Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele - Douglas Adams - E-Book

Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele E-Book

Douglas Adams

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Beschreibung

Schräger Humor und beissende Ironie - Douglas Adams in Hochform: Privatdetektiv Dirk Gently ist in Band 2 der Mini-Serie auf der Suche nach einem Flughafenattentäter - alle Spuren führen zu Gott. Doch warum sollte Gott einen Abfertigungsschalter am Londoner Flughafen Heathrow in die Luft jagen?

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Die OriginalausgabeTHE LONG DARK TEA-TIME OF THE SOULerschien bei William Heinemann Ltd., London
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Copyright © 1987 by Douglas AdamsCopyright © 1989 der deutschen Ausgabe by Rogner & BerhardGmbH & Co. Verlags KG, HamburgWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Umschlagillustration: Hendrik DorgathenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: (3677) IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-18484-1V004
http://www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

Das Buch

Am Terminal 2, einem ziemlich häßlichen Gebäude des Londoner Flughafens Heathrow, fliegt, in einen Feuerball gehüllt, ein Abfertigungsschalter durch die Decke. Die Behörden stehen vor einem Rätsel, und so wird die Explosion als ein Akt höherer Gewalt erklärt. Steht dieses Geschehen etwa mit einem mysteriösen Mord in Zusammenhang, bei dem der Kopf des Toten auf einer sich munter weiterdrehenden Schallplatte montiert wurde? Der Ermordete war Klient in Dirk Gently’s Holistischer Detektei, und der exzentrische Detektiv hat es auf einmal nicht nur mit seinem verwahrlosten Kühlschrank, sondern auch mit einer geheimnisvollen Macht zu tun ...

Nach Der elektrische Mönch genießt auch der zweite Band aus der Dirk Gently-Serie nicht nur bei Freunden des schwarzen britischen Humors längst Kultstatus.

Der Autor

Douglas Noel Adams wurde am 11.März 1952 in Cambridge geboren und beendete dort im Sommer 1974 sein Studium der englischen Literatur. Während seines Studiums machte er erste Erfahrungen auf dem Gebiet der Humoristik mit den damals ebenfalls unbekannten Kollegen von Monty Python. Nach vier Jahren als freier Autor gelang ihm über Nacht der Durchbruch: Seine BBC-Radioserie Per Anhalter durch die Galaxis, deren erster Teil im März 1978 ausgestrahlt wurde, entwickelte sich zu einem der erstaunlichsten Phänomene populärer Kultur zur Jahrzehntwende. Eine Fortsetzung der Radioserie, eine TV-Serie, ein Computerspiel, Schallplatten, Audiokassetten, mehrere Bühnen-Produktionen und sogar Handtücher waren Folge des Anhalter-Kults, der wenig später auch die USA erobern sollte. Seit Mitte der Achtziger beschäftigt er sich zunehmend dokumentarisch und philosophisch mit der Zukunft der Welt. Douglas Adams starb am 11. Mai 2001 in Santa Monica an den Folgen eines Herzinfarkts. Zuletzt arbeitete er an einer Drehbuchfassung für eine geplante Kinoverfilmung seines Debütromans.

Für Jane

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightWidmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. KapitelBesuchen Sie den Heyne Verlag im Social Web

1. Kapitel

Es kann kaum ein Zufall sein, daß es in keiner Sprache der Welt die Wendung »schön wie ein Flughafen« gibt.

Flughäfen sind häßlich. Manche sind sehr häßlich. Manche erreichen ein Ausmaß an Häßlichkeit, das nur das Resultat besonderer Kraftanstrengungen sein kann. Diese Häßlichkeit kommt zustande, weil Flughäfen mit Menschen angefüllt sind, die müde und verdrossen sind und gerade festgestellt haben, daß ihr Gepäck in Murmansk gelandet ist (Murmansk ist die einzige bekannte Ausnahme dieser ansonsten unerschütterlichen Regel), und weil die Architekten alles in allem versucht haben, diesem Umstand in ihren Entwürfen Rechnung zu tragen.

Sie waren bestrebt, das Müdigkeits- und Verdrossenheitsmotiv durch brutale Formen und nervenzerfetzende Farben zu akzentuieren, das Anliegen, die Reisenden für immer von ihren Koffern oder liebsten Angehörigen zu trennen, spielerisch in die Tat umzusetzen, den Reisenden mit Pfeilen zu verwirren, die auf Fenster, ferne Schlipsregale oder die gegenwärtige Position von Ursa Minor am Nachthimmel zu deuten scheinen, und wo immer möglich alle Rohrleitungen sichtbar zu machen, und zwar aus dem Grund, weil sie funktionell sind, und die Position der Flugsteige zu verstecken, wahrscheinlich aus dem Grund, weil sie’s nicht sind.

Inmitten eines Meeres verschwommener Lichter und eines Meeres verschwommener Geräusche stand Kate Schechter und hatte ihre Zweifel.

Den ganzen Weg von London nach Heathrow hatten sie Zweifel geplagt. Sie war weder abergläubisch noch etwa gar religiös, sie war einfach eine Frau, die sich absolut nicht sicher war, ob sie nach Norwegen fliegen sollte. Aber es wurde ihr zunehmend leichter zu glauben, daß Gott, wenn es einen Gott gab und auch nur entfernt die Möglichkeit bestand, daß irgendein gottähnliches Wesen, das bei der Erschaffung des Universums die Anordnung winzigster Teilchen hatte festlegen können, ebenfalls an der Lenkung des Verkehrs auf der M4 interessiert wäre, auch nicht wollte, daß sie nach Norwegen flöge. Der ganze Ärger mit den Tickets und die Schwierigkeit, eine Nachbarin zu finden, die sich um die Katze kümmern konnte, dann die Katze zu finden, damit sich um sie durch die Nachbarin gekümmert werden konnte, das plötzliche Loch im Dach, die verschwundene Brieftasche, das Wetter, der plötzliche Tod der Nachbarin, die Trächtigkeit der Katze –, alles hatte den Anschein einer mit Absicht angezettelten Behinderungskampagne, die allmählich begann, göttliche Ausmaße anzunehmen.

Sogar der Taxifahrer – als sie endlich ein Taxi gefunden hatte – hatte gesagt: »Norwegen? Warum wollen Sie denn dahin?« Und als sie nicht sofort geantwortet hatte: »Das Nordlicht!« oder »Die Fjorde!«, sondern einen Augenblick ein zweifelndes Gesicht gemacht und an ihrer Lippe genagt hatte, da hatte er gesagt: »Ich weiß, ich wette, es ist irgend so ’n Kerl, der Sie da raufschleppt. Ich sag Ihnen was. Sagen Sie ihm, er soll Sie mal. Fliegen Sie nach Teneriffa.«

Das war eine Idee.

Teneriffa.

Oder auch, wagte sie einen flüchtigen Moment lang zu denken, nach Hause.

Sie hatte aus dem Taxifenster stumm auf das wilde Verkehrsgewirr gestarrt und gedacht, wie kalt und erbärmlich das Wetter hier auch sei, es sei nichts im Vergleich dazu, wie es in Norwegen sein werde.

Oder aber zu Hause. Zu Hause wäre es im Augenblick ungefähr genauso eisig wie in Norwegen. Eisig und mit kleinen Dampfgeysiren durchsetzt, die aus dem Boden hervorbrachen, in der Frostluft hängen blieben und sich zwischen den Gletscherklippen-Fassaden der Sixth Avenue verteilten.

Ein rascher Blick auf den Weg, den Kate im Lauf ihrer dreißig Jahre zurückgelegt hatte, würde sie fraglos als New Yorkerin zu erkennen geben. Denn obwohl sie nur sehr kurze Zeit in dieser Stadt gelebt hatte, hatte sich der größte Teil ihres Lebens in einem konstanten Abstand dazu abgespielt. Los Angeles, San Francisco, Europa und eine Zeit zielloser Streifzüge durch Südamerika vor fünf Jahren, nachdem sie ihren frisch angetrauten Gatten Luke beim Versuch, sich in New York ein Taxi zu winken, durch einen Unfall verloren hatte.

Sie fand Gefallen an dem Gedanken, daß New York ihr Zuhause sei und daß sie es vermisse, aber eigentlich war das einzige, was sie wirklich vermißte, Pizza. Und zwar nicht bloß irgend so eine Pizza, sondern die Art Pizza, die an die Wohnungstür gebracht wird, wenn man anruft und darum bittet. Das war die einzige echte Pizza. Eine Pizza, für die man aus dem Haus gehen und an einem Tisch sitzen und auf rote Papierservietten starren mußte, war keine echte Pizza, ganz egal, wie viele Extrapeperoni und -anchovis sie drauflegten.

London war die Stadt, in der sie am liebsten wohnte, abgesehen natürlich von dem Pizzaproblem, das sie verrückt machte. Warum wollte niemand Pizza nach Hause liefern? Warum begriff niemand, daß es für das ganze Wesen einer Pizza von grundlegender Bedeutung ist, daß sie in einer heißen Pappschachtel an der Wohnungstür eintrifft? Daß man sie aus dem Pergamentpapier gleiten läßt und in zusammengefalteten Stücken vor dem Fernseher verzehrt? Welchen grundlegenden Defekt hatten die dämlichen, hochnäsigen, faulen Briten, daß sie diese simple Wahrheit nicht begriffen? Aus irgendeinem seltsamen Grund war das die einzige Enttäuschung, mit der einfach zu leben und die zu akzeptieren sie niemals lernen konnte, und ungefähr einmal im Monat wurde sie dann regelmäßig sehr deprimiert, rief bei einer Pizzeria an, bestellte die größte, luxuriöseste Pizza, die ihr in den Sinn kam – eine Pizza, im Grund mit einer Extrapizza drauf –, und bat dann freundlich darum, sie ihr zu liefern.

»Was bitte?«

»Liefern. Ich sage Ihnen meine Adresse –«

»Ich verstehe nicht. Wollen Sie nicht herkommen und sie sich abholen?«

»Nein. Sie werden Sie mir doch liefern? Meine Adresse –«

»Äh, wir machen das nicht, Miss.«

»Machen was nicht?«

»Äh, liefern …«

»Sie liefern nicht? Verstehe ich Sie richtig …?«

Der Dialog artete jedesmal rasch zu einer häßlichen gegenseitigen Beschimpfung aus, worauf sie sich erschöpft und elend fühlte, aber am nächsten Morgen viel, viel besser. In jeder anderen Hinsicht war sie einer der reizendsten Menschen, denen zu begegnen man hoffen konnte.

Aber der heutige Tag forderte sie bis zum letzten.

Es hatte auf der Autobahn schreckliche Staus gegeben, und als dem fernen Blinken blauer Lichter deutlich zu entnehmen war, daß die Ursache ein Unfall irgendwo vor ihnen sei, war Kate noch nervöser geworden und hatte starr aus dem anderen Fenster gesehen, als sie schließlich langsam dran vorbeigefahren waren.

Der Taxifahrer war schlecht gelaunt gewesen, als er sie endlich abgesetzt hatte, weil sie kein passendes Geld hatte, und es hatte eine Menge ärgerliches Gesuche in engen Hosentaschen gegeben, ehe er schließlich in der Lage war, Wechselgeld für sie zu finden. Die Atmosphäre war dumpf und gewittrig, und als sie nun mitten in der Hauptabfertigungshalle des Terminals Zwei im Flughafen Heathrow stand, konnte sie den Abfertigungsschalter für ihren Flug nach Oslo nicht finden.

Sie stand einen Moment sehr still da, atmete ruhig und tief und versuchte, nicht an Jean-Philippe zu denken.

Jean-Philippe war, wie der Taxifahrer richtig geraten hatte, der Grund, weshalb sie nach Norwegen flog, er war aber auch der Grund, weshalb sie überzeugt war, daß Norwegen als Reiseziel für sie absolut nicht empfehlenswert sei. Sobald sie an ihn dachte, fing ihr Kopf an zu vibrieren, und da schien es doch das beste, gar nicht erst an ihn zu denken, sondern einfach nach Norwegen zu fliegen, als wolle sie zufällig sowieso dorthin. Sie wäre dann schrecklich überrascht, wenn sie ihn unerwartet in egal welchem Hotel anträfe, das er auf die Karte geschrieben hatte, die im Seitenfach ihrer Handtasche klemmte.

Tatsächlich würde sie auf jeden Fall überrascht sein, wenn sie ihn dort vorfände. Was sie mit größerer Wahrscheinlichkeit vorfände, wäre eine Nachricht von ihm, die besagen würde, daß er unerwartet nach Guatemala, Seoul oder Teneriffa gerufen worden sei und daß er sie von dort anrufen werde. Jean-Philippe war der mit der größten Beständigkeit abwesende Mensch, dem sie je begegnet war. Darin war er der Gipfelpunkt einer ganzen Reihe von Menschen. Seit sie Luke an den großen gelben Chevrolet verloren hatte, war sie sonderbar abhängig gewesen von den recht nichtssagenden Gefühlsregungen, die eine Reihe egozentrischer Männer in ihr ausgelöst hatten.

Sie versuchte, all das aus ihren Gedanken zu streichen und auch die Augen für eine Sekunde zu schließen. Sie wünschte sich, wenn sie sie wieder öffnete, befände sich ein Schild vor ihr mit der Aufschrift: »Nach Norwegen dort entlang«, dem sie einfach folgen könnte, ohne über es oder andere Dinge noch jemals nachdenken zu müssen. So, überlegte sie in Fortführung ihres früheren Gedankengangs, entstünden vermutlich Religionen, und das müsse der Grund dafür sein, daß so viele Sekten auf Flughäfen herumlungerten und nach Konvertiten Ausschau hielten. Sie wissen, daß die Leute dort so verletzlich und durcheinander sind wie sonst nie und bereit, jede Art von Führung anzunehmen.

Kate machte die Augen wieder auf und war, natürlich, enttäuscht. Aber dann riß eine oder zwei Sekunden später eine lange wogende Menge verdrossener Deutscher in unsäglich gelben Polohemden vorübergehend auf und gab ihr kurz den Blick auf den Abfertigungsschalter nach Oslo frei. Sie hievte sich ihren Kleidersack wieder auf die Schulter und steuerte darauf zu.

An dem Schalter stand nur ein einziger Mensch, und der, so stellte sich heraus, hatte Schwierigkeiten oder machte vielleicht auch welche.

Er war ein großer Mann, eindrucksvoll groß und gut gebaut – ja, ausgezeichnet gebaut –, aber er sah gleichzeitig entschieden merkwürdig aus, und das auf eine Weise, mit der Kate nicht ganz zu Rande kam. Sie konnte nicht mal sagen, was an ihm so merkwürdig war, nur daß sie augenblicklich die Neigung hatte, ihn nicht auf die Liste der Dinge zu setzen, über die sie im Moment nachdenken wollte. Sie erinnerte sich, einen Zeitungsartikel gelesen zu haben, in dem stand, daß die zentrale Recheneinheit des menschlichen Gehirns nur sieben Gedächtnisspeicher besitze, was hieß, wenn man sieben Dinge gleichzeitig im Kopf hatte und dann an was anderes dachte, dann plumpste eins von den anderen sieben im selben Moment heraus.

In schneller Folge dachte sie daran, ob sie wohl das Flugzeug kriegen werde oder nicht, ob sie sich das bloß einbilde, daß es ein besonders saumäßiger Tag sei, dachte an Angestellte von Fluggesellschaften, die bezaubernd lächeln und atemberaubend unverschämt sind, an Dutyfree-Shops, die in der Lage sind, viel niedrigere Preise als normale Läden zu fordern, es aber – rätselhafterweise – nicht tun, daran, ob sie wohl einen Zeitschriftenartikel über Flughäfen zustande bekäme oder nicht, der ihr helfen könnte, die Reise zu finanzieren, ob ihr Kleidersack auf der anderen Schulter weniger weh täte und schließlich, trotz all ihrer gegenteiligen Bemühungen, an Jean-Philippe, der ganz allein wiederum eine Reihe von zumindest sieben Unterthemen bildete.

Der Mann, der streitend vor ihr stand, verschwand auf der Stelle aus ihren Gedanken.

Erst die Ankündigung der Flughafendurchsage, daß nun der letzte Aufruf für den Flug nach Oslo erfolge, zwang sie, ihre Aufmerksamkeit wieder der Situation vor sich zuzuwenden.

Der große Mann beschwerte sich darüber, daß ihm kein Platz in der ersten Klasse reserviert worden sei. Es hatte sich soeben herausgestellt, daß der Grund dafür war, daß er gar kein Erster-Klasse-Ticket besaß.

Kates Stimmung sank in den tiefsten Keller ihres Charakters, begann dort umherzustreifen und leise Knurrgeräusche von sich zu geben.

Jetzt stellte sich heraus, daß der Mann vor ihr in Wirklichkeit überhaupt kein Ticket besaß, und darauf begann die Auseinandersetzung sich unverblümt und wütend auf Themen wie das körperliche Äußere des Mädchens hinter dem Abfertigungsschalter auszuweiten, ihre Qualitäten als Mensch, Mutmaßungen über ihre Vorfahren, Spekulationen darüber, was für Überraschungen die Zukunft für sie und die Fluggesellschaft, für die sie arbeitete, noch in petto haben könnte, und verfiel schließlich zufällig auf das erfreuliche Thema Kreditkarte.

Der Mann hatte keine.

Weitere Diskussionen folgten und drehten sich um Schecks und darum, warum die Fluggesellschaft sie nicht akzeptiere.

Kate warf einen langen, langsamen, mordgierigen Blick auf ihre Uhr.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie, indem sie die Verhandlungen unterbrach. »Wird das noch lange dauern? Ich muß den Flug nach Oslo kriegen.«

»Ich bediene gerade diesen Herrn«, sagte das Mädchen, »in nur einer Sekunde bin ich für Sie da.«

Kate nickte und ließ höflich nur eine einzige Sekunde verstreichen.

»Es ist nur, daß der Flug jede Sekunde losgeht«, sagte sie dann. »Ich habe ein Gepäckstück, ich habe mein Ticket, ich habe eine Platzreservierung. Das dauert etwa dreißig Sekunden. Ich mische mich sehr ungern ein, aber noch weniger gern verpasse ich wegen dreißig Sekunden meinen Flug. Wegen dreißig echten Sekunden, nicht dreißig ›Nur-eine-Sekunde‹ Sekunden, die uns hier den ganzen Abend festhalten könnten.«

Das Mädchen von der Abfertigung wandte Kate den vollen Glanz ihrer Lippenpomade zu, aber ehe sie sprechen konnte, drehte sich der große, blonde Mann um, und die Wirkung seines Gesichts war leicht verwirrend.

»Auch ich«, sagte er mit einer langsamen, zornigen, nordischen Stimme, »möchte nach Oslo fliegen.«

Kate sah ihn an. Er wirkte absolut deplaziert auf einem Flughafen, oder vielmehr, der Flughafen um ihn herum wirkte absolut deplaziert.

»Naja«, sagte sie, »so wie sich die Sache im Moment entwickelt, sieht’s so aus, als würde es keiner von uns beiden schaffen. Können wir das mal eben klären? Woran hängt’s denn?«

Das Mädchen von der Abfertigung verströmte ihr bezauberndes, erstarrtes Lächeln und sagte: »Die Fluggesellschaft akzeptiert aufgrund ihrer Firmenpolitik keine Schecks.«

»Aber ich«, sagte Kate und knallte ihre Kreditkarte hin. »Buchen Sie das Ticket für den Herrn hier drauf, und ich nehme einen Scheck von ihm.«

»Okay?« setzte sie, an den großen Mann gewandt, hinzu, der sie mit wachsendem Erstaunen betrachtete. Seine Augen waren groß und blau und vermittelten den Eindruck, als hätten sie ihr Leben lang auf eine Menge Gletscher geblickt. Sie wirkten außerordentlich arrogant, aber auch umwölkt.

»Okay?« wiederholte sie lebhaft. »Mein Name ist Kate Schechter. Zwei C, zwei H, zwei E, und dazu ein T, ein R und ein S. Vorausgesetzt, sie sind alle vorhanden, ist die Bank wegen der Reihenfolge nicht pingelig. Die scheinen sie selber nicht zu kennen.«

Sehr langsam neigte der Mann in einer flüchtigen Dankesverbeugung leicht den Kopf vor ihr. Er dankte ihr für ihre Freundlichkeit, Liebenswürdigkeit und irgendein norwegisches Wort, das sie nicht verstand, er sagte, es sei schon lange her, seit er so etwas erlebt habe, sie sei eine Frau von Charakter und noch irgendein norwegisches Wort, und er stehe in ihrer Schuld. Er setzte außerdem hinzu, daß er kein Scheckbuch besitze.

»In Ordnung!« sagte Kate, entschlossen, sich nicht von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sie angelte in ihrer Handtasche nach einem Stück Papier, nahm einen Kugelschreiber von dem Abfertigungstresen, kritzelte was auf das Papier und schob es ihm rüber.

»Das ist meine Anschrift«, sagte sie, »schicken Sie mir das Geld. Versetzen Sie notfalls Ihren Pelzmantel. Aber schicken Sie’s mir. Okay? Ich vertraue Ihnen blind.«

Der große Mann nahm das Stück Papier, las die wenigen Worte mit enormer Langsamkeit, dann faltete er es umständlich zusammen und steckte es in seine Manteltasche. Wieder verbeugte er sich ganz leicht vor ihr.

Kate bemerkte plötzlich, daß das Mädchen von der Abfertigung schweigend darauf wartete, daß ihr der Kugelschreiber zurückgegeben würde, damit sie das Kreditkartenformular ausfüllen könne. Verärgert schob sie ihn ihr rüber, reichte ihr das eigene Ticket und zwang sich zu eisiger Gelassenheit.

Die Flughafendurchsage verkündete den Start ihres Fluges.

»Darf ich bitte Ihre Pässe sehen?« fragte das Mädchen ohne Eile.

Kate reichte ihren rüber, aber der große Mann hatte keinen Pass.

»Was?« rief Kate. Die Angestellte hörte einfach auf, sich zu bewegen, starrte ruhig auf einen vagen Punkt auf ihrem Schreibtisch und wartete, daß jemand anderer eine Bewegung machte. Das alles war nicht ihr Problem.

Der Mann wiederholte aufgebracht, daß er keinen Paß besitze. Er brüllte es und schlug mit der Faust so fest auf den Tresen, daß er ihn durch die Wucht des Schlages leicht verbeulte.

Kate nahm ihr Ticket, ihren Paß und ihre Kreditkarte und hievte sich ihren Kleidersack wieder auf die Schulter.

»Da weiß ich auch nicht weitere, sagte sie und ging einfach weg. Sie hatte das Gefühl, jede menschenmögliche Anstrengung unternommen zu haben, um ihr Flugzeug zu kriegen, daß es aber nicht hatte sein sollen. Sie würde Jean-Philippe ein Telegramm schicken und ihm mitteilen, daß sie nicht dort sein könne, und seine Nachricht an sie würde wahrscheinlich in einem Fach daneben stecken und ihr mitteilen, warum er auch nicht dort sein könne. Zum erstenmal würden sie beide nicht dasein.

Zunächst mal würde sie sich etwas abregen müssen. Sie begab sich auf die Suche erstens nach einer Zeitung und zweitens nach Kaffee und konnte, indem sie den entsprechenden Zeichen folgte, beides nicht finden. Sodann konnte sie kein funktionierendes Telefon finden, von dem aus sie ein Telegramm aufgeben konnte, und beschloß, den ganzen Flughafen Flughafen sein zu lassen. Bloß raus hier, sagte sie sich, ein Taxi auftreiben und wieder nach Hause fahren.

Sie schlängelte sich durch die Abfertigungshalle wieder zum Ausgang durch und war dort fast angekommen, als sie zufällig einen Blick zurück auf den Abfertigungsschalter warf, der ihr die Niederlage beigebracht hatte, und da sah sie eben noch, wie er in einem orangefarbenen Feuerball durchs Dach schoß.

Während sie schmerzgequält im Dunkel erstickender Staubwolken unter einem Haufen Trümmer lag und herauszufinden versuchte, ob sie ihre Gliedmaßen noch spüren könne, verschaffte ihr wenigstens der Gedanke Erleichterung, daß sie es sich nicht nur eingebildet hatte, daß das ein schlechter Tag war. Und während sie es noch dachte, schwanden ihr die Sinne.

2. Kapitel

Die üblichen Leute versuchten, die Verantwortung zu übernehmen.

Erst die IRA, dann die PLO und das Gaswerk. Sogar die Britische Atomwirtschaft beeilte sich, eine amtliche Erklärung abzugeben, daß sie die Situation völlig unter Kontrolle habe, daß die Möglichkeit, daß überhaupt Radioaktivität entwichen sei, eins zu einer Million stehe, und daß der Ort der Explosion ein hübsches Ziel für einen Ausflug mit den Kindern und ein Picknick abgebe, ehe man schließlich zugeben mußte, daß die ganze Geschichte mit der Atomwirtschaft eigentlich überhaupt nichts zu tun hatte.

Keine Ursache konnte schließlich für die Explosion ermittelt werden.

Sie schien sich selbsttätig und aus freiem Willen ereignet zu haben. Erklärungen wurden vorgebracht, aber die meisten waren einfach irgendwelche Formulierungen, die das Problem mit anderen Worten umschrieben, und zwar nach demselben Prinzip, das der Welt den Begriff »Metallermüdung« beschert hat. Tatsächlich wurde ein ganz ähnlicher Ausdruck erfunden, um den Umstand zu erklären, daß Holz, Metall, Plastik und Beton urplötzlich in einen explosiven Zustand überführt worden waren, nämlich »nichtlinearer katastrophaler Strukturunwille«, oder anders ausgedrückt – wie es ein Unterstaatssekretär am Abend darauf im Fernsehen mit einer Formulierung tat, die ihn den Rest seiner Karriere verfolgen sollte – der Abfertigungsschalter hatte es einfach »grundsätzlich satt gehabt, dort zu stehen, wo er stand.«

Wie bei allen derartigen katastrophalen Ereignissen schwankten die Schätzungen der Opfer ungeheuer. Sie fingen bei siebenundvierzig Toten und neunundachtzig Schwerverletzten an, stiegen auf dreiundsechzig Tote und hundertdreißig Verletzte und kletterten schließlich bis zu hundertsiebzehn Toten hoch, ehe die Zahlen allmählich wieder nach unten korrigiert wurden. Die Abschlußzahlen ergaben, daß, sobald alle Leute, die abgehakt werden konnten, abgehakt worden waren, tatsächlich überhaupt kein einziger Mensch umgekommen war. Eine geringe Zahl war mit Schnittverletzungen, Prellungen und unterschiedlich schweren Schocktraumen ins Krankenhaus gekommen, aber das – es sei denn, jemand hatte irgendwelche Informationen darüber, daß tatsächlich jemand vermißt wurde –, war auch schon alles.

Doch war dies ein weiterer unerklärlicher Aspekt an der ganzen Geschichte. Die Wucht der Explosion hatte genügt, einen großen Teil der Fassade des Terminals Zwei in Schutt und Asche zu legen, und trotzdem waren alle Leute in dem Gebäude entweder irgendwie glücklich gefallen oder vor einem Stück zusammenbrechenden Mauerwerks durch ein anderes geschützt worden, oder ihr Gepäck hatte den Detonationsdruck aufgefangen. Alles in allem hatte überhaupt nur sehr wenig Gepäck die Sache überlebt. Im Parlament wurden diesbezüglich Fragen gestellt, aber keine sehr interessanten.

Es dauerte ein paar Tage, bevor Kate Schechter irgendwas von diesen Dingen oder, besser gesagt, überhaupt etwas von der Außenwelt gewahr wurde.

Sie verbrachte die Zeit ruhig in einer ganz eigenen Welt, in der sie, soweit das Auge reichte, von alten Schrankkoffern voller verflossener Erinnerungen umgeben war, in denen sie mit großer Neugier und manchmal Bestürzung herumkramte. Oder aber mindestens etwa ein Zehntel der Schrankkoffer enthielt lebendige und oft schmerzliche oder unangenehme Erinnerungen aus ihrem vergangenen Leben, und die restlichen neun Zehntel waren voller Pinguine, was sie überraschte. Soweit sie sich überhaupt bewußt wurde, daß sie träumte, wurde ihr klar, daß sie offensichtlich ihr eigenes Unterbewußtsein durchstöberte. Sie hatte mal gehört, daß der Mensch vermutlich nur etwa ein Zehntel seines Hirns benutze und daß niemand ganz genau wisse, wozu die anderen neun Zehntel da seien, aber sie hatte natürlich nie eine Andeutung darüber gehört, daß sie zur Aufbewahrung von Pinguinen benutzt würden.

Nach und nach begannen die Schrankkoffer, die Erinnerungen und die Pinguine zu verschwimmen, weiß und nebelhaft zu werden, dann wie Wände zu werden, die ganz weiß und nebelhaft waren, um schließlich zu Wänden zu werden, die bloß weiß waren, oder vielmehr von einem gebrochenen, gelblich-grünlichen Weiß, und Kate in einem kleinen Raum umschlossen.

Der Raum lag im Halbdunkel. Eine Nachttischlampe brannte, war aber heruntergedimmt, und das Licht einer Straßenlaterne sickerte zwischen den grauen Vorhängen hindurch und malte natriumgelbe Muster auf die gegenüberliegende Wand. Undeutlich wurde sie den schattenhaften Umriß ihres Körpers gewahr, der unter dem weißen, zurückgeschlagenen Bettuch und den fahlen, ordentlichen Decken lag. Sie starrte ängstlich eine Zeitlang hin und überprüfte, ob alles richtig aussah, ehe sie zaghaft versuchte, irgendeinen Körperteil zu bewegen. Sie versuchte es mit ihrer rechten Hand, und die schien in Ordnung zu sein. Sie war ein bißchen steif und tat weh, aber die Finger reagierten sämtlich, und alles schien die richtige Länge und Dicke zu haben und sich an den richtigen Stellen und in die richtigen Richtungen zu biegen.

Sie geriet ganz kurz in Panik, als sie ihre linke Hand nicht gleich orten konnte, aber dann fand sie sie. Sie lag auf ihrem Bauch und grabbelte irgendwie merkwürdig an ihr herum. Sie benötigte ein, zwei Sekunden äußerster Konzentration, um eine Reihe recht beunruhigender Gefühle zusammenzukriegen und sich klarzuwerden, daß ihr mit einem Verband eine Kanüle am Arm befestigt war. Das nahm sie ziemlich mit. Von der Kanüle schlängelte sich ein langer, dünner, durchsichtiger Schlauch nach oben, der im Licht der Straßenlaterne gelblich schimmerte und in einer sanften Kurve zu einem dicken Plastikbeutel führte, der an einem hohen Metallständer hing. Angesichts dieses Apparates überfiel sie kurz ein ganzes Geschwader von Horrorvisionen, aber dann spähte sie unsicher nach dem Beutel und sah die Aufschrift »Dextro-Saline«. Sie wartete, bis sie sich beruhigt hatte und lag ein paar Sekunden still da, ehe sie ihre Erkundung wieder aufnahm.

Ihr Brustkorb schien unversehrt zu sein. Geschunden und empfindlich, doch spürte sie nirgendwo heftigere Schmerzen, die darauf schließen ließen, daß irgendwas gebrochen war. Die Hüften und Oberschenkel schmerzten und waren steif, wiesen aber keine ernsthafte Verletzung auf. Sie spannte die Muskeln ihres rechten und dann ihres linken Beins an. Sie meinte fast, ihr linker Knöchel sei verstaucht.

Mit anderen Worten, sagte sie sich, sie war vollkommen in Ordnung. Also, was tat sie dann hier in diesem Haus, das nach der Eiterfarbe des Anstrichs zu urteilen zweifellos ein Krankenhaus war?

Sie setzte sich ungeduldig auf und leistete auf der Stelle für ein paar weitere unterhaltsame Minuten den Pinguinen Gesellschaft.

Als sie das nächste Mal zu sich kam, ging sie etwas pfleglicher mit sich um und blieb still liegen, während sie ein leichtes Schwindelgefühl verspürte.

Vorsichtig stupste sie ihr Gedächtnis danach an, was passiert war. Es war dunkel und fleckig und kam ihr in bleichen, schmierigen Wellen entgegen wie die Nordsee. Klumpige Formen drängten sich daraus hervor und setzten sich langsam zu einem schwankenden Flughafen zusammen. Der Flughafen war mürrisch und schmerzte in ihrem Kopf, und in seiner Mitte pulsierte wie eine Migräne die Erinnerung an einen Moment mit einer wirbelnden, pompösen Lichtwolke.

Es wurde ihr plötzlich völlig klar, daß die Abfertigungshalle des Terminals Zwei im Flughafen Heathrow von einem Meteoriten getroffen worden war. Als Silhouette vor dem Flammenmeer hob sich die in einen Pelzmantel gehüllte Gestalt eines riesenhaften Mannes ab, der die volle Wucht der ganzen Sache abgekriegt und auf der Stelle in eine Wolke aus Atomen verwandelt worden sein mußte, die frei dorthin zogen, wohin es ihnen gefiel. Auf den Gedanken hin durchfuhr sie ein gewaltiger und gräßlicher Schauder. Der Mann war aufreizend und arrogant gewesen, aber sie hatte ihn auf eine merkwürdige Weise gemocht. Es war etwas sonderbar Vornehmes an seiner bockbeinigen Sturheit gewesen. Oder vielleicht, dämmerte ihr, gefiel ihr der Gedanke, eine so bockbeinige Sturheit sei vornehm, weil sie sie an ihre eigenen Versuche erinnerte, in einer fremden, feindseligen und Pizza nicht ins Haus liefernden Umgebung sich eine Pizza ins Haus liefern zu lassen. Vornehmheit war ein Wort dafür, Theater um die trivialen Zwangsläufigkeiten des Lebens zu machen, aber es gab auch andere.

Sie fühlte eine plötzliche Welle der Angst und Einsamkeit in sich hochsteigen, aber die verebbte rasch wieder, und danach fühlte sie sich ruhiger, gelassener und bedürftig, die Toilette aufzusuchen.

Nach ihrer Uhr war es kurz nach drei, und nach allem anderen zu urteilen, war es Nacht. Sie sollte vielleicht die Schwester rufen und die Welt wissen lassen, daß sie zu sich gekommen war. Es befand sich ein Fenster in der Seitenwand des Raumes, durch das sie einen matt beleuchteten Korridor sah, in dem ein Rollbett und eine hohe, schwarze Sauerstoffflasche standen, der ansonsten aber leer war. Alles war sehr still da draußen.

Sie blickte sich in dem kleinen Zimmer um und sah einen weißgestrichenen Sperrholzschrank, zwei Stahlrohrstühle mit Kunststoffsitzen, die schweigend im Schatten lauerten, und einen weißgestrichenen Sperrholznachttisch, auf dem ein kleiner Teller mit einer einzelnen Banane stand. Auf der anderen Seite des Bettes befand sich ihr Tropfständer. Auf dieser Bettseite war auch eine Metallplatte mit zwei schwarzen Knöpfen in die Wand eingelassen, von der ein Paar alte Bakelitkopfhörer herabbaumelten, und um den Stahlrohrpfosten am Kopfende war ein Kabel mit einem Klingelknopf gewickelt, an dem sie herumfingerte, dann jedoch nicht zu drücken beschloß.

Es ging ihr schließlich gut. Sie würde sich schon allein zurechtfinden.

Langsam, ein wenig benommen stemmte sie sich auf ihre Ellbogen und ließ ihre Beine unter den Bettüchern hervor und auf den Boden gleiten, der sich für ihre Füße kalt anfühlte. Sie wußte fast im selben Augenblick, daß sie das nicht tun sollte, weil jeder Teil ihrer Füße ganze Ströme von Mitteilungen zurückschickte, die ihr genauestens kundtaten, wie sich das kleinste Stückchen Fußboden, das sie berührten, anfühlte, als wäre das eine so merkwürdige und beunruhigende Angelegenheit, wie sie sie noch nie erlebt hatten. Trotzdem setzte sie sich auf die Bettkante und zwang ihre Füße, den Fußboden als etwas hinzunehmen, an das sie sich einfach gewöhnen müßten.

Vom Krankenhaus war sie in ein großes, sackartiges, gestreiftes Ding gesteckt worden. Es war nicht nur sackartig, stellte sie fest, nachdem sie es sich näher besehen hatte, es war tatsächlich ein Sack. Ein Sack aus einem losen blauweiß gestreiften Baumwollstoff. Er war hinten offen und ließ die eisige Nachtluft ein. Angedeutete Ärmel fielen bis zur Hälfte der Arme herab. Sie bewegte die Arme im Licht, besah sich die Haut, rieb sie und kniff sie, besonders um den Verband herum, der die Tropfkanüle festhielt. Normalerweise waren ihre Arme geschmeidig, und die Haut war fest und elastisch. Heute abend jedoch sahen sie aus wie Hühnerteile. Rasch strich sie jeden Unterarm mit dem jeweils anderen glatt, und dann blickte sie wieder zielbewußt auf.

Sie streckte die Hand aus und griff nach dem Tropfständer, und weil der etwas weniger schwankte als sie, konnte sie ihn dazu benutzen, sich langsam daran hochzuziehen. Sie stand da, und ihre schlanke Gestalt zitterte, und nach ein paar Sekunden hielt sie den Tropfständer mit gebeugtem Arm von sich weg wie ein Schäfer seinen Hirtenstab.

Sie hatte es nicht nach Norwegen geschafft, aber sie stand wenigstens.

Der Tropfständer bewegte sich auf vier kleinen und jedes auf seine Weise eigensinnigen Rädern, die sich wie vier plärrende Kinder in einem Supermarkt benahmen, aber Kate gelang es trotzdem, ihn zu der Tür vor ihr zu schieben. Das Gehen steigerte ihre Benommenheit, steigerte aber auch ihren Entschluß, ihr nicht nachzugeben. Sie erreichte die Tür, öffnete sie, schob den Tropfständer vor sich hinaus und blickte in den Korridor.

Links von ihr endete der Gang in zwei Flügeltüren mit runden Guckfenstern, die in einen größeren Raum zu führen schienen, einen Krankensaal vielleicht. Rechts von ihr gingen eine Reihe von kleineren Türen von dem Korridor ab, der sich noch eine kleine Strecke fortsetzte, ehe er scharf um die Ecke bog. Eine von diesen Türen führte wahrscheinlich in die Toilette. Die anderen? Na, das würde sie herausfinden, während sie nach der Toilette suchte.

Die ersten beiden waren Schränke. Was hinter der dritten lag, war etwas größer und enthielt einen Stuhl und zählte deshalb wahrscheinlich als Zimmer, weil die meisten Menschen ungern in Schränken sitzen, selbst Krankenschwestern, die viele Dinge tun müssen, die die meisten Menschen ungern täten. Es enthielt außerdem einen Stapel Styroporbecher, viele zur Hälfte eingetrocknete Sahnekännchen und eine angejahrte Kaffeemaschine, die allesamt auf einem kleinen Tisch standen und sich unerbittlich über eine Nummer des Nummer des Evening Standard verbreiteten.

Kate nahm die schwärzliche, feuchte Zeitung und versuchte, sich daraus ein paar der ihr fehlenden Tage zu rekonstruieren. Aber aufgrund ihrer eigenen Wackligkeit, die ihr das Lesen schwer machte, und des schlaffen und zusammengeklebten Zustandes der Zeitung konnte sie nur wenig mehr als die Tatsache herausbekommen, daß eigentlich niemand ganz sicher sagen konnte, was passiert war. Es schien, daß niemand ernstlich Schaden erlitten hatte, daß aber der Verbleib einer Angestellten von einer der Fluggesellschaften noch immer nicht geklärt war. Der Zwischenfall wurde nun offiziell als »Akt höherer Gewalt« eingestuft.

»Na, reizend. Der liebe Gott vielleicht«, dachte Kate. Sie legte die Zeitungsreste wieder hin und schloß die Tür hinter sich.

Die nächste Tür, die sie probierte, führte in ein anderes kleines Krankenzimmer wie das ihre. Sie sah einen Nachttisch und eine einzelne Banane auf einem Obstteller.

Das Bett war sichtbar belegt. Sie zog die Tür rasch zu, aber sie zog sie nicht rasch genug zu. Leider hatte etwas Merkwürdiges ihre Aufmerksamkeit erregt, aber obgleich sie es bemerkt hatte, konnte sie nicht gleich sagen, was es war. Sie stand vor der halb geschlossenen Tür, den Blick auf den Boden gerichtet, wußte, daß sie nicht nochmal hingucken sollte, und wußte, daß sie’s täte.

Vorsichtig machte sie die Tür wieder auf.

Der Raum war tief verdunkelt und eiskalt. Die Eiseskälte machte, was den Insassen des Bettes betraf, keinen guten Eindruck auf sie. Sie horchte. Auch die Stille hörte sich nicht allzu gut an. Es war nicht die Stille eines tiefen und gesunden Schlafs, es war die Stille von nichts weiter als einem bißchen fernen Verkehrslärm.

Als Schattenriß in der Tür stehend, zögerte sie lange, guckte und horchte. Sie wunderte sich über die gewaltige Körperfülle des Bettinsassen und wie kalt ihm sicher war, zugedeckt nur mit einer dünnen Decke. Neben dem Bett stand ein stahlrohrbeiniger Stuhl mit Kunststoffschalensitz, der von einem riesigen, schweren Pelzmantel, der darüber gelegt war, fast erdrückt wurde, und Kate dachte, daß der Mantel doch besser über das Bett und dessen kalten Insassen gebreitet werden sollte.

Schließlich schlüpfte sie so leise und vorsichtig wie nur möglich in das Zimmer und ging hinüber zu dem Bett. Sie schaute hinunter in das Gesicht des riesigen nordischen Mannes. Obgleich er tot war und seine Augen geschlossen, machte er ein etwas mürrisches Gesicht, als wäre er über irgend etwas immer noch ziemlich bekümmert. Das kam Kate geradezu unendlich traurig vor. Im Leben hatte der Mann wie jemand gewirkt, der von gewaltigen, wenn auch irgendwie rätselhaften Schwierigkeiten heimgesucht wird, und daß er unmittelbar nach seinem Leben offenbar schon wieder auf Dinge gestoßen war, die ihm Kummer bereiteten, war ein trauriger Gedanke.

Sie war erstaunt, daß er so völlig unversehrt zu sein schien. Seine Haut zeigte überhaupt keine Verletzungen. Sie war rauh und gesund – oder war, besser gesagt, bis vor ganz kurzem gesund gewesen. Die nähere Erkundung zeigte ein Netzwerk feiner Linien, was vermuten ließ, daß er älter als die Mitte dreißig war, die sie anfangs angenommen hatte. Er hätte sogar ein sehr sportlicher und gesunder Endvierziger gewesen sein können.

An der Wand neben der Tür stand etwas Unerwartetes. Es war ein großer Coca-Cola-Automat. Es sah nicht so aus, als wäre er dort installiert: er war nicht angeschlossen, und es klebte ein kleiner, ordentlicher Aufkleber darauf, dem zu entnehmen war, daß er vorübergehend defekt sei. Er sah so aus, als habe ihn jemand dort einfach versehentlich stehen lassen, der möglicherweise in eben diesem Moment in der Gegend herumlief und sich fragte, in welchem Zimmer er ihn gelassen habe. Seine große, gewellte rotweiße Frontpartie starrte glasig in den Raum und gab für sich keine Erklärungen ab. Das einzige, was der Apparat der Außenwelt mitteilte, war, daß es einen Schlitz gebe, in den Münzen verschiedener Werteinheiten gesteckt werden könnten, und eine Öffnung, an die eine Vielzahl verschiedener Dosen ausgegeben würden, falls der Apparat funktionierte, was er nicht tat. Es lehnte auch ein alter Schmiedehammer dagegen, was auf seine Weise sonderbar war.

Eine Schwäche begann an Kate hochzukriechen, der Raum fing an, einen leichten Drall zu kriegen, und in den Schrankkoffern ihres Innern gab’s ein ruheloses Geraschele.

Dann bemerkte sie, daß es das Rascheln nicht bloß in ihrer Einbildung gab. Es war deutlich ein Geräusch im Zimmer, ein heftiges Klopfen und Kratzen, ein gedämpftes Flattern. Das Geräusch kam und ging wie der Wind, aber in ihrem benommenen und wirren Zustand konnte Kate zuerst nicht sagen, woher das Geräusch kam. Schließlich fiel ihr Blick auf die Vorhänge. Sie starrte sie mit dem besorgten Stirnrunzeln eines Betrunkenen an, der dahinterzukommen versucht, warum sich die Tür im Kreis dreht. Das Geräusch kam aus den Vorhängen. Sie ging unsicher darauf zu und zog sie auseinander. Ein gewaltiger Adler, auf dessen Schwingen Kreise tätowiert waren, trappte und stieß gegen das Fenster, starrte mit großen, gelben Augen herein und pickte wie versessen gegen das Glas.

Kate taumelte zurück, drehte sich um und versuchte sich aus dem Zimmer zu wuchten. Am Ende des Korridors schwangen die Gucklochtüren auf und zwei Gestalten kamen heraus. Hände eilten auf sie zu, als sie sich in dem Tropfständer hoffnungslos verhedderte und langsam auf den Boden zu trudeln begann.

Sie war bewußtlos, als man sie vorsichtig wieder in ihr Bett legte. Sie war auch eine halbe Stunde später bewußtlos, als eine beunruhigend kleine Gestalt in einem angsterregend langen, weißen Arztkittel kam, den riesigen Mann auf einem Rollbett wegfuhr und nach ein paar Minuten zurückkehrte, um den Coca-Cola-Automaten zu holen.

3. Kapitel

Dieselbe Sonne brach später durch die oberen Fenster eines Hauses in Nordlondon und fiel auf die friedlich schlafende Gestalt eines Mannes.

Das Zimmer; in dem er schlief, war groß und unaufgeräumt, und hatte keinen großen Vorteil von dem plötzlichen Lichteinfall. Die Sonne kroch langsam über die Bettücher weg, als sei sie ängstlich, was sie dazwischen finden könnte, schlich sich an der Seite des Bettes hinunter, bewegte sich recht verwundert über ein paar Gegenstände hinweg, die sie auf dem Fußboden fand, spielte nervös mit einigen Staubflocken, leuchtete kurz auf einem ausgestopften Flughund auf, der in der Ecke hing, und entfloh.

Dieser Auftritt war ungefähr so gewaltig, wie ihn die Sonne hier drin immer hinlegte, und er dauerte etwa eine Stunde, während der die schlafende Gestalt sich kaum rührte.

Um elf klingelte das Telefon, und immer noch reagierte die Gestalt nicht, genausowenig wie sie reagiert hatte, als das Telefon früh um fünf nach halb sieben geklingelt hatte, dann um zwanzig vor sieben, nochmal um zehn vor sieben, und nochmal zehn Minuten ununterbrochen ab fünf vor sieben, wonach es in ein langes, bedeutungsschwangeres Schweigen verfallen war, gestört nur durch das Schrillen von Polizeisirenen in einer nahegelegenen Straße etwa um neun Uhr, durch die Lieferung eines großen zweimanualigen Barockcembalos etwa gegen neun Uhr fünfzehn und die Beschlagnahmung desselben durch Gerichtsvollzieher kurz nach zehn. Das war kein ungewöhnliches Vorkommnis – die betreffenden Leute waren es gewohnt, den Schlüssel unter der Fußmatte zu finden, und der Mann im Bett war es gewohnt, das alles zu verschlafen. Man würde wahrscheinlich nicht sagen wollen, daß er den Schlaf der Gerechten schlief, es sei denn, man wollte damit sagen, daß die Gerechten schliefen, aber es war sicher der Schlaf von jemandem, der nicht lange Faxen machte, wenn er nachts ins Bett stieg und das Licht ausknipste.

Der Raum war keiner, um die Seele zu erheben. Ludwig XIV., um einen beliebigen Namen herauszugreifen, hätte ihn nicht gemocht, hätte ihn nicht sonnig genug gefunden und ungenügend mit Spiegeln vollgehängt. Er würde sich jemanden gewünscht haben, der die Socken aufhebt, die Platten wegpackt und vielleicht das ganze Zimmer niederbrennt. Michelangelo hätten die Proportionen deprimiert, die weder großzügig noch durch irgendeine bemerkenswerte innere Harmonie oder Symmetrie gekennzeichnet waren, nur daß alle Teile des Zimmers ziemlich gleichmäßig mit benutzten Kaffeetassen, Schuhen und randvollen Aschenbechern angefüllt waren, die sich inzwischen größtenteils ihre Aufgaben untereinander teilten. Die Wände waren in fast genau dem Grünton gestrichen, für den Raffaello Sanzio sich lieber die rechte Hand am Handgelenk abgebissen hätte als ihn zu benutzen, und wenn Herkules das Zimmer gesehen hätte, wäre er wahrscheinlich eine halbe Stunde später mit einem schiffbaren Fluß unter dem Arm wiedergekommen. Es war, kurz gesagt, ein Dreckloch und würde es wahrscheinlich auch bleiben, solange es im Besitz von Mr. Svlad oder »Dirk« Gently, geborenem Cjelli, war.

Endlich rührte sich Gently.

Die Bettücher und Decken wurden dicht um seinen Kopf nach oben gezogen, und irgendwo auf der halben Länge des Bettes tauchte langsam eine Hand unter den Bettüchern auf, deren Finger sich mit kleinen tappenden Bewegungen einen Weg über den Fußboden bahnten. Aufgrund langer Erfahrungen umgingen sie eine Schüssel mit etwas sehr Ekligem, die da schon seit Michaelis stand, und stießen wenig später auf eine halbleere Packung filterloser Gauloises und eine Schachtel Streichhölzer. Die Finger schüttelten ein zerknautsches weißes Röhrchen aus der Packung, nahmen es samt der Schachtel Streichhölzer und begannen dann, sich durch die am Kopfende zusammengeknäulten Decken hindurchzustochern wie ein Zauberer, der an einem Taschentuch herumbohrt, aus dem er einen Taubenschwarm flattern lassen möchte.

Die Zigarette wurde schließlich in das Loch geschoben. Die Zigarette wurde angezündet. Eine Zeitlang schien das Bett die Zigarette in mächtigen, keuchenden Zügen zu rauchen. Es hustete lange, laut und schauerlich und begann dann schließlich in einem regelmäßigeren Takt zu atmen. Und so erlangte Dirk Gently das Bewußtsein wieder.

Er lag eine Weile da und empfand schreckliche Unruhe und Gewissensbisse über etwas, das auf seinen Schultern lastete. Er wünschte, er könnte es einfach vergessen, und tat es prompt. Er stemmte sich aus dem Bett und tapste wenige Minuten später die Treppe nach unten.

Die Post auf dem Abtreter bestand aus den üblichen Sachen: einem rüden Brief, in dem ihm der Entzug seiner American-Express-Karte angedroht wurde, einer Einladung, sich um eine American-Express-Karte zu bewerben, und ein paar Rechnungen des eher hysterischen und unrealistischen Typs. Er verstand nicht, warum man sie ihm beharrlich schickte. Das Porto war doch einfach zum Fenster rausgeworfen. Er schüttelte den Kopf, verwundert über die bösartige Unfähigkeit der Welt, warf die Post weg, ging in die Küche und näherte sich vorsichtig dem Kühlschrank.

Er stand in der Ecke.

Die Küche war groß und in tiefe Düsterkeit gehüllt, die durch das Lichtanschalten nicht behoben, sondern nur gelb gefärbt wurde. Dirk kauerte sich vor den Kühlschrank und inspizierte eingehend den Rand der Tür. Er fand, wonach er suchte. Besser gesagt, er fand mehr als wonach er suchte.

Nahe der Unterseite der Tür, auf dem schmalen Spalt, der die Tür von dem eigentlichen Kühlschrank trennte und der den grauen Dichtungsgummistreifen enthielt, lag ein einzelnes menschliches Haar. Es war dort mit getrockneter Spucke befestigt. Das hatte er erwartet. Er hatte es selbst vor drei Tagen dort hingeklebt und seitdem mehrere Male nachgesehen. Was er dort nicht erwartet hatte, war ein zweites Haar.

Er betrachtete es mit besorgt gefurchter Stirn. Ein zweites Haar?

Es war auf dieselbe Weise wie das erste über den Spalt geklebt, nur dieses Haar befand sich nahe dem oberen Rand der Kühlschranktür; und er hatte es da nicht hingetan. Er sah es sich genau an, ja er ging sogar so weit, die alten Fensterläden an den Küchenfenstern zu öffnen, um etwas zusätzliches Licht hereinzulassen.

Das Tageslicht drängelte sich herein wie ein Polizeikommando und ließ jede Menge Was-ist-denn-das-alles im ganzen Raum ab, der, wie das Schlafzimmer, jeden Menschen mit Sinn für Ästhetik vor Schwierigkeiten gestellt hätte. Wie die meisten Räume in Dirks Haus war die Küche groß, hoch und total verkommen. Sie grinste nur höhnisch über irgendwelche Versuche, sie aufzuräumen, grinste diese Versuche höhnisch an und wischte sie beiseite wie eine aus dem Häufchen toter und entmutigter Fliegen, die unter dem Fenster auf einem Stapel alter Pizzaschachteln lagen.

Das Licht enthüllte, worum es sich bei dem zweiten Haar wirklich handelte – ein an der Wurzel graues Haar, das in einem grellen, metallischen Orange gefärbt war. Dirk preßte die Lippen zusammen und dachte sehr eingehend nach. Er brauchte nicht sehr genau nachzudenken, um rauszukriegen, wem das Haar gehörte – es gab nur eine einzige Person, die die Küche regelmäßig betrat und aussah, als wäre ihr Kopf dazu benutzt worden, Metalloxyde aus Industrieabfällen zu gewinnen –, aber er mußte ernstlich über die Folgen seiner Entdeckung nachdenken, daß sie ein Haar von sich über die Tür seines Kühlschranks geklebt hatte.

Es bedeutete, daß der schweigend ausgetragene Kampf zwischen ihm und seiner Putzfrau sich auf ein neues und erschreckenderes Niveau erhoben hatte. Es war mittlerweile, rechnete Dirk, volle drei Monate her, seit seine Kühlschranktür das letztemal geöffnet worden war, und jeder von ihnen war grimmig entschlossen, nicht derjenige zu sein, der sie als erster öffnete. Der Kühlschrank stand nicht mehr bloß einfach dort in der Küchenecke, er lauerte buchstäblich. Dirk konnte sich ganz deutlich an den Tag erinnern, an dem das Ding zu lauern begonnen hatte. Es war ungefähr eine Woche her, als Dirk versucht hatte, Dina – der Name der alten Schlampe war Dina, so auszusprechen, daß er sich auf »reiner« reimte, eine Ironie, an der Dirk absolut keinen Gefallen mehr fand – mit einem einfachen Vorwand dazu zu überlisten, die Kühlschranktür zu öffnen. Der Trick war geschickt abgefälscht worden und wäre beinahe fürchterlich auf Dirk selbst zurückgefallen.

Er hatte zu der Strategie gegriffen, zum örtlichen Minimarket zu gehen und ein paar einfache Lebensmittel einzukaufen. Nichts Verdächtiges – ein bißchen Milch, ein paar Eier, etwas Speck, eine oder zwei Schachteln Schokoladencreme und ein simples Halbpfundstück Butter. Er hatte sie ganz harmlos auf dem Kühlschrank liegenlassen, als wolle er damit sagen: »Ach, wenn sie einen Moment Zeit haben, könnten sie das vielleicht hineinlegen ...«

Als er an dem Abend nach Hause gekommen war, hatte sein Herz gespannt gepocht, ob die Sachen noch auf dem Kühlschrank lägen. Sie waren verschwunden! Sie waren nicht einfach beiseite geschoben oder auf ein Bord gestellt worden, sondern sie waren nirgendwo zu sehen. Sie hatte offenbar endlich doch kapituliert und sie weggestellt. In den Kühlschrank. Und sie hatte ihn sicherlich saubergemacht, wo er nun schon mal offen war. Zum ersten und einzigen Mal schwoll sein Herz ihr voll Wärme und Dankbarkeit entgegen, und er war schon drauf und dran, die Tür von dem Ding erleichtert und triumphierend aufzureißen, als ein achter Sinn (bei der letzten Zählung hatte Dirk errechnet, er habe elf) ihn gewarnt hatte, sehr, sehr vorsichtig zu sein und sich erstmal zu überlegen, wo Dina den alten Kühlschrankinhalt hingetan haben könnte.

Ein abscheulicher Zweifel nagte an ihm, als er sich geräuschlos auf den Mülleimer unter der Spüle zu bewegte. Er hielt den Atem an, als er den Deckel aufmachte und hineinsah.

Dort, zwischen den Falten der frischen schwarzen Mülltüte, lagen die Eier, der Speck, seine Schokoladencreme und sein simples Halbpfundstück Butter. Zwei Milchflaschen standen gespült und ordentlich nebeneinander neben der Spüle; in die ihr Inhalt vermutlich gegossen worden war.

Sie hatte alles weggeworfen.

Anstatt die Kühlschranktür zu öffnen, hatte sie seine Lebensmittel weggeworfen. Er blickte sich langsam nach dem schmutzigen, klobigen weißen Monolithen um, und das war genau der Augenblick, in dem er ohne einen Schatten eines Zweifels bemerkte, daß sein Kühlschrank ernstlich zu lauern begonnen hatte.

Er kochte sich einen starken schwarzen Kaffee und setzte sich leicht zitternd hin. Er hatte nicht einmal direkt zur Spüle rübergesehen, aber er wußte, daß er unbewußt die beiden sauberen Milchflaschen dort bemerkt haben mußte, und irgendein eifriger Teil seines Inneren war dadurch alarmiert worden.

Am nächsten Tag hatte er sich für alles einleuchtende Erklärungen zurechtgelegt. Er habe völlig unnötigerweise solche Wahnvorstellungen, sagte er sich. Es sei sicherlich ein harmloses oder unbedachtes Versehen von Dina gewesen. Sie habe möglicherweise sorgenvoll über die Bronchitis, schlechte Laune oder Homosexualität ihres Sohnes nachgegrübelt, oder was es auch war, was sie regelmäßig daran hinderte, entweder überhaupt zu erscheinen oder aber eine bemerkenswerte Wirkung zu erzielen, wenn sie’s tat. Sie war Italienerin und hatte in ihrer Zerstreutheit womöglich seine Lebensmittel irrtümlich schon für Müll gehalten.

Aber die Sache mit dem Haar änderte alles. Es bewies über jeden möglichen Zweifel hinaus, daß sie ganz genau wußte, was sie tat. Sie würde unter keinen Umständen die Kühlschranktür öffnen, ehe er sie nicht als erster geöffnet hätte, und er würde unter keinen Umständen den Kühlschrank aufmachen, bevor sie’s nicht getan hatte.