Der Kreis des Weberknechts - Ana Marwan - E-Book

Der Kreis des Weberknechts E-Book

Ana Marwan

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Beschreibung

Karl Lipitsch mag keine Menschen. Er wohnt alleine, da er eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft hegt und Gespräche meiden möchte. Häufig sitzt er lesend im Garten oder schreibt an seiner umfassenden philosophischen Abhandlung. Doch die Überzeugung, fortan als Einsiedler in Einsamkeit zu leben und damit glücklich zu sein, gerät schnell ins Wanken. Durch einen Zufall (sofern es denn tatsächlich einer war) macht er nähere Bekanntschaft mit seiner Nachbarin Mathilde. Beide umkreisen den anderen, jeder in der Überzeugung, der Überlegene zu sein. Und so beobachten wir Lipitsch bei seinen Bemühungen, ihr nicht ins fein gesponnene Netz zu gehen. Doch je mehr Lipitsch zappelt, desto kräftiger verfängt er sich in Mathildes Fäden...

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Seitenzahl: 182

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Ana Marwan

Der Kreis desWeberknechts

Roman

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1271-9

eISBN 978-3-7013-6271-4

© 2019 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Sefan

Coverbild: Tone Lapajne (akademischer Bildhauer, 1933-2011,

Lubljana, Slovenija): Njive (Felder), 1985, Erde auf Jute, 50 x 40 cm,

Privatbesitz. Reproduktion: Boštjan Lapajne

Gestaltung: Leopold Federmair

Das Zitat auf S. 18 stammt aus: Molière, Der Menschenfeind,

übersetzt und herausgegeben von Hartmut Köhler, Reclam, 1993

Lipitsch dachte kurz darüber nach, dass der Flieger abstürzen könnte. Daran denkt doch jeder mal kurz, ob mit oder ohne Flugangst. Er dachte an die Berichterstattung danach: „224 Passagiere sind gestorben, darunter drei Kinder (… Und jetzt zum Wetter).“ Er dachte über die Beweggründe nach, die Kinder zu betonen. Er kam zum Schluss, es müsse daran liegen, dass man bei ihnen noch nicht sicher sein konnte, ob sie sich zu einem namenlosen erwachsenen Passagier entwickeln würden, denn es war durchaus möglich, dass einer von ihnen ein namhafter Passagier geworden wäre, dessen Tod womöglich sogar einen eigenen Artikel verlangen würde. Das war für ihn die plausibelste Erklärung. Ein Name ist viel wert auf dieser Welt, sonst geht man in der öffentlichen Wahrnehmung nur in der Gesamtsumme auf, zu der man nicht mehr als 1 beitragen kann und damit leben muss, dass beim Sterben die ‚je-höher-die-Gesamtzahl,-desto-tragischer-das-Ereignis‘-Devise gilt. Und man hat oft genug das Pech, alleine zu sterben.

Alleine zu leben, hingegen, bedeutete für Lipitsch das höchste Glück. Er lebte seit einem halben Jahr in einer Art Einsamkeit, die er vollkommen nannte. Dieser Flug in die Gesellschaft und zurück war nur eine kurze Störung, die ‚nichts zu bedeuten hatte‘, nichts zu bedeuten hätte haben sollen, störte aber deshalb nicht weniger, eher mehr – ein Sinn ist im Leben immer gefragt… Er hätte vielleicht doch lieber nicht zum Begräbnis fahren sollen; die Menschenmenge dort, die Menschenmenge hier am Flughafen… Von den Einzelnen ganz zu schweigen. Warum war er eigentlich wirklich hingefahren? Er hatte den Verstorbenen seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen, und trotzdem meinte er, er musste, es wurde von ihm erwartet, und ließ dabei die Tatsache, dass er schon seit Langem unermüdlich all seine Kräfte einsetzte, darauf zu pfeifen, was die anderen von ihm erwarteten, vollkommen außer Acht. Er war nicht bereit, sich einzugestehen, dass er eigentlich schon ein wenig Angst davor hatte, von niemandem mehr erwartet zu werden; nicht bereit zuzugeben, dass er diese Gelegenheit ergriffen hatte, um sich zeigen zu können, ja zu müssen, um nicht vollkommen vergessen zu werden. Aber so war es, seien wir uns ehrlich: Das Gedenken an einen anderen hatte er sich zu Nutze gemacht. Die Einsamkeit, die er anstrebte, war als ewig gar nicht so begehrenswert – nur als einen vorübergehenden Zustand wollte er sie für immer beibehalten.

Kurz vor dem Begräbnis zeigte sich Gerda am Boden zerstört, sie weinte und weinte. Als sie ihm die Hände entgegenstreckte und ihn anschaute, um ihm ihre kostbaren Tränen zu zeigen, kleine Perlen, Statussymbole, die ihren inneren Reichtum zum Ausdruck brachten, das innere Leben im Überfluss, das sowohl symbolisch als auch wortwörtlich hinüberfloss, hätte er ihr am liebsten eine Ohrfeige gegeben, verkniff es sich aber, nicht nur, weil es unmöglich war, sondern auch, weil er es für mehr als wahrscheinlich hielt, dass sie ihm im Genuss ihres Leidens einfach auch noch die andere Wange hingehalten hätte.

Aber so weinen durfte man nicht, wenn man nach, lass uns sagen, Gottes Willen, ein Spielzeug während unser Nächster gleichzeitig ein Bein verloren hatte. Mitleiden hätte sie müssen statt leiden, entschied Lipitsch, der kein Mitleid hatte, und wenn er es schon theoretisch hätte haben können, wurde es angesichts der Tränen auf einem Gesicht immer vertrieben, Tränen waren inakzeptabel wie Ohrfeigen, hatte er ja von der Mutter gelernt, und außerdem waren sie geschmacklos, hatte er von dem Kunstprofessor Herrn Doktor Schmidt gelernt. Gerda hingegen hatte in ihrem ganzen Leben nichts gelernt, sie musste nichts lernen, weil es nie Konsequenzen gegeben hatte. Ohrfeigen waren nicht vergeben worden, und alle anderen Folgen sah sie als von ihr unabhängige Entwicklungen in der Zeit. So wenig Selbstbezogenheit bei der Schuldzuweisung war schon überraschend bei einer Person zu beobachten, die ausschließlich nur sich selbst sah, aber sie sah sich halt nur zu – dem armen schönen Ding im Sturm des Lebens. Damit war auch Lipitsch einverstanden: Sie war ein armes, schönes Ding.

Gerda hingegen mochte Lipitsch durchaus gern, weil er sie einmal geliebt hatte. Sie vertraute ihm später am Abend an, ganz leise, dass sie der Verstorbene um eine Kleinigkeit, einen kleinen Gefallen, gebeten hatte, sie dann immer wieder höflich daran erinnert hatte, es war ihm sichtlich unangenehm gewesen, wiederholt bitten zu müssen, und sie hatte ihm jedes Mal versichert, sie würde es sobald wie möglich für ihn erledigen. Das unverbindliche ‚sobald wie möglich‘; manchmal auch ‚sobald als möglich‘, als ob es sogar noch ein wenig früher als möglich möglich wäre. Nein, es ist ganz egal, worum es ging, es tut nichts zur Sache, es ist belanglos und jetzt in diesen schwierigen Zeiten war nicht die Zeit, auf Belanglosigkeiten einzugehen. Wie dem auch sei, sie hatte es jetzt getan, natürlich, es war eine Art Ritual, ihr ganz privates Begräbnis, eine Gewissensreinigung, aber es nagte immer noch an ihr, manchmal so sehr, dass sie weinen musste. Sie wusste, es würde mit der Zeit besser werden, Zeit hat keinen Respekt vor Wunden. Und sie musste auch ehrlicherweise zugeben, dass es ein wenig half, dass Leute das verspätete Erfüllen ihres Versprechens einstimmig als ‚eine schöne Geste‘ beschrieben.

Lipitschs Gefühle waren gemischt. Er war weder bereit, das eine schöne Geste zu nennen, noch war er bereit, Gerda zu trösten. Er konnte sie jedoch verstehen, das war auch schon etwas. Der Mann ist tot, es lebe das schlechte Gewissen! Er hatte seine eigenen Erfahrungen damit gemacht (Lipitschs Vorstellungsvermögen war begrenzt, er konnte nur Dinge verstehen, mit denen er selbst schon Erfahrungen gemacht hatte). Aber ja, man verschiebt Dinge. Man tut sie nicht gleich, weil man gerade viel um die Ohren hat und Besseres zu tun, und außerdem glaubt man nicht, dass etwas wirklich Schlimmes, etwas Unwiderrufliches passiert, obwohl man gerne als pessimistisch und negativ beschrieben wird, aber das ist nicht zwangsläufig ein Widerspruch, weil ein wirklich negativer Mensch immer der Meinung ist, dass die Scheiße, in der er steckt, unmöglich tiefer sein könnte, also kann alles nur besser werden. Und dann tut man Dinge, die man verschoben hatte, wenn es schon zu spät ist, und man könnte sich das Ganze eigentlich ruhig sparen, aber man tut es trotzdem, um das schlechte Gewissen zu stillen. Vorher hat der Mann mit seinen Bitten an einem genagt, danach das schlechte Gewissen. Lipitsch persönlich hatten die verspäteten Wiedergutmachungen immer gut geholfen: Das schlechte Gewissen gestillt, die Brust schnell entzogen.

„Schreib mir“, sagte sie ihm beim Abschied. „Wirst du mir schreiben?“ fragte sie gleich danach, sinnlos, denn Lipitsch hatte schon genickt gehabt, aber ein Kopfnicken alleine ist meistens nicht Versprechen genug, um ein schlechtes Gewissen beim Brechen dessen hervorzurufen, sie wollte ihn zwingen zu sprechen – je mehr Zeit, in Worten gemessen, dem Anliegen gewidmet wird, desto schlechter das Gewissen, das dann zur Erfüllung drängt, dachte sie, und obwohl sie im Moment die Macht des schlechten Gewissens ziemlich überschätzte, war es Lipitsch unangenehm genug, er sprach ausschweifend, versprach sich einige Male, wie immer, wenn er die Wahrheit vermied, schaffte es aber trotzdem, letztendlich nichts zu versprechen.

„Ich schreibe wirklich rund um die Uhr an meinem Werk“, schloss er ab.

„Ach ja, wie kommt dein Ding voran?“ mischte sich Christoph ein, der in der Nähe gestanden war.

Christoph hörte immer zu, wenn Leute leise redeten, nur die leise Redenden interessierten ihn, nur was nicht für seine Ohren bestimmt war, interessierte ihn, und er gab das mit seinem Einmischen auch ganz ungeniert zu.

„Mein Ding… kommt gut voran.“

„Worum geht’s?“

„Es ist sehr komplex. Es ist eine ontologische Theorie.

Also allumfassend. Also schwer zusammenzufassen.“

Christophs Achtung konnte nur im Ungewissen bestehen, und da hielt ihn Lipitsch immer gerne.

„Allumfassend! Das ist aber nicht gerade bescheiden…“

„Nein, ist es nicht“, nahm Lipitsch das Kompliment an.

Eitelkeit zeigte sich in kurzen, aber regelmäßigen Blitzen hier und da sogar angesichts des Todes schamlos. Hier als Neid, da als goldener Ohrring. So ist halt das Leben – eitel. Man kann nichts dafür. Lipitsch legte seine Hand auf Gerdas, die die Zärtlichkeit als Trost, mit Tränen und Worten bitter verdienten Trost dankbar entgegennahm, und es war für sie aus ihrer Tiefe heraus unmöglich zu erkennen, dass die verbindende Geste einfach nur dazu diente, Christoph auszuschließen.

„Worte, Worte, etc.…“ Sie nahmen kein Ende. Menschen scheinen sich mit dem Reden immer vom Denken ablenken zu müssen, stellte Lipitsch fest; und in jedem Wort, das er während seiner kurzen Reise hörte, fand er eine weitere Berechtigung für seine Abgeschiedenheit, deren warme Umarmung er kaum erwarten konnte.

Es waren also die Worte, die das Warten am Flughafen nur noch schwerer zu ertragen machten. Ja, Lipitsch hasste Wartesäle wie sonst keinen anderen Raum. Warten an sich ist schon schlimm, in einem Wartesaal zu warten, ist tausendmal schlimmer. Man versucht zu lesen, aber die Wortflüsse strömen aus allen Mündern und münden in einen Lesenden. Ja, wenn man einen Menschen hat, darf man lauter werden, lauter wirres Zeug reden und stören, wenn man nur ein Buch hat, das zum freien Erwerb jedem offen steht, muss man still sein und darf gestört werden. Laut lesen ist natürlich gesellschaftlich unakzeptabel, man wird als gestört abgestempelt, obwohl das Mitgeteilte gut formuliert und von Profis auf Fehler überprüft worden ist, mein Gott.

Immerhin durfte sich Lipitsch unter Fremden, die sich wieder einmal großzügiger als seine Freunde erwiesen, gänzlich abschalten. Mutter Natur hatte uns zwar die Möglichkeit, die Ohren zu schließen, verwehrt, was man ihr aber nicht vorwerfen möchte, sicherlich hatte sie es gut mit uns gemeint. Es mag einmal, als wir als Menschheit noch jung waren, gefährlich gewesen sein, Signale aus der Umgebung zu überhören; aber es sind so viele unnötig geworden, dass wir später bei Vater Gott um die Geduld bitten mussten. Lipitsch, der kleine Rebell, benutzte hingegen einfach Ohropax. In der Tat eine schöne Erfindung, die unsere sichere Gesellschaft bitter nötig hat – nachdem man sich die Ohren verstopft hat, muss man nur noch den inneren Frieden finden, der natürlich auch allzu häufig von anderen Menschen gestört wird, die jedoch in diesem Fall dafür noch weniger als sonst zur Rede gestellt werden können, aber auf sich alleine gestellt wollte ja Lipitsch schon immer sein, vom Reden, von dem er sowieso kein Fan war, ganz zu schweigen.

Nachdem sein Flieger glücklich gelandet war, war das, aller Flugangst davor zum Trotz, für Lipitsch auf einmal selbstverständlich – ein üblicher Ablauf, kein Glücksfall. Nichts, worüber man sich sonderlich freuen sollte. Während er auf den Zug wartete, der ihn vom Flughafen nach Hause bringen sollte, hörte er plötzlich seine Adresse:

„Lindenstraße 8?“

Sie endete mit einem Fragezeichen, das ihn dazu zwang, die Adresse zu bestätigen. „Ja?“ sagte er, ebenfalls mit einem Fragezeichen – es war keine einwandfreie Bestätigung, und blickte nach links, zur Quelle der weiblichen Stimme.

„Was für ein Zufall, ich wohne in der Lindenstraße 9!

Das ist ja gleich gegenüber!“

„Woher wissen Sie meine Adresse?“

„Sie steht auf Ihrem Koffer.“

Ach ja, sie stand auf seinem Koffer.

„Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals gesehen zu haben! Das ist ja witzig…“, meinte die Frau.

Lipitsch seinerseits war nicht belustigt. Er erkannte sofort die Tragweite dieses ‚Zufalls‘.

„Ja, die Welt ist bekannterweise ein Dorf“, sagte er gleich, um sie zu stoppen.

„Wo waren Sie denn?“ fuhr sie fort, zweifellos in der Hoffnung, den sogenannten Zufall noch größer aufblasen zu können.

Lipitsch war nicht bereit, den Vorfall als Zufall zu sehen. Man könnte das höchstens in dem Fall als Zufall bezeichnen, wenn sie sich schon vorher gekannt hätten. Ein Zufall ist weit mehr als nur ein Zusammentreffen von zwei gleichen, und in diesem Fall nicht einmal gleichen, sondern ähnlichen Attributen am gleichen Platz. Oder? Aber es war ihm bewusst, dass der gesellschaftliche Vertrag diese Art von Interaktion erlaubte. Wenn ihn diese Frau auf der Lindenstraße aus seinem Haus kommen sehen würde, dürfte sie nie im Leben sagen „O, Sie wohnen auch in der Lindenstraße, ich auch, was für ein Zufall!“ Je weiter man sich von der Lindenstraße wegbewegte, desto mehr Recht hatte sie dazu. Und in beispielsweise Alaska wäre sogar schon genug gewesen, dass er aus Österreich kam, um sich den Fragen stellen zu müssen, was er bloß da tat.

Er wusste nicht, wie viel davon er laut gesagt hatte, er hoffte doch nichts, vielleicht war es ein Zufall, dass sie auf seine Gedanken erwiderte:

„Es ist halt wahrscheinlicher, dass wir uns auf der Lindenstraße über den Weg gelaufen wären als hier.“

Dem konnte er nicht widersprechen, es war in der Tat wahrscheinlicher. Es war regelrecht unwahrscheinlich, sich ein ganzes halbes Jahr nicht getroffen zu haben, wenn er auch immer Scheuklappen aufgesetzt hatte. Man, vor allem, wenn man mit Lipitschs Eitelkeit gestraft ist, soll die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sie nur so tat, als ob man ihr bisher nie aufgefallen war. Sein Gesicht war sicherlich nicht ‚eins dieser Gesichter‘ … War das hier also ein Zufall oder nicht? ‚Zufall definieren‘, machte er einen mentalen Eintrag auf seiner to-do-Liste, denn im Moment gab es Wichtigeres zu tun: Er musste auf jeden Fall, koste es, was es wolle, verhindern, dass ihn diese Frau mit einem Faden einzuwickeln begann. Er kannte sich mit Frauen aus, diese eine schaute so aus, als ob sie ein ganzes Netz parat hätte. Darüber hinaus wusste er, was für eine lächerlich große Rolle Frauen Zufällen beimessen: Sie deuten sie in der Regel als Abglanz einer Transzendenz, meist mit den Worten ‚Zeichen‘ oder sogar ‚Schicksal‘. Ein einfacher Mann muss schon alle seine Kräfte sammeln, um dem Schicksal die Stirn zu bieten…

Die kleinen erbärmlichen Dämme, die er biberartig ihrem Redefluss entgegensetzte, bemerkte sie gar nicht. Entgegnungen jeglicher Art waren ihr anscheinend recht. Sie plätscherte wie ein Bächlein, fröhlich sprang sie über alles Mögliche und sie mochte auch seinen Koffer, er sei chic gewesen und an der schönen Patina, die das offensichtlich häufige Reisen auf ihm hinterlassen hatte, fand sie gleichfalls Gefallen: Diese zeugte ihrer Meinung nach von einem erfahrenen Koffer mit Charakter, und sie verstand die Leute nicht, die ihre schon sowieso hässlichen Plastikkoffer mit noch mehr Hässlichkeit und Plastik versehen, indem sie sie in eine Plastikfolie einwickeln lassen, konnte er diesen Vorgang nachvollziehen? Ein Koffer ist nur dafür da, um den Inhalt zu schützen, es ist nur ein weiterer Ausdruck unserer oberflächlichen Gesellschaft, dass die Hülle überbewertet und genauso sorgfältig geschützt wird, aber, ach, „unser (!) Zug ist da, kommen Sie?“

Und der Zug war fast leer, es gab keine einsamen, das heißt vereinzelt freien Plätze, also mussten sie zusammensitzen, gegenüber, und sie spann wieder, und er wälzte sich in ihrem Netz, ohne entkommen zu können. Und man konnte sich dann das Taxi teilen, wie praktisch, vor allem, wenn man sich dann die Rechnung nicht teilen musste, weil sie Lipitsch (von Haus aus und weil er nicht gerne teilte) alleine beglich, und dann sagte sie einmal „Danke“ und einmal „Vielen lieben Dank“, was er überhaupt nicht ausstehen konnte, und dann sagte sie zum Schluss noch „Auf Wiedersehen“, und dann sprach sie gleich danach noch klarer ihre Drohung aus: „Wir sehen uns bestimmt wieder“, und lächelte bedrohlich, bis sie in ihrem Haus verschwunden war.

Lipitsch verglich sich in seiner Vorstellung gerne mit einem einsamen Wolf. Wenn man jedoch nicht die gleiche Großzügigkeit, mit der man sich selbst betrachtet, für Lipitsch aufbringen kann, würde man ihn eher einen Einsiedlerkrebs nennen. Auch war sein neues Haus nicht sein eigenes.

Dreimal davor hatte er schon vergeblich versucht, das alte Haus auszutauschen, zu entfliehen, erst beim vierten Mal gelang es ihm. Zu seinem Glück war ihm anfangs nicht bewusst, dass seine Handlungen Fluchtversuche waren, und so hatte ihn das Scheitern nicht gedemütigt. Dann aber erfuhr er etwas über Hummer.

„Heute aß ich zu Abend in einem Restaurant. Im Aquarium vorne beim Eingang sah ich drei Hummer. Sie stimmten mich nachdenklich. Sie wurden am Leben gehalten, damit ihr Tod in der nächsten Stunde vor Kurzem und nicht schon eine Weile her passiert sein wird. Nur ein frischer Tod ist etwas wert… Dann aber bemerkte ich, wie einer von ihnen versuchte, aus dem Gefäß hinauszuklettern. Er hing schon etwas über dem Rand. Ich wunderte mich, dass das Aquarium nicht höher bzw. zugedeckt war. Ich sah mich fast schon gezwungen, die Entscheidung zu treffen, ob ich den Kellner auf diesen Fluchtversuch aufmerksam machen sollte oder nicht. Im nächsten Moment schon aber wurde der Hummer am Schwanz von seinen Kameraden zurückgezogen“,

schrieb Lipitsch kurz danach in sein Tagebuch unter dem Titel Der Augenblick der Klarheit. Unter der Beschreibung des Ereignisses machte er einen Strich, und unter den Strich schrieb er noch:

„Alceste:

Von allen Seiten verraten, mit Unrecht überhäuft,

verlasse ich einen Abgrund,

in dem Laster triumphieren,

und suche auf der Erde nach einem entlegenen Ort,

wo man die Freiheit hat, als Mann von Ehre zu leben.

Philinte:

Kommen Sie, meine Verehrte,

wir müssen alles versuchen,

um ihn von dem, was er sich da vorgenommen hat,

abzubringen.“

Lipitsch war nicht wirklich in einem Restaurant gewesen, er hatte darüber gelesen und log, er log in seinem Tagebuch, und als ob das nicht genug gewesen wäre, betitelte er seine Einträge auch noch. Und schrieb „ich aß zu Abend“ statt „ich war Abendessen“. Seine Tierbücher hingegen versteckte er sorgfältig, sodass darüber im Tagebuch nichts zu finden war, obwohl er täglich in ihnen las. Seine Absichten waren dabei jedenfalls rein literarisch:

Jedes Tier war für ihn eine Metapher, ein Vergleich oder aber eine Antithese, die durch ihre Verkörperung im Tier dem Menschen zur Erkenntnis über sich selbst verhelfen sollten. Also war die Evolution von einem Hummer zu einem Einsiedlerkrebs nicht im Geringsten lächerlich.

Alle anderen Tiere boten ihm bis dahin klitzekleine Wahrheiten an, Bruchstücke der Wahrheit; nachdem aber Lipitsch die dunkle Seite der Hummer entdeckt hatte, wurde ihm plötzlich alles klar. Alles fügte sich. 40 Jahre lang war er verblendet gewesen, 40 Jahre hatte er gebraucht, um zu sehen, dass das, was der Mensch schuf, schlecht war. Alles war Windhauch und Luftgespinst.

Es kam ihm plötzlich auch vor, als ob jede Erfahrung, die er bis dahin gemacht hatte, ein Zeichen für seine wahre Bestimmung gewesen war. Allzu lange hatte er alle von Gott gegebenen, er meinte natürlichen, Prädispositionen missachtet und dafür eine gerechte Strafe erlitten, die er sein ganzes Leben über sich ergehen lassen musste. Er erinnerte sich, dass aufgrund seiner Prädispositionen seine Mutter, als er noch ganz klein war, eines Tages sogar ärztliche Hilfe aufgesucht hatte:

„Schauen Sie, wie er schaut, mit diesen Augen, man sieht nichts in ihnen, wie bei einem Vogel!“

Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie ihn der Vergleich mit einem Vogel erschüttert hatte. Nicht, weil er eine besondere Einstellung zu den Augen eines Vogels gehabt hätte, nein, da wusste er nicht einmal, was die Mutter damit gemeint hatte; es war vielmehr die Art, in der sie über ihn sprach, als ob er nicht ihr Sohn gewesen wäre, sondern ein Vogel, der die menschliche Sprache nicht verstand. Seine Erschütterung äußerte er jedoch offenbar nicht, denn der Arzt schien die Mutter zu verstehen. Er führte einige Tests durch und stellte letztendlich fest, dass die Gesichtsausdruckslosigkeit nicht auf Dämlichkeit zurückzuführen war.

Und so war, obwohl seine Ergebnisse immer nur im Durchschnittsbereich lagen, in der Schule seine Intelligenz von den Lehrern in der Regel höher gepriesen als die seiner Mitschüler, deren Gesichtsausdrücke auch nicht vom Durchschnitt abwichen, nur um Missverständnisse zu vermeiden, nur um immer wieder klar zu stellen, dass er nicht für dämlich gehalten werden durfte. Er galt in Folge dessen als ernst und reif. Er suchte keine Freundschaften und war in Folge dessen beliebt. Er wurde am Schwanz hineingezogen und lernte, dabei zu lächeln.

Denn schnell kamen allerlei Anforderungen: Was würde es ihn beispielsweise kosten, einmal die Mundwinkel kurz hinaufzuziehen, um einen Witz als solchen anzuerkennen, wenn man sich schon die Mühe gab, ihn ihm zu erzählen, war er sich etwa zu gut dafür? Ja, so ging das. Seine Ohren waren ihnen nicht genug, sie wollten auch seine Mundwinkel. Er bot den Finger an, sie wollten den ganzen Arm, und bald gehörte er ganz ihnen, und er bekannte sich dazu und schrieb sogar von selbst auf die Postkarten, die auch von ihm erwartet wurden: ‚Euer Karl‘.

So etwas konnte jetzt nicht mehr passieren. Er hatte aufgehört, sich zu fügen, hörte nur auf sich und gehörte nur noch sich selbst. Mit seinem Schwanz war er fest im Häuschen verankert, und niemand außer ihm durfte hereinkommen.

Od rojstva se zavijaš v tisočero niti, pa nikoli ne boš metulj*

(Mila Kačič)

Das Lesen von Poesie, das unmittelbar vor seinem Rückzug aus der Gesellschaft nach Jahren wieder aufgenommen worden war, hätte sicherlich als Symptom für die Ungereimtheiten in Lipitschs Leben gesehen werden können. Gleichzeitig half es ihm. Das ist übrigens eine schöne Ausnahme, denn es gibt nicht viele Symptome, die gleichzeitig auch Heilmittel sind, aber so ist halt Poesie: in der Regel eine Ausnahme, unter anderem auch, weil sie strikte Regeln im Aufbau des Sinnes befolgt und nicht sinnlos in der Gegend herumirrt wie ein kopfloses Huhn um den heißen Brei.

„Wenn ich nicht auf eine Verwandlung hoffen darf, brauche ich auch die Fäden nicht“, stellte also Lipitsch in Folge seiner Lektüre einige Nächte, bevor er die große Entscheidung traf, fest und fing an, die Fäden, die ihn einwickelten, genau zu zählen. Das hielt ihn wach – es ist bei Gott nicht egal, was man vor dem Einschlafen zählt. Er hatte bis hundert gezählt. Eine schöne runde Zahl, obwohl nicht gerade tausend, wobei tausend sicher metonymisch gemeint wurde, totum pro parte