am Tag wert sein!« Weiter unter heißt es, dass das Bauen mit »gesunden Materialien« tatsächlich etwas teurer sei. Aber über 35 Jahre gerechnet, betrage der finanzielle Mehraufwand gerade einmal zwei Euro pro Tag. Mit welchem anderen Angebot der Anbieter seine Kalkulation verglichen hat, sagt er natürlich nicht – es ist also nicht nachzuprüfen, wie diese zwei Euro zustande kommen. Und hey, welcher Vater, welche Mutter ist so geizig, dass er mit der Gesundheit und dem Leben der eigenen Kinder spielt? Mit Gesundheitswarnungen lässt sich eben Geld verdienen. Die zwei Euro pro Tag summieren sich über die angegebenen 35 Jahre übrigens auf 25 550 Euro – sollte es das einem wert sein, sich von einer unbegründeten Angst freizukaufen?

Die Webseite der Firma zeigt Bilder schöner Familien, sorgender Väter, schützender Mütter und gesunder Kinder. Von »Entmagnetisierungsanlagen« ist die Rede. Diese sollten installiert werden, da sie jegliche Konflikte mit dem natürlichen Erdmagnetfeld verhinderten, verspricht der Werbetext. Überhaupt seien Metallbauteile ein Risiko, so etwas könne den gesunden Schlaf stören – die nächste Gefahr! Abschirmung, Absorptionsanteil, Schutzebenen – der Ökohaus-Pionier hantiert mit sperrigen Begriffen, verspricht aber so etwas wie einen »Gesundheitspass« für das Haus – als ginge man zum Mediziner und nicht zum Architekten – und garniert das alles mit bekannten Vokabeln aus dem Gesundheitswortschatz jedes besorgten Laien: Am Ende stehe dann ein ganzheitlicher Schutz der Hausbesitzer, heißt es.

Die Verkäuferin im Musterhaus malte weiterhin üble Gefahren aus und versuchte zu erklären, wie der spezielle Aufbau der Wände diese abwehre. Auf unsere Fragen ging sie hingegen nicht ein, und wir verabschiedeten uns schließlich abrupt und mit ein paar neuen Sorgen im Gepäck.

Das Thema »Gesundheit und Bauen« begegnete uns immer wieder, während unser Haus errichtet wurde. Bekannte schwärmten von ihrem speziellen, natürlichen Gips an den Wänden, der das Raumklima so sanft mache. Elektriker boten Vorrichtungen an, um die Stromleitungen nachts zu unterbrechen. Auch sie argumentierten mit gesundem Schlaf und anderen vermeintlichen Vorteilen, die aber nichts als vermiedene, angebliche Risiken waren.

Und als wir uns für ein Parkett entscheiden wollten, holte uns das leidige Gesundheitsthema abermals mit Wucht ein. Die Entscheidung für einen bestimmten Parketttyp fiel uns nicht leicht. Grob gesagt gibt es zwei Fraktionen, die jeweils mit großer Dringlichkeit für ihre Version der Wahrheit werben: geölt oder lackiert. Das eine sieht schöner aus, das andere ist pflegeleichter – je nachdem, wen man fragt. Ein Bekannter hatte uns einen kleinen Betrieb empfohlen, für den ein Freund regelmäßig arbeite und der sehr schöne Holzböden verlege. Das Gespräch glich dem Vortrag beim Ökohaus-Pionier, nur dass der Mann etwas mürrischer war, als die Frau mit dem Wandquerschnitt in der Hand.

Der Betrieb entpuppte sich als Mini-Bio-Baumarkt, der sich auf Holzböden spezialisiert hatte. Seinen Vortrag begann der Besitzer mit vehementen Hinweisen darauf, was er alles auf gar keinen Fall verlegen werde. Lackiert? Da könne man gleich in eine Chemiefabrik einziehen und vorsorglich einen Platz in einer Krebsklinik buchen. Hartwachsgeölt? Ob man wahnsinnig sei? Was da alles drin stecke! Nein, auf keinen Fall. Er hub zu einem Kurzreferat über das von ihm verwendete Öl an, mit dem er ausschließlich arbeite. Das sei natürlich, biologisch, ganzheitlich, sorge für ein gutes Raumklima und so weiter – dann entwarf er ein Szenario, das dem aus dem Ökohaus verblüffend glich. Es handelte wieder von Schlafstörungen, von chronischen Kopfschmerzen, Allergien und noch schlimmeren Beeinträchtigungen. Wir bekamen das Gefühl, dass er das Parkett aussuchen dürfe und nicht wir. Als er auch noch erfuhr, dass wir einen Bauleiter hatten, der das Projekt für uns organisierte, schmiss er uns ziemlich harsch aus seinem Laden. Mit Bauleitern arbeite er nicht zusammen! Wahrscheinlich widersprachen diese Ingenieure den Ansichten des Bio-Parkettverlegers; womöglich weigerten sich Bauleiter häufig, die vermeintlichen Gesundheitsgefahren anzuerkennen, mit denen dieser Parkettleger die hohen Preise seiner Angebote rechtfertigte.

Die Stromleitungen rauben einem den Schlaf, das Parkett verleiht chronische Kopfschmerzen – wahrscheinlich waren wir ganz schön naiv, dass wir beim Hausbau keine Gesundheitsgefahren vermutet hatten. Aber nach einigen Monaten als Bauherr stellte ich mir die Frage, wie ich eigentlich meine eigene Jugend überlebt hatte. Aufgewachsen bin ich in einer Reihenhaussiedlung. Zwischen den beiden Häuserreihen befand sich eine große Wiese, auf der wir Kinder täglich spielten. Die Fläche war nur deshalb nicht bebaut worden, weil eine Stromtrasse darüberführte und der Platz frei bleiben musste. Aus dem Fenster meines Kinderzimmers hatte ich einen perfekten Blick auf die Hochspannungsleitungen. Die Kabel waren keine 100 Meter von meinem Bett entfernt. Was der Ökohaus-Pionier wohl zu dieser Anlage gesagt hätte? Und wie der Parkettleger wohl den Teppichboden kommentiert hätte, der in meinem Elternhaus vom Bauträger auf den Boden geklebt worden war? Zum Glück ahnte ich damals nichts von den Ängsten und Sorgen, die heute rund um solche Dinge kursieren.

Die viel beachtete Diagnose des Harvard-Psychiaters Arthur Barsky gewinnt stetig an Brisanz: Je gesünder eine Gesellschaft wird, desto kränker fühlen sich die Menschen. Geschichten wie jene der Verkäuferin im Mustergebäude des Ökohaus-Anbieters dienen dabei als Kristallisationskeime des Leidens, die Ängste mit Inhalt füllen. Wer für diese Warnungen empfänglich ist, der betrachtet seine nächsten schlaflosen Stunden in einem Haus ohne Elektrosmogabschirmung in einem neuen Licht. Die durchwachte Nacht dient ihm nun womöglich als Beweis für die Behauptungen des Ökohaus-Anbieters; und seine nächste Kopfschmerzepisode vervollständigt sein neues Leiden. So kann aus Angst die Überzeugung reifen, tatsächlich krank zu sein. Und eines ist sicher: Die Leiden sind real, die Symptome, die Menschen verspüren, sind keine freie Wahl, sondern stellen echten Leidensdruck dar. Nur die Ursache könnte eine andere sein, als der vermeintliche Patient glaubt. Sie liegt wahrscheinlich häufig in den Ängsten, die uns so viele Akteure einreden und nicht in der physiologischen Wirkung eines Giftes oder einer Strahlung.

Unsere Gegenwart zeichnet sich durch einen schier wahnhaften Fokus darauf aus, gesund zu leben. Die großen gesellschaftlichen Utopien scheinen alle gescheitert zu sein und haben ihre Anziehungskraft verloren. Stattdessen regiert heute die Ideologie vom richtigen, vom gesunden Leben. Das Ziel dieser Denkweise stellt nicht eine perfekte Gesellschaft, sondern ein perfektes Individuum dar: Dieses utopische Selbst verwirklicht all seine Träume in einem gesunden Körper, führt ein erfolgreiches Leben, maximiert sein Glück und Wohlbefinden. Wie alle Utopien ist auch diese zum Scheitern verurteilt. Das Streben gesunder Menschen nach mehr Gesundheit erzielt absurderweise das Gegenteil. Wenn alles Handeln darauf ausgerichtet wird, das eigene Wohlbefinden zu steigern, dann lauern überall Gefahren, die dieses bedrohen. Jeder schwache Widerhall aus Körper und Geist könnte ein Vorbote des Unglücks sein und wird mit entsprechender Sorge und Aufmerksamkeit bedacht. Objektiv mögen die Menschen in den westlichen Industrieländern heute im Schnitt gesünder sein als einst; subjektiv fürchten sie um den Verlust ihres Wohlergehens. Auf diesem Nährboden gedeihen Ängste und sorgen dafür, dass sich reale Symptome äußern.

Die Sorge vor Gesundheitsrisiken – zum Beispiel durch neuartige Technologien oder sonstige Aspekte des modernen Lebens – korreliert mit dem Verhalten der verunsicherten Menschen. Wer viele Risiken wittert, nimmt auch häufiger medizinische Angebote wahr, wird eher selbst im Namen seiner Gesundheit aktiv und klagt mit höherer Wahrscheinlichkeit über Beeinträchtigungen und Symptome. Mit anderen Worten: Wer von besonderen Sorgen geplagt wird, der leidet auch mit höherer Wahrscheinlichkeit. Diese Beobachtung ließe sich leicht als bloßes Henne-und-Ei-Problem abtun. Was war zuerst da – der Schmerz oder die Sorge? Wer leidet, ängstigt sich natürlich um seine Gesundheit, oder? Viele Studien aus Psychosomatik, der Psychologie, der Medizin und anderen wissenschaftlichen Disziplinen legen allerdings nahe, dass es sich genau andersherum verhält: Wir leiden, weil wir uns sorgen – nicht umgekehrt. Und das Perfide an der ganzen Sache ist: Wir leiden und sorgen uns immer mehr, je besser es uns geht.

»Die Mehrheit der Bevölkerung gibt an, dass sie sich starke oder sehr starke Sorgen rund um Aspekte des modernen Lebens macht, die sich auf ihre Gesundheit auswirken könnten«, schreiben etwa Gesundheitspsychologen um Winfried Rief von der Universität Marburg im Fachmagazin Journal of Psychosomatic Health. Um die Schwere dieser Ängste noch mal zu verdeutlichen, sollte eine weitere Beobachtung aus ihrer Studie besonders beachtet werden: Nur sechs Prozent der Befragten sagten, dass sie sich gar nicht um ihre Gesundheit sorgen würden. Sechs Prozent! Unter 100 Menschen befinden sich demnach lediglich sechs Personen, die ihr Leben so leben, wie es die unzähligen Ratgeber predigen: Sie sorgen sich nicht. Den 94 besorgten oder verängstigten Menschen muss aber auch zugutegehalten werden, dass es inmitten der unzähligen Nachrichten rund um vermeintliche oder echte Gesundheitsgefahren auch wirklich schwer bis unmöglich ist, die Ruhe zu bewahren.

Unter Frauen scheint der Grad der Gesundheitsängste laut der Studie sogar noch ein wenig stärker ausgeprägt zu sein als unter Männern. Woran das liegt? Vielleicht haben Frauen eine höhere Affinität zu Gesundheitsthemen – etwa, weil sie es sind, die schwanger werden –, und die Männer sind ja sowieso als Arztmuffel verschrien. Je größer die Sorgen sind, desto stärker war laut der Studie auch die Neigung zu Symptomen und depressiven Verstimmungen. Ach ja, ihre Lebensqualität geben die sorgenvollen Menschen natürlich auch als geringer an.

Hauptsache gesund. Nur wozu das Ganze? Gesunde Menschen jagen danach, noch gesünder zu werden, was auch immer das heißen soll. Sie wollen fit werden, um fit zu sein. Es bleibt unbeantwortet die Frage, was sie denn machen wollen, wenn sie Gesundheit erlangt haben. Wozu der Stress? Am Ende sollte es doch darum gehen, Vergnügen zu suchen oder ein erfülltes Leben. Dafür ist eine intakte Gesundheit sicher eine Voraussetzung – beziehungsweise, es ist leichter, solche Dinge zu tun, zu erreichen, wenn es einem gut geht. Nur wenn Gesundheit als Wert an sich zum Ziel wird, dann finden andere Ziele weniger oder sogar keinen Platz mehr. Und ein permanentes Streben nach mehr Gesundheit, nach besserem Wohlbefinden, nach noch besserer Fitness ist das garantierte Ticket zu andauernder Unzufriedenheit. Je mehr Wert wir der Gesundheit beimessen, desto fragiler wird sie für uns.

Das permanente Selbstbespiegeln ist nichts anderes als eine ständige Suche nach Zeichen des Leidens. Denn nach Zeichen des Wohlbefindens zu fahnden, ist ungleich schwerer. Wie lässt sich Glück erkennen? Wohlbefinden oder Gesundheit, das sind Momente selbstvergessener Beschwerdelosigkeit. Momente oder Zeiten im Leben, in denen wir uns eben nicht auf unseren Körper konzentrieren, in denen wir nicht in uns hineinhorchen, sondern vielleicht gerade ein Buch lesen, mit Freunden Zeit verbringen, auf einem Fahrrad unterwegs sind, im Garten wurschteln oder ein Essen vorbereiten. Wenn wir uns auf unseren Körper und dessen ersehnte Unversehrtheit konzentrieren, fahnden wir in diesen Momenten automatisch nach negativen Zeichen – wir suchen Signale, die eine gesundheitliche Beeinträchtigung anzeigen. Natürlich hoffen wir in diesen Momenten, keines dieser Signale zu finden. Das aber ist fast unmöglich. Irgendein Gelenk zwickt doch immer ein bisschen, das Knie, die Schulter oder vielleicht doch mal wieder der Rücken? Und der Magen, der Hals, irgendwas ist immer! Sobald wir uns darauf konzentrieren, verstärken wir das Unbehagen. Versuchen Sie einmal, sich bewusst auf Ihren Atem zu konzentrieren. Ein- und auszuatmen passiert sonst automatisch. Erst wenn man jedem Atemzug nachspürt, stellt sich ein gewisses Unbehagen ein – zumindest wenn man ungeübt darin ist und nicht im Rahmen einer Mediation oder anderen Techniken daran gewöhnt ist, seinen Atem mit Achtsamkeit zu bedenken.

Die Gesundheitsindustrie – wer ist das eigentlich?

Die Industrie schürt unsere Sorgen. Sie liefert den Inhalt, mit dem wir unser Unbehagen auskleiden können. Sie setzt die Zeichen, nach denen wir mit Angst suchen können. Wenn in diesem Buch die Rede von »der Industrie« ist, dann schließt dieser Begriff alle Akteure ein, die mit ökonomischem Interesse handeln und gesundheitsrelevante Angebote machen beziehungsweise Informationen verbreiten und verkaufen, die das Thema Gesundheit betreffen.

Die Industrie schließt also Pharmakonzerne ein, die überteuerte neue Medikamente auf den Markt drücken, deren Nutzen nicht größer ist als der von billigeren Mitteln, die normale Umstände des Lebens zu Krankheiten ernennen oder etwa Verfahren bewerben, für deren Nutzen es keinen Beweis gibt. Gemeint sind Lebensmittelkonzerne, die Nahrungsmittel verkaufen, die angeblich besonders gesund machen. Gemeint sind Ärzte, die ihren Patienten unnötige Tests oder Untersuchungen aufschwatzen. Gemeint sind aber auch Heilpraktiker, die mit schnellen Diagnosen zur Hand sind und besonders die wissenschaftliche Medizin dämonisieren. Gemeint sind auch Öko-Produzenten, die ihre Waren verkaufen, indem sie Ängste vor Produkten schüren, die nicht nach Bio-Maßstäben hergestellt worden sind. Und dann ist da schließlich noch die Öffentlichkeit, Medien, Verlagshäuser, das Internet. Auch diese werden mit dem Begriff »Industrie« umfasst.

Das Thema Gesundheit zieht offenbar immer. In Büchern warnen Autoren vor vermeintlichen Risiken und ernennen zum Beispiel Weizen zum Grundübel der Gegenwart und Auslöser zahlreicher Zivilisationskrankheiten. Große Nachrichtenmagazine berichten über die Gefahren durch Zucker und ernennen diesen zum »weißen Gift« oder zur gefährlichen Droge. Überall prasseln vermeintliche Gefahren auf die Leser und den Konsumenten ein. Medizinberichte und Beiträge funktionieren offenbar nur in zwei unterschiedlichen Varianten: Entweder wecken sie unbegründete Hoffnungen, indem von vermeintlichen Durchbrüchen und Wundermitteln die Rede ist; oder sie schüren Ängste, indem sie Gefahren betonen und Risiken übertreiben. Zurück bleibt der verunsicherte Verbraucher, der am Ende so etwas wie ein lebenslanger Patient wird: Indem er unbedingt gesund sein will, wittert er überall Gefahren; indem er unbedingt gesund sein will, geht es ihm immer schlechter.

Reizthema Nachwuchs

Mit besonderer Wucht konfrontiert einen die anstehende Geburt eines Kindes mit dem Thema. Auf einmal ist alles gefährlich. Vor der Geburt unseres Sohnes nahmen wir zum Beispiel auch an einem Geburtsvorbereitungskurs teil. Das gehört mittlerweile zum Curriculum der Elternschaft dazu, auch wenn die Meinungen zu Sinn und Unsinn dieser Veranstaltungen gespalten sind. Die zweitägige Veranstaltung bot einen tiefen Einblick in die Ängste junger Eltern. Gleich zu Beginn des Kurses meldete sich ein angehender Vater und bat die Hebamme um Rat. Er hatte die Zeitschrift Ökotest gelesen, in der es wohl einen Test von Wickelkommoden gegeben hatte. Das Magazin habe angemahnt, dass zahlreiche dieser Möbelstücke »chemische Substanzen ausgasen«, so sagte er und wollte nun wissen, welches Modell er sich anschaffen könne, ohne das Leben seines Babys zu gefährden. Die Hebamme blicke ihn ratlos an und versuchte ihn zu beruhigen. Ein anderer Vater erzählte später, er habe selbst eine Wickelauflage gebaut und dabei die Holzteile mit Holzzapfen verbunden, damit kein Metall darin ist – irgendwie baue sich sonst daraus ein »Energiefeld auf«, so behauptete er, das dem Baby schade.

Mütter sorgten sich, dass die Peridurialanästhesie (PDA) dem Kind schaden könne. Ob man nicht auf jeden Fall die Wehenschmerzen komplett ertragen müsse, weil die örtliche Betäubung das Kind beeinträchtigen könne? Die Hebamme versuchte zu beruhigen, aber die Angst war bei einigen einfach da. Später verabredete ich mich einmal mit einem der Väter, um einen Männer-Baby-Spaziergang zu machen. Kaum hatten wir uns getroffen, eröffnete er den Nachmittag mit dem leidigen Impfthema. Wer heute ein Kind bekommt, wird automatisch damit konfrontiert. Impfgegnern gelten die Immunisierungen als universales Übel. Hunderte Studien haben widerlegt, dass die Masern-Mumps-Röteln-Impfung zum Beispiel Autismus auslösen kann – egal, die Angst ist in der Welt, und der Pharmaindustrie traut man sowieso jede menschenverachtende Grausamkeit zu. Bei unserem Spaziergang hielt mir der junge Mitvater einen Vortrag über vermeintlich giftige Zusätze in Impfstoffen. Was da alles drin sei, ein reinster Giftcocktail, behauptete er, und malte ein düsteres Bild der Gesundheit künftiger Generationen. Krebs, Diabetes, Allergien – alles sei auf Impfungen zurückzuführen. Auch das ist unbelegter Unsinn, doch die Ängste sind real.

Schließlich endete der Vortrag mit einer besonders exotischen Angst: Es ging um die angeblich schreckliche Wirkung der Blickrichtung eines Babys. Viele Eltern tragen ihre Babys mit einer Art umgedrehtem Rucksack durch die Gegend. Für die Tragevorrichtungen hat sich die Marke »Babybjörn« als Bezeichnung eingebürgert, so wie Tesa-Film für Klebestreifen. Man schnallt sich den Babybjörn vor die Brust und setzt sein Kind hinein – und bekommt nach einer Weile Rückenschmerzen, um die es hier jetzt aber nicht gehen soll. Man kann das Baby so in die Tragevorrichtung setzen, dass es mit den Augen zur Brust der Mutter oder des Vaters blickt. Oder andersherum, so dass das Kleine nach vorne schaut und mitbekommt, wohin der elterliche Träger marschiert. Aber zu welchem Preis?

Der Mitvater senkte seine Stimme und raunte, welch Widrigkeit ihm da zugetragen worden war: Das Kind sei nämlich von den vielen optischen Reizen überfordert, wenn es nach vorne blicke, sagte er. Da gebe es so viel zu sehen, dass die jungen, unreifen Synapsen im Babygehirn regelrecht durchschmoren, fuhr er fort. Habe er zumindest mal gehört. Aber da sei vielleicht doch etwas dran, denn die Folgen der Reizüberflutung seien überall zu beobachten: hibbelige Kinder, Konzentrationsstörungen, ADHS und so weiter. Und am Ende würden die Kinder dann mit Ritalin vollgestopft, sagte er. Eingeborenenstämme würden ihre Kinder übrigens immer mit dem Gesicht zum Körper der Mutter tragen, genau aus diesem Grund. Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Eine absurde Angst mehr.

Pestizide: Meinung vor Wissen?

Vieles im Leben stellt ja tatsächlich ein Risiko dar, auch wenn die Blickrichtung eines Babys sicher nicht dazu gehört. Aber niemand will bestreiten, dass zum Beispiel Pestizide für viele Organismen giftig sind. Was Insekten tötet, Pilze vernichtet oder Unkraut absterben lässt, das ist wahrscheinlich auch für Menschen kein Vitamin-Cocktail. Wir versagen im Alltag jedoch bei der Frage, wie groß die Risiken für uns selbst eigentlich sind, denen wir ausgesetzt sind. Was bedeutet das, wenn wir zum Beispiel einen Apfel essen, der mit Pflanzenschutzmitteln behandelt worden ist, während er an einem Baum in Südtirol, am Bodensee oder im Alten Land gereift ist? Um das zu beantworten, müssten wir wissen, mit welcher Substanz der Apfel behandelt wurde, wie viel von dem Stoff überhaupt noch auf der Frucht ist – und ab welcher Menge Pestizidrückstände eine gesundheitliche Gefahr darstellen. Und zwar wenn man sie einmal zu sich nimmt? Oder immer wieder? Alle diese Fragen können wir nicht beantworten, das wäre aber auch viel zu viel verlangt, über Grenzwerte, Stoffklassen, Fütterungsversuche und andere Dinge zu grübeln, während man im Supermarkt vor den Äpfeln steht und überlegt, ob es nun Elstar, Braeburn oder Golden Delicious sein soll.

Nein, wir behelfen uns mit einer mentalen Abkürzung: Wir reagieren nur auf den negativen Reiz, der von dem Wort »Pestizide« ausgeht – und bekommen es mit der Angst zu tun. Es geht um unsere Psyche. Menschen reagieren nicht auf objektive Risiken, sondern darauf, wie sie diese wahrnehmen. Das haben Psychologen und andere Wissenschaftler immer wieder beobachtet und in vielen, vielen Studien belegt. Es kommt nicht darauf an, ob etwas gefährlich ist – es reicht, wenn es sich gefährlich anfühlt. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Um zu verstehen, warum wir glauben, dass überall Risiken und Nebenwirkungen lauern, müssen wir uns unserer Psyche zuwenden und verstehen, welche Faktoren unsere Wahrnehmung beeinflussen. Es sind weniger die Fakten, die Menschen davon überzeugen, dass etwas wahr oder falsch ist. Es ist vielmehr das Gefühl, das diese Fakten auslösen – das gilt ganz besonders für alles, was mit unserer Gesundheit zu tun hat. In kaum einem anderen Bereich kursieren so viele Mythen und Irrtümer. Und in kaum einem anderen Bereich plagen uns unsere eigenen Ansprüche so sehr, wie in diesem. Der Erfolg der Medizin hat die Illusion in uns geweckt, wir Menschen hätten einen Anspruch darauf, ein Leben frei von jeglicher Beeinträchtigung zu führen. Ein Leben voller Glück und ohne Leiden. Am Ende sind es unsere eigenen überzogenen Ansprüche, die uns krank machen.

Täglich grüßt Tschernobyl

Die Gegenwart mit all ihren Ängsten erinnert manchmal an das Jahr 1986, an die Zeit, als der Kernreaktor in Tschernobyl havarierte und der nukleare Fallout über Europa hinwegzog. Ich war damals zwölf Jahre alt. Ich hatte keine Ahnung von Atomkraftwerken, von Radioaktivität und dergleichen. Ich verstand nur, dass etwas wirklich Schreckliches passiert war. Meine Eltern waren ernst und besorgt. Es regnete an den Tagen, als die Nachrichten langsam konkreter wurden. Wir fuhren mit dem Auto in die Stadt. Durch die regennassen Scheiben betrachtete ich Titelseiten der Zeitungen an den stummen Verkäufern. Meine kleine Schwester, damals knapp zwei Jahre alt, krabbelte in den Tagen kurz nach dem Unglück in eine alte Zinkwanne voll Regenwasser, die auf unserem Balkon stand. Es war das Tschernobyl-Regenwasser. Meine Mutter drehte schier durch vor Angst, dass meine Schwester davon krank werden würde.

Wir älteren Kinder verstanden in den Tagen und Wochen nach dem Reaktorunfall in der damaligen Sowjetunion die Welt und die Erwachsenen noch weniger als zuvor. Wir durften am Spielplatz nicht mehr in den Sandkasten. Wir sollten im Freibad nicht mehr auf der Wiese liegen. Einigen Kindern erlaubten die Eltern zwar, dort wie in den Sommern zuvor in der Sonne herumzulümmeln – aber sie mussten sich auf Isomatten legen. Die Eltern hegten die Hoffnung, dass diese Campingutensilien ein wenig Radioaktivität abschirmen würden; immerhin bestanden die Matten ja aus einer dicken Schicht Kunststoff – aber höchstwahrscheinlich machten sie allenfalls einen psychologischen Unterschied.

In der Nachbarschaft organisierte sich ein sogenannter Milchring. Reihum fuhr je eine Familie zu einer Molkerei auf dem Land, deren Kühe seit dem Reaktorunfall im Stall blieben und mit Silofutter versorgt wurden, das nicht mit Radioaktivität belastet war. Im Keller lagerten Dosen und Einmachgläser voller Milchpulver, die für den Moment gehortet wurden, in dem der Molkerei das unbelastete Silofutter ausgehen würde (das Milchpulver schmissen wir nach Jahren weg). Außerdem wurde darüber diskutiert, ob Jodtabletten angeschafft und eingenommen werden sollten. Schon wir Kinder lernten mit Begriffen wie Halbwertszeit, Cäsium, Strontium und Super-GAU zu operieren.

Die Katastrophe von Tschernobyl war eine unglaubliche Tragödie. In Westeuropa, in Deutschland bestanden die Auswirkungen des Reaktorbrandes jedoch hauptsächlich darin, dass sich Angst verbreitete. Niemand wusste damals, wie groß das Risiko war, durch die radioaktive Belastung zu erkranken oder gar zu sterben. Und niemand wusste, wie man sich am besten davor schützen könnte. Reichte es, keine Pilze aus dem Wald mehr zu sammeln und zu essen? Reichte es, ein paar Wochen unbelastete Milch zu kaufen und den Sand am Spielplatz auszuwechseln? Die einzige Gewissheit, die damals bestand, war die Angst. Sicher war nur das Gefühl, dass die eigene Gesundheit und die der Kinder akut gefährdet waren.

In der Gegenwart fühlt sich der kollektive Umgang mit Gesundheitsgefahren gelegentlich an, als habe sich der Ausnahmezustand in den Wochen nach Tschernobyl bis heute erhalten. Wir reagieren auf alle möglichen und tatsächlichen Gefahren, als seien wir mit einer Katastrophe konfrontiert.

Auf diesem Nährboden gedeihen Ängste, die dafür sorgen, dass sich reale Symptome äußern. Wir wünschen uns ein Leben ohne Leiden. Wir sind gesund und fühlen uns krank. Wir leben im Krankheitswahn.