Der Kuss des Feindes - Titus Müller - E-Book

Der Kuss des Feindes E-Book

Titus Müller

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Beschreibung

Kappadokien um 800 n. Chr.: Über zehntausend Menschen haben sich in der unterirdischen Stadt Korama versteckt. Es sind Christen. Sie haben hier Zuflucht gefunden vor den Arabern, die das Land erobert haben. Arif, der Sohn eines arabischen Hauptmanns, lernt bei einem Streifzug die junge Christin Savina kennen und verliebt sich in sie. Unbemerkt folgt er ihr und entdeckt so den geheimen Zugang in das Höhlensystem der Christen. Bald steht er vor einer schwierigen Entscheidung ...

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Über den Autor

Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt«. Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u. a. mit dem »C. S. Lewis-Preis« und dem »Sir Walter Scott-Preis« ausgezeichnet.

Die Erstausgabe dieses Romans erschien 2012 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

1

Hast du den Verstand verloren?« Jonathans Hals wurde rot vor Zorn.

Savina lachte. Sie schnippte eine weitere Handvoll Taubenmist aus dem Loch nach draußen. Es machte ihr Spaß, ihn zu ärgern.

»Hör auf damit!« Er ließ die Schaufel fallen und kam durch den Taubenschlag auf sie zu.

Sie grinste, reckte sich und spähte durch das Einflugloch nach draußen.

»Du bringst uns in Gefahr«, sagte er. »Wenn ein Araber deinen Kopf im Taubenloch sieht, stürmen sie unser Versteck. Dann hast du die ganze Höhlenstadt auf dem Gewissen.«

»Ich hab aber nicht nur ein Gewissen, sondern auch ein Herz. Und das will nicht in diesen Höhlen versauern. Es will frei sein.«

»Wenn erst mal die Frauen kreischen und die Kinder von Schwertern durchbohrt werden, redest du nicht mehr so.«

»Wir haben den ganzen Sommer verpasst.«

»Wir haben überlebt.«

Was war das für ein Leben, über Monate in der Dunkelheit eingesperrt zu sein? Die Tauben hatten es gut. Sie konnten jederzeit rausfliegen in die Sonne, konnten über den Tälern schweben und sich auf den Felsen ausruhen. Sie waren frei.

Den Taubenkot vom Höhlenboden zu kratzen, war die unappetitlichste Arbeit, die es in Korama gab. Aber man sah die Sonne dabei, wenigstens für ein paar Stunden, Lanzen aus Licht, die durch die Einfluglöcher in den Taubenschlag fielen und grellweiße Flecken auf den Felsenboden malten. Das war jedes Opfer wert. Und wenn sie sich wie jetzt auf die Zehenspitzen stellte, fielen sogar Sonnenstrahlen in ihr Gesicht und wärmten die Haut. Sie genoss es eine Weile, dann drehte sie sich wieder um. »Komm schon, Jon, sei nicht so langweilig. Wir haben genug gearbeitet. Mir tun die Arme weh, ich brauche eine Rast.«

Er hob die Schaufel vom Boden auf, lehnte sie an die Felswand und kam herüber. »Gib mir deine Hand.«

Sie legte ihre Hand in seine.

Zärtlich strich er über ihre Finger. »Savina, was kann ich tun, damit du es dir noch einmal überlegst?«

Sie musste ihm sagen, dass er sich den Hochzeitstraum aus dem Kopf schlagen sollte. Hart musste sie es ihm sagen, gemein sein, dann würde er es begreifen. Aber sie wollte nicht seine Freundschaft verlieren. Ihn zu verletzen, tat ihr weh, weil sie ihn mochte. Savina zog seine Finger nah vor ihr Gesicht und begutachtete sie. »Du bist grün und schwarz von der beschissenen Taubenkacke.« Sie roch an den Fingern. »Und du stinkst wie Schweinepisse!« Sie stieß die Hand von sich. »Komm, wir spielen was. Wenn ich es schaffe, mit nur einer Hand eine Taube zu fangen, musst du diese Ecke« – sie zeigte neben den niedrigen Höhleneingang – »allein abkratzen, während ich in die Sonne gucke und faulenze.«

»Und wenn ich es schaffe?«

»Dafür bist du zu langsam.«

»Wenn ich eine Taube fange, küsst du mich«, sagte er.

Ihre Blicke hakten sich für einen Moment ineinander, und zu Savinas Erstaunen schlug ihr Herz schneller. »Einverstanden.«

Sie schlich sich an die Nischen heran. Die Wand war davon übersät, aber die meisten Tauben waren ausgeflogen, als Savina und Jon mit der Arbeit begonnen hatten. Nur wenige Vögel waren hiergeblieben und äugten vorsichtig aus ihren Nistlöchern. Ihr Gurren verstummte, als Savina sich näherte. Sie sagte leise: »Kommt, holt euch ein paar leckere Körner«, und machte eine hohle Hand. »Guckt mal, was ich hier für euch habe!«

Blitzschnell griff sie in eine der Nischen und zerrte eine Taube heraus. Sie hatte sie nur am Flügel zu greifen bekommen. Die Taube zappelte wild und riss sich los. Federn stoben durch den Taubenschlag. Mehrere Vögel flatterten dicht unter der Decke entlang und flohen durch die Einfluglöcher ins Freie. Von draußen hörte man das Pfeifen ihrer Flügelschläge.

Seltsam, da war trotzdem noch ein Gurren, und Jon sah sie glühend an, obwohl seine Hand doch leer war. Er holte die zweite Hand hinter dem Rücken hervor. Seine riesige Hand umschloss eine Taube. »Gewonnen«, sagte er.

»Na gut, dann arbeiten wir weiter.« Savina sah sich um. »Sieh dir diesen mickrigen Haufen an. Das bisschen soll reichen?«

Er trat an die Einfluglöcher heran und ließ die Taube fliegen.

Sie sagte: »Der Dünger wird mager ausfallen. Schafdung und Eselmist haben wir zur Genüge, aber wenn wir zu wenig Taubenkot beimischen, machen uns die Pflanzen schlapp.«

Seine Hand fasste sie an der Hüfte. »Savina«, sagte Jon, »seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, liebe ich dich.« Er zog sie an sich und küsste sie.

Sie spürte seine trockenen, warmen Lippen und seinen Brustkorb, der sich hob und senkte. Einen Augenblick kostete sie das Gefühl aus, dann befreite sie sich und sagte: »Spinnst du?«

Zwei Stunden später kletterten sie stumm hinunter in die Tiefen Koramas. Jon trug den Korb mit dem Taubenkot, sie sah seinen breiten Rücken vor sich. Im Stillen dachte sie: Vielleicht heirate ich dich doch, Jon.

2

Arif fuhr mit den Fingerspitzen über die weiche, lederne Karte. Mit Kohlestrichen hatte sein Vater die Region festgehalten, vom großen Salzsee bis zum Vulkan Argaios, eine Miniatur der Wirklichkeit. Die Ortschaften, als ameisengroße Dächer eingezeichnet, waren sämtlich verlassen. Die Christen hatten sich in die Berge zurückgezogen. Seit Monaten lagerte sein Stamm hier in der Ebene und suchte sie. Wo in den Klüften hielten sie sich verborgen? Es musste ein schwer zugängliches Tal sein, von dem sie sich Schutz erhofften, ein Tal mit geheimen Zugängen. Arif rollte die Karte zusammen und wickelte den Riemen darum.

Die Luft im Zelt war heiß wie in einem Backofen. Sonnenlicht blitzte durch die Nähte der schwarzen Stoffbahnen, und obwohl Kamelhautstricke das Zelt zwei Handbreit über den Boden hochrafften, brachte kein Windhauch Kühlung.

Es roch nach Thymian und Kümmel. Auf dem kleinen Feuer kochten Bohnen. Die Mutter warf Dörrfleisch dazu. Als sie umrührte, quollen die Bohnen über den Topfrand, und einige fielen hinunter. Sie knisterten in den Flammen und wurden schwarz.

Er erhob sich von seinem Sitzkissen, wickelte sich das weiße Kufiya-Tuch um den Kopf und schnallte sich den Schwertgurt um. Aus dem Krug goss er Wasser in einen Becher und trank. Dann stellte er den Becher ab, nahm seinen Sattel und das Zaumzeug und ging zum Zeltausgang.

Die Mutter sagte: »Wohin gehst du? Was willst du mit dem Schwert?«

»Ich reite aus.«

»Deinen Bogen habe ich hinten zu den Gerbsteinen geräumt.«

»Ich gehe nicht jagen. Ich spähe nach den Ungläubigen.«

Die Mutter ließ den Löffel fallen, er versank in der Bohnensuppe. Es brauchte einen Moment, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Sie stammelte: »Niemand reitet allein zu den Ungläubigen.«

Ihr Blick wollte ihn festhalten, aber Arif löste sich von ihm und trat nach draußen. Es tat gut, die stickige Enge des Zeltes zu verlassen. Im Freien wölbte sich das Himmelsblau wunderbar weit, und die Luft erfrischte die Lungen.

Vater saß vor dem Zelt und zog einem Hasen das Fell ab. Fliegen umsurrten das nackte, rohe Fleisch und Vaters schwarzen Bart. Neben Haroun lagerte die Gepardin, den Kopf würdevoll erhoben. Ihr schlanker gefleckter Körper lag im Schatten, nur den Kopf beschien die Sonne. Die Raubkatze blickte, ohne zu blinzeln, auf die Berge am Horizont, mit Augen, die wie Bernsteine funkelten. Dennoch, dass ihre Schwanzspitze zuckte, verriet, dass der Geruch des Hasenfleischs die Gepardin erregte.

Hinter Arif schlug hart die Zeltplane auf, als Mutter ebenfalls aus dem Zelt trat. »Arif will allein in die Berge reiten und die Ungläubigen ausspähen. Haroun, sage ihm, dass das Irrsinn ist.«

Ungerührt schnitt Vater ein Stück Fleisch vom Hasenkörper und warf es der Gepardin hin. Sofort schnappte sich die Raubkatze den Leckerbissen. »Arif ist jetzt sechzehn und längst erwachsen«, antwortete er. »Es wird Zeit, dass er Mut beweist wie sein Bruder Utman.«

»Aber nicht so!« Mutters Stimme war plötzlich dünn, als schnüre ihr etwas die Kehle zu. »Utman ist niemals allein losgezogen. Es waren immer andere Krieger dabei.«

Arif sagte: »Wenn ein Trupp unserer Reiter kommt, verstecken sich die Christen. Die Reiter wirbeln viel Staub auf und sind laut. Allein kann ich die Christen überraschen. Ich spüre ihr Versteck auf, und dann hole ich dich, Vater.«

Haroun schabte mit dem Messer über das rohe Hasenfleisch. »Finde diese verfluchten Ungläubigen.«

»Geh wenigstens du mit ihm, Haroun!«, flehte die Mutter. »Ich habe schon einen Sohn verloren, ich will nicht auch noch den zweiten verlieren.« Sie fiel nieder auf die Knie und umklammerte Harouns Füße. »Ich bitte dich, tu mir das nicht an, halte ihn zurück!«

»Der Junge hat sich entschieden. Er ist erwachsen, er kann reiten, wohin er will.«

Arif küsste seine Mutter auf die Wangen, was sie mit Tränen in den Augen erduldete, als schlage er sie, statt sie zu küssen. Kaum hatte er sich umgewandt und ging, brannten auch ihm die Augen. Vater hatte gleichgültig geklungen. Und warum sollte er sich ereifern? Es ging ja nur um ihn, Arif. Vater liebte Utman mehr als ihn, das war immer so gewesen. Und dass Utman jetzt über ein Jahr tot war, änderte nichts daran. Utman war ein Held! Er war ein Sohn gewesen, wie Haroun sich ihn immer gewünscht hatte.

Auf dem Schlachtfeld war Utman der Erste gewesen, der sich den persischen Kriegselefanten entgegenwarf. Er schoss vom Pferderücken aus seine Pfeile, und jeder Pfeil war ein Treffer. Er schlug mit dem Schwert eine Bresche in die Reihen der schwer gerüsteten Byzantiner, er tötete Juden, Christen und Heiden, ohne zurückzuweichen.

Vater war so stolz auf ihn gewesen, dass er sich nicht mehr Haroun nannte, sondern Abu Utman, Vater des Utman. Nun aber war Utman tot und niemand sagte stattdessen Abu Arif zu Haroun. Dabei war er, Arif, jetzt der älteste Sohn Harouns – und das künftige Familienoberhaupt.

Vielleicht lauerten die Ungläubigen ihm auf, wie die Mutter befürchtete. Vielleicht töteten sie ihn. Dann war es eben so. Es war Zeit, dass er seinem Namen Ehre machte. Zeit, dass er wahren Mut bewies.

Die Muezzins riefen zum Nachmittagsgebet auf. »Allahu Akbar! Gott ist groß! Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah. Ich bezeuge, dass Mohammed der Prophet Gottes ist. Eilt zum Gebet! Eilt zur Rettung! Allahu Akbar. Es gibt keinen Gott außer Allah.«

Männer breiteten kleine Gebetsteppiche vor ihren Zelten aus. Sie stellten sich darauf, verbeugten sich mit geradem Rücken, indem sie die Hände auf ihre Knie legten, und richteten sich wieder auf. Dann fielen sie augenblicklich nieder, berührten mit Händen und Stirn den Boden und murmelten: »La ilaha illa’llah. Es gibt keinen Gott außer Gott. Muhammadun rasul Allah. Mohammed ist der Botschafter Gottes.« Wieder und wieder verbeugten sie sich.

Arif ging an ihnen vorüber. Er würde das Gebet am Abend nachholen. Wichtig war allein, dass es im Laufe des Tages fünf Gebete waren, lehrte der Scheich. Vater konnte den Stammesältesten nicht leiden, aber der Scheich musste es wissen, schließlich hatte er den gesamten Koran auswendig gelernt und trug den ruhmreichen Beinamen al-Hafiz, der Hüter, eine Ehre, die nur wenigen Glaubensgelehrten auf der ganzen Welt zuteilwurde.

Hinter den Zelten kamen die Dromedarherden in Sicht, der Reichtum des Stammes. Die Tiere rissen das trockene Gras aus und hoben die Köpfe zum Kauen. Die bepelzten Höcker hingen schlaff von ihren Rücken, viel bot es nicht, das felsige, mit Dornengestrüpp bewachsene Land. Aus der Wolle der Dromedare spannen die Frauen Garn, und aus dem Garn webten sie Teppiche, Zeltbahnen und Kleider. Die Kamelhäute wurden zu Leder verarbeitet, das Fleisch und die Kamelmilch nährten den Stamm.

Noch kostbarer als die Dromedare waren die Pferde. Ihre Koppeln befanden sich zwischen zwei kleinen Hügeln, Arif hielt jetzt darauf zu. Dromedare waren nützlich, wenn es galt, Beute zu transportieren – ein Dromedar hielt bis zu vier Wochen aus, ohne zu trinken, und es fraß nahezu alles, was es fand. Im Kampf aber war das Kamel wertlos. Die Männer stiegen von ihrem Dromedar ab, wenn die Schlacht begann, und kämpften lieber zu Fuß mit Speer oder Schwert. Wer reich war, wechselte auf sein mitgebrachtes Pferd. Mit ihrer Schnelligkeit und durch die überlegene Kampfhöhe beherrschten solche Reiter das Feld, oft entschied ihre Anzahl über den Ausgang einer Schlacht: Vom Pferderücken aus führte man stärkere Schwerthiebe und konnte Gegner umreiten, man konnte den feindlichen Bogenschützen in die Flanke fallen. Pferde bedeuteten Macht. Arifs Stamm besaß zwei große Herden, insgesamt fast einhundert Tiere.

Die Stimmen von Yusuf und Nuh drangen herüber. »Ich hab dich erschlagen«, keuchte Yusuf. »Zum dritten Mal!« Klirrend schlugen ihre Klingen gegeneinander.

Nuh erwiderte: »Hast du nicht! Es war eine Finte, du Esel.«

Arif straffte seine Schultern. Erhobenen Hauptes ging er an ihnen vorüber, als sei nichts gewesen, als habe die Demütigung, die er vor fünf Tagen erlitten hatte, nie stattgefunden.

Der Streit der beiden Zakariyyas verstummte und Yusuf rief: »Schau an, Arif kommt aus seinem Loch gekrochen.«

»Und er hat sein Spielzeugschwert dabei«, spottete der schwarzhäutige Nuh.

Arif ging schweigend weiter. Die Zakariyyas waren seit Jahrzehnten mit seiner Familie zerstritten, und das, obwohl sie dieselben Vorväter gehabt hatten. Aber im Kampf um die Herrschaft zählte entfernte Verwandtschaft nichts. Die Rivalität, die einige Jahre kaum merklich geschwelt hatte, loderte seit Utmans Tod wieder auf. Dass Utman nicht mehr am Leben war, weckte die Hoffnung der Zakariyyas, sie könnten Haroun ablösen und die Führerschaft im Stamm übernehmen.

»Suchst du Marwan, um es ihm heimzuzahlen?« Yusuf lachte böse. »Vergiss es. Er macht dich fertig.«

Sie folgten ihm.

»Alle reden von deiner Niederlage«, sagte Yusuf. »Dein Ansehen ist dahin, Arif. Geh, stürz dich irgendwo runter. Du hast nicht den Mumm, den Utman hatte, du bist einfach ein Krieger der zweiten Reihe, Futter für den Pfeilhagel.«

Das ging zu weit. Arif blieb stehen und legte die Hand an den Schwertknauf.

»Ach, hab ich dich etwa verletzt?« Yusuf trat von hinten so nahe an ihn heran, dass Arif seinen warmen Atem im Nacken spüren konnte. »Willst du dich mit mir messen? Ich mache dich fertig, genauso wie Marwan dich fertiggemacht hat.«

Utman war breitschultrig gewesen, er hatte seine Hiebe mit solcher Kraft geführt, dass Rüstungen darunter zerbarsten. Diese Kraft besaß Arif nicht. Trieb man ihn in die Enge und kam es auf ein Kräftemessen an, so versagte er. Aber in einem übertraf er alle anderen: Er war schnell.

Er drehte sich um und zog in derselben Bewegung sein Schwert.

Yusuf, der das erwartet hatte, sprang zurück und hielt seine Klinge vor sich.

Aber zu spät, Arif war mit seinem Schwert unter Yusufs Deckung hindurchgetaucht und von links wieder aufgestiegen. Er hielt es ihm an die Kehle. »Du bist zu langsam, Yusuf.«

Yusuf Zakariyya ließ sein Schwert sinken. Er hielt angestrengt den Hals still, um sich nicht an Arifs Klinge zu verletzen. »Diesmal«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.

»Nimm zurück, was du gesagt hast.«

Yusuf zögerte, aber als Arif den Druck der Klinge auf seine Kehle verstärkte, krächzte er: »Ich hab’s nicht so gemeint.«

Natürlich hast du es gemeint, dachte Arif, du hältst mich für feige. Er senkte sein Schwert. »Wenn ich wirklich keinen Mut hätte, würde ich wohl kaum allein zu den Ungläubigen reiten. Ihr könnt übrigens gern mitkommen und euch dort mit den richtigen Feinden messen, wenn ihr euch das traut.«

Nuh und Yusuf entglitten die Gesichtszüge. »Das erlaubt dein Vater nicht«, sagte Nuh.

»Er hat es erlaubt.«

»Sie werden dich umbringen«, sagte Yusuf. »Die schlitzen dich auf.«

Arif zuckte die Achseln. Er steckte das Schwert zurück in die Scheide und ging weiter in Richtung der Koppeln. Sein Körper fühlte sich an, als sei eine neue Quelle der Kraft in ihm aufgebrochen. Ja, es war Zeit. Sie mussten endlich erkennen, wozu er in der Lage war.

Layla, seine Stute, stand wie immer abseits. Sie war von hässlicher, fahlroter Farbe und ihr Fell war voller Narben. Sie hielt es mit anderen Pferden nicht aus. Kamen sie ihr zu nahe, wurden sie fortgejagt. Die Leitstuten ließen sich das nicht gefallen und bissen ihr wütend die Flanken wund.

Er trat an sie heran und strich ihr beruhigend über die Nüstern. »Bist du bereit für ein Abenteuer? Ich muss mich auf dich verlassen können. Es geht um alles.« Er legte der Stute das Zaumzeug an, warf die Decke und den Sattel auf ihren Rücken und zog die Gurte straff.

Nuh und Yusuf standen am Rand der Koppel und beobachteten ihn. Ihre Gesichter waren ernst. Seit Arif denken konnte, waren sie seine Feinde gewesen, sie und ihr Bruder Marwan. Sie rechneten Marwan den Vorrang auf die Führerschaft im Stamm aus, das ließen sie Arif bei jeder Gelegenheit spüren. Seltsam, dass sie ihn jetzt besorgt anblickten, als wünschten sie sich, er würde verschont bleiben.

Arif führte Layla zum Tor der Koppel und öffnete es. Er brachte sie hinaus, schloss das Tor wieder und stieg auf ihren Rücken.

»Eine gute Jagd!«, sagte der Wachposten.

»Danke.« Ich gehe nicht jagen, dachte Arif, beugte sich nach vorn und flüsterte: »Auf in die Berge.« Er drückte Layla die Fersen in die Seiten. Sie machte einen kleinen Satz, tänzelte ein wenig zur Seite. Schließlich galoppierte sie hinaus auf die Ebene. Ihr Körper streckte sich unter Arif, ihre Hufe donnerten auf den Boden. Laylas Atem ging stetig, sie genoss den Galopp genauso wie er.

Er sah sich um. Sie zogen einen Schweif von Staub hinter sich her, und die Zelte entfernten sich, bald waren es nur noch schwarze Filzfleckchen in der Unendlichkeit der Steppe. Er ließ Marwan, Yusuf und Nuh hinter sich. Auch den Vater und seine Erwartungen. Arif kam es vor, als ließe er sein ganzes Leben zurück, die Feinde und Freunde und Tagespflichten, nur noch die Steppe war da und er verschwand in ihr und wurde Teil der weiten Ebene.

Er sah wieder nach vorn. In der Steppe verstreut standen verkrüppelte Bäume wie uralte Wächter, sie duckten sich unter den Himmel, das ruhige blaue Meer ohne Wolken. Über den Horizont hinaus erstreckten sich sandfarbene Felskegel. Dahinter lagen, in der flirrenden heißen Luft nur schwer auszumachen, die Berge, in denen sich die Christen versteckten.

Arif fühlte sich jeden Tag, als sei er versehentlich in einen Stamm und eine Familie hineingeboren worden, die nicht seine waren. Hier draußen atmete er frei. Die Ebene nahm ihn gerne auf.

Gerade war der Ramadan zu Ende gegangen, der Fastenmonat. Sie hatten das Id al-fitr gefeiert, das Ende der Fastenzeit. Es war das fröhlichste Fest im Jahr, man aß und trank und lachte. Aber wenn die anderen sich vergnügten, fühlte er sich noch weniger zugehörig. Sie staunten nicht über das Gras, das der Wind streichelte, und die Gazellen und die Hasen. Sie hörten nicht die leise Melodie der Feldlerchen. Stattdessen schlugen sie ihre Trommeln und tanzten, kauten, schluckten, stampften auf den Boden und schlugen sich auf die Schenkel.

Er hatte sich zurückgezogen, doch Marwan und seine Bande hatten ihn gefunden. Als er bei den Pferden im Gras saß und in die Ferne lauschte, schlichen sie sich von hinten an und warfen mit Erdklumpen nach ihm. Die Klumpen zerplatzten auf seinem Rücken.

Er blieb sitzen und versuchte, sie zu ignorieren. Während er so tat, als spürte er ihre Treffer nicht, feixten sie hinter ihm. Er wollte nicht aufstehen, wollte niemanden sehen, er wollte einsam sein mit der Steppe, warum begriffen sie das nicht?

»Treffer! Habt ihr’s gesehen?«

»Der hat gesessen!«

»Zielt mal auf den Kopf.«

Ein staubiger Lehmbrocken zerplatzte an seinem Hinterkopf in kleine Teile. Da sprang Arif auf. Er warf sich der Bande entgegen, trat und schlug zu. Bis Marwan ihn packte, ihn zu Boden stieß und verprügelte, dass ihm Hören und Sehen verging. Jeder seiner Versuche, sich zu befreien, war gescheitert. Der Anführer der Zakariyyas hatte ihn mit überlegener Kraft unten gehalten. Seit jener Nacht waren Arifs Arme übersät von blauen und roten Flecken.

Es tat ihm gut, dem Zeltlager zu entkommen. Wenn er mit der Nachricht heimkehrte, dass er die Christen aufgespürt hatte, er allein, dann würde sich sein Leben ändern. Er hätte mehr Mut bewiesen als die Krieger, die immer nur in großen Trupps ausschwärmten. Damit würde er seiner Familie die Führerschaft zurückerobern und man würde ihm endlich wieder mit Respekt begegnen.

Arif zügelte die Stute. Näher durfte er an die Berge nicht heranreiten, solange es Tag war. Die Ungläubigen hatten sicher Späher in den Klüften aufgestellt. Die Staubwolke, die er aufwirbelte, konnte man weithin sehen. Ein wachsamer Krieger mit scharfen Augen erblickte in dieser Ebene jeden Reiter. Es war besser, wenn er erst in der Nacht die Berge erreichte.

Der Galopp war ein Vergnügen gewesen. Von jetzt an musste die Vernunft regieren, wenn er am Leben bleiben wollte. »Teil dir deine Kräfte ein, Layla. Du wirst sie noch brauchen.« Er sprang ab. Das Fell der Stute glänzte von Schweiß, ihr Atem ging stark und trotzdem stampfte sie unruhig mit den Vorderhufen im Sand. Arif lachte. »Ich weiß, dass du noch weiterkannst.« Auch ihn zog es voran. »In ein paar Stunden geht die Sonne unter. Bis dahin warten wir. Hab ein bisschen Geduld.«

Er kniete sich in den Sand und streichelte die dürren Grashalme. Überall war Leben. Selbst in diesem Landstrich, wo es selten regnete. Als sich Laylas Atem beruhigt hatte, zog er seine Jacke aus und breitete sie vor sich hin. Mit etwas Sand wusch er sich die Hände. Dann wusch er auf die gleiche Weise die Lippen, die Nase, den rechten Unterarm, den linken Unterarm, das Gesicht. Er strich sich über den Kopf, die Ohren, den rechten und den linken Fuß.

Nachdem er sich so auf das Gebet vorbereitet hatte, verneigte er sich Richtung Süden, nach Mekka hin, und betete: »La ilaha illa’llah. Muhammadun rasul Allah.«

Layla rupfte Gras und zermalmte es mit den Zähnen.

3

Die Strohsäcke von Vater und Pherenike knisterten nicht, beide lagen sie reglos und schliefen. So still war es in der Höhle, dass die Geräuschlosigkeit Savina auf die Ohren drückte. Sie setzte sich auf. Nie und nimmer hätte sie Jon den Kuss durchgehen lassen dürfen. Er hatte doch gemerkt, dass sie ihn nur halbherzig wegstieß. Was sollte er davon halten? Vielleicht lag er genauso wach wie sie, aber nicht, weil er sich Vorwürfe machte, wie sie es tat, sondern weil sich sein Herz vor Liebe zuschnürte. Wie konnte sie das ihrem besten Freund antun!

Sie blickte in die Schwärze, ihre Augen suchten den Tisch und die Sitzbänke. In der Dunkelheit tanzten farbige Staubkörner. Dass ihre Augen ihr die Staubkörner nur vorgaukelten, wusste sie. Trotzdem gefielen sie ihr. Rot, Blau, Grün, Violett, Gelb. Der Berg verschluckte alles Lichte, Helle, aber er hatte es nicht geschafft, die bunten Staubkörner zu verschlingen.

Savina fühlte nach ihren Schuhen, hob sie auf und drückte sie sich an den Bauch. Sie verließ das Bettlager. Mit nackten Füßen schlich sie über den Felsboden. Als sie die Wand spürte, tastete sie sich an ihr entlang bis zum Ausgang der Höhle und schlüpfte durch den Fellvorhang nach draußen.

Der Gang war ebenso finster. Erst an seinem Ende schimmerten die Wände von entferntem Fackellicht. Savina ging dem Lichtschein entgegen, immer noch barfuß, obwohl sich die Haut an ihren Füßen vor Kälte zusammenzog. Wo die Fackeln brannten, waren Wächter, die Wächter durften sie nicht hören. Es war verboten, die unterirdische Stadt zu verlassen.

In Friedenszeiten lebten sie draußen in der Sonne, aber wenn ein Angriff kam wie in diesem Sommer, nisteten sie sich im Berg ein, sie wurden Würmer, die ihre Gänge in den Stein fraßen. Alles in Korama bestand aus Stein, selbst die Sitzbänke in der Kirche.

Seit achtzig Jahren kamen die Araber, um sie auszurauben, Großvater war noch ein kleines Kind gewesen, als es begonnen hatte. Seitdem zogen die Araber in immer neuen Wellen heran und verwüsteten das Land.

Aber sie, Savina, war nicht bereit dazu, ein Steinwurm zu werden. Niemand hatte das Recht, sie einzusperren und ihr alles zu nehmen, was für sie die Tage lebenswert machte.

Bevor sie den Raum der Wächter erreichte, bog sie nach rechts ab und eilte eine kleine Treppe hinauf. Schwacher Lichtschein fiel aus einer der Wohnungen auf den Flur, offenbar kochte jemand mitten in der Nacht, es roch nach angebrannter Weizengrütze. Lautlos schlich sie an dem beleuchteten Wohnungseingang vorbei, bis sie den Schacht erreichte. Die Tritte, die dort in den Felsen gehauen waren, ließen sich im schummrigen Licht kaum erkennen. Geübt fanden ihre Finger und Zehen dennoch die richtigen Ritzen, und sie zog sich hinauf ins nächste Stockwerk der unterirdischen Stadt. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf diesem Weg nach oben kletterte.

Bei den Ställen war die Gefahr am größten, entdeckt zu werden. Die Ziegen und Schafe durften nicht unruhig werden, sonst schöpften die Wächter Verdacht. Savina hielt den Atem an und schlich an den Ställen vorbei. Ein Schaf blökte. Hufe scharrten. Aber das war nur leise gewesen, sie konnte sich getrost weiterwagen.

Wo der Gang an seiner engsten Stelle beinahe ihre Schultern berührte, stellte sie den Fuß auf einen Vorsprung in der Wand und fasste nach einem höhergelegenen Halt. Sie zog sich in den Lüftungsschacht hinauf. Steinbröckchen knirschten unter ihren Zehen. Plötzlich fiel Licht in den Gang.

Sie hielt still, lauschte. Schritte kamen näher. Ein bärtiger Wächter mit einer Fackel ging unter ihr hindurch. Savinas Arme zitterten vor Anstrengung, aber sie rührte sich nicht, bis der Mann fort war und nur noch ein schwacher Lichtschimmer weit hinten im Gang von ihm kündete.

Sie kletterte weiter den Schacht hinauf, setzte die Füße auf kleine Felsvorsprünge, zog sich mit den Händen höher und suchte neuen Halt. Der Schacht knickte zweimal ab, dort zwängten die Felswände ihren Brustkorb ein, als wollten sie versuchen, sie festzuhalten. Savina schob sich hindurch. Schließlich öffnete sich über ihr der Sternenhimmel. Sie stieg an einem Strauch vorbei nach draußen.

Die Mondsichel leuchtete hell und geheimnisvoll, umgeben von Tausenden Sternen. Savina zog die Schuhe an und tanzte den Berg hinab. Wie gern hätte sie ein Kleid aus nachtblauer Seide getragen. Sie war verbündet mit den Sternen und dem Mond, fühlte den Nachtwind auf der Haut und wilden Thymian an den Fußknöcheln.

Die Höhlenstadt erstickte und beengte sie. Nur hier draußen fand sie all das, was sie an die Höhlenwände malte: Gärten, Vögel, den Himmel. Sie trat an einen Baum heran und berührte seine Rinde. Sie war hart und rissig, und doch lebte der Baum. Was mochte er schon alles gesehen haben! Vielleicht war er ein junger Schössling gewesen, als ihr Volk noch ohne Furcht überirdisch lebte.

War das Gestrüpp dort hinten ein Vogelbeerbaum? Sie lief hin, pflückte eine Beere und steckte sie in den Mund. Als sie darauf biss, war die Beere so sauer, dass ihre Zähne ganz stumpf wurden und sich die Zunge verkrampfte. Savina spuckte auf den Boden. Eindeutig Vogelbeeren. Sie waren nur genießbar, wenn man sie kochte.

Sie pflückte weitere Beeren vom Vogelbeerbaum und steckte sie in den kleinen Beutel, der um ihren Hals hing. Morgen würde sie, wenn niemand zusah, den Saft auspressen und ihn mit Honig süßen. Sie würde ihn Großvater zu trinken geben, das trieb den Harn aus und half gegen die Gicht. Großvater konnte sich kaum noch rühren, er brauchte Linderung.

Niemand außer ihm wusste, dass sie ausbüxte, und selbst er hatte keine Ahnung, wie oft sie das tat. Sie liebte ihn, seine weichen Hände, die wässrigen Augen und die Art, wie er redete: bedächtig und mit altersrauer Stimme. Wenn er sie ansah, war sein Blick voller Güte und Wärme.

Arif saß ab. Er warf Layla die Zügel auf den Rücken. Sie trottete zum Rand der Steppe und begann zu grasen. Nach einem letzten prüfenden Blick trat er zwischen die Felskegel am Fuß der Berge.

Sie ragten haushoch empor wie die siebenstöckigen Lehmziegelgebäude im Jemen. Die Steinkegel hatten die Klagemäuler weit aufgerissen, Höhlen, in denen die Nacht pechschwarz war. Raubtiergestalten. Versteinerte Dschinngeister. Götzen. Sie sahen aus, als würden sie heisere böse Rufe ausstoßen, um ihn zu verraten.

Immer tiefer schlich er sich in das Labyrinth aus Felsen. War da eine Treppe? Sie lud ihn in einen der Schlünde ein, als strecke das Untier seine Zunge heraus und locke ihn in sein Maul.

Hier hatten die Christen gewohnt. Sie hatten die Felsen ausgehöhlt, um sie zu Häusern und Vorratskammern zu machen. Lautlos glitten Fledermäuse aus einem Augenloch der Felsen heraus, um in der Nacht zu jagen.

Troglodyten, so nannte man die Christen, die in dieser Gegend lebten. Es hieß, dass kein Gift der Welt sie töten könnte. Wenn eine Schlange einen Troglodyten biss, starb das Tier, nicht der Mensch.

Zu seinen Füßen schimmerte etwas Schwarzes. Er hob es auf. Es war ein Obsidianstein, glatt und angenehm lag er in der Hand und sah aus wie eine Träne aus Pech. Arif legte ihn zurück. Auf diesem Ort lastete ein Fluch, es war besser, er nahm nichts von hier an sich.

Arif betrat die Treppe. Sie gab nicht nach wie Zungenfleisch. Dicht an seinem Gesicht flatterte eine weitere Fledermaus vorüber. Er duckte sich und ging vorsichtig die Stufen hinauf. Dass die Troglodyten nicht vergiftet werden konnten, sei eine Legende, hatte Vater gesagt und in sämtliche Brunnen des Landstrichs Gift streuen lassen, außer in jene drei, die sein Heerlager bewachte. So wollte er die Christen aus ihren Verstecken herauszwingen. »Nimm einem Land das Wasser und es geht zugrunde. Jedes Dorf ist vom Wasser abhängig«, hatte Haroun erklärt.

Aber obwohl die Brunnen vergiftet waren, kamen die Troglodyten nicht heraus, und man fand auch keine Toten. Vielleicht, flüsterten die Krieger im Lager, stimmte es doch, dass Gift ihnen nichts anhaben könne.

Arif blieb stehen, wo der Kopf der Treppe in einen Hauseingang mündete, und lauschte. Er konnte kein Atmen hören. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, und er erkannte eine weitere Treppe, die im Inneren des Felsenhauses nach oben führte. Außerdem sah er etwas Dunkles am Boden. Er kauerte sich nieder und streckte die Hand aus. Seine Finger berührten scharfkantige Scherben. Ein zerborstener Tonkrug? Er stieg darüber hinweg und untersuchte den restlichen Höhlenboden. Nirgendwo lagen Matten oder Kissen. Die Troglodyten hatten alles in ihr Versteck mitgenommen, in jene finstere Schlucht, die der Vater nicht finden konnte.

Plötzlich meinte er, eine Gestalt zu sehen, die an der Rückwand stand. Angst kroch ihn an, er konnte sich nicht rühren. Die Gestalt bewegte sich genauso wenig. War es ein Dämon, der ihn lauernd beobachtete? Er umfasste den Talisman, den er um den Hals trug, und ging langsam rückwärts. Die Tonscherben krachten, von seinen Füßen zertreten. Er machte rasch kehrt und verließ den ausgehöhlten Steinkegel.

Draußen atmete er auf. Das war nichts gewesen, bloß ein gewöhnlicher Schatten. Dennoch, wenn er zur Felsöffnung hinaufsah, war ihm, als wehte ihn ein kalter Hauch an.

Er wandte sich nach links, dann wieder nach rechts. Zwischen den Steinkegeln verästelten sich enge Pfade und verwirrten ihn mit ihren Abzweigungen und Sackgassen. Was, wenn die Christen ihn längst beobachteten? Sein Puls beschleunigte sich. Es war ein Unterschied, ob man in ein Gebiet hineinschlich, um es auszuspähen, oder ob man darin herumirrte, immer in der Gefahr, Wachen in die Speerspitzen zu laufen.

Zwischen zwei versteinerten Dschinngeistern hindurch sah er einen Gebirgshang aufragen. Er war so froh, aus dem Labyrinth herausgefunden zu haben, dass er große Schritte machte und beinahe gegen die kleine Mauer aus behauenen Steinen lief, die sich vor ihm durch die Nacht zog. Er verharrte und strengte die Augen an, um im Dunkeln etwas zu erkennen. Jenseits der Mauer schien ein Garten zu liegen. Arif stieg über das Mäuerchen. Melonen wuchsen hier, pralle runde Köpfe. Er fand Kichererbsenkraut und Gurken. Eine Gurke brach er ab und biss hinein. Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, aber die Gurke war von knackiger Frische. Ihr Inneres zerplatzte im Mund und floss wässrig in seine Backen. Fluch hin oder her –

Arif stockte.

Er befühlte erneut die Pflanze. Da waren nasse Abbruchstellen! Kurz zuvor war jemand hier gewesen und hatte Gurken geerntet. Es konnte kein Tier gewesen sein, ein Tier hätte nicht zwei Gurken bis zum Strunk säuberlich verspeist und die dritte unversehrt gelassen. Er sah sich um. Layla war ruhig gewesen, als er sie am Rand des Labyrinths zurückgelassen hatte. Sie witterte Mensch und Tier zuverlässig. Aber es musste jemand hier gewesen sein. Die Gurken selbst waren der Beweis dafür, solche knackigen Gurken gediehen nur, wenn man die Pflanzen bewässerte. Die Troglodyten haben ihre Gärten nicht aufgegeben, dachte er, sie sind noch in der Nähe. Er stand auf. Böse starrten ihn die dunklen Höhlenaugen der Felshäuser an.

Womöglich zielten die Troglodyten gerade mit Wurfspeeren auf ihn, bereit, sie zu schleudern, sobald er sich näherte. Er zog den Kopf ein, schlich gebückt bis zur Mauer. Lautlos sprang er hinüber und kroch im Schatten der Steindämonen in Richtung Berghang, dahin, wo er Layla zurückgelassen hatte. Am letzten Steinkegel hielt er inne und spähte aus.

Da war Layla.

Aber sie war nicht allein.

Ein Frau stand bei der Stute. Auf ihrem schwarzen Haar glänzte das Mondlicht, und sie streichelte der Stute den vernarbten Hals. »Du Armes«, sagte sie leise, »wer hat dich so misshandelt? Ich wäre an deiner Stelle auch abgehauen.«

Sie sprach Griechisch. Wie sie die Worte formte, unterschied sich sehr von der Aussprache, die ihn der Scheich in den Unterrichtsstunden gelehrt hatte – ihr Griechisch war nicht durch den harten arabischen Zungenschlag eingefärbt. Weich sprach sie die Wörter aus, als sei da ein schlafendes Kind, das sie nicht wecken wollte, und tätschelte dabei weiter Layla den Hals. Ihre schmalen Schultern waren von blasser Haut, auch die Hand auf Laylas Fell. Sie musste eine Troglodytin sein, es hieß, dass Troglodyten das Sonnenlicht mieden. Wie hatte sie es geschafft, sich der Stute zu nähern? Layla hätte scheuen müssen, sie hätte nach der Frau beißen müssen! Stattdessen stand sie ruhig da und ließ sich berühren.

Die Frau war jung, fast noch ein Mädchen, und sicher unverheiratet. Frauen in ihrem Alter hatten im Zelt zu bleiben, sie spazierten nicht allein im Freien herum, das gehörte sich nicht. Lief die Troglodytin wirklich ohne Begleitung durch die Nacht? Es war ihm unbegreiflich.

Die Frauen, die er kannte, trugen goldene Armreifen und Ohrringe. Diese trug keinen Schmuck, und doch war sie so schön wie der Mond.

»Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte sie. »Wirst du allein zurechtkommen? Du musst die Quellen meiden, die haben sie vergiftet. Friss das taufeuchte Gras. Dann passiert dir nichts.« Sie fuhr mit ihrer Hand über Laylas Kruppe und Flanken. »All die Narben! Ich fasse es nicht, dass sie dir das angetan haben. Araber sind Bestien.«

Die Mondfrau bückte sich, rupfte etwas Gras ab und bot es der Stute an. Layla hielt schnuppernd die Nüstern darüber. Schließlich nahm sie die Halme mit den weichen, behaarten Lippen auf und fraß sie.

»Lässt du mich aufsteigen? Ich hab noch nie auf einem Pferd gesessen.« Die Frau trat neben den Sattel und steckte ihren Fuß in den ledernen Steigbügel. Ein Zucken ging durch Laylas Körper. Die Stute sprang beiseite. Die Frau hing im Steigbügel fest und wurde mitgerissen. Kopfunter schleifte sie über den Boden.

Arif schnellte hoch. Er rannte hinterher, kürzte ab, indem er sich durch ein Gebüsch schlug, und sprang Layla mit ausgebreiteten Armen in den Weg. »Ruhig!«, befahl er. »Steh!« Layla versuchte, ihm auszuweichen, aber er fasste nach dem Zaumzeug und hielt die Stute fest.

Die Frau hing schreckensstarr im Steigbügel und sah ihn an. Endlich begann sie zu zappeln und befreite sich. Sie stand auf. In sicherer Entfernung klopfte sie sich das Gras vom Kleid. Ihr zartes Kinn und die gerade Nase wirkten anmutig, nur die Brauen, die beinahe über der Nase zusammenwuchsen, wölbten sich drohend.

Natürlich. Er hatte Arabisch gesprochen. Das hatte sie erschreckt. Er sagte in griechischer Sprache: »Mein Name ist Arif ibn Haroun ibn Abu Bishr ibn Asad.«

Sie verzog spöttisch den Mund. »Genug Namen für eine ganze Familie.«

»Wer bist du?«, fragte er. Als er sah, dass sie ihren Kopf massierte, fügte er hinzu: »Hast du dir wehgetan?«