Der Kreuzfahrtkomplex - Wolfgang Gregor - E-Book

Der Kreuzfahrtkomplex E-Book

Wolfgang Gregor

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Beschreibung

Kreuzfahrten zählen zu den globalen Megatrends. Doch kaum jemand weiß, was hinter den Kulissen dieser Erfolgsbranche geschieht. "Der Kreuzfahrtkomplex" ist das erste Buch eines Insiders, das die dunklen Seiten der Kreuzfahrtindustrie beleuchtet. Eine aktuelle Enthüllungsstory, die deren Mechanismen, Risiken und wirtschaftlichen Zusammenhänge erläutert. Sicherheitslücken an Bord, prekäre Arbeitsbedingungen der Besatzung, fehlende Steuergerechtigkeit und bleibende Umweltbelastungen - Wolfgang Gregor zeigt eindringlich, welche gesamtgesellschaftliche Herausforderung das große Geschäft mit den Ozeanlinern birgt.

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Wolfgang Gregor

Der Kreuzfahrtkomplex

Traumschiff oder Alptraum

ISBN

Paperback:

978-3-7345-5373-8

e-Book:

978-3-7345-5374-5

© 2016 Wolfgang Gregor

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Umschlaggestaltung: Hanspeter Ludwig

Lektorat: Dr. Antje Korsmeier

Korrektorat und Satz: Cornelia Rüping

Homepage zum Buch: www.kreuzfahrtkomplex.de

Redaktionsschluss: 26. September 2016

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugäng-lichmachung

Inhalt

Prolog: Abenteuer Kreuzfahrt oder Urlaub imNiemandsmeer

Kapitel 1: Das Meer ist noch frei. Ein Megamarkt entsteht

1.1 Durchstart der Großen – „The Big Four“

1.2 Vom Aussterben bedroht: Traumschiff und Co.

1.3 Die maritimen Bananenrepubliken

1.4 Die Italy-Connection

1.5 Die Lobbyisten stehen am Ruder

Kapitel 2: Neue Formen des Größenwahns? Schwimmende Bettenburgen

2.1 Wer baut die großen Kästen?

2.2 Asien im Fokus

2.3 Ist das noch schön? Zweifelhafte Trends im Schiffbau

Kapitel 3: Abzocke an Bord. Der geschlossene Kreislauf

3.1 Der gläserne Passagier

3.2 Wir wollen nur Ihr Bestes ... Ihr Geld

3.3 Die heiße Schlacht am kalten Buffet

3.4 Von Ärzten und Scharlatanen

3.5 Landausflug mit Schattenseiten

Kapitel 4: Erlebnisse „to go“. Neue Formen von Kolonialismus

4.1 Privatinseln – der neueste Trend

4.2 „Voluntourismus“ auf Kosten der Ärmsten

Kapitel 5: Die Besatzung. Das Kastensystem im Unterdeck

5.1 Die Rang- und Hackordnung an Bord

5.2 Menschen oder Arbeiter? Das Personal als Kostentreiber

5.3 Die Schattenwirtschaft unter Deck

5.4 Das rechtliche Umfeld für die Crew

5.5 Totale Kontrolle oder: Wer aufmuckt, fliegt

Kapitel 6: „Rette sich, wer kann!“ Sicherheit und die Mär vom unsinkbaren Schiff

6.1 Wie sicher sind die Schiffe wirklich?

6.2 Die Klassiker unter den Gefahren: Unfälle, Feuer und Havarien .. 135

6.3 Rettungsboot versus Rettungsinsel. Die Krux der Evakuierung

6.4 Die Besatzung im Notfall: Retter oder Hilfesuchende?

6.5 Wer darf überleben?

6.6 Wege zu mehr Sicherheit

Kapitel 7: Wohlgehütete Geheimnisse. Heile Welt oder unbekannte Risiken?

7.1 Gesund an Bord, krank nach Hause

7.2 Achillesferse Technik 184

7.3 Kriminalität in den Häfen

7.4 Heile Welt oder Mord an Bord?

7.5 Die Mitmischer: Blogger, Anwälte, Politiker

7.6 Die Gewaltenteilung auf See

Kapitel 8: Die Ruhe vor dem Sturm. Globale Bedrohungen

8.1 Terrorismus – Kreuzfahrttouristen als Zielscheibe

8.2 Internationale Sicherheitsmaßnahmen

8.3 Gepäck und andere Sicherheitslücken

8.4 Die Jagd nach Lösegeldern

8.5 Zwischenstaatliche Konflikte

Kapitel 9: Die Hafenstädte. Dabeisein um jeden Preis

9.1 Der Stundentourismus

9.2 Die Zerstörung lokaler Strukturen

9.3 Denk ich an Hamburg in der Nacht

Kapitel 10: Bitte nichts über Bord werfen. Nachhaltigkeit oder Greenwashing?

10.1 Es stinkt zum Himmel – die „Drecksflotten“ kommen

10.2 Wohin mit dem Müll? Abfallentsorgung auf See

10.3 Urlaub im Niemandsmeer – oder die Zerstörung sensibler Gebiete

Schlussbemerkungen eines kritischen Kreuzfahrers

Literatur- und Quellenverzeichnis

Dank

Der Autor

PrologAbenteuer Kreuzfahrt oder Urlaub im Niemandsmeer

Die Idee zu diesem Buch kam mir im Jahr 2008, als ich völlig vorurteilsfrei meine erste Kreuzfahrt unternahm. Meine anfängliche Begeisterung für den sorglosen Urlaub auf dem Meer schlug jedoch im Lauf vieler Kreuzfahrten in zunehmend kritische Distanz um, als mir klar wurde, dass diese Industrie nahezu sämtliche gesellschaftlichen Werte „umschifft“. Der Kreuzfahrtkomplex liefert einen Überblick über die verschachtelte Struktur einer globalen Industrie, die unter dem Schutzmantel dubioser Flaggenstaaten nahezu unreguliert agiert und dabei zum Teil fahrlässig mit dem Vertrauen und der Sicherheit der ihr anvertrauten Passagiere, den Besatzungen, der Gesellschaft sowie der Umwelt umgeht.

Eine Kreuzfahrt ist für viele Menschen der Traumurlaub schlechthin. Kein Tourismuszweig hat je ein schnelleres Wachstum verzeichnet als die Kreuzfahrtindustrie, ein Ende dieses Phänomens ist nicht abzusehen. Aus einer einst elitären Urlaubsform wurde ein Massentrend, der heute bei allen Schichten der Bevölkerung angekommen ist. Damit sind Kreuzfahrten weltweit zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden.

Doch kaum jemand kennt die Schattenseiten dieser Industrie. Das imposante Wachstum basiert auf der Tatsache, dass die Reedereien alles einem völlig überzogenen Profitdenken unterordnen. Was dabei über Bord geht, sind Sicherheit, Komfort, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung. Die Folgen davon bekommen alle zu spüren: die Passagiere, die Besatzung, die Bevölkerung der Länder, die von den Schiffen angesteuert werden – letztendlich wir alle.

Der gesamte Kreuzfahrttourismus liegt in den Händen einiger weniger Reedereien. Mit Hochglanzkatalogen werben sie ihre Kunden, die den Luxusversprechungen allzu gern Glauben schenken. Allerdings stehen Katalogversprechen und Realität oft in krassem Widerspruch zueinander. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit geht der Trend zu immer größeren Schiffen, die mit bis zu 9.000 Menschen an Bord die Dimension von Kleinstädten erreichen. Enge Kabinen, überfüllte Speisesäle, Platzmangel auf dem Sonnendeck und Rundumbeschallung mit Werbung sind gang und gäbe. Die Anbieter haben es weniger auf das Wohlbefinden ihrer Passagiere abgesehen, vielmehr würde ich ihr Geschäftsmodell mit dem landläufigen Begriff der Abzocke bezeichnen.

Die Kreuzfahrtindustrie zeichnet sich durch eine extreme Verschachtelung aus. Wer weiß schon, dass die von den Deutschen geschätzten Aida-Clubschiffe der genuesischen Reederei Costa Crociere gehören, die wiederum Teil des panamesischen Carnival-Konzerns ist? Aufgrund ihrer Heterogenität unterliegt die Branche keiner global einheitlichen Besteuerung und Rechtsprechung, ein Umstand, den die Reedereien zu nutzen wissen. Die Tatsache, dass der größte Teil des Geschäfts auf hoher See und damit außerhalb des Einflussbereichs staatlicher Gesetzgebung stattfindet, arbeitet ihnen zusätzlich entgegen.

Nahezu alle Kreuzfahrtgesellschaften, ob europäischer oder US-amerikanischer Herkunft, haben ihre Schiffe unter Flaggen von Ländern wie den Bahamas oder Panama registriert, die sich durch hohe Korruption und teilweise auch fragwürdige Rechtsstaatlichkeit auszeichnen. Genau das hat Vorzüge für die Anbieter, die dadurch höhere Standards umgehen, Steuern sparen und sich Wettbewerbsvorteile sichern. Und auch bei Unfällen oder kriminellen Vorkommen an Bord hat das Geführtwerden bei einer solchen „maritimen Bananenrepublik“ viele Vorteile für die Reedereien, die sich auf diesem Weg der Verantwortung entziehen. Die Kreuzfahrtindustrie hat zudem eine omnipräsente und starke Lobby.

Zugunsten eines übersteigerten Profitstrebens wird gespart, wo es nur geht. Das wirkt sich auf die Erlebnisqualität der Reisen, die Sicherheitsvorkehrungen oder die Arbeitsbedingungen der Besatzung aus. Sicherheit etwa ist teuer. Daher versuchen die Reedereien auf vielfältige Weise, Lockerungen der internationalen Regelungen und Sicherheitsvorschriften zu ihren Gunsten durchzusetzen. Es scheint, dass die Reedereien aus Gründen der Gewinnmaximierung bereit sind, die Gefährdung ihrer Gäste und Mitarbeiter sowie der Umwelt in Kauf zu nehmen. Allein in den letzten Jahren hat es zahlreiche Havarien gegeben, die der Costa Concordia ist nur das bekannteste Beispiel.

Ein verantwortungsbewusstes Sicherheitsmanagement der Ozeanriesen stellt eine echte Herausforderung dar, sowohl was die Schulung der Besatzung betrifft als auch die Anzahl und Nutzung der Rettungsmittel. Wenige Passagiere wissen, dass auf den meisten Schiffen nicht ausreichend Platz in den Rettungsbooten vorhanden ist und die in letzter Zeit immer häufiger an Bord vorhandenen Rettungsinseln keinen vollwertigen Ersatz für Rettungsboote darstellen. Im Notfall kann dieser Unterschied über Leben und Tod entscheiden. Beunruhigend sind insgesamt nicht nur die Unfallstatistiken, sondern auch der irrgeleitete Glaube an die Unsinkbarkeit der Schiffe.

Die Besatzungen stammen in der Regel aus Entwicklungsländern und arbeiten teilweise unter sklavenähnlichen Bedingungen: endlos lange Arbeitsschichten, Niedrigstlöhne, kaum Tageslichtkontakt und die konstante Androhung des Arbeitsplatzverlustes, sofern sie nicht spuren. Das ist körperlich und psychisch extrem belastend. Wenn eine Urlaubsreise mit derartigen Arbeitsbedingungen der Mannschaft einhergeht, dann stimmt etwas am Gesamtsystem nicht.

Auch beim Thema Nachhaltigkeit klaffen Anspruch und Realität auseinander. Die großen Kreuzfahrtschiffe von über 300 Metern Länge stellen eine hohe Belastung der Umwelt dar: schwefelhaltiger Treibstoff, krebserregender Feinstaub, Müllberge aus dem Hotelbetrieb an Bord sowie Eingriffe in Naturgebiete, um Fahrrinnen oder Anlegeplätze für die Riesenschiffe bereitzustellen – die Liste ökologischer Probleme ist lang. Die Reedereien hingegen betreiben oft reinstes Greenwashing und kümmern sich wenig darum, dass Teile des Welterbes, zum Beispiel die Lagunenstadt Venedig, durch von der Kreuzfahrt bedingte Belastungen an den Rand des Verfalls geraten.

Über die Kriminalität an Bord oder über Terrorismusgefahren dringt kaum etwas an die Öffentlichkeit. Doch immer wieder kommt es zu Kapitalverbrechen und Sexualdelikten, vor deren Hintergrund die US-Regierung 2010 mit der Einführung eines eigenen Gesetzes, dem „Cruise Vessel Security and Safety Act“ reagierte mit dem Ziel, die Kreuzfahrtpassagiere zu schützen.Auffällig ist, dass viele Kreuzfahrtgesellschaften Informationen zu dieser Thematik bewusst unterdrücken und sich kaum um echte Aufklärung bemühen – wenn sie nicht versuchen, den jeweiligen Vorfall rundum zu vertuschen. Es sind nicht allein die Zahlen der Delikte, die Besorgnis erregen, sondern auch die Elemente von „rechtlosen Räumen“ und Intransparenz.

Mit einer Zunahme von äußeren Gefahren wie Terrorismus und Piraterie wiederum ist aufgrund der momentan stattfindenden Ausweitung der Kreuzfahrtrouten zu rechnen. Waren bislang Karibik und Mittelmeer die bevorzugten Strecken, so führen das Bestreben, langjährigen Kunden stets etwas Neues zu bieten, sowie der Konkurrenzkampf der Reedereien untereinander dazu, dass zunehmend Krisenregionen wie der Indische Ozean, der Persische Golf und die Maghreb-Regionen angefahren werden. Dort wiederum kam es in letzter Zeit vermehrt zu Anschlägen auf und in Zusammenhang mit Kreuzfahrtschiffen, beispielsweise in Tunis im Frühjahr 2015. Regionen wie das Rote Meer werden massiv durch maritime Sicherheitskräfte geschützt, nicht zuletzt weil sie die Hauptschlagadern der globalen Handelsschifffahrt darstellen. Ändere Häfen, auch vermehrt im Mittelmeer, werden von den Kreuzfahrtveranstaltern nicht mehr angelaufen. Die Sicherheit der Passagiere wird zunehmend zu einer unkalkulierbaren Größe.

Die Branche ist hochdynamisch. Die Auftragsbücher der Werften sind randvoll und bis 2026 sind mehr als 50 Neubauten fest geplant, dazu kommen noch einige Optionen. Das entspricht einem Kaufvolumen von über 30 Milliarden Euro. Sollte der asiatische Markt für Kreuzfahrten anziehen, was zu erwarten ist, werden sich diese Zahlen schlagartig erhöhen. China wird dabei eine wesentliche Rolle spielen.

Der Markt ist hart umkämpft. Neue Teilnehmer haben es schwer, sich hier zu behaupten. Die Branchenführer investieren gigantische Summen ins Marketing. Im Jahr 2015 hat allein die Carnival-Gruppe über 600 Millionen US-Dollar nur für Werbung ausgegeben.

Auch die Wissenschaft gerät verstärkt in den Sog dieses Wirtschaftssegments. Mit den Studiengängen Nautik, Schiffbau und Schiffsbetriebstechnik verfügt der Standort Deutschland traditionell über erstklassige Angebote, etwa an der Technischen Universität in Hamburg-

Harburg. Daneben reagieren seit Kurzem mehrere Hochschulen mit dem Studiengang Cruise Tourism Management auf den Zeitgeist: Der vier Jahre umfassende Bachelor-Studiengang in Bremerhaven in englischer Sprache beinhaltet ein einjähriges Praktikum auf Kreuzfahrtschiffen oder bei den Betreibern. Als zukünftige Arbeitgeber kommen Reisebüros, Reedereien oder andere sektorspezifische Betriebe infrage. Mittlerweile berücksichtigen auch Universitäten wie die TU Dresden im Rahmen des Studienfachs Tourismuswirtschaft den neuen Industriezweig. Letztlich kann es sich kein Lehrstuhl für Tourismus leisten, diesen Megatrend zu ignorieren.

Dennoch bilden Kreuzfahrten bislang nur einen marginalen Teil der globalen Tourismusindustrie – einer Schätzung zufolge machen heute weniger als vier Prozent der Touristen aller Industrienationen Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff. Das weckt Begehrlichkeiten. Ob der Bau immer größerer Kreuzfahrtschiffe für einen globalen Massenmarkt die geeignete Strategie darstellt, ist zu bezweifeln.

Der Kreuzfahrtkomplex liefert Einblicke hinter die Kulissen des Systems Kreuzfahrt. Als ehemaliger Kapitän habe ich naturgemäß ein großes Faible für die Seefahrt und alles Maritime; als langjähriger Manager eines M-Dax-Konzerns interessiere ich mich für die globalen wirtschaftlichen Implikationen dieser Branche. Als ehemaliger Marketingchef kenne ich viele der Tricks, mit denen wir umworben und umnebelt werden. Von den 193 in der UN gelisteten Nationen habe ich über 105 Länder bereist und insgesamt 13 Jahre in Asien und im Mittleren Osten gelebt.

In den vergangenen sieben Jahren habe ich auf eigene Kosten insgesamt 16 Kreuzfahrten mit acht der größten Kreuzfahrtgesellschaften unternommen. Ich habe ausführlich mit Crewmitgliedern auf den Schiffen, seemännischen Experten und Vertretern verschiedener Interessengruppen, darunter Opfer der jüngsten Schiffskatastrophen, Gewerkschaften, Kreuzfahrtpassagiere, Tourismusexperten, Experten für maritime Sicherheit, Küstenwache und Bundeswehr, gesprochen und eine Umfrage mit circa 250 Passagieren durchgeführt. Auf einzelne Details dieser Umfrage werde ich im Verlauf des Buches gesondert eingehen, die komplette Umfrage ist im Internet auf der Homepage www.kreuzfahrtkomplex.de einsehbar.

Klar ist: Dem Wunsch der Passagiere nach Urlaubsvergnügen auf dem Meer stehen knallharte wirtschaftliche Interessen und Realitäten gegenüber. In vielen Hafenstädten, die die Riesenschiffe anlaufen, wird der soziale Lebensraum zerstört. Die Besatzungsmitglieder betreiben Selbstausbeutung und können ihre Familien dennoch kaum ernähren. In einem signifikanten Zweig der Tourismusbranche und einer global wachsenden Industrie ist dies kein Randphänomen, sondern eine Frage der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.

Wegen der Überschaubarkeit dieser Industrie sowie ihrer Dienstleister und Zulieferanten wurde ich im Lauf meiner Recherchen immer wieder um absoluten Informantenschutz gebeten, den ich selbstverständlich garantiere. Auf anonyme Hinweise, zum Beispiel hinsichtlich aktiver Bestechung im Umfeld der Industrie, gehe ich prinzipiell nicht ein. An ihnen habe ich nur dann Interesse, wenn ich sie mit der gebotenen journalistischen Sorgfaltspflicht verifizieren kann; erst dann kommt eine Veröffentlichung infrage.

Einige Spezialisten sind von der Kreuzfahrtindustrie und von den großen Werften abhängig, weil es weltweit nur weniger als eine Handvoll von ihnen gibt. Detailinformationen oder Hinweise im Buch könnten sie in ihrer beruflichen Existenz gefährden. Ein Gutachter einer internationalen Klassifikationsgesellschaft etwa machte mich auf schwerwiegende Mängel im Betrieb eines relativ modernen Kreuzfahrtschiffes aufmerksam. Er betonte im gleichen Zug die Abhängigkeit seiner Firma zur Industrie. Allein die Nennung des Schiffsnamens hätte ihn enttarnen können. Entsprechend vorsichtig musste ich einige Passagen formulieren.

Die Kreuzfahrtindustrie ist extrem dynamisch, täglich gibt es Veränderungen bei fast allen Themen und auf nahezu allen Gebieten. Es ist mein Bestreben, so aktuell wie möglich zu berichten. Ich kann jedoch nicht ausschließen, dass einige Inhalte des Buchesbei seinem Erscheinen bereits vom Tagesgeschehen überrollt wurden. Bis zum Zeitpunkt der Drucklegung habe ich das Buch auf seine Aktualität hin überprüft und regelmäßig angepasst. Änderungen danach konnte ich jedoch nicht mehr berücksichtigen, dafür bitte ich den Leser um Verständnis.

Details, Fotos und Tabellen, die in diesem Buch nicht veröffentlicht wurden, sowie meine Umfrage stelle ich auf die Homepage zum Buch www.kreuzfahrtkomplex.de. Über Kommentare, Informationen und weitere Anregungen freue ich mich.

Kapitel 1Das Meer ist noch frei. Ein Megamarkt entsteht

Die Erfolgsgeschichte des Kreuzfahrttourismus entsprang mehr dem Zufall als einer lang geplanten Strategie. Am Anfang stand die geringe Auslastung der Passagierschiffe während der Wintermonate. Viele Reedereien verfügten Ende des 19. Jahrhunderts über komfortable Passagierschiffe, die im Liniendienst zwischen Europa und Nord- sowie Südamerika pendelten. Doch im Winter war die Nachfrage gering. So galt es, eine Lösung zu finden, um die Schiffe auszulasten und die laufenden Fixkosten im Rahmen zu halten. Die Besatzungen mussten beschäftigt und die Kapitalkosten ganzjährig verdient werden.

Es war Albert Ballin, der damalige Chef der Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG), der auf die Idee kam, betuchten Interessenten in den Wintermonaten eine „Vergnügungsfahrt“ in wärmeren Gefilden anzubieten. Im Januar 1891 stach mitder TS Augusta Victoria das erste Kreuzfahrtschiff in See. An Bord befanden sich knapp 250 Gäste, Ziel war das Mittelmeer mit Häfen in Italien, im Libanon und im heutigen Israel. Die Reise war ein Erfolg, und bald folgten andere Reedereien, etwa der Norddeutsche Lloyd, die Hamburg Süd, aber auch Mitbewerber aus England und Holland. Ein neuer Markt war entstanden, auf dem sich in den folgenden Jahrzehnten ein eigener touristischer Bereich entwickelte.

Das 20. Jahrhundert war geprägt von einer steten Abfolge technischer Entdeckungen und Innovationen. Diese bedrohten das Geschäftsmodell so manch traditionsreicher Industrie. Die Passagierschifffahrt, die jahrhundertelang maßgeblich die interkontinentale Fortbewegung sicherte, traf es besonders hart. Moderne Düsenjets begründeten das Zeitalter der Verkehrsflugzeuge. Sie lösten in den 1960er und 1970er Jahren die Propellermaschinen ab und übernahmen innerhalb eines Jahrzehnts die Rolle der traditionellen Linienschifffahrt. Die Ära der großen Passagierschiffe war fast über Nacht vorbei. Viele große Linienreedereien wie die französische Compagnie General Transatlantique, die United States Lines oder die Italia Line verschwanden in der Bedeutungslosigkeit.Ihre Schiffe gehörten zu den besten und schönsten, die es je gab – darunter beispielsweise die Normandie, die France und die United States.

Der Kreuzfahrtmarkt wuchs stetig, aber nicht linear. Globale Entwicklungen der 1970er und 1980er Jahre sowie regionale Trends führten zu einer Berg-und-Tal-Fahrt in Bezug auf Kapazitäten, Schiffsneubauten und die Profitabilität der Unternehmen.

Einen wesentlichen Impuls für diese Entwicklung lieferte folgendes Phänomen: Viele amerikanische Touristen mögen ein vertrautes Umfeld, auch im Ausland soll es möglichst amerikanisch zugehen. Aufgrund der Tatsache, dass Amerikaner im Jahr durchschnittlich lediglich 20 Urlaubstage haben, sind Urlaubsreisen von fünf bis acht Tagen typisch. Diese Nische erkannten die Reedereien: Die karibischen Inseln waren – quasi vor der eigenen Haustür – das ideale Reiseziel. Da die Seestrecke von New York, dem bisherigen Haupthafen der Passagierschifffahrt, in die Karibik lang und im Winter oft beschwerlich war, zog die Kreuzfahrtindustrie zu Beginn der 1990er Jahre nach Florida um. Seither sind Miami und Fort Lauderdale mit ihren Häfen der neue Mittelpunkt. Damit wurde eine optimale Infrastruktur geschaffen, die noch heute beste Voraussetzungen bietet und die Expansionspläne der Reedereien begünstigt.

Der Trend gelangte in den späten 1990er Jahren nach Europa und entwickelt sich mit permanent sinkenden Passagepreisen auch diesseits des Atlantiks zu einem wahren Hype. Das jährliche Wachstum liegt in Bezug auf Umsatz und Passagiere mit über zehn Prozent im zweistelligen Bereich, und ein Ende dieses Booms lässt sich nicht absehen. Im Kalenderjahr 2015 betrug der Umsatz in der Kreuzfahrtindustrie über 33 Milliarden US-Dollar. Befördert wurden 23,2 Millionen Passagiere, davon fast sieben Millionen in Europa. Erstmalig verwies Deutschland mit mehr als 1,8 Millionen Passagieren England in Europa auf Platz zwei. Mit Asien und speziell China eröffnen sich in letzter Zeit vollkommen neue Märkte.

Heute verfügen insgesamt 75 Reedereien über eine globale Kreuzfahrtflotte von mehr als 350 Schiffen aller Größen und Kategorien. Angeboten werden über 30.000 unterschiedliche Reisen von drei bis 180 Tagen. Wurden in den 1990er Jahren Schiffe mit einer durchschnittlichen Kapazität von bis zu 2.500 Passagieren gebaut, konnten zehn Jahre später die Neubauten fast 9.000 Menschen transportieren. Zurzeit ist die Harmony of the Seas mit einer Kapazität von 6.360 Gästen das größte Passagierschiff der Welt, hinzu kommen 2.384 Besatzungsmitglieder. Das Schiff wurde im Sommer 2016 in Dienst gestellt, Kostenpunkt: über 1,3 Milliarden US-Dollar. Diese Zahlen verdeutlichen, welcher Gigantismus auf dem Kreuzfahrtmarkt herrscht. In den letzten Jahren haben sich drei Segmente herausgebildet.

Den Markt für Spezialreisen bedienen „Boutique-Schiffe“ für maximal 300 Passagiere. Das können sowohl Segelschiffe als auch kleinere jachtähnliche Schiffstypen sein. Reisen mit Boutique-Schiffen gibt es je nach Fahrtgebiet und Dauer ab 700 Euro pro Person und Tag. Ist eine Suite gewünscht, kann sich der Preis locker verdoppeln. Dieses Segment hat eine vermögende Stammkundschaft. Aufgrund ihrer geringen Größe können diese Schiffe entlegene und exklusive Routen befahren, Arktis und Antarktis gehören dazu.

Im zweiten Segment bewegen sich Luxus-Reedereien, die auf Individualität setzen und bis zu 1.000 Passagiere befördern. Typische Anbieter sindHapag Lloyd Cruises, Crystal und Regent. Mit Preisen je nach Kabinenkategorie von 400 bis 800 Euro pro Tag und Person wird gezielt ein gehobenes Publikum angesprochen.

Das dritte Segment ist der Breitenmarkt, der sich heute fest in den Händen der US-Branchenriesen Carnival Corporation, Royal Caribbean und Norwegian Cruise Lines sowie der MSC-Gruppe befindet.Hier tobt ein harter Wettbewerb. Je nach Kabinentyp liegen die Katalogpreise zwischen 100 und 300 Euro pro Person und Tag. Allerdings werden mehr als die Hälfte aller Reisen unter dem offiziellen Preis verkauft. Durchaus ergeben sich Schnäppchenpreise von weniger als 60 Euro pro Tag.

Der größte Wachstumsschub in den letzten fünf Jahren betraf den europäischen Raum, und zwar vorwiegend das Massensegment. Besonders deutsche, aber auch immer mehr italienische Urlauber entdeckten ihre Liebe zum Meer. England, in dem es traditionell eine gut entwickelte Kreuzfahrtkultur im gehobenen Segment gibt, kann ebenfalls hohe Zuwachsraten verzeichnen. Auf diesen Boom waren die Reedereien und die Werften nicht vorbereitet. Um dennoch von der gewaltigen Nachfrage zu profitieren, versuchten die Betreiber, auf kreative Weise kurzfristig zusätzliche Kapazitäten zu schaffen.

Eines der Beispiele für großen Erfindungsreichtum ist das sogenannte „Renaissance-Programm“ von MSC: Im Sommer 2014 beschloss die italienisch-schweizerischeGruppe, vier Schiffe ihrer Lirica-Klasse, die ursprünglich zwischen 2001 und 2003 in Dienst gestellt worden waren, um je 24 Meter zu verlängern. MSC wuchs so rasant, dass diese Maßnahme als einziger Weg erschien, schnellstmöglich die erforderlichen Betten und Kabinen bereitzustellen. Durch den Umbau können pro Schiff zusätzlich 600 Passagiere befördert werden. Damit erhöhte MSC innerhalb eines Jahres die Gesamtkapazität ihrer Flotte um 2.400 Passagiere, was einem neuen Kreuzfahrtschiff mittlerer Größe entspricht. Der Preis für diese gesamte Aktion betrug laut MSC-Pressemitteilung rund 200 Millionen Euro.

Die Umbaumaßnahme war in mehrfacher Hinsicht clever: Ein Schiffsneubau in dieser Größe hätte inklusive Planungsphase und Bauzeit mindestens vier bis fünf Jahre gedauert und mehr als das Doppelte gekostet.1 Zudem hat MSC mit dem Umbau den aktuellen Sicherheitsanforderungen ein Schnippchen geschlagen, da sie sich die Umbauten nach den Regeln der Zeit vor 2009 genehmigen ließ. Hätte MSC die aktuell geltenden Sicherheitsstandards anwenden müssen, wäre der

Umbau faktisch nicht möglich bzw. kaum bezahlbar gewesen. Ein unternehmerisch gut durchdachter Schachzug: MSC „verkauft“ die Schiffe quasi als neu, verschweigt jedoch, dass das Sicherheitskonzept nicht den Anforderungen eines Neubaus entspricht. Zusätzlich kann sich durch eine Abweichung von der ursprünglich optimierten Bauform das Seeverhalten eines Schiffes negativ verändern. Das wird natürlich nicht kommuniziert.

Andere Reedereien zogen sofort nach. Princess Cruises stattete ebenfalls zwei Schiffe mit über 100 neuen Kabinen aus. Da die Schiffe aus bautechnischen Gründen nicht vergrößert werden konnten, wurde der für die neuen Kabinen benötigte Platz von Räumlichkeiten genommen, die vorher der Allgemeinheit zur Verfügung standen. Nun gibt es also deutlich mehr Passagiere an Bord, aber auf den Sonnen- und Freizeitdecks deutlich weniger Platz für sie. Gleiches gilt für die Queen Elizabeth 2(QE2), das Flaggschiff der britischen Cunard Reederei. Auch hier wurden beim letzten Werftaufenthalt in Hamburg im Frühjahr 2016 35 zusätzliche Kabinen eingebaut.

1.1 Durchstart der Großen – „The Big Four“

Der Kreuzfahrtmarkt ist klar aufgeteilt. Momentan beherrschen vier große Gesellschaften fast 90 Prozent des Marktes, und zwar in allen Segmenten, vom All-inclusive-Angebot bis hin zur Luxuskreuzfahrt. Auch wenn die Reedereien unterschiedliche Namen tragen und teilweise autark agieren, sind sie stark miteinander verflochten. Neue Marktteilnehmer haben es zunehmend schwer, sich auf dem hart umkämpften Markt zu behaupten.

Die vier großen Player, die „Big Four“, sind heute Carnival, Royal Caribbean, Norwegian und MSC. Sie alle sind in der Cruise Lines International Association Inc. (CLIA) vertreten. Das ist die globale Interessenvertretung der Kreuzfahrtindustrie und ihrer Reisebüros, also der wichtigste Interessenverband der Branche.

Die unangefochtene Nummer eins auf dem globalen Markt ist Carnival Corporation & plc mit Sitz in Panama City und der Hauptverwaltung in Miami. Ihr Marktanteil beträgt fast 50 Prozent. Den Konzern kennt man in Deutschland kaum, seine Marken schon: Aida und Costa sind hierzulande Marktführer, Deutschlands Lieblingsschiff, die Queen Mary 2, das bei jedem Besuch in Hamburg von Hunderttausenden Menschen begrüßt wird, zählt ebenfalls dazu. Der Umsatz der Gruppe betrug 2015 circa 16 Milliarden US-Dollar. Knapp 120.000 Mitarbeiter arbeiten für den Konzern, davon 82.000 auf den Schiffen.

Weltweit betreibt die Carnival-Gruppe circa 100 Schiffe. Zum Jahresende 2015 hatte sie 20 Neubauten bestellt, die bis 2022 ausgeliefert werden. Diese Zahlen ändern sich in schneller Folge. Zu Carnival gehören die folgenden größtenteils autark operierenden Gesellschaften:

•Carnival Cruise Lines, Miami/USA

•Holland America Line, Seattle/USA

•Cunard Line, Southampton/UK

•P&O Cruises, Southampton/UK

•P&O Cruises Australia, Sydney/Australien

•Princess Cruises, Santa Clarita, Kalifornien/USA

•Seabourn Cruise Line, Miami/USA

•Costa Crociere, Genua/Italien

•Aida Cruises, Genua/Italien

Die Carnival-Gruppe verfolgt eine globale Gesamtstrategie, innerhalb derer jede Gesellschaft einen Marktbereich abdeckt. Dabei handelt es sich sowohl um regionale als auch um Qualitätssegmente. Der Individualtourismus auf Luxuslinern wird von den Reedereien Seabourn und Cunard bedient, für den Massentourismus gibt es die Reedereien Carnival und Costa. Im mittleren Segment befinden sich Princess, P&O und Holland America. Aida steht für Cluburlaub auf See und setzt sich mit seinem Konzept deutlich von anderen Anbietern im Massensegment ab. Es gibt außer in den Spezialitätenrestaurants ausschließlich Buffets, und der Entertainment-Bereich ist integraler Bestandteil des allgemeinen Bordlebens.

Gerade in Krisenzeiten, wie nach der Havarie der Costa Concordia, bietet die verschachtelte Struktur des Carnival-Konzerns Vorteile. „Obwohl wir Costa-Schwester und in Deutschland Marktführer sind, konnten wir die Marke Aida aus den Medien weitgehend heraushalten“, erklärte der Aida-Pressechef nach der Costa-Concordia-Katastrophe in einem Interview.2

Mit seiner geballten Marktmacht ist der Carnival-Konzern in der Lage, auf die gesamte Branche maßgeblich einzuwirken, er kann Standards setzen und Abhängigkeiten schaffen und Preise quasi diktieren oder zumindest signifikant beeinflussen. Carnivals Lobbyisten sitzen in allen wichtigen nationalen und internationalen Gremien und Verbänden; auch auf den Weltverband CLIA hat Carnival wesentlichen Einfluss.

Aus steuerlichen Gründen wurde für Carnival die Gesellschaftsform einer doppelt gelisteten Aktiengesellschaft gewählt. Der größte Teil der Gesellschaft ist in Panama registriert, da dort keine Steuern auf Dividenden, Zinsen und Gebühren anfallen. Zudem unterliegen in Panama Auslandseinkommen nicht der Körperschaft- und Einkommensteuer. Der kleinere Teil der Gesellschaft ist in London registriert und untersteht britischem Recht. Im Lauf der Zeit entwickelte sich das Unternehmen zu einem wahren Meister auf dem Gebiet der globalen Steueroptimierung. Laut New York Times vom 1. Februar 2011 hatte die Carnival Corporation in den vorangegangenen fünf Jahren auf Gewinne in Höhe von 11,3 Milliarden US-Dollar unter Ausnutzung von „Steueroptimierungsmodellen“ einen durchschnittlichen Steuersatz von 1,1 Prozent gezahlt.3 Und dieser Trend setzt sich fort. Im Geschäftsjahr 2015 erzielte Carnival bei einem Gesamtumsatz von fast 16 Milliarden US-Dollar einen Rekordgewinn in Höhe von 2,1 Milliarden US-Dollar. Insgesamt zahlte der Konzern laut Jahresbericht weltweit nur 42 Millionen US-Dollar Steuern, was bezogen auf den Umsatz letztlich einem Steuersatz von bescheidenen 0,4 Prozent entspricht. Alles strikt legal und dennoch ein Schlag ins Gesicht für jeden ehrlichen Steuerzahler oder die „gute“ Tourismusindustrie, die derartige Schlupflöcher nicht nutzen kann. Carnival schwimmt im wahrsten Sinne des Wortes in Geld und sucht händeringend nach Möglichkeiten, seine Liquidität unterzubringen. Neue Schiffe können nicht über Nacht gekauft werden, da sämtliche Werften ausgebucht sind. Also werden die eigenen Aktien vom Markt zurückgekauft. Bei Carnival gibt es regelmäßig solche Rückkaufprogramme in Milliardenhöhe. Aus wirtschaftlicher Sicht nicht besonders kreativ, aber wohin sonst mit der vielen Kohle?

Royal Caribbean Cruises Ltd. ist die Nummer zwei mit circa 25 Prozent Marktanteil. Der Konzern ist in Liberia registriert, sein Sitz in Miami; die Anteilseigener stammen aus Norwegen und den USA. Bei einem Jahresumsatz von fast 8 Milliarden US-Dollar verdiente der Konzern im Jahr 2014 stolze 764 Millionen US-Dollar. Steuern? Fehlanzeige. Mit derzeit 48 eigenen Schiffen und acht Neubauaufträgen deckt er wie Carnival die gesamte Palette vom Massentourismus bis hin zur Luxuskreuzfahrt ab.

Royal Caribbean gilt als Innovationsführer. Die größten Kreuzfahrtschiffe der Welt fahren für das Unternehmen. Bis auf wenige Ausnahmen wurden sie in der Papenburger Meyer Werft und ihrer neuen finnischen Tochter gebaut. Royal Caribbean setzt im Schiffbau auf hohe Qualität. Zur Gruppe gehören folgende größtenteils autark operierende Gesellschaften:

•Royal Caribbean Cruise International,Miami/USA

•Celebrity Cruises, Miami/USA

•Azamara Club Cruises, Miami/USA

•Pullmantur Cruises, Barcelona/Spanien

•CDF Croisières de France, Paris/Frankreich

Im Reigen der „großen Vier“ belegt die Norwegian Cruise Line Corp. (NCL) Rang drei. Ihr Marktanteil beträgt acht Prozent. Die seit 1966 operierende Gesellschaft ist in Miami beheimatet und an der US-Börse NASDAQ gelistet. Zur Flotte gehören momentan 26 Schiffe, fünf weitere wurden bestellt, einige davon werden zu den größten der Welt zählen. Norwegian wurde in den letzten Jahren mehrfach mit den Titeln „Europe’s Leading Cruise Line“ sowie „World’s Leading Large Ship Cruise Line“ ausgezeichnet. Diese Auszeichnungen werden jährlich von der World Travel Awards für touristische Höchstleistungen in verschiedenen Disziplinen vergeben. Zur NCL-Gruppe gehört auch die Gesellschaft Prestige Cruise Holdings, Inc. samt ihren Tochtergesellschaften Oceania Cruises, die über sechs Schiffe verfügt, und Regent Seven Seas Cruises, mit vier Schiffen. Sie sind mit kleineren Schiffen für 400 bis 900 Passagiere im High-end-Segment unterwegs.

Die Mediterranean Shipping Company-Crociere S.A. (MSC) mit Sitz in Genf vervollständigt das Quartett. Erst 1970 wurde die Reederei von dem italienischen Kapitän und Entrepreneur Gianluigi Aponte gegründet. Ursprünglich ganz auf Containerschiffe fokussiert, hat MSC heute mit mehr als 450 Schiffen die zweitgrößte Containerflotte der Welt. In die Kreuzfahrtindustrie stieg MSC erst zu Beginn des Jahrtausends ein und ist damit fast noch als Newcomer anzusehen. Heute fahren bereits zwölf Schiffe erfolgreich für MSC, und zwar ausschließlich im Massensegment.

Mit seinem rasanten Wachstum und kreativen Strategien ist MSC zu einem echten Wettbewerber für Costa herangewachsen. Schon jetzt beansprucht MSC die Marktführerschaft im Mittelmeer sowie in Südafrika und Brasilien. Die Kampfansage an Costa wurde mit Preisen von 270 Euro pro Person für eine mehrtägige Mittelmeerkreuzfahrt deutlich, die über den Discounter Lidl zu buchen war. Bis 2026 sollen sieben weitere Schiffe gebaut werden, wodurch sich die Passagierkapazität verdoppeln würde. Die MSC-Kundschaft stammt vorwiegend aus den Mittelmeer-Anrainerstaaten, zunehmend auch aus dem deutschsprachigen Raum.

Zu den Playern zählt weiterhin die Reederei TUI Cruises/Mein Schiff, die 2008 als von der TUI-Gruppe geführtes Joint-Venture auf den Markt kam. Der Partner ist Royal Caribbean, eine Reederei mit großer Erfahrung. Durch die Kombination von Reisebüro und Kreuzfahrtanbieter erhofft sich der TUI-Konzern Synergieeffekte. Zurzeit umfasst die Flotte von TUI/Mein Schiff vier Schiffe, bis 2019 kommt pro Jahr ein neues Schiff hinzu. TUI/Mein Schiff werden gute Chancen eingeräumt, da sich das Unternehmen als deutscher Anbieter zwischen dem klassischen Segment und den Club-Reisen positioniert.

Zu erwähnen ist noch Disney Cruise Lines: Seit 1998 fährt Mickey Mouse auf insgesamt vier Schiffen zur See. Die Zielgruppe sind, wie könnte es anders sein, Familien mit Kindern. Die hochmodernen Schiffe können fast 4.000 Passagiere befördern und sind in Bezug auf die Bühnen- und Showtechnik das Nonplusultra. Im März 2016 hat Disney zwei weitere Schiffsneubauten bei der Meyer Werft in Papenburg bestellt. Sie werden in den Jahren 2021 und 2023 in Dienst gestellt.

1.2 Vom Aussterben bedroht: Traumschiff und Co.

Den deutschsprachigen Markt dominieren heute die ganz Großen der Branche, auch wenn es noch einige kleinere Reedereien gibt, insbesondere traditionellere europäische Unternehmen. Diese verlieren jedoch immer mehr an Bedeutung. Aufgrund des hohen Wettbewerbsdrucks werden sie voraussichtlich nicht überleben bzw. von den Big Four geschluckt werden.

Das ZDF-Traumschiff Deutschland, eines von drei Schiffen der Reederei Peter Deilmann, hatte keine Chance; es wurde 2015 durch die MS Amadea der Reederei Phoenix Reisen ersetzt. Es fehlten das Kapital und die kritische Masse, um den Geschäftsbetrieb erfolgreich weiterzuführen. Im Jahr 2009 meldete Deilmann Insolvenz an, eine Ära ging zu Ende. Danach änderten sich die Besitzverhältnisse noch einige Male, bis Ende 2014 irgendein Kapitalinvestor der Mehrheitseigner war.

Das ist ein Beispiel von vielen, und für mich ist fraglich, ob die Reederei Phoenix Reisen mit drei älteren Schiffen überleben wird. Heute lebt Phoenix hauptsächlich von ihrer Stammkundschaft und wirbt typischerweise in den Fernsehbeilagen der Tageszeitungen. Das Alter der Passagiere scheint überproportional hoch. Auch das Unterhaltungsangebot kann im Vergleich mit anderen Gesellschaften nicht mithalten, es wird eher auf Ruhe und Beschaulichkeit gesetzt. Ein besonderer Umstand hilft einigen dieser kleinen Reedereien jedoch. Das US-Embargo gegen Kuba sorgt momentan noch dafür, dass die Big Four kubanische Häfen nicht anlaufen dürfen. Diese Lücke können daher kleinere Gesellschaften schließen. Aber wie lange noch? MSC hat in Anbetracht des Tauwetters zwischen den ehemals verfeindeten Nationen Kuba und USA bereits ein Schiff nach Kuba beordert. Carnival und die anderen des Quartetts scharren ebenfalls schon mit den Hufen und bereiten sich auf diesen attraktiven Markt vor.

Der Kreuzfahrtboom hat nicht zuletzt etwas mit den neuen Schiffen zu tun, die seit Ende der 1990er Jahre in die Kreuzfahrtflotten eintraten. Mit ihnen können die sogenannten Klassiker einfach nicht mithalten, sie verfehlen die Positionierung innerhalb der drei Marktsegmente. Sicherlich gibt es unter den Passagieren noch einige Nostalgiker, denen Kreuzfahrten auf klassische Art etwas bedeuten. Doch ihr Anteil ist verschwindend gering. Sie konzentrieren sich auf die kleineren Schiffe von Hapag-Lloyd, Seabourne oder Regent – die notwendige Kaufkraft vorausgesetzt.

1.3 Die maritimen Bananenrepubliken

Fast alle Kreuzfahrtgesellschaften haben ihre Flotten unter „Billigflaggen“ registriert, obwohl die Mutterkonzerne in der Regel in den USA oder in Europa sitzen und mit dem jeweiligen Flaggenstaat keine weiteren Berührungspunkte haben. Es geht ausschließlich darum, Kosten zu sparen und sich durch Subventionen und Ausnahmeregelungen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nahezu alle diese Flaggenstaaten sind Entwicklungsländer und oft nicht in der Lage, notwendige Strukturen bereitzustellen. Ihnen fehlen die Kompetenz und vielfach auch die Bereitschaft, die Mindestanforderungen an eine transparente und rechtlich unbedenkliche Führung in den Unternehmen umzusetzen.

In Europa haben sich die Länder Italien und Malta in den Kreis der Billigflaggen eingereiht, auch sie locken die Reedereien mit diversen Steuererlassen oder Vergünstigungen. Von Land zu Land werden mit kleinen Unterschieden keine oder nur marginale Steuern erhoben. Die Praxis betrifft unter anderem das operative Geschäft, Lohnsteuern und Buchgewinne aus dem Verkauf von Schiffen. Als Gegenleistung fällt eine vernachlässigbare Tonnagesteuer an. Im Falle von TUI/Mein Schiff, deren Flotte unter der Flagge Maltas fährt, beträgt diese laut einem Bericht aus der Zeit vom 18. August 2016 weniger als 50.000 Euro pro Jahr. Und das bei einem stattlichen Jahresumsatz von fast 440 Millionen Euro. Um beim Beispiel zu bleiben – TUI/Mein Schiff zahlt auf den genannten Umsatz nur 40.000 Euro Steuern. Kaum mehr als ein Rundungsfehler in der Jahresbilanz. Zum Vergleich: Ein steuerpflichtiger Angestellter müsste bereits bei einem Jahreseinkommen von circa 115.000 Euro in Deutschland 40.000 Euro Einkommensteuern zahlen.

In der englischen Sprache gibt es den Begriff „Flag of Convenience“ (FOC, Billigflagge), der wörtlich „Gefälligkeitsflagge“ bedeutet. Eine zutreffende Bezeichnung. Für mich sind die betreffenden Länder oftmals maritime Bananenrepubliken.

Ursprünglich hatte die Idee des Ausflaggens einen noblen Charakter. Um Schiffbrüchige nicht an verfeindete englische Sklavenhändler ausliefern zu müssen, wurden amerikanische Handelsschiffe am Ende des 18. Jahrhunderts kurzerhand unter portugiesischer Flagge registriert. Damit waren sie für die englischen Schiffe tabu und durften nicht angegriffen werden. Die zunächst humanitär begründete Handlung wurde jedoch schnell zur Grundlage für das ganz große Geschäft.

Zur Zeit der amerikanischen Prohibition, als Alkohol und Kasinos verboten waren, kam ein amerikanischer Geschäftsmann auf die Idee, seine Kasinoschiffe unter der Flagge von Panama zu registrieren, um den strengen Auflagen von Prohibition und Glücksspiel zu entgehen. Ein Geschäftsmodell mit allergrößtem Erfolg, wie sich bald herausstellte. Sicher ahnte dessen Erfinder nicht, dass er damit einen kleinen zentralamerikanischen Staat zur „größten Seefahrtsnation“ der Welt machen würde. Ein Land mit gering ausgeprägter Seefahrttradition und maritimer Kompetenz, das dafür jedoch über eine sehr entwickelte Kultur intransparenter Briefkastenfirmen verfügt. In Panama sind heute mehr Schiffe registriert als unter deutscher Flagge.

Alle großen Reedereien betreiben ihre Schiffe unter einer Flag of Convenience, um die strikten Auflagen der seefahrenden Industrienationen zu umgehen – vor allem jedoch, um Steuern, Gebühren, Gehälter und Sozialabgaben zu sparen. Zudem bestehen in FOC-Ländern weitreichende Möglichkeiten, die Empfehlungen und Standards der International Maritime Organization (IMO, Internationale Seeschifffahrtsorganisation), einer UN-Unterorganisation mit globaler Verantwortlichkeit für Schutz, Sicherheit und Umwelt in der Seeschifffahrt, außer Kraft zu setzen und Ausnahmeregelungen zu erteilen.

Zu den Hauptaufgaben eines Flaggenstaates gehört die Überwachung von Schiffbau, Schiffsbetriebstechnik und Sicherheit. Dafür gibt es Niederlassungen mit zugekaufter technischer Kompetenz, die vorwiegend in Europa sitzen. Die wollen vor allem Geld verdienen und sind zu vielem bereit – bloß keine Kunden verlieren! Es gilt das minimalistische Prinzip. Die Bahamas Maritime Authority (BMA) hat in den USA auf Anfrage bestätigt, dass sie in London sechs Vollzeitmitarbeiter hat, um die Einhaltung aller Vorschriften von 1.600 registrierten Schiffen zu verwalten, darunter über 220 Passagierschiffe. Das erscheint als eine sehr niedrige Mitarbeiterzahl, die dem Umfang und der Bedeutung der Aufgabe Hohn spricht.

Die FOC/Billigflaggen sind heute mit wenigen Ausnahmen die Flaggen von Entwicklungsländern. Dort gilt jeweils das nationale Recht. Eine maritime Gesetzgebung wird dabei nur rudimentär angewendet bzw. flexibel gehandhabt. Ein Beispiel: Eigentlich hat ein Kapitänspatent aus Deutschland, England oder den skandinavischen Ländern in Panama oder Liberia keine Gültigkeit, wird dort aber völlig problemlos in ein nationales Patent umgeschrieben. In den meisten dieser Länder besteht gar nicht die Möglichkeit, ein international anerkanntes Kapitänspatent zu erlangen. Und das ist angesichts der dort herrschenden Standards und Praktiken auch gut so. Dennoch zählt zum Beispiel der afrikanische Staat Liberia, der kürzlich noch vor allem im Zusammenhang mit Ebola in der Presse auftauchte, zu den größten Seefahrtsnationen der Welt. Von über 3.300 Schiffen, die deutschen Reedereien gehören oder von ihnen bereedert werden, fahren nur zehn Prozent unter deutscher Flagge und weit über ein Drittel unter der Flagge Liberias.

Weitere FOCs stammen von den Bahamas, aus Bermuda, Italien, Antigua, Malta und Zypern. Mit wenigen Ausnahmen haben die FOCregistrierten Schiffe noch nie ihre Heimathäfen angelaufen. Die sind oftmals viel zu klein für die riesigen Kreuzfahrtdampfer, eklatant zu sehen am Beispiel des pazifischen Atolls Vanuatu – ebenfalls ein zunehmend wichtiger Flaggenstaat.

Aufgrund des Wettbewerbs der FOCs untereinander und wegen ihrer Unfähigkeit, sich als Interessenvereinigung zu organisieren, sind sie zum Spielball der großen Reedereien geworden. Analog der Briefkastennationen ist außer einem kleinen Kreis von Begünstigten noch keine FOC-Nation durch die Schifffahrt reich geworden. Gewinner sind die ausländischen Reedereien. Durch diese sind nur wenige oder gar keine Arbeitsplätze in den jeweiligen Ländern entstanden. Ein Briefkasten, eine Anwalts- und Wirtschaftsprüfungskanzlei sowie eine Bank reichen aus, wie die jüngsten Enthüllungen im Rahmen der Panama-Papiere eindrucksvoll belegen. Gewinner im diesem Spiel sind außer den Reedereien noch spezialisierte und global agierende Anwaltskanzleien sowie Berater mit Stundenlöhnen von 700 US-Dollar und höher; dazu einige wenige Privilegierte in den Billigflaggenstaaten.

Bei technischen Fragen arbeiten die Länder oft mit sogenannten nicht exklusiven Inspektoren zusammen, die für viele andere FOC-Länder tätig sind. Und dennoch übertrumpfen sich diese Staaten gegenseitig mit Großzügigkeiten, um notfalls das kleinste Stück vom großen Schifffahrtskuchen abzubekommen. Die Reedereien forcieren ihrerseits den gnadenlosen Wettbewerb der FOCs. Sie wissen, dass der Wechsel einer Flagge mit einer Unterschrift vollzogen werden kann – wie der Stromanbieterwechsel in Deutschland.

All das sind Faktoren, die den Schutz unserer Meere und die Sicherheit vieler Menschen ernsthaft bedrohen. Angenommen, es käme zu einem terroristischen Anschlag auf ein Schiff unter der Flagge Panamas in der Nord- oder Ostsee. Der deutsche Staat würde umgehend ein mobiles Einsatzkommando, die Küstenwache, Polizei oder die GSG 9 entsenden – alles finanziert mit den Steuern seiner Bürger. Länder wie Panama oder Liberia hingegen können nichts Vergleichbares bieten und agieren als Trittbrettfahrer. Denn diese Art von maritimer Infrastruktur kostet Geld und erfordert einen hohen administrativen und rechtlichen Aufwand. All das leisten Länder wie Deutschland – an den Geschäften auf dem Meer verdienen jedoch die anderen.

Rolf Geffken hat keine Scheu vor klaren Worten. Der promovierte Jurist und Buchautor mit Schwerpunkt auf maritimem Arbeitsrecht sieht die Ausflaggungen grundsätzlich kritisch und bezweifelt deren Vereinbarkeit mit UN-Vereinbarungen und europäischem Recht: „ … grundsätzlich muss zwischen dem Staat und dem Schiff eine echte Beziehung bestehen. Echt ist eine Verbindung aber nur dann, wenn die Reederei ihre Aktivitäten vom Flaggenstaat aus entfaltet und wenn Angehörige des Flaggenstaates die Mehrheit der Besatzungsmitglieder stellen. Ausflaggung ist keine Betriebsverlagerung, keine Investition in anderen Ländern oder gar Entwicklungshilfe.“ Das Gegenteil ist der Fall. Denn die Konzerne gehen nicht nach Liberia oder Panama – sie bleiben an ihren angestammten Standorten in Hamburg, Genua oder Miami und genießen dort sämtliche Privilegien einer rechtsstaatlichen Industrienation. Steuern dürfen die anderen zahlen. „Ein direkter Vergleich“, so Geffken, „wäre, wenn VW einen großen Zaun um das Wolfsburger Werk zieht und den Bereich exterritorial stellen würde. Achtung – sie verlassen das Territorium der Bundesrepublik Deutschland und befinden sich jetzt in Panama.“ Warum also erhalten Reeder Rechte und Vorteile, die für andere Industrien nicht gelten? Nur mit dem internationalen Wettbewerb kann das nicht begründet werden, denn laut Artikel 94 des Genfer UN-Seerechtübereinkommens ist die Gesetzgebung eindeutig. Jeder Staat muss seine Hoheitsgewalt und Kontrolle über die Schiffe ausüben, die seine Flagge führen. Und das können die Billigflaggenstaaten in der Regel nicht leisten. Fazit: Das Geschäftsmodell der Kreuzfahrtbetreiber könnte auf Basis der Wertvorstellungen unserer Gesellschaft in der heutigen Form nicht existieren. Es geht ausschließlich um Kostenersparnis zulasten von Sicherheit, Umwelt und Besatzungen. Billigflaggen bieten dabei eine legale Basis zur Ausbeutung von Mitarbeitern.

Viele der FOC-Länder sind für Korruption bekannt. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) Transparency International ist die globale Autorität für Korruptionsidentifikation sowie deren Bekämpfung. Jährlich veröffentlicht sie einen Korruptionsindex, den Corruption Perception Index, der 177 Staaten umfasst. Dieser Index zeigt auf, dass in vielen FOC-Ländern Korruption und die entsprechenden Strukturen üblich sind. Die skandinavischen Länder mit Dänemark an der Spitze sind am saubersten. Deutschland liegt auf Platz zwölf. Italien rangiert gleichauf mit dem Senegal auf Platz 69. Die größten Seefahrtnationen Panama und Liberia liegen beide auf Platz 94. In diesen Ländern ist laut Transparency International jegliche Art von Korruption im privaten und öffentlichen Bereich tief verwurzelt.

Seit 2011 gibt es das Maritime Anti-Corruption Network (MACN). Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss fast aller Reedereien mit dem Ziel, die Korruption in der Seefahrt und Schiffsindustrie auszumerzen. In einem Referat des MACN steht, dass der Weg aus der Korruption lang und schwierig sein werde. Das heißt nichts anderes, als dass Korruption allgegenwärtig war und ist. Mit Transparency International gibt es bereits eine extrem kompetente NGO. Der Nachteil für die Reedereien liegt aber schon in deren Namen – sie sorgt für Transparenz und das ist schädlich für das Geschäftsmodell. Durch die Gründung einer eigenen Initiative wollen die Reedereien offensichtlich die Zusammenarbeit mit Transparency International umgehen. Das MACN ist also der Versuch, auf möglichst lautlose und intransparente Art und Weise aus einer tief verwurzelten Korruptionskultur auszusteigen. Eine für die Beteiligten bequemere Alternative, die aber deutlich mehr Zeit erfordern wird.

Im Dezember 2014 lief die Costa Pacifica nach einer Atlantiküberquerung ihren ersten Hafen in Brasilien an, um in den kommenden Wintermonaten ihren Dienst in Südamerika aufzunehmen. Am frühen Nachmittag wurde ein Teil des Schiffes für eine Privatveranstaltung abgesperrt und gegen 16.00 Uhr kamen zahlreiche Gäste an Bord.Viele von ihnen trugen Uniformen von Polizei, Marine, Zoll und Küstenwache und kamen in Begleitung. Partys, bei denen Behörden und andere Offizielle eingeladen werden, sind durchaus üblich. Unmittelbar vor dem Auslaufen verließen die Gäste das Schiff. Jeder Gast hatte nun eine prall gefüllte Tüte mit dem Costa-Logo bei sich und ich vermute, darin befanden sich „Gastgeschenke“. Das könnte man schon als Korruption werten, Geschenke an Offizielle sind weltweit verboten.

Dieser Vorfall wäre nur ein Fall von sogenannter Kleinkorruption. Bei der Vergabe von Liegeplätzen oder Hafeninfrastrukturmaßnahmen in Entwicklungsländern geht es jedoch um deutlich mehr. Und dabei geht es anscheinend zu wie bei der FIFA. Oftmals sind die Entscheider die gleichen.

Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass Korruption nur ein Thema in Entwicklungsländern ist. Die Bürgermeisterin der Stadt Bergen in Norwegen steht laut mehreren Medienberichten im Frühjahr 2016 wegen des Verdachts der Korruption und Bestechung in der Kritik. Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln. Bergen ist ein wichtiger Anlaufhafen für Kreuzfahrtschiffe, die Behörden dort haben damit maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung von Tarifen und Gebühren. Und so wurde die Bürgermeisterin kurzerhand zur Taufpatin eines neuen Kreuzfahrtschiffes erkoren. Im Mai 2015 flog sie mit einem Privatjet nach Venedig, wo sie anlässlich des Taufaktes der Viking Star in einem Luxushotel wohnte. Natürlich gab es auch Geschenke – unter anderem eine Luxuskreuzfahrt auf ihrem Patenschiff. Nachfragen begegnete die Reederei ohne jegliches Unrechtsbewusstsein: „Wir folgen damit nur einer üblichen und gängigen Geschäftspraxis“, hieß es. Seefahrt und Korruption haben eine lange gemeinsame Geschichte.

Dass Korruption auch für den Marktführer Carnival offenbar zum Problem werden könnte, kann man dessen Jahresbericht 2015 entnehmen. Im Absatz „Risikobetrachtungen“ heißt es, dass sich finanzielle Nachteile ergeben könnten, wenn Länder, in denen Carnival Geschäfte macht, ihre Anti-Korruptionsgesetze ändern, also verschärfen. Selbst in Deutschland durften noch bis vor wenigen Jahren „nützliche Abgaben“ – sprich Korruption – steuerlich geltend gemacht werden. So wird es vermutlich auch in anderen Ländern sein. Eine Verschärfung der entsprechenden Gesetze könnte demnach durchaus erhebliche finanzielle Folgen haben.

1.4 Die Italy-Connection

Italien ist eine Seefahrtnation mit einer langen, reichen Tradition. Christoph Kolumbus war Genuese, und noch heute finden sich im Land hervorragende Ausbildungsstätten für Kapitäne, zum Beispiel das Nautische Institut Nino Bixio in Neapel. Italien bemüht sich sehr darum, seinen Ruf als eine der führenden europäischen Kreuzfahrtnationen zu bewahren und auszubauen. Die Kreuzfahrtindustrie ist zu wichtig, um sie den Entwicklungsländern mit ihren Großzügigkeiten und Billigangeboten zu überlassen. Im Bemühen, diesen Wettbewerb für sich zu entscheiden, setzt Italien ebenfalls auf eine Politik der „großzügigen Angebote“ für die Kreuzfahrtindustrie. Dazu zählt auch der Einbehalt von Lohnsteuern. Formal kann – für einen Teil der Besatzung (aus EU Ländern) – die Lohnsteuer einbehalten werden, wobei die Reederei diese nicht an den Staat abführen muss. Das bedeutet quasi, dass der Arbeitgeber weniger als das Nettogehalt auszahlen muss.

In die große italienische Kreuzfahrtfamilie sind maßgebliche Instanzen eingebunden, darunter das Finanzministerium, Genehmigungsbehörden, Werften, Verbände und auch die Gewerkschaften, die die Seeleute vertreten. Eine besondere Rolle spielt zudem die private Klassifikationsgesellschaft Registro Italiano Navale (RINA), das ist der italienische TÜV für Schiffe. Die Hauptaufgaben der RINA betreffen zwei Bereiche: Zum einen geht es um die Überwachung des Neubaus von Schiffen, zum anderen um den Service im Schiffsbetrieb. Der erste Teil ist bei allen Klassifikationsgesellschaften der unbeliebtere, weil finanziell oft defizitär. Er bildet die Grundlage für das spätere Service-Geschäft, an dem dann ordentlich verdient wird. Die RINA gilt als flexibel und ihr wird nachgesagt, „im Rahmen der Vorgaben bis zum Äußersten zu gehen“. Andere Klassifikationsgesellschaften betrachten die RINA deshalb oft mit Skepsis. „Was wir manchmal zu zweit auditieren, muss ein RINA-Kollege auch schon mal alleine machen, und wir würden einiges nicht genehmigen, was RINA genehmigt“, sagte ein Experte4 manischen Lloyd DNVGL, der selber viele Jahre als leitendender Schiffsingenieur zur See fuhr.

Italien ist unter anderem der Flaggenstaat von Costa und damit auch von Aida, die beide zum Carnival-Konzern gehören.5 Um für die Kreuzfahrtindustrie attraktiv zu sein, begibt sich Italien in direkten Wettbewerb mit Staaten wie Panama, Liberia oder den Bahamas. Darin kann es jedoch nur bestehen, wenn das Leistungsangebot gleich oder zumindest ähnlich wie in den FOC-Ländern ist. Um den Reedereien, und damit in erster Linie Carnival und seiner Hauswerft Fincantieri, die entsprechenden geldwerten Vorteile und Angebote machen zu können, arbeitet die Italy-Connection zusammen wie ein eingespieltes Orchester.

FOC-Länder dürfen empfohlene Standards der IMO außer Kraft setzen und Ausnahmeregelungen erteilen. Dass kann Italien ebenfalls, und es macht von dieser Möglichkeit regelmäßig und umfassend Gebrauch. Eine wichtige Rolle spielen zudem steuerliche Vorteile; die sogenannte Tonnage-Besteuerung fällt in Italien wesentlich geringer aus als in Deutschland. Auch Aida profitiert davon. Das Unternehmen zahlt für seine Schiffstonnage lediglich einen äußerst geringen Pauschalsteuersatz. Dabei wird das Geld vorwiegend in Deutschland verdient, und Deutschland stellt Aida nicht nur den Markt, also die Passagiere, sondern auch die Infrastruktur und bestens ausgebildete Mitarbeiter zu Verfügung.