Gefühlte Wahrheit - Sebastian Herrmann - E-Book

Gefühlte Wahrheit E-Book

Sebastian Herrmann

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Beschreibung

„Wir leben in einer kollektiven Illusion vermeintlichen Verstehens.“. Wir alle halten unsere Meinungen für wohlüberlegt und faktenbasiert. Doch es sind vielmehr unsere Gefühle, die darüber entscheiden, ob wir etwas gut oder schlecht finden und wie sich unser Weltbild zusammensetzt. Was wir für wahr halten, muss nicht wahr sein, sondern sich wahr anfühlen. Fakten spielen dabei eine deprimierend unwichtige Rolle. Sebastian Herrmann beschreibt kenntnisreich und unterhaltsam, wie persönliche Ansichten entstehen und welche psychischen Ursachen sie haben: warum wir Neues so rasch ablehnen, auf negative Informationen stehen, uns chronisch selbst überschätzen, Fans simpler Botschaften sind und überall nach Bestätigung suchen. Ein kluger, hochaktueller Wegweiser für den täglichen Umgang mit Wahrheit und Lüge in Zeiten von Fake News und Co.

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Über Sebastian Herrmann

Sebastian Herrmann, Jahrgang 1974, hat Politikwissenschaften, Geschichte und Psychologie in München und Edinburgh studiert. Er ist Redakteur und Chef vom Dienst in der Redaktion Wissen der "Süddeutschen Zeitung". Für seine Berichte wurde er 2016 mit dem Preis für wissenschaftliches Publizieren von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet. Sebastian Herrmann ist Autor mehrerer populärer Sachbücher. Er lebt mit Frau und Kindern in München.

Informationen zum Buch

»Wir leben in einer kollektiven Illusion vermeintlichen Verstehens.«.

Wir alle halten unsere Meinungen für wohlüberlegt und faktenbasiert. Doch es sind vielmehr unsere Gefühle, die darüber entscheiden, ob wir etwas gut oder schlecht finden und wie sich unser Weltbild zusammensetzt. Was wir für wahr halten, muss nicht wahr sein, sondern sich wahr anfühlen. Fakten spielen dabei eine deprimierend unwichtige Rolle.

Sebastian Herrmann beschreibt kenntnisreich und unterhaltsam, wie persönliche Ansichten entstehen und welche psychischen Ursachen sie haben: warum wir Neues so rasch ablehnen, auf negative Informationen stehen, uns chronisch selbst überschätzen, Fans simpler Botschaften sind und überall nach Bestätigung suchen. Ein kluger, hochaktueller Wegweiser für den täglichen Umgang mit Wahrheit und Lüge in Zeiten von Fake News und Co.

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Gefühlte Wahrheit

Wie Emotionen unser Weltbild formen

Inhaltsübersicht

Über Sebastian Herrmann

Informationen zum Buch

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Prolog Ich muss nur wissen, was ich fühle Warum hinter großen Meinungen oft kleine Empfindungen stecken

Nachrichten vom Pressesprecher Warum wir erst eine Meinung haben und sie dann nachträglich begründen

Das habe ich schon einmal gehört Über die beängstigende Macht der Wiederholung

Kenn ich nicht, mag ich nicht Warum wir Fremdes und Neues so rasch ablehnen

Unkraut vergeht nicht Warum selbst offensichtliche Lügen wirken

Alles wird immer schlechter Wenn sich Dinge zum Besseren wenden, verändern die Menschen automatisch ihre Maßstäbe und klagen erst recht

Die Macht der Angst Warum schlechte Nachrichten in der Öffentlichkeit mehr Beachtung finden

Kopf in den Sand Menschen sind Meister darin, unangenehme Informationen auszublenden – was uns herausfordert, wird ignoriert

Lassen Sie mich durch, ich bin Experte! Ahnungslos und meinungsstark – warum sich die meisten Menschen chronisch überschätzen und ihre Meinung für überlegen halten

Darf ich, kann ich, will ich das glauben? Warum wir meist ein Motiv für unsere Überzeugungen haben

Nicht lange überlegen Warum geistige Mühe Wahrheitsgefühle reduziert und einfache Botschaften Vorfahrt genießen

Das ist mir ganz allein eingefallen Warum wir für wahr halten, was uns leicht und rasch in den Sinn kommt

Meine Rede! Warum wir überall Bestätigung finden, wenn wir nur danach suchen

Wir gegen sie Gemeinsam sind wir stark und verblendet – wie Gruppenzugehörigkeit das Denken dominiert

Kritik und Gegenwehr Wie Angriffe bestehende Meinungen aushärten lassen

Die Meinung der anderen Wie uns verbreitete Ansichten auf Linie bringen

Erzähl uns was! Warum eine gute Geschichte überzeugt und der Welt den Schrecken nimmt

EpilogLasst uns träumen! Ein kleines Plädoyer für Zuversicht und positiven Populismus

Quellen und Literatur

Literaturverzeichnis

Impressum

Prolog Ich muss nur wissen, was ich fühle

Warum hinter großen Meinungen oft kleine Empfindungen stecken

Herbst 2018, kurz vor der Landtagswahl in Bayern. In der Bundesrepublik Deutschland liegt der politische Puls gefährlich weit in anaeroben Regionen. Innenminister Horst Seehofer von der CSU trommelt unaufhörlich auf seine Brust, die Öffentlichkeit hyperventiliert. Die Große Koalition von Union und SPD wankt im ständigen Streit, alles dreht sich um das Thema Flüchtlinge, und in Bayern selbst stellt der Ministerpräsident Markus Söder kurz vor dem Wahltermin ein künftiges bayerisches Raumfahrtprogramm vor. »Bavaria One« lautet der Titel dieses verzweifelten Versuchs des amtierenden Freistaat-Häuptlings, irgendwie ein Thema zu setzen, das nichts mit Migration oder dem Zustand der Regierung in Berlin zu tun hat.

»Als John F. Kennedy angekündigt hat, einen Menschen zum Mond zu schicken, hat das auch eine ganze Nation, ach was, die ganze Welt elektrisiert«, könnte ein Berater aus dem Wahlkampfteam dem Ministerpräsidenten begeistert zugerufen haben, »Raumfahrt geht immer, das lässt die Leute träumen.« In der Tat, Kennedys Ankündigung des ambitionierten Raumfahrtplans gilt tatsächlich als eine der großen politischen Reden und als eine jener Visionen, welche die Menschen in ihren Bann gezogen haben. Doch das ist, auch das muss gesagt werden, schon eine ganze Weile her, und das Thema Mond ist nach einigen erfolgreichen Missionen irgendwie abgehakt.

Auf dem Logo zur bayerischen Mondfahrt ist ein stilisiertes Porträt Söders zu sehen, auf dem das CSU-Alphatier aussieht, als habe es sich als Astronauten-Teufelchen verkleidet. Man selbst sitzt als Teil des Wahlvolks zu Hause, betrachtet das Schauspiel, spürt eine Wallung aus Mitleid und Belustigung in sich aufkommen und denkt: »Echt jetzt, Markus, seid ihr bei der CSU wirklich dermaßen verzweifelt? Komm, wir bestellen dir noch eine Halbe!« Dann fällt einem ein, dass Söder angeblich immer Apfelschorle aus den Krügen trinkt, die er so gerne aus Bierzelten heraus in Pressekameras hält. Gut, dann gibt es eben kein Bier, eine bayerische Mondmission wird es schließlich auch niemals geben.

Mit einem spöttischen Blick auf die Inszenierungen des Politikbetriebs zu schauen, mag einen in gewisser Weise vor allzu großen Enttäuschungen bewahren. Die Distanz könnte auch helfen, die Illusion aufrechtzuerhalten, selbst zähle man keinesfalls zur Herde des so leicht manipulierbaren Stimmviehs. Die besteht ja ohnehin grundsätzlich immer aus den anderen und nie aus einem selbst. Aber in der quälenden Frage der eigenen Wahlentscheidung hilft einem diese Form der spöttischen Distanzierung keinen Millimeter weiter. Es ist so leicht, sich über den Politikbetrieb lustig zu machen, dass gelegentlich der Gedanke in den Hintergrund rutscht, dass es da ja auch um einen selbst geht, beziehungsweise man selbst mit den Entscheidungen zu leben hat, welche »die da oben« beschließen.

Also, wen wählen? Die CSU, deren Silberrücken sich so fest auf die eigene Brust hämmern, dass ein einziges Getöse durch den politischen Dschungel dröhnt und die anderen Dschungelbewohner langsam alle genervt die Augen verdrehen? Oder vielleicht doch die SPD? Aber ist es andererseits überhaupt opportun, dieser mehr und mehr verkümmernden Partei am Sterbebett noch die Hand zu halten und den Puls zu fühlen? Oder sollte der Auftritt der Sozialdemokraten in den Wochen und Monaten vor dieser Wahl nicht vielmehr als eine Art Patientenverfügung verstanden werden, die sich gegen jegliche Art der politischen Wiederbelebungsversuche in Form von Wählerstimmen verwehrt?

Natürlich könnte die eigene Wahlentscheidung auch taktisch ausfallen: Warum nicht den Grünen die Stimme geben? Die einstige Vollkorn-Partei wandelt sich schließlich gerade zur Volks-Partei, reitet auf einer großen Welle des Erfolgs und entwickelt sich zur Stimme des ökologisch-liberal-konservativen Bürgertums. Genauso gut ließe es sich aber taktisch begründen, der FDP die Stimme zu geben, damit die Liberalen es überhaupt in den Landtag schaffen. Das gleiche gilt für Die Linke, für die ebenfalls die Fünf-Prozent-Hürde zu einer unüberwindbaren Mauer werden könnte. Und die Freien Wähler? Das käme in Frage, wenn die eigentliche Wahl auf die CSU entfiele, man es aber wegen des Theaters in den Monaten vor der Landtagswahl nicht übers Herz brächte, der schwarzen Staatspartei die Stimme zu geben. Dann wäre da noch diese andere Partei, über die sowieso alle die ganze Zeit reden und wüten und über die deshalb an dieser Stelle weder geredet noch gewütet werden soll.

Die bayerische Landtagswahl 2018 mag bereits lange vergessen sein, das persönliche Dilemma vor der eigenen Wahlentscheidung bleibt jedoch bestehen und stellt einen zu jedem neuen Anlass vor das gleiche Problem: Welcher Partei die eigene Stimme geben? Eigentlich, also in der Theorie, sollte es ja um Sachthemen gehen, um sogenannte Inhalte, um Wahlprogramme. Aber ganz ehrlich, wer liest wirklich Parteiprogramme? Oder anders formuliert: Wer schafft es, die Programme aller zur Wahl stehenden Parteien zu studieren und nicht nur das jener Partei, der die eigenen Sympathien ohnehin gewiss sind?

Dem zeitknappen und chronisch hektischen Büromenschen der Gegenwart hilft in diesem Fall der Wahl-O-Mat. Da lässt sich im Internet innerhalb einer Viertelstunde abchecken, wie denn die eigenen Positionen zu zahlreichen Themen, mit denen der zur Wahl stehenden Parteien übereinstimmen. Die größte Herausforderung besteht – Überraschung, Überraschung – tatsächlich darin, zu vielen der Themenfelder überhaupt eine eigene Haltung zu formulieren, die über ein »Weiß ich doch nicht«, »Ist mir doch egal« hinausgeht. Sollen also Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in Städten ausgesprochen werden können? Soll allen Studenten unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern Bafög gewährt werden? Soll sich die bayerische Landesregierung für eine staatliche Regulierung des Milchpreises einsetzen? So klickt man sich tapfer durch die etwa 40 Fragen und stellt dabei fest, dass so gut wie jedes dieser Themen eigentlich eine gründliche Recherche erfordern würde. Jede Frage öffnet einen beängstigend weiten Horizont und konfrontiert einen mit der Einsicht, sich darüber bisher keine oder im günstigeren Fall sehr wenige Gedanken gemacht zu haben. Andererseits, wer außer Milchbauern grübelt wirklich ausgiebig über eine staatliche Milchpreis-Regulierung?

Am Ende spuckt der Wahl-O-Mat ein Ergebnis aus und gibt das Ausmaß der Übereinstimmung der soeben ermittelten Positionen mit denen der zur Wahl stehenden Parteien an. Das kann zu einem mittleren Schock führen, wie im Fall des Autors dieses Buchs, der im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl angesichts seiner personalisierten Wahlvorschläge arg ins Grübeln geriet: Auf Platz eins und zwei, mit beinahe identischer Quote der Übereinstimmung, standen zwei Parteien, die bisher jenseits meines politischen Horizonts lagen und die sich – so meine naive Vorstellung – gegenseitig ausschließen sollten. Es waren die FDP und Die Linke.

Keiner dieser beiden Parteien stehe ich bis heute in irgendeiner Form nahe – und das ist an dieser Stelle zunächst der einzig relevante Punkt und nicht, ob diese beiden Parteien für mich, für Sie oder sonst wen wählbar sind. Faszinierend ist jedoch, dass es zumindest aus inhaltlicher Sicht rational wäre, einer dieser Parteien die Stimme zu geben, wenn ihr Programm die größten Schnittmengen mit den eigenen politischen Ansichten aufweist. Ob diese Inhalte dann auch umsetzbar wären, das ist eine andere Frage, die an dieser Stelle erst einmal nicht wichtig ist. Aus emotionaler Sicht sträubte sich hingegen alles in mir, eine dieser beiden Parteien zu wählen. Egal wie groß die inhaltlichen Überschneidungen sein mögen, da sperrt sich etwas, da will etwas nicht. Ganz offensichtlich spielen bei der Frage nach der zu wählenden Partei rationale Beweggründe eine kleinere Rolle, als es einem eigentlich lieb sein sollte – schließlich empfindet man sich selbst ja doch als mündigen, halbwegs informierten Bürger.

Über die Nähe zu einer Partei entscheiden sehr viele kleine Faktoren. Zum Beispiel ist es relevant, welche Ansichten die eigenen Eltern vertreten und wo im politischen Koordinatensystem die eigenen Familienmitglieder verortet sind oder waren. Dabei spielt sogar die Genetik eine gewisse Rolle. Zum Fundament der eigenen politischen Ansichten trägt zu einem Teil auch das Erbgut bei; wie sehr, ist umstritten. Gewiss ist, dass es sich um einen von vielen Faktoren handelt.

Greifbarer sind die eigenen Erinnerungen und Erfahrungen aus der Jugend und Kindheit. Besonders relevant scheinen die Teenagerzeit zu sein sowie die Jahre bis zu einem Alter von Ende 20. Die großen Debatten, die in jener Altersspanne die Öffentlichkeit dominieren, prägen die politischen Zugehörigkeiten eines Menschen besonders stark. Auch die Haltungen der Freunde spielen eine wichtige Rolle, zumal die meisten engen Freunde ohnehin einen ähnlichen Wertekompass haben wie man selbst, sonst wäre man nicht mit ihnen befreundet. Auch Loyalitäten spielen eine Rolle, wobei es in vergangenen Jahrzehnten noch deutlich wichtiger war, zu welchem parteipolitischen Lager man sich zählte, als gegenwärtig. In Wahlen mit seiner Stimme zu einer anderen Partei überzulaufen, war mit größeren Bedenken und gar Gewissensbissen verknüpft, als das heute der Fall ist.

Es gibt viele Gründe für die Wahl einer Partei, aber am Ende fällt die Entscheidung dann doch aus dem Bauch heraus – indem man sich die Frage beantwortet, ob man diese oder jene Partei gut oder blöd findet. Nun, da es ja auch Routine ist, über »die Politiker« zu schimpfen und viele Menschen keine Partei aus voller Überzeugung unterstützen können, lautet die Frage vielleicht auch »Welche Partei finde ich am wenigsten doof?« So oder so, am Ende fällt eine Entscheidung, die auf Sympathie beruht, die von Gefühlen getragen wird, da kann der Wahl-O-Mat ausspucken, was er will. Genauso nähern sich die meisten von uns Wählern den Politikern selbst. Dann fragen wir uns, ob wir Angela Merkel oder Horst Seehofer irgendwie sympathisch oder unsympathisch finden, äußern Ansichten über das Äußere und das Auftreten von FDP-Chef Christian Lindner oder der Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt.

Dass solche oberflächlichen Erwägungen tatsächlich den Wahlentscheidungen sehr vieler Menschen zugrunde liegen, verdeutlicht eine Studie, die John Antonakis und Olaf Dalgas von der Universität Lausanne 2009 im Fachmagazin Science publizierten. Für diese baten die Forscher 5- bis 13-Jährige, Fotos von Kandidaten für die französische Parlamentswahl zu bewerten. Den Kindern reichte ein flüchtiger Blick auf das Foto eines Politikers, um dessen Wahlerfolg mit hoher Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Auf diese Weise prognostizierten die jungen Wahlforscher den Ausgang der Wahl mit verblüffender Genauigkeit: In etwa 70 Prozent der Wahlkreise tippten sie auf den Politiker, der später tatsächlich gewählt wurde. Sollten Wähler statt Parteiprogrammen also Gesichter lesen? Wenn auch Erwachsene nur auf ihr Gefühl statt auf Hochrechnungen vertrauen würden, könnten sie ebenfalls aussichtsreiche Kandidaten auf Fotos identifizieren.

Was genau aber sehen Menschen in Gesichtern, und wie zutreffend sind diese Eindrücke? Ein aussichtsreicher Kandidat sollte irgendwie kompetent aussehen. Dieser Eindruck nimmt Wähler zu seinen Gunsten ein – zumindest jene, die schlecht informiert sind und sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Also ziemlich viele. Aber steckt auch ein kompetenter Mensch hinter einem Antlitz, das diesen Eindruck vermittelt?

Warren Harding gilt – zumindest noch, aber ganz sicher nicht mehr lange – als miesester US-Präsident aller Zeiten. Doch das Gesicht des Republikaners verleitete Beobachter damals, zu Beginn der 1920er Jahre, zu regelrechten Hymnen. Seine Züge verrieten einen scharfen Intellekt, einen starken Willen, und sein Kinn weise darauf hin, dass er mit schier übermenschlicher Hartnäckigkeit gesegnet sei, schrieb zum Beispiel der Autor Georges Henri LeBarr 1922 in seinem Buch »Why You Are What You Are«, einem der damals populären Bücher über die Kunst des Gesichtslesens. Hardings Gesicht erweckte den Eindruck, dieser Mann sei für die Präsidentschaft wie geschaffen. Tatsächlich war seine Amtszeit von 1921 bis zu seinem Tod 1923 ein einziger Griff ins Klo. Ob ein Kandidat ein guter Politiker ist, das lässt sich also aus einem Foto nicht ableiten. Sein Antlitz verrät nur, ob er irgendwie kompetent oder sympathisch wirkt.

Es ist nicht ganz leicht mit dem Selbstbild eines aufgeklärten Menschen zu vereinbaren, aber am Ende fällt unsere Entscheidung aufgrund der einfachen Frage »Finde ich diese Politiker oder diese Partei irgendwie gut oder schlecht?« Gefühle oder Affekte bestimmen im Wesentlichen, was wir für richtig oder falsch, für gut oder schlecht halten. Wilhelm Wundt, der Begründer der experimentellen Psychologie, formulierte 1890 den sogenannten Vorrang der Affekte. Hinter dem Begriff »Affekt« verbergen sich kleine, automatische Gefühlseruptionen. Je nachdem, ob diese positiv oder negativ ausfallen, bereiten diese Instant-Wallungen einen Menschen darauf vor, sich dem Auslöser dieser Gefühlsschnipsel zu nähern oder sich von ihnen zu entfernen, was im Wesentlichen gleichbedeutend damit ist, etwas gut oder schlecht zu finden.

Wilhelm Wundt argumentierte in seinem 1896 erstmals erschienenen Standardwerk »Grundriss der Psychologie«, dass die menschlichen Affekte so eng mit der Wahrnehmung verknüpft sind, dass wir alles in unserem Blickfeld automatisch bewerten und in die Kategorien Gut oder Schlecht einsortieren. Das geschehe so rasch, sagt auch der amerikanische Moralpsychologe Jonathan Haidt, dass wir teilweise noch gar nicht richtig registriert haben, was wir da eigentlich gerade bewerten. Diese affektiven Blitzempfindungen setzten so unmittelbar ein, dass sie allen bewussten Gedanken vorauseilen und diese dann maßgeblich prägen, fasst der Psychologe in seinem Buch »The Righteous Mind« zusammen.

Überspitzt formuliert, könnte man sagen: Wir wissen, ob wir etwas gut oder blöd finden, bevor wir überhaupt wissen, was wir da überhaupt gut oder blöd finden. Wir reagieren in hohem Maße intuitiv auf unsere Umwelt – und auch, kleiner Sprung zurück, auf die Parteien und Politiker, die sich uns zur Wahl stellen. Die Emotionen spielen eine wesentliche Rolle bei der Bildung persönlicher Ansichten. Erst danach begeben wir uns auf die Suche nach Fakten, die zu diesen Gefühlen passen und die Proto-Meinung absichern und aushärten lassen.

Das hat auch weitreichende Folgen dafür, wie wir mit den Argumenten der verschiedenen politischen Lager umgehen. Unsere ganze Wahrnehmung richtet sich schließlich danach aus, auf diese Weise gebildete Ansichten aufrechtzuerhalten: Wir registrieren nur noch jene Vorgänge, die zu unseren Erwartungen und Ansichten passen – egal ob es um das Gefühl geht, stets in der falschen Schlange an der Supermarktkasse zu stehen, oder ob wir höchst relevante Entscheidungen treffen müssen, wie zum Beispiel für oder gegen eine medizinische Behandlung.

Moderne Untersuchungen haben die Studien von Wilhelm Wundt später belegt und verdeutlicht, wie unmittelbar die Affekte das menschliche Bewertungssystem steuern – zum Beispiel, wie bereits erwähnt, bei der Wahrnehmung von Gesichtern und der Entstehung erster Eindrücke. Das Urteil steht binnen Augenblicken fest. Als der Psychologe Alexander Todorov von der Princeton University seinen Probanden einmal Bilder von Kandidaten für die US-Senatswahl zur Beurteilung vorlegte, benötigten diese im Schnitt eine Sekunde, um zu einer abschließenden Meinung zu gelangen. Gemeinsam mit Janine Willis schrieb er im Fachjournal Psychological Science, dass weniger als 100 Millisekunden ausreichen, um eine Person als vertrauenswürdig, aggressiv, fröhlich, maskulin, feminin, dominant oder etwa zurückhaltend zu beurteilen. Da beansprucht ein Wimpernschlag mehr Zeit.

Ein flüchtiger Blick – und die Schublade ist geöffnet, der Mensch einsortiert. Die Affekte entscheiden, lange bevor sich der Intellekt langsam aus seinem Lesesessel erhebt und kapiert, was hier eigentlich los ist. Das Urteil wird auch nicht revidiert, wenn ein Antlitz länger und intensiver studiert werden kann. Der Mensch kategorisiert seine Mitmenschen, ob er will oder nicht, er bewertet andere binnen Sekundenbruchteilen – und liegt damit meist falsch, denn der Wahrheit sind seine Affekte am allerwenigsten verpflichtet.

Der erste, affektive Eindruck übt starke Wirkung aus und trübt das Urteilsvermögen. In den Versuchen von Todorov und Willis vertrauen Teilnehmer zum Beispiel selbst dann noch auf ihre erste Meinung, wenn sie bereits über zahlreiche andere relevante Informationen über einen Menschen verfügen, die deutlich mehr Aussagekraft haben als sein Aussehen. Erweckt das Gesicht eines anderen einen vertrauenswürdigen Eindruck, dann berücksichtigten Probanden sogar Aussagen über das Verhalten dieses Menschen kaum: wenn der andere so nett aussieht, muss das doch auch ein guter Mensch sein. Dabei wäre es unzweifelhaft wichtiger zu wissen, ob sich jemand in der Vergangenheit ehrlich oder unehrlich verhalten hat, statt blind auf dessen Aussehen zu vertrauen. Aber da sind uns die Gefühle längst davon galoppiert und lassen sich nicht mehr einfangen.

Nach dem gleichen Muster fällen wir automatisch affektive Urteile über alle möglichen Angelegenheiten, bilden auf diese Weise Meinungen und konstruieren daraus schließlich ein persönliches Weltbild. Und weil der Mensch nun mal dazu neigt, ein so hochkomplexes und unordentliches Wesen zu sein, gilt auch umgekehrt: Unser Weltbild verleitet uns dazu, über allerlei Angelegenheiten mehr oder weniger automatische, affektive Wertungen abzugeben, von denen wir kaum mehr abzubringen sind.

Wir sind Getriebene unserer Gefühle. Der amerikanische Comedian Stephen Colbert hat dafür einen sehr passenden Begriff geprägt: Truthiness. Das ließe sich als Wahrheitlichkeit übersetzen und beschreibt das höchst subjektive Gefühl, dass sich etwas irgendwie richtig und wahr anfühlt. Der Satiriker bringt damit auf den Punkt, worum es uns tatsächlich geht: Eine Behauptung muss sich nur wahr anfühlen. Ob sie auch wahr ist, spielt eine untergeordnete Rolle, Hauptsache es handelt sich um eine gefühlte Wahrheit.

»Ich bin kein Fan von Lexika oder Lehrbüchern, die uns ständig sagen, was wahr oder falsch ist«, ätzte Colbert in seiner Fernsehshow The Colbert Report. Statt in einem Buch nachzuschlagen, solle man seinen Bauch befragen, forderte der Comedian seine Zuschauer in wiederkehrenden Beiträgen auf. Er bezog sich dabei auf den ehemaligen US-Präsident George W. Bush und seinen mittlerweile viel zitierten Satz aus dem Jahr 2002: »Ich verbringe nicht viel Zeit damit, Meinungsumfragen rund um die Welt durchzuführen, um herauszufinden, ob das, was ich glaube, richtig ist. Ich muss nur wissen, was ich fühle.« Das ist Truthiness: Wahrheit aus dem Bauch statt aus diesen naseweisen, besserwisserischen Büchern! Und jeder, der jetzt abfällig über die geistige Faulheit der anderen Menschen grinst, dem sei gesagt: Wir alle ticken so, auch der Autor dieses Buches!

Das Primat der Gefühle erlebt derzeit einen ausgesprochenen Aufschwung. An Universitäten in den USA und Europa werden subjektive Erfahrungen in manchen Disziplinen, etwa den Genderstudies oder anderen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften in den Rang empirischer Erkenntnisse gehoben. Auto-Ethnographie nennt sich zum Beispiel eine Methodik aus den Geistes- oder Sozialwissenschaften, die sich auch böse als »Ich empfinde das so, deswegen ist das so« übersetzen ließe, eine Art Tagebuchschreiben, die als wissenschaftliche Methode gilt. An amerikanischen Universitäten protestieren regelmäßig Studenten gegen die Auftritte politischer Redner, deren Meinung sie ablehnen. Und sehr häufig führen sie als Begründung nicht viel mehr an, als dass deren Meinungen bei ihnen Unbehagen auslöse, sie wütend mache und sie sich durch den geplanten Auftritt unsicher fühlten. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums in den so zerrissenen USA tragen Trump-Fans T-Shirts mit der Aufschrift »Fuck Your Feelings«, nur um ihrerseits den eigenen Affekten und den daraus resultierenden gefühlten Wahrheiten zu vertrauen. Die Idioten sind immer die anderen, oder: Die falschen Gefühle hegt stets die Gegenseite. So kann jeder in der großen Selbstgewissheit leben, dass er auf der richtigen Seite steht und zu den Menschen zählt, welche die Wahrheit erkannt haben.

Dennoch ist es jedes Mal eine unangenehme Überraschung, wenn ein anderer die Dinge grundsätzlich anders sieht als man selbst. Wenn einem ein Thema auch noch am Herzen liegt, kann einen so eine Kontroverse regelrecht in Verzweiflung stürzen: Wie kann es nur sein, dass der andere so ahnungslos ist, lautet dann meistens die verzweifelte Frage an das eigene Selbst. Und die Gegenseite? Die stellt sich die gleiche Frage. In den USA, wo sich Republikaner und Demokraten zunehmend unversöhnlich und feindselig gegenüberstehen, behaupten beide Lager in Befragungen regelmäßig, dass die jeweils andere Seite die Fakten nicht kennen würde. Es sei sinnlos, mit Republikanern oder Demokraten zu streiten, sagen die frustrierten Diskutanten, zeigen mit ihrem Finger auf den jeweils anderen und maulen: »Die sind ja nicht mal in der Lage, die Realität anzuerkennen!«

Affektheuristik nennen es Psychologen, wenn sich Urteile aus Gefühlen bilden. Heuristiken sind mentale Faustregeln, nach denen Menschen intuitiv denken und schließlich handeln – in der Regel, ohne sich dieser Prozesse bewusst zu werden. Der Psychologe Paul Slovic demonstrierte in einer viel zitierten Arbeit aus dem Jahr 1999, wie Gefühle oder Affekte, die von einem Thema geweckt werden, die Einstellung dazu beeinflussen. Slovic bat seine Probanden um Urteile zu umstrittenen Themen wie der Fluoridierung von Trinkwasser, Konservierungsstoffen in Lebensmitteln oder Verfahren der chemischen Industrie. Dabei zeigte sich stets: Wer zum jeweiligen Thema eine negative Grundeinstellung hegte, nannte hohe Risiken bei zugleich geringem Nutzen; wer aber eine der Technologien von vornherein positiv betrachtete, der vermutete einen großen Nutzen bei zugleich überschaubarem Risiko. Erst kommt das Gefühl, dann die Aussage über das Verhältnis von Nutzen und Risiko.

Das gilt für Experten wie Laien gleichermaßen. Wie Daniel Kahneman von der Universität Princeton berichtet, bewerteten in einer Studie selbst Mitglieder der Britischen Toxikologischen Gesellschaft Gefahren und Nutzen einzelner Substanzen nach diesem Muster. »Die Affektheuristik vereinfacht unser Leben, indem sie eine Welt erschafft, die viel geordneter ist als die Wirklichkeit«, schreibt der Psychologe in seinem Buch »Schnelles Denken, langsames Denken«. »In der imaginären Welt, in der wir leben, haben gute Technologien nur geringe Kosten, schlechte Technologien haben keinen Nutzen, und alle Entscheidungen sind leicht.« Die wirklichen Risiken und den tatsächlichen Nutzen einzuschätzen, besteht jedoch aus fisseliger Detailarbeit. Nur ein Beispiel: 2009 wurde über die Auswirkungen der gentechnisch veränderten Maissorte MON 810 auf Marienkäfer und andere Insekten gestritten. Zwei Arbeitsgruppen konnten sich dabei nicht einmal darauf einigen, wie Marienkäferlarven ihre Mundwerkzeuge einsetzen. Das klingt absurd, war aber eine relevante Teilfrage.

Fisselige Detailarbeit scheuen wir Menschen jedoch in aller Regel. Dieses Unbehagen offenbart sich zum Beispiel schon dann, wenn wir das Entscheidungshilfsmittel Wahl-O-Mat angeworfen wird, um auf der Suche nach einer wählbaren Partei ein wenig an die Hand genommen zu werden. Es ist wirklich lästig, über das Für-und-Wider von Diesel-Fahrverboten in den Innenstädten nachzudenken. Besonders dann, wenn man selbst erstens kein Dieselfahrzeug besitzt, zweitens vor allem mit dem Fahrrad fährt und drittens emotional nicht besonders involviert ist, weil einem andere Themen eher am Herzen liegen. Am Ende lautet die persönliche Antwort: »Ich weiß nicht recht, vielleicht wäre das sinnvoll, aber sicher bin ich mir nicht.«

So geht es den meisten von uns bei sehr vielen Themen. Aber wie soll das auch funktionieren, wie soll ein Einzelner stets alle relevanten Fakten kennen und evaluieren, um so zu einer wirklich fundierten Meinung zu gelangen? Das geht schon aus pragmatischen Gründen nicht, ein Leben ist nicht lang genug, um das auch nur für ein einziges großes Thema zu schaffen. Es funktioniert auch aus psychologischen Gründen nicht, denn wir haben ja schon feste Meinungen, die vielleicht kein echtes Faktenfundament haben, die wir aber trotzdem ziemlich wichtig und gut finden.

Das ist tragisch, denn eine funktionierende Demokratie ist auf gut informierte, mündige Bürger angewiesen. Auf der anderen Seite wird die Wählerschaft regelmäßig mit Fragen konfrontiert, die selbst Experten überfordern. Nehmen wir zum Beispiel die Brexit-Entscheidung Großbritanniens. Die Bürger des Landes waren 2016 aufgerufen, über den Verbleib ihrer Nation in der Europäischen Union abzustimmen und entschieden für einen Austritt. In den chaotischen Monaten nach dem Referendum zeigte sich nach und nach, dass selbst hochrangige Befürworter eines Austritt Großbritanniens aus der EU nicht den Hauch einer Ahnung hatten, wie das eigentlich funktionieren sollte und welche Konsequenzen das haben könnte. Viele von ihnen hatten offensichtlich nicht einmal einen Schimmer davon, wie diese vermaledeite EU eigentlich aufgebaut ist und wie sie funktioniert. Ein Land aus einem multinationalen Staatengebilde herauszuoperieren, in das es mehr als 40 Jahre immer enger eingebunden worden war, ist eine unfassbar komplexe Angelegenheit. Dagegen ist die Scheidung eines Paares mit fünf Kindern ein Spaziergang.

Bei der Entscheidung während des Referendums im Jahr 2016 spielte für Wähler wie wohl auch für die führenden Köpfe des Leave-Lagers nur eine Frage eine Rolle: »Finde ich die EU gut oder blöd?« Wer einmal das Wagnis eingegangen ist, die britische Boulevard-Presse zu lesen, der weiß: Die Wählerschaft wurde dort über Jahrzehnte mit schlimmen Räuberpistolen über die verderbte EU und die bösen Bürokraten in Brüssel gefüttert, die nichts anderes im Sinne haben, als die stolze, große britische Nation zu knechten, zu unterjochen und zu drangsalieren. Da kannten die Affekte vieler Menschen vor allem eine Richtung – weg von der EU.

Auch die situativen Umstände können ein Urteil nachhaltig prägen – die aktuelle Laune zum Beispiel. Aus Versuchen ist bekannt, dass eine gute Stimmung auch mit der Tendenz einhergeht, mehr oder weniger alles zu glauben, was einem erzählt wird. In diesem Zustand fällt vieles leicht, und was einem leichtfällt, fühlt sich für Menschen gut und richtig an. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von der kognitiven Leichtigkeit. Ist die Stimmung hingegen verhagelt, funktioniert das Gedächtnis besser, fördert dies das analytische Denken und reduziert einige chronische Fehler des menschlichen Geistes. In mieser Stimmung strengen sich Menschen automatisch mehr an, die Informationen um sich herum wahrzunehmen. Das geht auf Kosten der kognitiven Leichtigkeit, und das reduziert den Eindruck, etwas sei wahr. Schlechte Stimmung erhöht also die Neigung zum Skeptizismus und verbessert die Fähigkeit, Mythen von Fakten zu unterscheiden.

So oder so, wir alle ziehen unsere Emotionen zu Rate, um Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen – ohne es zu merken. Wir stellen uns die Frage »Finde ich das gut oder schlecht?«, wo eigentlich die richtige Frage wäre »Wie sieht die Faktenlage aus?« Die Fakten scheren uns im Übrigen so gut wie gar nicht, wenn unsere Emotionen das Ruder übernehmen. Wer im Flugzeug Angst hat, lässt sich auch nicht davon beschwichtigen, dass es sich um das statistisch sicherste Verkehrsmittel handelt und eine Fahrt im Auto wesentlich riskanter wäre. Er hat Angst, und Angst pfeift auf Fakten.

Nach dem gleichen Prinzip lassen sich auch Vorbehalte gegen Flüchtlinge nicht mit Fakten aus dem Weg räumen. Immer wieder präsentieren Wissenschaftler Studien und Zahlen, die zeigen, dass die meisten Befragten den Anteil von Menschen ausländischer Herkunft in ihrem Land zum Teil drastisch überschätzen und auch eine vollkommen verzerrte Vorstellung davon haben, wie sich etwa die Kriminalitätsstatistik in ihrem Land durch den Zuzug von Migranten entwickelt hat. Wer Vorbehalte oder gar Hass gegen Migranten hegt, lässt sich durch Zahlen nicht davon abbringen. Wenn die offiziellen Statistiken seinen Vorbehalten widersprechen, erschüttert das seine Meinung keinesfalls. Das Unbehagen, die Ablehnung, bleibt bestehen. Die Affekte, die Gefühle, haben längst ein Urteil gefällt, und gegen dieses ist keine Revision vorgesehen.

Unsere Meinungen und unser Weltbild werden wesentlich von unseren Wünschen, Sehnsüchten, unseren Ängsten und Hoffnungen, von unserem Selbstbild und unserem Umfeld geformt. Meinungen sind ein kostbares Gut, wir schätzen unsere Ansichten sehr, vor allem jene, die zentral für unser Selbst sind. Manche Wissenschaftler vergleichen Meinungen sogar mit kostbaren Besitztümern: Wir hängen an ihnen und geben sie nur sehr, sehr ungern auf. Warum? Weil uns Überzeugungen genauso glücklich machen können wie materieller Besitz. Es tut so gut, recht zu haben; es ist so schön, auf der richtigen Seite zu stehen, und das soll auch so bleiben. Da braucht uns niemand mit Logik oder mit Tatsachen zu kommen, wir geben doch unseren Schatz nicht auf! Oder wann ist es Ihnen zum letzten Mal gelungen, jemanden in einer Diskussion vom Gegenteil seiner eigenen Ansichten zu überzeugen? Eben, das mag klappen, wenn es um die Abfahrtszeiten eines Busses geht oder die Frage, wie denn eigentlich die Hauptstadt von Burkina Faso heißt. In solchen Fällen verknüpfen sich auch keine großen Emotionen mit den Antworten, hier sind keine Leidenschaften im Spiel. In solchen Fällen dürfen Fakten auf die Bühne treten.

Aber versuchen Sie einmal, einen gläubigen Christen zum Atheisten zu machen. Versuchen Sie, einen erbitterten Gegner der Europäischen Union davon zu überzeugen, dass die Staatengemeinschaft das Fundament des Friedens ist und die Nationen zusammenhalten müssen, um stark zu sein. Versuchen Sie in einer Diskussion über Geschlechtergerechtigkeit die Positionen der Teilnehmer zu verändern oder einen Anhänger des Marktliberalismus für stärkere Umverteilung und höhere Besteuerung zu begeistern. Versuchen Sie den Anhänger einer Verschwörungstheorie aus seinem Wahnsystem zu befreien – Sie werden scheitern.

Sie werden sich die Zähne ausbeißen, weil diese Meinungen für die jeweiligen Menschen quasi heilig sind, ein kostbarer Besitz, der für sie von zentraler Bedeutung ist. Diese Meinungen wegzunehmen, würde große Schmerzen erzeugen. Denn umgekehrt verleihen uns unsere Kernüberzeugungen Halt, Orientierung und – grob vereinfacht – gute Gefühle. Deswegen reagieren wir mit großer Offenheit auf Informationen, die uns scheinbar recht geben, denn sie versetzen uns in gute Stimmung. Und wir meiden solche Aussagen, die unsere Kernüberzeugungen erschüttern könnten.

Gegenwärtig schreien viele Stimmen durcheinander und plärren etwas von Fake News, allen voran der Reality-TV-Rüpel im Weißen Haus. Andere führen das Wort von der Lügenpresse im Mund oder schmähen die Gegenseite fast reflexhaft als sexistisch oder rassistisch. Die treibenden Reflexe dahinter stecken seit jeher im Menschen. Allem Geschrei über ein vermeintlich postfaktisches Zeitalter zum Trotz: Die Menschen ticken schon immer so. Neu ist hingegen das Ausmaß. Die Digitalisierung hat Bedingungen geschaffen, unter denen Lüge und Wahrheit, Gerüchte und Fakten nur noch sehr schwer voneinander zu trennen sind und jeder eine kleine Echokammer finden kann, in der er sein Weltbild mit passenden Informationen füttern und nähren kann.

Welche versteckten psychischen Faktoren beeinflussen also unsere Meinungen und unseren Umgang mit Informationen, wenn Fakten eine so deprimierend unwichtige Rolle spielen? Unter welchen Umständen wirken Informationen glaubwürdig, und unter welchen Bedingungen weisen wir korrekte Fakten zurück? Wie gehen wir überhaupt mit Informationen um – welche lassen wir an uns heran und welche lehnen wir reflexartig ab?

Höchste Zeit, sich damit zu beschäftigen, nach welchen Prinzipien der Richter im Geist eines jeden Menschen seine Schnellurteile fällt und wie er zu seinen Entscheidungen kommt, die er dann langfristig für richtig hält. Höchste Zeit, nach den psychologischen Fundamenten unserer Meinungen zu fahnden und zu fragen: Wie entstehen die vielen gefühlten Wahrheiten, die jeder von uns in sich trägt?

Nachrichten vom Pressesprecher

Warum wir erst eine Meinung haben und sie dann nachträglich begründen

Manchmal, aber nur manchmal entpuppen sich zunächst großartige Ideen als granatenmäßig grober Unfug. Besonders häufig geschieht das während der Kindheit, der Pubertät und natürlich im Kontext einer Partnerschaft. Auf einmal blitzt da dieser Gedanke im eigenen Schädel auf, dass es doch jetzt eine ziemlich gute Sache wäre, zum Beispiel noch ein paar Bier zu trinken und weiter durch die Nacht zu ziehen. So jung kommen wir nie wieder zusammen! Lass uns den Moment gemeinsam feiern, meine Güte, jetzt hauen wir zusammen ordentlich aufs Brett! So vergehen die Stunden, aus ein paar Bieren werden doch ein paar zu viele, und schließlich wanken die Feiernden mit schwerer Schlagseite nach Hause. Der Kater am Morgen danach wütet im Kopf und lässt den Schädel schier zerplatzen. Mist, Mist, Mist.

Dummerweise ist es auch noch unmöglich, sich den ganzen Tag im Bett zu verkriechen, dann am Abend vielleicht doch langsam wieder etwas zu essen und vor dem Fernseher den Restkater auszusitzen. Stattdessen muss man funktionieren. Es ist ein normaler Wochentag, bei der Arbeit ist eine wichtige Präsentation angesetzt, die noch nicht einmal fertig ausgearbeitet ist. Oder es steht eine gemeinsame Unternehmung mit dem Partner an, die lange geplant und vorbereitet ist, dummerweise beinhaltet sie auch den Fluch des Frühaufstehens. Noch eine Variante des maximal möglichen Katerunglücks: Am Tag nach der Zechtour ist man alleine mit den Kindern zu Hause, die in einem Alter sind, in dem sie erstens viel Aufmerksamkeit brauchen und zweitens am Wochenende hässlich früh aufstehen. Willkommen im Fegefeuer des Alltags und der eigenen Doofheit.

Egal, wer in solchen Fällen die Rolle des strengen Richters übernimmt – man selbst, der Partner, im Falle pubertärer Untaten: die Eltern –, die erste und alles entscheidende Frage im folgenden Kreuzverhör lautet jedes Mal: »Was hast du dir nur dabei gedacht?« Die ehrliche Antwort darauf lautet im Fall der beschriebenen Zechtour: »Nichts.« Erst wenn der Partner, die Eltern oder das eigene schlechte Gewissen explizit nach einer Erklärung verlangen, beginnen wir, nach Antworten und Erklärungen zu suchen.

Im Reich der eigenen Meinungen verhalten wir uns genauso: Am Anfang steht das Ergebnis, wir hatten Lust, uns zu betrinken, erst dann folgt die Begründung und die Antwort auf die Frage »Was hast du dir nur dabei gedacht?«. Die Affekte fällen ein automatisches Urteil über eine Angelegenheit und heben oder senken den inneren Daumen. In diesem Moment steht ein Urteil fest: Zustimmung oder Ablehnung. Aber die Begründung des Richterspruchs steht noch aus. Es fehlt die Antwort auf die Frage, warum ein Urteil so ausfällt, wie es ausfällt: Warum sollten Flüchtlinge aus fernen Kriegsgebieten aufgenommen werden – oder nicht? Warum sollten Geschlechterquoten für Führungspositionen in Betrieben eingeführt werden – oder nicht? Warum sollte die Organspende künftig so organisiert werden, dass jeder Bürger automatisch als Spender gilt, außer er entscheidet sich explizit dagegen – oder nicht?

Erst wenn Menschen explizit nach einer Begründung ihrer Meinungen gefragt werden oder ihre Ansicht dazu formulieren sollen, überlegen sie selbst, welche Gedanken eigentlich hinter ihrer Haltung stecken. Wenn wir unsere Meinungen und Ansichten formulieren, handelt es sich im Wesentlichen um sogenannte Post-hoc-Erklärungen, also um nachträgliche Rechtfertigungen. Erst steht die Meinung, dann beginnt die bewusste Suche nach Gründen, um diese Intuitionen auch abzusichern.

Erst das Gefühl, dann die Vernunft – nach diesem Muster denken wir in vielen Situationen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Das haben die Psychologen Richard Nisbett und Timothy Wilson einmal in einer mittlerweile klassischen Studie aus der Sozialpsychologie demonstriert. Immer wieder werden wir im Alltag mit Fragen nach unseren Beweggründen für viele verschiedene Angelegenheiten konfrontiert. »Warum hast du den Job angenommen?« oder »Warum magst du die Kollegin?« oder »Wie hast du das hinbekommen, dieses Problem zu lösen?« Sehr vielen fällt darauf nicht automatisch eine schlüssige Antwort ein, weil uns in den meistens Situationen der unmittelbare, beobachtende Blick auf unsere kognitiven Prozesse fehlt, argumentieren Nisbett und Wilson. Es kostet enorme Mühe, das eigene Denken zu durchschauen und genau den Finger darauf zu legen, welche Fakten eigentlich die Grundlage der eigenen Überzeugungen sein könnten, zumal auch noch die Emotionen ständig dazwischen funken. Nur selten offenbaren sich die Wege des bewussten Denkens so klar und deutlich, dass diese auch formulierbar sind.

Der Moralpsychologe Jonathan Haidt hat daraus ein überzeugendes Modell entwickelt, die sogenannte Theorie der moralischen Fundamente – die Moral Foundations Theory