Der lange Schatten der Täter - Alexandra Senfft - E-Book

Der lange Schatten der Täter E-Book

Alexandra Senfft

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Beschreibung

Das Schweigen der Täter, unbearbeitete NS-Verbrechen und Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg wirken kaum bemerkt bis heute nach. Still prägen sie als »vererbtes« Leid das Leben vieler Menschen, beschädigen Biografien und Beziehungen. Eingebettet in die aktuelle Forschung erzählt Alexandra Senffts Reise durch das Erinnern, wie das Schweigen zur Last wird. Ihr Buch stellt unbequeme Fragen gegen das Verdrängen: Weshalb wurden Täter in Opfer verkehrt, welche Rollen spielen Schuld und Scham – und gibt es so etwas wie Gerechtigkeit? Sensibel und klug zeigt dieses Buch den Nachkommen der Kriegsgeneration Wege, sich auf heilsame Weise mit ihrem Erbe auseinanderzusetzen – und macht das Erinnern zum Auftrag in der Gegenwart für die Zukunft.

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FürFelix, Magdalena und David

ISBN 978-3-492-97376-2Mai 2016© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: Picture Allinace (Foto), AKG-Images (Wehrpaß), Corbis (Rahmen)Datenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Vorwort

»Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen«, schrieb Theodor W. Adorno 1959.

Wie also begegnet man dem Bann dieser Vergangenheit, wenn er in Form rechtspopulistischer Wahlerfolge oder als tätliche Übergriffe auf Geflüchtete eine neue destruktive Dynamik entfaltet? Warum nehmen wir Veränderungen und Fremde so oft als Gefahr und nicht als Bereicherung wahr? Die Pflicht, Antworten auf diese sehr aktuellen Fragen zu finden, liegt nicht allein bei den politischen Akteuren – sie betrifft uns alle.

So vorbildhaft die NS-Zeit in Deutschland akademisch und politisch bearbeitet wurde, so wenig ist sie bis heute im Privaten aufgeklärt. In vielen Familien gilt: Die Täter waren immer die Anderen. Trotz der staatlich und gesellschaftlich erarbeiteten Erinnerungsformen herrschen in der biografischen Aufarbeitung weiter Verdrängen und Verschweigen und verhindern die Auseinandersetzung auf der persönlichen, der menschlichen Ebene.

Wirkliche Ursachenbeseitigung bedeutet, die öffentliche Aufarbeitung mit der privaten zu verbinden – es sind sich gegenseitig befruchtende Prozesse. Wer begriffen hat, wie viele Deutsche und sogar die eigenen Verwandten in der NS-Zeit zu Massenmördern werden konnten, kann strukturellem Rassismus, Antisemitismus und Muslimfeindschaft authentisch und entschieden entgegenwirken.

»Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte«, gestand Oskar Gröning, der »Buchhalter von Auschwitz«. Der 94-Jährige wurde 2015 wegen Beihilfe zur Ermordung von 300 000 Juden zu vier Jahren Haft verurteilt. 2016 stehen weitere NS-Täter, meist schweigend, vor Gericht.

Nun aber, da die letzten Zeitzeugen sterben – jene erste Generation, die das Schweigen als Norm in den Familien etablierte –, wollen einige Nachkommen endlich wissen, welche Rolle ihre Angehörigen im Krieg gespielt haben: Waren sie Täter im Sinne eines Oskar Gröning oder sogar noch schlimmere Verbrecher, machten sie sich als Bystander oder lediglich als Zuschauer mitschuldig? Bis heute ist die Grenze zwischen Schuld, Mitschuld und Unschuld für die meisten Betroffenen unklar, allzumal die Nationalsozialisten selten Beweise für ihre Taten hinterließen.

Die ältere Generation hat einen Dialog mit der jüngeren in der Regel geflissentlich vermieden. Stattdessen hat sie verklärt, verleugnet und eisern geschwiegen. Schuld und Scham sind damit jedoch nicht beseitigt, vielmehr werden sie, ob verbal oder non-verbal, auf die Gefühlswelt der Kinder und Enkel übertragen. Es bleibt der unausgesprochene Auftrag, die Familie vor Schande und Strafe zu beschützen – ein Auftrag, der äußerlich erfolgreich zu erledigen sein mag, innerlich aber nie zu erfüllen sein wird, denn das Verdrängte lebt trotzdem weiter und verbreitet eine negative Energie. Traumatische Erlebnisse können sogar zu dauerhaften genetischen Veränderungen führen, wie die jüngere Epigenetik-Forschung zeigt. Die Folge sind häufig Angsterkrankungen und Depressionen, die nicht nur das Privatleben beeinträchtigen sondern auch Einfluss auf politische Einstellungen haben können. Die Gefühls- und Denkmuster aus der NS-Zeit werfen so einen langen Schatten innerhalb von Familien und zwangsläufig auch auf die Gesellschaft.

Sich der eigenen Familiengeschichte systematisch anzunähern macht historische Recherchen empfehlenswert, um nicht bei diffusen Gefühlen zu verharren, die sich faktisch nicht verankern und somit kaum bearbeiten lassen. Nicht jedes Hadern mit dem Leben ist allerdings auf den Krieg und den Holocaust zurückführen, es gilt zwischen Ursache und Wirkung zu differenzieren. Jedoch lassen sich viele Verhaltensweisen, politische Standpunkte und psychische Belastungen mit der familiären NS-Geschichte erklären, wie aus diesem Buch zu erfahren ist.

Hier wird jedoch ausdrücklich nicht an einem Opfermythos der Täternachkommen gestrickt, vielmehr soll beides einen Raum finden: die Schuld und Mitschuld sowie die transgenerationellen, oft sogar leidvollen Folgen. Der Fokus auf die Tätergesellschaft darf dabei das Narrativ der Verfolgten und Überlebenden des NS-Terrors nicht überschatten – es ist in den Text mit eingewebt. Dabei scheinen immer wieder dialogische Momente auf.

Die in diesem Buch Porträtierten sind nicht die Kinder und Enkel ranghoher Nationalsozialisten, sondern Menschen wie du und ich. Ihre Angehörigen waren auf unterschiedlichste Weise in das NS-System involviert, meist kleine Rädchen im mörderischen Getriebe. Der Schatten der Täter bezieht sich somit nicht ausschließlich auf eine individuell herausragende Schuld, sondern auch auf das gesellschaftliche Klima, das fortgesetztes Verdrängen bis heute befördert.

Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sind mir über die Jahre als offene Persönlichkeiten aufgefallen, die mir in unterschiedlichen Zusammenhängen während meiner Arbeit begegnet sind. Es sind überwiegend Leser meines Buches »Schweigen tut weh«, in dem ich mich vor zehn Jahren selbst auf die Suche begab. Mein Großvater war der Gesandte des Dritten Reiches in der Slowakei und hauptverantwortlich für die Deportation der slowakischen Juden. Sein Erbe, an dem meine Mutter zerbrach, lastet auf uns Nachkommen bis heute.

Die Porträtierten besaßen schon vor unserem Austausch eine grundsätzliche Bereitschaft zur Auseinandersetzung und haben sich auf einen Dialog mit mir eingelassen, der mitunter dennoch auch spannungsreich war.

Ich nehme ihnen gegenüber daher keine akademische oder journalistische Distanz ein, sondern bin mit ihnen im Kontakt und innerlich beteiligt. Diese reportageartige Erzählform ist bewusst gewählt, um die Chancen und Schwierigkeiten eines Austausches über die NS-Zeit auszuleuchten und nicht auf einer formellen Ebene zu verharren. Ich will ferner meine Haltung als Autorin transparent machen.

Jedoch greife ich nicht tief in das Narrativ meiner Gesprächspartner ein: Ich respektiere ihre Art des Erzählens und ihre emotionalen Grenzen. Manche drücken sich eher anekdotisch distanziert aus, somit hat ihr Lebensbericht einen weniger beweglichen Charakter; andere wagen sich mehr in emotionale, psychologisierende Gefilde und zeigen sich ergebnisoffener. Die Geschichten sind jeweils in die örtlichen und historischen Kontexte sowie in die aktuelle Politik eingebettet. Es sei denn, meine Gesprächspartner duldeten es, werte ich ihre Aussagen nicht, selbst wenn ich anderer Meinung bin. Manchmal ist es aufschlussreich, beim Lesen auch auf das zu achten, was nicht gesagt wird, denn vielleicht verbirgt sich zwischen den Zeilen das noch Ungeklärte und Unverarbeitete.

Die Soziologin Lena Inowlocki verrät, wie man autobiografisch-narrative Interviews betrachten kann. Entscheidend ist, »wie erzählt wurde: Nehmen uns die Erzählenden mit in Situationen, die eher geschildert werden oder nur berichtet? Werden wir in eine Situation mit hineingenommen, die die Erzählenden wieder durchleben? Argumentiert er oder sie, ohne dass wir durch eine Frage dazu Anlass gegeben hätten, in einer Art innerem Dialog mit etwas, was ihn oder sie beschäftigt? Die Darstellungsform zeigt uns an, auf welche Weise sich die Erzählenden damit auseinandersetzen, was sie erlebt haben und welche Position sie zum Erzählten einnehmen«.

Meinen Gesprächspartnern ist gemeinsam, dass sie konstruktive Wege gefunden haben, sich von der »Last des Schweigens« (Dan Bar-On) zu befreien und daraus Konsequenzen für ihre Haltung als deutsche Bürger entwickeln konnten. Sie haben politische, soziale oder auch spirituelle Ausdrucksformen und Handlungsmöglichkeiten gewählt. Ihre Geschichten machen Mut, sich selbst nach den familiären Verhältnissen zu befragen, sich auf die Suche in die Vergangenheit zu begeben und für einen Dialog zu öffnen.

Hitzefrei für einen Angeklagten

»In den sechs Jahrzehnten seit den Nürnberger Prozessen sind weitere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden, darunter auch Völkermord. Die Menschenrechte wahren sich nicht selbst. Sie bedürfen ständiger Pflege. Die Fortführung von Prozessen gegen Naziverbrecher, bis zum letzten Greis unter ihnen, muss in erster Linie als Warnhinweis für künftige Kriegsverbrecher dienen, der ihnen sagt: Bis zu deinem letzten Atemzug kannst du dich auf der Anklagebank wiederfinden.«

TOM SEGEV[*]

Bahnhof Lüneburg, 2. Juli 2015, halb sechs Uhr morgens. »Ritterakademie im Graalswall, bitte«, sage ich zum Taxifahrer. »Graalswall? Das gibt es hier nicht«, behauptet er, während er mit seiner Taxe bereits eine Richtung eingeschlagen hat. Ich krame die Adresse aus meiner Handtasche und korrigiere: »Am Graalwall ohne s! – wo der NS-Prozess stattfindet.« Der Taxifahrer, der mich von Anfang an verstanden hat, murmelt abweisend »Ach so« und fährt mit grantiger Miene schweigend durch die noch schlafende, von frühmorgendlichen Sonnenstrahlen durchflutete Hansestadt. Am Graalwall angekommen, wartet meine Freundin Susanne Hetzer, »Susi« genannt, bereits vor dem Eingang der Ritterakademie. Sie sitzt auf dem Bürgersteig und liest Harry Mulischs Reportage über den Jerusalemer Prozess von 1961 gegen Adolf Eichmann, den Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt.

In Lüneburg steht seit dem 21. April 2015 der 94-jährige Oskar Gröning vor Gericht. Die Anklage: Beihilfe zur Ermordung von 300000 Juden im Sommer 1944 in Auschwitz. Gröning, der nach der Mittleren Reife eine Banklehre gemacht hatte, meldete sich 1940 mit 19 Jahren voller Begeisterung für die »zackige« Truppe freiwillig als Zahlmeister bei der Waffen-SS. 1942 wurde er nach Auschwitz versetzt. Dort arbeitete er in der »Häftlingsgeldverwaltung«, sortierte die verschiedenen Währungen der beraubten Juden und leitete das Geld anschließend an das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in Berlin weiter. Der junge Mann war auch an der Selektionsrampe eingeteilt: Er sollte dort das Gepäck der aus den Viehwaggons gezerrten Juden bewachen und für den »geordneten Ablauf« des faschistischen Mordprogramms sorgen. Allein im Rahmen der »Ungarn-Aktion« waren 437402 Juden nach Auschwitz deportiert und sofort nach der Ankunft selektiert worden – hier zum sofortigen Tod in der Gaskammer, dort zum langsamen Tod durch Zwangsarbeit.

Es gab jedoch einen Zwischenfall, der Grönings Sinn für Ordnung erheblich störte: Einer seiner SS-Kameraden zertrümmerte vor seinen Augen den Schädel eines schreienden Babys, indem er es an den Beinen packte und gegen die Planke eines Lastwagens schleuderte. Erschüttert habe Gröning angeblich um Versetzung gebeten, mehrmals sogar, doch ohne Erfolg, sagt er später aus. So blieb er insgesamt zwei Jahre in Auschwitz und wirkte durch seine Tätigkeiten unter anderem daran mit, dass von Mai bis Juli 1944 etwa 300000 der jüdischen Ungarn in der Gaskammer durch Zyklon B starben.

Waren es Schuldgefühle, die Gröning später dazu veranlassten, seine Erinnerungen an diese Zeit für seine Söhne aufzuschreiben? War es die Suche nach Erlösung oder gar Hoffnung auf Vergebung, die ihn 2005 im Alter von 83 Jahren sogar öffentlich über Auschwitz reden ließ? Die Journalisten, mit denen Gröning sprach, bekamen jedenfalls den Eindruck, dass er nach Entlastung suchte. Den Spiegel-Autor Matthias Geyer ließ der ehemalige SS-Mann wissen, dass er die Vergasung der Juden damals als ein legitimes Mittel der Kriegsführung hingenommen habe. In Auschwitz habe es für ihn ein »ganz normales Leben« gegeben – Alkohol, Sport und Gesellschaftsspiele in der Freizeit. Auf Geyers Frage nach seiner persönlichen Verantwortung antwortete er: »Schuld hängt eigentlich immer mit Taten zusammen, und da ich meine, ein nicht tätiger Schuldiger geworden zu sein, meine ich auch, nicht schuldig zu sein.« Er sei ein »Rädchen im Getriebe« gewesen: »Wenn Sie das als Schuld bezeichnen wollen, dann bin ich ein ungewollt Schuldiger. Juristisch bin ich nicht schuldig.« Seine vermeintliche Unschuld bekundete er auch im Interview mit der 2014 – er habe »nie auch nur jemandem eine Ohrfeige verpasst.« Wenn es um Schuld ginge, wo wolle man denn dann aufhören, fragte er: »Müsste man dann nicht auch die Lokführer anklagen, die Züge nach Auschwitz gefahren haben? Die Männer am Stellwerk?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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