Großonkel Pauls Geigenbogen - Alexandra Senfft - E-Book

Großonkel Pauls Geigenbogen E-Book

Alexandra Senfft

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Beschreibung

Das berührende Memoir einer preußischen Sinti-Familie

Seit mehr als 600 Jahren leben Sinti in Deutschland, Roma seit 200 Jahren. Ihre Kultur reicht viele Jahrhunderte zurück und ist tief mit der deutschen Historie verwoben. Anfangs noch als Handwerker, Künstler und Kaufleute hochgeachtet, wurden sie schon bald systematisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen und verfolgt. Bis heute halten sich diskriminierende Stereotype und starke Vorurteile gegenüber der größten Minderheit Europas. Der preußische Sinto Romeo Franz kämpft seit Jahrzehnten für die Rechte von Sinti und Roma. In »Großonkel Pauls Geigenbogen« erzählt er seine beeindruckende deutsche Familiengeschichte. Wohl situiert, waren seine Ahnen bereits im 17. Jahrhundert ansässig in Preußen, Schlesien und Pommern und prägten dort die kulturelle und kaufmännische Welt. Mitreißend erzählt Franz die Chronik seiner Familie vom 19. Jahrhundert bis heute. Schillernde Charaktere und außergewöhnliche Schicksale treten ans Licht – aber auch die Erinnerungen an Ausgrenzung, Abwertung im Kaiserreich und schließlich die Vernichtung durch die Nazis.

Mit großem Stolz gibt er tiefe Einblicke in seine Herkunft und beleuchtet nicht nur die Bedeutung von Musik, Familie und Zusammenhalt, sondern auch die Folgen der fortgesetzten Verfolgung, die bis in die heutigen Generationen nachwirken. Romeo Franz‘ Geschichte ist ein bewegendes Plädoyer gegen Antiziganismus und eine Einladung zur Auseinandersetzung und zum Umdenken hin zu etwas ganz Selbstverständlichem: Gleichberechtigung.

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ROMEO FRANZ

ALEXANDRA SENFFT

Großonkel Pauls Geigenbogen

Die Familiengeschichte eines preußischen Sinto

Mit einem Vorwort von Claudia Roth

Buch

Seit mehr als 600 Jahren leben Sinti in Deutschland, Roma seit 200 Jahren. Ihre Kultur reicht viele Jahrhunderte zurück und ist tief mit der deutschen Historie verwoben. Anfangs noch als Handwerker, Künstler und Kaufleute hochgeachtet, wurden sie schon bald systematisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen und verfolgt. Bis heute halten sich diskriminierende Stereotype und starke Vorurteile gegenüber der größten Minderheit Europas. Der preußische Sinto Romeo Franz kämpft seit Jahrzehnten für die Rechte von Sinti und Roma. In »Großonkel Pauls Geigenbogen« erzählt er seine beeindruckende deutsche Familiengeschichte. Wohl situiert, waren seine Ahnen bereits im 17. Jahrhundert ansässig in Preußen, Schlesien und Pommern und prägten dort die kulturelle und kaufmännische Welt. Mitreißend erzählt Franz die Chronik seiner Familie vom 19. Jahrhundert bis heute. Schillernde Charaktere und außergewöhnliche Schicksale treten ans Licht – aber auch die Erinnerungen an Ausgrenzung, Abwertung im Kaiserreich und schließlich die Vernichtung durch die Nazis.

Mit großem Stolz gibt er tiefe Einblicke in seine Herkunft und beleuchtet nicht nur die Bedeutung von Musik, Familie und Zusammenhalt, sondern auch die Folgen der fortgesetzten Verfolgung, die bis in die heutigen Generationen nachwirken. Romeo Franz‘ Geschichte ist ein bewegendes Plädoyer gegen Antiziganismus und eine Einladung zur Auseinandersetzung und zum Umdenken hin zu etwas ganz Selbstverständlichem: Gleichberechtigung.

Autor*innen

Romeo Franz, geboren 1966 in Kaiserslautern, stammt aus einer deutschen Sinti-Familie und ist Musiker und Politiker. Franz setzt sich seit vielen Jahren für die Rechte Romanes-sprachiger Menschen ein und war von 2003 bis 2013 stellvertretender Vorsitzender des Landesverbands deutscher Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz. Seit 2010 ist er parteipolitisch bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aktiv. Als erster deutscher Sinto ist er 2018 in das Europäische Parlament eingezogen. Er ist Mit-Begründer und Generalsekretär der Bundesvereinigung der Sinti und Roma (BVSR). Romeo Franz lebt in der Nähe von Speyer. Wenn sein politisches Mandat es erlaubt, tritt der passionierte Jazzmusiker mit seinem 1991 gegründeten Romeo Franz Ensemble auf.

Alexandra Senfft, geboren 1961 in Hamburg, ist Publizistin und Autorin. Seit 1994 schreibt sie regelmäßig für deutsche und internationale Medien. Für ihr Buch »Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte« (2007) über das NS-Erbe ihrer mütterlichen Familie erhielt Senfft den Deutschen Biografiepreis. Senfft ist stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreis für Intergenerationelle Folgen des Holocaust und Mitglied im Präsidium der Lagergemeinschaft Dachau. Sie lebt in Oberbayern und auf einer griechischen Insel. Online findet man sie unter: alexandra-senfft.de

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Originalausgabe März 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Regina Carstensen

Historisches Lektorat: Jana Mechelhoff-Herezi

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: (Geige) Gettyimages Nr. 1285610888 (RF) | 1/3 U1 | © A. Martin UW Photography / Gettyimages |

(Composing Fotorahmen / Struktur) FinePic | 1/2 U1 | FinePic®, München |

Copyright Bildteil: © privat

sonst am Bild gekennzeichnet

Karten der Fluchtrouten: © Peter Palm, Berlin

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

JE ∙ CF

ISBN 978-3-641-30238-2V001

www.goldmann-verlag.de

Im Andenken an Mami, meine Großmutter Ursula

Für meine Kinder

Inhalt

Anmerkungen zum Gebrauch des Romanes

Vorwort Claudia Roth

Stammbaum der Familie Romeo Franz

1 Anglerglück

2 Das rollende Kino

3 Aufspiel in den Ostseebädern

4 Pankow, Thulestraße 13

5 Die Liebe hört nimmer auf

6 Verraten und vermessen

7 Vom Adlon nach Auschwitz

8 Der störrische Esel oder der bissige Hund ist tot

9 Wiedersehen in München

10 Menschen können zweimal sterben

11 Großonkel Pauls Geigenbogen

12 Mare Manuschenge – für unsere Menschen

Nachwort

Bildteil

Anmerkungen

Zeittafel

Glossar

Literaturauswahl

Danksagung von Romeo Franz und Alexandra Senfft

Register

Anmerkungen zum Gebrauch des Romanes

»Rakeren tumhea romanes?« – Sprechen Sie Romanes? Vermutlich nicht, es sei denn, Sie gehören der Minderheit der Sinti und Roma an, sind mit jemandem aus der Community verwandt oder arbeiten im Kulturbereich mit Sinti und Roma eng zusammen. Oder Sie haben sich linguistisch intensiv mit der Sprache befasst. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Menschen, die des Romanes mächtig sind; das hat historische Gründe. In diesem Buch über die Geschichte einer preußischen Sinti-Familie finden sich manche Worte oder Redewendungen in Romanes, die hier in einer standardisierten Schreibweise wiedergegeben werden. Sie finden diese auch im Glossar.

Romanes ist eine indogermanische Sprache und verbindet Romanes-sprachige Menschen seit 2000 Jahren weltweit. Sie ist vermutlich im Norden Indiens (Provinz Sindh, heute Pakistan) entstanden und mit dem Sanskrit verwandt. Mit der Bezeichnung »Romanes-sprachige Menschen« (engl. Romani People) sind alle Gruppen gemeint, die sich unter der politischen Selbstbezeichnung »Sinti und Roma« unabhängig ihrer Nationalstaatlichkeit wiederfinden.

Je nach Herkunft haben sich in vielen Ländern unterschiedliche Dialekte entwickelt, etwa Krim-Romanes, nordmakedonisches Romanes, Welsh-Romanes oder Sinti-Romanes, um nur einige wenige zu nennen. Diese Variationen unterscheiden sich oft so stark, dass Sinti und Roma sich nicht überall problemlos untereinander verständigen können. Vergleichbar ist das in etwa mit den Ausprägungen deutscher, österreichischer und schweizerdeutscher Dialekte. Für Romanes gibt es bislang keine vereinheitlichte Schriftsprache; sie wird noch immer überwiegend mündlich übermittelt und als Lautschrift verschriftlicht. Entsprechend unterschiedlich wird Romanes in Literatur, Fachliteratur oder bei Eigenbezeichnungen und sogar Namen geschrieben. So existieren zum Beispiel Schreibweisen der weiblichen Form der Sinti als »Sintez(z)a«, »Sintiz(z)a«, »Sintizze«, »Sinta« oder »Sintitsa«.

Die frühesten Nachweise erster Verschriftlichungen reichen bis 1542 zurück, 1755 entstanden Ansätze eines Wörterbuchs. 1927 wurde Romanes erstmals in der Sowjetunion als Nationalsprache anerkannt, nachdem sich dort eine starke literarische Szene gebildet hatte, durch die dessen Verschriftlichung vorangetrieben wurde. Diese Forschungsfortschritte sind von der sowjetischen Nationalitätenpolitik und vom Zweiten Weltkrieg weitgehend unterbrochen worden. In einigen Ländern wurden Sinti und Roma zwangsassimiliert und der Gebrauch ihrer Sprache sogar verboten. Vor allem der von den Nationalsozialist:innen verübte Völkermord führte dazu, dass die Sprachvermittlung durch ältere an jüngere Generationen oft ein jähes Ende fand.

Sinti und Roma sprechen neben Romanes die Nationalsprache der Länder, in denen sie geboren und ansässig sind. Aus diesen und anderen Gründen ist Romanes mitunter verdrängt und vergessen worden, da dessen Pflege nicht aufrechterhalten werden konnte. All diese Aspekte nähren bis heute das Vorurteil, Sinti und Roma seien Analphabeten. Analphabetismus trat indes überwiegend dort auf, wo sie durch die nationalsozialistische Verfolgung vom Bildungssystem ausgeschlossen waren. Heute existiert er in vielen europäischen Ländern aufgrund struktureller Diskriminierungen im Bildungswesen, aufgrund von Benachteiligungen, die sogar in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht ganz ausgeräumt sind.

Seit 1999 ist Romanes im Rahmen der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen (kurz: Sprachencharta) als deutsche Minderheitensprache anerkannt und als Teil des europäischen Kulturerbes geschützt. Dessen Vermittlung ist dennoch lange vernachlässigt worden. Die Sprachkommission der Internationalen Roma Union (IRU) bemüht sich seit den 1980er-Jahren um eine sprachlich standardisierte Schriftsprache. An der Ruhr-Universität Bochum und anderenorts haben Sprachforscher:innen Romani-Dialekte kategorisiert, in Manchester entstand das Romani Project, eine Datenbank des Romanes. An der Universität Graz existiert mit ROMLex eine lexikale Datenbank. Wegen der Verfolgungserfahrungen und besonders wegen des Völkermords während des Nationalsozialismus vertreten viele deutsche Angehörige der Sinti-Minderheit die Auffassung, Romanes solle ausschließlich in Community-eigenen Bildungseinrichtungen unterrichtet werden. Dahinter steht ein berechtigtes Schutzbedürfnis infolge von Traumatisierungen in der Vergangenheit. Der dringende Wunsch jüngerer Generationen, die eigene Sprache als Identifikationsmerkmal zu erlernen und zu pflegen, ist unterdessen spürbar stark gewachsen.

Für das Sinti-Romanes existierte bislang kein Dialekt, der auf verschriftlichtem Lehrmaterial beruht. Dies änderte sich 2021 mit einer Bibelübersetzung ins Sinti-Romanes. Die auf diesem Wege standardisierte Sprachbasis ermöglichte die Entwicklung eines Rahmenplans für »Romanes als Identitätssprache« entsprechend dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER). Der professionelle Spracherwerb und -ausbau mit entsprechendem Lehrmaterial ist somit möglich geworden. Der Rahmenplan mit Handreichungen für Romanes im Unterricht ist vom Verband Deutscher Sinti & Roma, Landesverband Baden-Württemberg, unterstützt von der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ), entwickelt und herausgegeben worden. Darauf aufbauend, entsteht in der Bundesrepublik ein Netzwerk von muttersprachlichen Sprachlehrenden und Sprachschulen.1 An diesem Lehrmaterial orientiert sich die in diesem Buch wiedergegebene Schreibweise des Sinti-Romanes.

Vorwort Claudia Roth

Die Familiengeschichte von Romeo Franz ist eine Geschichte voller Hoffnung und Zuversicht, aber eben auch von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung im Leben von Sinti und Roma. Sie ist ein Zeitzeugnis deutscher und europäischer Geschichte.

In der Rückschau wird deutlich, wie die Familie das, was wir heute »Empowerment« nennen, entscheidend prägte und festigte. Es gelang den verschiedenen Linien der Familie Franz bereits seit dem 17. Jahrhundert, sei es aufgrund handwerklicher Fähigkeiten, eines preußischen Selbstverständnisses, besonderer musikalischer oder unternehmerischer Stärken, sich eine überlebenswichtige Resilienz anzueignen. Erreichte eine Generation eine gewisse Teilhabe, Anerkennung und Emanzipation, so waren diese Errungenschaften stets fragil für folgende Generationen. Glückliche Momente liebevoller Gemeinschaft, hier insbesondere mit der lebensbejahenden Großmutter Ursula, waren immer auch verbunden mit Trauer und Schmerz um jene Familienmitglieder, die die NS-Verfolgung nicht überlebten, aber in Erzählungen präsent gehalten wurden und werden.

Dieses sehr lebhafte und persönlich geprägte Buch benennt auch Schicksale anderer Sinti und Roma und stellt historisch fundiert ein gemeinsames Schicksal der Minderheit heraus. Eigene Familiengeschichte und die der Minderheit verbinden parallele Leidenswege, die mit den historischen Gegebenheiten der deutschen Geschichte eng verzahnt sind.

Seit etwa fünf Jahrzehnten ist in diesem Sinne ein kultureller Schatz von Autobiografien oder autobiografisch motivierten Romanen entstanden, die die eigene Geschichte der Sinti und Roma authentisch reflektieren. Sie können sich als Eigendarstellung gegenüber bisherigen Stereotypen in Literatur und Geschichte behaupten. Eine Familiengeschichte baut dort literarisch Brücken, wo die Zeitzeugen des Völkermords weniger werden und die Enkel- und Urenkelgeneration sich in ihrer gesellschaftlichen Rolle und Wahrnehmung auszudrücken beginnt.

Mit den historischen Bezügen zur Musik-, Film-, Kino- und Sportgeschichte wird mit diesem Werk nachvollziehbar, welche Einflüsse und Erlebnisse das individuelle Kulturschaffen der Familie Franz prägten. Damit werden Talente und Interessen der Familienmitglieder in einen Kontext gesetzt, der wiederum aufräumt mit ethnisch-folkloristischen oder romantisierenden Stereotypen. Sinti prägen seit rund 600 Jahren die deutsche, Sinti und Roma seit rund 1000 Jahren die europäische Kunst und Kultur. Seit Beginn der zeitgenössischen Bürgerrechtsarbeit in den 1970er-Jahren gestalten sie auch die Politik der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland aktiv mit. Romeo Franz’ eigener Weg in der Bürgerrechtsarbeit und seine politische Laufbahn werden in diesem Buch biografisch mit den Meilensteinen der Erinnerungspolitik der vergangenen Jahrzehnte verknüpft. Es zeugt vor allem von den Verfolgungserfahrungen und dem Verlustschmerz, ebenso von der faktenverzerrenden und diskriminierenden Praxis von Behörden und Rechtsprechung in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik.

Es ist unser aller Aufgabe, uralte Stigmata und Vorurteile zu überwinden. Dazu gehört die konsequente Bekämpfung von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf allen Ebenen. Als Staatsministerin für Kultur und Medien unterstütze ich die kulturelle Förderung der Sinti und Roma in Deutschland und hier insbesondere das Dokumentations- und Kulturzentrum in Heidelberg, um die Minderheit der Sinti und Roma in ihrer Gesamtheit stärker sichtbar zu machen. Mein Engagement als Kulturstaatsministerin, ebenso wie mein parteipolitisches Engagement als Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen verbindet mich mit Romeo Franz, dem es gelingt, Politiker, Musiker, Sinto, Deutscher und Europäer zu sein, kurz: ein Brückenbauer.

Von diesen benötigen wir viele in unserer Gesellschaft, sei es in Parteien, Vereinen, Kultureinrichtungen oder Schulen. Sie sorgen dafür, dass wir miteinander statt gegeneinander agieren, dass eine Gesellschaft wachsen kann, die sich ihres kulturellen Reichtums aller, besonders ihrer Minderheiten, bewusst ist.

Claudia Roth MdB

Staatsministerin für Kultur und Medien

Berlin, im November 2023

Stammbaum der Familie Romeo Franz

1 Anglerglück

Romeo Franz und Familie (1976)

Die Ernte war prächtig: Fette Regenwürmer räkelten sich in der Kaffeedose, ineinander verschlungen zu einem glitschigen Knäuel. Die Würmer hatte ich an einem verregneten Abend auf unserem Sportplatz mit der Taschenlampe aus dem Boden gelockt und tagelang mit Kaffeesatz gepflegt. Nun waren sie schön dick, und ich konnte es kaum erwarten, zum Angeln aufzubrechen. Schon vor dem Einschlafen bereitete ich alles vor – Angel, Plastiktüte, Köder. »Petri Heil«, sagte Tate noch beim Einschlafen zu mir, und Mama deckte mich zu und gab mir einen Kuss. Meine Eltern beschützten mich gut, aber sie wussten auch, dass ich morgen einen Ausflug plante, und trauten mir das zu. Angesichts meines bevorstehenden Abenteuers dauerte es, bis ich einschlief.

Am Samstag wachte ich ohne Wecker mit den ersten Sonnenstrahlen auf, zog mich rasch an und machte mich auf die Socken. Ich schlich mich aus unserem Haus in der Spesbacher Talstraße, sachte, um niemanden zu wecken. Meine Eltern hatten es 1973 gebaut, wir besaßen auch einen Garten. Obwohl es hier sehr ländlich war, kam mir unser frisch gebautes Zuhause beeindruckend modern vor. Im unteren Stockwerk schliefen Großmutter Ursula und Onkel Peter, darüber ich mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder. Unser Grundstück lag nahe dem Wald, doch um ihn zu erreichen, musste ich zunächst entlang der Talstraße an unseren Nachbarn vorbei zu einem Feldweg gelangen, an dessen Rand hohe Bäume standen. Eine lange Strecke führte mich quer durch den Wald; er duftete im Morgengrauen intensiv. Kühle, feuchte Luft stieg vom weichen Boden auf. Ich hörte nichts außer meinen eigenen Schritten, hie und da einen Vogel, eine Eule vielleicht.

Ich war zwar erst zehn Jahre alt, aber ich hatte keine Angst davor, allein unterwegs zu sein – hier auf dem Land fühlte sich alles sicher an. Für mich zu sein, war ich gewohnt. Ich war lediglich aufgeregt – es war die Vorfreude aufs Angeln. Frühmorgens beißen die Fische besonders gut an. Das hatte Tate mir beigebracht, der mir auch das Angeln zeigte. Mein Ziel waren die beiden Löschweiher, die die Feuerwehr einst nach einem Waldbrand angelegt hatte. Ich hatte sie auf einer meiner Fahrten mit Onkel Peter ins Kino nach Kaiserslautern von der Autobahn aus erblickt und später mit meinem Vater gefunden. Gemeinsam fischten wir dann unser Abendessen. Den Weg kannte ich deshalb bereits. Ich fühlte mich sehr erwachsen.

Jetzt unterquerte ich die Autobahn und bog links ab. Eine Pause kam nicht infrage, bloß keine Zeit verlieren. Nach einem weiteren Kilometer erreichte ich die Teiche. Fast zu hastig bestückte ich den Haken mit dem ersten Regenwurm und warf ihn weit aus. Der Schwimmer wippte auf dem Wasser, ich setzte mich an die Böschung und wartete. Leise summte ich eine Melodie vor mich hin. Es dauerte nicht lange, da bewegte sich der Schwimmer, die Schnur zuckte, ich griff die Angel fester. Nun kurbelte ich an der Rolle und zog, kurbelte aufs Neue, holte ein und zog wieder. Eine zappelnde Forelle durchbrach die Wasseroberfläche: Was für ein Brocken! Mit einer leichten Schleuderbewegung beförderte ich sie an Land. Meine Freude war unfassbar. Das Tier schaute mich mit großen Augen an, einen Augenblick zögerte ich, bevor ich es mit einem Schlag auf den Kopf erledigte, »waidgerecht« würde Tate sagen.

Nun fädelte ich die Forelle an einem Ast auf und hängte diesen in den Busch neben mir. Da baumelte sie nun, meine Beute. Ein Fisch allein reichte für meine Familie nicht – das war erst der Anfang, und ich übte mich in Geduld. »Wenn man sein Ziel entschlossen verfolgt, zahlt sich das Warten meist aus, ein echter Angler braucht Gelassenheit.« Tate sagte immer, das sei auch sonst im Leben eine nützliche Eigenschaft. In der Dose hob ein Regenwurm sein Haupt, ich spießte ihn auf, und ab ins Wasser mit dem Haken! Drei Stunden später, die Sonne wärmte mittlerweile meinen Rücken mit kräftigen Strahlen, war ich mit meinem Fang zufrieden. Meine Geduld hatte sich ausgezahlt. Ich packte meine Siebensachen und wanderte die drei Kilometer nach Hause zurück – die Forellen am Ast trug ich wie eine Trophäe auf meiner Schulter.

Als Erstes ging ich zu Großmutter Ursula, die ich »Mami« – mit einem lang gezogenen a – nannte. Mein Herz klopfte, ich war mächtig stolz. Sie empfing mich in der Küche in ihrer blau geblümten Kittelschürze, unter der sie Bluse und Rock trug. Diesen Kittel, der in meinen Augen so typisch für die 1970er-Jahre war, trug sie fast ständig, um sich beim Kochen und Werkeln nicht schmutzig zu machen. Sie blickte erst mich an, dann über meine Schulter auf den Ast mit seinem fischigen Schmuck, der bald im Kühlschrank landen würde. »Mein Junge, die schönen Forellen, ach, wie sind die schön!«, rief sie entzückt. Sie fragte mich gar nicht, woher ich die Fische hatte oder wie weit ich dafür gelaufen sein könnte, als wäre es das Normalste der Welt, dass ein Kind allein im Morgengrauen angeln geht. Ich nahm die größte Forelle vom Ast und überreichte sie ihr feierlich. Sie nahm das Tier mit den eintrübenden Augen entgegen, behutsam, damit es ihr nicht aus den Händen glitt. »Shukar, parkrau man«, murmelte sie auf Romanes, »schön, vielen Dank«, und lächelte breit. Sie spülte den Fisch ab, nahm ihn aus und säuberte ihn, ja, zelebrierte diese Handlung und wurde währenddessen immer ernster und konzentrierter. Ich saß am Küchentisch und beobachtete schweigsam jede ihrer Bewegungen. Als Nächstes wendete sie den Fisch in Salz und Mehl, briet ihn schließlich mit einer reichlichen Portion Butter goldbraun und knusprig in der Pfanne.

Sobald die Ursel-Mami sich zu Tisch setzte, war Schluss mit lustig, spätestens jetzt durfte ich sie garantiert nicht mehr stören. Das kannte ich schon von ihr. Gebratene Forelle auf Butterstulle und dazu ein Becher pechschwarzer Kaffee waren für sie ein Gaumenschmaus, gleichgültig zu welcher Tageszeit, selbst am Morgen. Mami setzte ihre Brille auf und tranchierte den Fisch sorgfältig, schweigsam in die Tätigkeit vertieft. Ich selbst war nicht erpicht auf dieses deftige Frühstück, obwohl der Duft von gebratener Forelle jedes Mal so köstlich war, dass ich ihn bereits in meinen Geschmacksnerven gespeichert hatte. Es erfüllte mich stattdessen mit unendlicher Genugtuung, einem geradezu wonnig-warmen Gefühl, ihr beim Essen zuzusehen und zu spüren, welche Freude ich ihr bereitet hatte. Sie hatte zum Frühstück ein mit Käse dick belegtes Brot vor mich auf den Tisch gestellt und meinen Lieblingstee, in den sie, das war eine ihrer Spezialitäten, Obst hineintat – Apfelstückchen, Zitronenscheiben oder zerkleinerte Erdbeeren. Heute schwammen einige Kirschen im Becher, vermutlich weil meine Großmutter anlässlich des morgigen Familienbesuchs ihren berühmten Kirschstreuselkuchen backen würde. Darauf freute ich mich jetzt schon. Mami benutzte dafür so viel Butter, dass ein einziges Stück fast so viel wog wie normalerweise ein ganzer Kuchen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Bei uns zu Hause maßen wir gutem Essen viel Bedeutung bei. Meine Mami sagte immer, wir feierten täglich, dass wir diese furchtbaren Zeiten der Verfolgung durch die Nazis überlebt hatten.

Erst als meine Großmutter den letzten Bissen genossen hatte, wandte sie sich mir abermals aufmerksam zu. »Dein Großvater, der Papo Alfons, hat gebackene Forellen auch über alles geliebt, weißt du«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein tiefer, etwas wackeliger Ton. Einen Moment schaute sie gedankenverloren zum Fenster hinaus, bevor sie ihren Blick wieder auf mich richtete. Und dann erzählte sie mir von Papo, meinem »schönen Papo«, der 1949 mit nur 31 Jahren an einem Herzversagen starb. Mami und er hatten sich 1941 in Berlin kennengelernt, sie eine echte Berlinerin, er stammte aus dem Kreis Wismar in Mecklenburg; gemeinsam waren sie vor den Nazis geflohen. Weil Ursula und Alfons Blum Sinti waren, erklärten die Nationalsozialist:innen mit ihrer rassistischen Ideologie sie und meine restliche Familie zu unerwünschten Fremden, zu »asozialen und kriminellen Elementen«. Unsere Menschen, was auf Romanes »Mare Manusha« bedeutet, wurden amtlich erfasst und ausgegrenzt. Wer nicht floh, wurde deportiert, in sogenannte Zigeunerlager gesperrt und umgebracht. Zum diskriminierenden Begriff »Zigeuner« werde ich später noch ausführlicher etwas sagen.1 Bis zu einer halben Million Romanes-sprachige Menschen sind in der Zeit des NS-Faschismus von den Nationalsozialist:innen und ihren Kompliz:innen ermordet worden: Sinti und Roma, deren gemeinsame Sprache Romanes ist, weshalb ich von Romanes-sprachigen Menschen spreche, um auch die ethnischen Gruppen mit einzubeziehen, die weder Sinti noch Roma sind. Von den ungefähr 30 000 deutschen und 11 000 österreichischen Sinti und Roma starben etwa 25 0002 durch Zwangsarbeit, Totschlag sowie gezielte Morde durch Gas in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Schätzungen zufolge kehrten nach dem Krieg und dem Völkermord »O Baro Marepen« (Sinti-Romanes für »Das große Morden«)3, wie viele von uns Sinti den Völkermord an unseren Menschen nennen, nur zehn Prozent aller deutschen Sinti wieder nach Hause zurück, vollkommen mittellos und traumatisiert. Meine Menschen fingen wieder ganz von vorne an, obwohl wir seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland sesshaft sind.

Die Strapazen der vierjährigen Flucht quer durch den Balkan bis nach Südrussland und schließlich zurück in die Heimat hatten meinen Papo Alfons gebrochen. Immerzu auf der Hut, die Familie ernähren, die Pferde versorgen, die Kutsche warten, Routen planen und oft im letzten Moment dem Tod entkommen – es war ein einziges Gejagtsein und Verstecken, fast täglich ging es ums Ganze. Alfons war laut Mami ein sehr angespannter, nervöser Mensch, obwohl er als Artist, wenn er auf Pferden ritt, vollkommen in sich ruhte. Mein Großvater war ein fantastischer Kunstreiter, ein hoch attraktiver Mann mit feinen Zügen, drahtig und athletisch wie ein Tänzer – und wohl auch ein Draufgänger. In dem Punkt war er seinem Vater Alfred Blum, der die Familienflucht leitete, ganz ähnlich. Urgroßvater Alfred war ein herrisches, strenges Familienoberhaupt, der klassische Patriarch. Dabei war er jedoch klug und voller Lebenserfahrung, wenigstens wird das in meiner Familie so übermittelt. Deshalb genoss er im Ansehen vieler Sinti große Bewunderung und Autorität. Er fungierte als Rechtsprecher, der Streitigkeiten schlichtete; sein Wort hatte Wirkung. Vater und Sohn sind öfter aneinandergeraten, weil sie ein ähnliches Temperament hatten. Alfons war offenbar sehr dünnhäutig, regte sich leicht auf und fuhr schnell aus der Haut, weshalb er es am Herzen hatte. Nachdem mein Papo nach Kriegsende mit seiner Familie in München mühsam wieder Fuß gefasst hatte, fand Mami Ursula ihn eines Morgens tot neben sich im Bett. Sein Herz hatte im Schlaf aufgehört zu schlagen.

Es gibt ein Foto von Alfons, auf dem kniet er neben meiner Mama Mery und Onkel Peter vor ihrem Wohnwagen, kurz nach der Rückkehr in München 1945. Sein Blick ist so ernst, dass mir beinahe unheimlich wird, wenn ich ihn betrachte. Unter Papos Augen erkenne ich dunkle Ränder, was seinem markanten Aussehen eine Note von Zerbrechlichkeit verleiht. Mami meinte, auf dem Bild erkenne man deutlich, wie gezeichnet er war. Sie war zum Zeitpunkt seines Todes erst 25 Jahre alt, und dass sie, von der erfolgreichen Flucht vor den Faschist:innen physisch und seelisch vollkommen erschöpft, nun plötzlich mutterseelenallein dastand, war für sie ein schwerer Schicksalsschlag. Kurz darauf starb ihr Bruder Joschi infolge seiner KZ-Aufenthalte – ein Entsetzen folgte dem nächsten. Alle erzählen, dass meine hübsche Mami damals viel älter aussah, als sie war. Sie musste meine Mutter Mery und meinen Onkel Peter von nun an allein großziehen, wenngleich ihre Eltern und der Rest der Familie sie unterstützten. Alfons wurde in München beigesetzt. Sein Begräbnis hat seine junge Witwe organisiert und finanziert, sie war schon immer durchsetzungsfähig und selbstbewusst. Das Grab ist weiterhin auf dem Friedhof zu finden – ein unverrückbarer Hinweis auf unsere jahrhundertelange Existenz als Deutsche. Alfons ist 1917 während des Ersten Weltkriegs geboren, den Zweiten überlebte er nur haarscharf, es war besonders bitter, dass er so jung starb. Er war und blieb Ursulas große Liebe. Immer wieder sprach sie so gegenwärtig und lebendig von Alfons, dass ich ein klares Bild von ihm habe. Sie erzählte mir auch bei jeder Gelegenheit über unsere familiäre Vergangenheit in Preußen und vor allem in Berlin. Dabei war sie so detailgenau, dass ich mit dem Gefühl aufwuchs, selbst ein Preuße zu sein.

Heute war Mami indes vorrangig mit den Fischen beschäftigt: der Höhepunkt ihres Tages! Sie stand vom Tisch auf und rief über die Treppe, die ihre Einliegerwohnung mit dem Rest des Hauses verband, zu meiner Mutter hinauf: »Mery, unser Meole hat Forellen für uns gefangen!« »Meole«, als verniedlichte Abkürzung von Romeo, war ein Kosename, den meine Papos, die Onkel meines Vaters aus der Familie Franz, für mich geschaffen hatten. Ich holte den restlichen Fang aus dem Kühlschrank und ging zu meinen Eltern hinauf.

»Lass mal sehen, Romeo«, sagte Tate, und ich ahnte, dass mein Vater morgen der gesamten Familie stolz erzählen würde, »mein Junge hat uns Forellen gebracht«, als wäre das ein riesiges Ereignis. Auch Mery, meine Mama, schenkte mir einen anerkennenden Blick, während sie das Frühstück vom Tisch räumte, das meine Eltern mit meinem jüngeren Bruder zu sich genommen hatten. Es erfüllte mich, meiner Familie etwas Gutes zu tun. Da war stets dieses unbestimmte, dumpfe Gefühl, sie glücklich machen zu wollen, um ihren Blicken, dem Ausdruck in ihren Augen, etwas entgegenzusetzen: Ich verspürte darin stets etwas Trauriges. Es fühlte sich für mich an, als trüge ich die Verantwortung, ihnen eine Last abzunehmen und ihren Kummer zu lindern. Ich weiß nicht, warum, aber so war es.

Tate bat mich gelegentlich, auf dem Klavier vorzuspielen, das wir seit einigen Jahren besaßen. An Wochenenden rief er häufig unsere Verwandten an, legte nach einem kurzen Gespräch den Hörer beiseite, nickte mir zu, und ich begann zu spielen. Am anderen Ende der Leitung lauschten die Tanten und Onkel, bis ich das Stück beendet hatte. Ich spielte ihnen »Für Elise« nach Noten vor; die Begeisterung meiner Verwandten beflügelte mich: »Hört mal, wie der Junge spielt, aus dem wird noch was, ist der aber musikalisch«, quasselten die Großtanten durcheinander. Das Klavierspiel hatte ich mir anfangs selbst beigebracht, unterstützt von meiner Großmutter Ursula, später bekam ich Unterricht. Mami selbst beherrschte zwar kein Instrument, jedoch war sie außerordentlich musikalisch, wie die meisten meiner Angehörigen. Vor allem die Franzens haben eine starke musikalische Tradition: Mein Urgroßvater Robert Franz gründete mit seinen Söhnen die »Kapelle Franzens« und trat bis zur Verfolgung durch die Nationalsozialist:innen regelmäßig in den Ostseebädern auf. Meine Großonkel Hugo und Karl Franz brachten mir musikalisch viel bei. Beide waren wie Großväter für mich, weil mein eigentlicher Großvater Emil Franz, der Vater meines Vaters, lange vor meiner Geburt bereits verstorben war. Sie sagten, dass ich, wenn ich älter sei, den Geigenbogen ihres Bruders Paul erben würde. Welche Bedeutung dieser Bogen in unserer Familie hat, erfuhr ich erst mit den Jahren.

Der kommende Tag war Sonntag, der Tag, den ich am meisten verabscheute, weil ich wusste, dass ich am nächsten Morgen wieder zur Schule gehen musste. Ich wurde 1973 in der Fischerrückschule in Kaiserslautern eingeschult, bis wir kurz danach nach Spesbach bei Ramstein ins eigene Haus umzogen. In Kaiserslautern lebten wir zunächst in der Buchenlochstraße und dann im Lothringer Dell 76 in einer Vierzimmerwohnung unter dem Dach eines neuen Zweifamilienhauses. An diese Wohnung kann ich mich noch sehr gut erinnern, vor allem an die Familie Schmitz, unsere Vermieter, und ihre Kinder Sybille und Günter. Das waren ganz liebe Leute und kein bisschen rassistisch. Sie wussten, dass wir Sinti waren und hatten keine Vorurteile. Mit Diskriminierung rechnen wir ständig, deshalb verbarg ich schon als kleiner Junge, dass ich ein Sinto bin. Doch die Familie Schmitz war ganz anders. Mami traf sich mit Frau Schmitz oft zu Kaffee und Kuchen, derweil Herr Schmitz mit meinem Tate am Blechhammer Weiher angelte.

Ich war ein echtes Einzelkind, umhegt von meinen Eltern, meinen Großmüttern und Verwandten. Doch das änderte sich bald, denn 1970 sagte eines Tages mein Tate: »Du hast jetzt einen Bruder!«, mit einem Ausdruck großer Freude zu mir. Wenn ich mich recht erinnere, so antwortete ich prompt, »er soll Manolito heißen«, denn trotz meines jungen Alters kannte ich bereits die Westernserie The High Chaparral, in der Henry Darrow den mexikanischen Ranger Manolito Mantoya verkörperte. Meine Eltern hörten damals sehr gern den US-amerikanischen Opernsänger und Hollywoodfilmstar Mario Lanza, Sohn italienischer Einwanderer. »Be my love, for no one else can end this yearning«, der Tenor klingt in meiner akustischen Erinnerung unvergesslich. So kam es, dass mein Bruder Manolito Mario Franz getauft wurde. Wir Franz-Kinder sind alle evangelisch getauft, mein Taufpate war mein Onkel Peter.

Im Wohnzimmer hatten wir eine große Couch, die mit dunkelgrünem Samt bezogen war. Im Wohnzimmerschrank stand neben den Büchern das Danziger Goldwasser mit Schnapsgläsern. Das Besondere an diesem Gewürzlikör war, dass darin Blattgoldflocken schwammen, die Flasche faszinierte mich deshalb wie eine Schneekugel. Sobald Tante Trulla, die Freundin meiner Großmutter Ursula, zu Besuch kam – und das war meistens am Wochenende der Fall, wenn meine Eltern und mein Onkel sich herausgeputzt hatten und zum Tanzen gegangen waren –, haben die Frauen Likör schlürfend schier endlos geplaudert. Die Ursel-Mami – so nannte ich sie mitunter auch – hütete meinen Bruder und mich, wenn die Erwachsenen feiern gingen, und verwöhnte mich nach Strich und Faden. Trulla, die rot gefärbtes, hochgestecktes Haar trug, war manchmal an Weihnachten bei uns und naschte am essbaren Weihnachtsbaumschmuck, insbesondere an den Schnapspralinen. Meine Mami war zu diesem Zeitpunkt gerade von ihrem zweiten Mann, dem Geiger Gori Kaufmann, verlassen worden, mit dem sie zwölf Jahre verheiratet gewesen war. Als Alfons starb, war sie noch so jung gewesen und hat es zehn Jahre später noch einmal mit einer Beziehung versucht. Doch mit Gori ging es in die Brüche, ihre Ehe blieb kinderlos. Mami meinte, dass sie im Herzen eben immer Alfons treu und ihrer gemeinsamen Zeit in Berlin und auf der Flucht verhaftet geblieben sei.

Zur Einschulung in die »Fischerrück« trug ich meinen schönsten Pullover, den mit den geringelten Ärmeln, meine Haare waren länger als die der anderen Jungs. Auf dem Klassenfoto sieht man mich mittig in der obersten Reihe. Man hat mich dort für die Aufnahme hingestellt, weil ich das größte Kind war – bei mir schlagen wohl die Gene der »Pommerschen Riesen« durch, wie das bei uns zu Hause hieß. Das war eine Anspielung auf die »Langen Kerls« des altpreußischen Infanterieregiments, dessen Soldaten überdurchschnittlich groß sein mussten; unter 1,88 Meter Körpergröße war man für den Dienst nicht tauglich. Ein Ire dieses Regiments soll stolze 2,17 Meter gemessen haben. So riesenhaft waren die Vorfahren meiner Mama zwar nicht, doch sie waren alle ungewöhnlich groß. Meine Größe schützte mich allerdings vor den Gemeinheiten meiner Mitschüler:innen nicht.

In Kaiserslautern holte Mami Ursula mich im ersten Schuljahr nach Schulschluss täglich am Eingang ab, um mich sicher nach Hause zu geleiten. Das Wort »geleiten« passt irgendwie gut, denn sie hütete mich wie ihren Augapfel. Ihr Misstrauen gegen deutsche Institutionen saß tief, wie bei den meisten Sinti und Roma, deren Leben von Diskriminierung und Verfolgung geprägt ist. Dabei wäre meine Großmutter leidenschaftlich gern selbst Grundschullehrerin geworden – die Begabung hatte sie, belesen und klug, wie sie war, eine regelrechte Leseratte. Doch die Nazis vereitelten ihr diesen Wunsch, selbst ihre Lehre als Schreibwarenhändlerin musste sie abbrechen. Ihr verdankte ich es, dass ich in der Schule gut mitkam, weil sie mir bei den Hausaufgaben half, während meine Eltern arbeiteten. Sie tat alles dafür, um mich vor der Bildungsbenachteiligung zu schützen, die eine Folge des strukturellen Rassismus gegen Sinti und Roma ist. Mami war zu jenem Zeitpunkt 53 Jahre alt und trotz ihrer traumatischen Belastungen ein lustiger Mensch geblieben. Sie spielte mit mir und meinem Bruder bis zum Umfallen, immer war sie für uns da. Oft robbte sie auf allen vieren durch das Wohnzimmer, und wir taten so, als ritten wir auf einem Pferd. Das spielte sie sogar noch als 80-Jährige mit meinen Kindern. Meine Großmutter, die Mami, war einzigartig: diese Geduld, diese Liebe! Ich habe dem Einfluss dieser starken Frau viel zu verdanken. Sie hat mich entscheidend geprägt; wie die Frauen in meiner Familie überhaupt.

Mami war öfter einige Tage unterwegs und verdiente als Textilwarenhändlerin recht ordentlich, was nicht zuletzt ihrem Sohn Peter zugutekam. Sie schenkte meinem Onkel hin und wieder glatt Autos, einmal sogar den neuen Jahreswagen von Mercedes, da staunten wir alle nicht schlecht. Ihren Buben behandelte sie wie ein rohes Ei, verwöhnte und schonte ihn. Das lag gewiss daran, dass er nach seiner Geburt in der Sowjetunion mitten im Krieg so viel durchmachen musste. Peter war erst sieben Jahre alt, als sein Vater starb, aber er erinnert sich gut an ihn. Alfons hatte ihm kleine Kunststücke beigebracht: Wie auf einem Drahtseil balancierte Peter auf einem Fuß stehend auf der Hand seines Vaters. Er blieb selbst dann sicher stehen, wenn sein Tate sich vorwärtsbewegte oder drehte. Da gab es kein Wackeln oder Schwanken. Vielleicht wäre auch aus Peter ein Artist geworden, wäre mein Papo nicht so früh gestorben. Mein Onkel führte die Kunst seines Vaters nicht fort, sondern unterstützte seine Mutter im Textilhandel.

Peter war für mich eine starke Bezugsperson. Seit meiner Geburt 1966 war er um mich herum, unser Verhältnis war sehr eng. Er nahm mich oft ins Autokino mit und brachte mich später zum Musikunterricht. Nie beschwerte sich Peter, und selten war er schlecht gelaunt, mit Ausnahme am frühen Morgen. Mit 33 Jahren war er noch ledig, aber das mit dem Heiraten konnte ja noch werden. Ich hatte Glück, dass er und Mami sich so gut um mich kümmerten, weil meine Eltern sehr hart im Textilgewerbe arbeiteten, von früh bis spät waren sie beschäftigt. Bei uns in der Familie herrschte ein Ehrenkodex, der lautete, niemals auf Arbeitslosenhilfe angewiesen zu sein – »die Stütze« war in meiner Familie verpönt. Meine Angehörigen nannten das Arbeitsamt ganz altmodisch »die Wohlfahrt«. »Ich geh doch nicht zur Wohlfahrt!«, gehörte bei uns zu den Standardsätzen, die geradezu entrüstet geäußert wurden, als wäre es eine Schande, dem Staat auf der Tasche zu liegen. Stand hinter dieser fast vehementen Haltung Angst, die Angst aufgrund der feindseligen äußeren Umstände sozial abzustürzen oder gar Not zu leiden? Wir verließen uns seit jeher auf die in unserer Familie tradierten Berufe, und wenn es sein musste, arbeiteten wir eben doppelt so hart und in verschiedenen Berufen zugleich. Meine Eltern bauten unser schönes Haus in der Spesbacher Talstraße von ihrem Ersparten. Wirtschaftlich ging es uns so gut wie einst unseren Vorfahren, deren bürgerlichen Existenzen die Nationalsozialist:innen ein Ende setzten.

Schon in der ersten Klasse fingen die Diskriminierungen an, und hier in der Spesbacher Grundschule ging es weiter. Viele meiner Mitschüler:innen fremdelten mit mir und hänselten mich, da konnten meine Eltern sich noch so sehr für mich einsetzen, das hörte einfach nicht auf. Am ersten Schultag setzte man mich als Einzigen auf die hinterste Schulbank, ganz nach dem Motto: »Aus dem wird eh nichts!« Unser Rektor stellte uns Fragen, und wir sollten einen Schüler oder eine Schülerin in der Klasse benennen, die antworten sollte. Ralf, der flachsblonde Sohn vom Bürgermeister, suchte mich aus: »Der da hinne, mit de schwoaze Hoar.« Einer unserer Lehrer schien noch so richtig von der alten Garde zu sein, wenn man nicht spurte, gab’s was hinters Genick oder mit dem Zeichenstock auf die Finger. Es kam auch schon mal vor, dass meine Mitschüler:innen mich »dreckiger Zigeuner« schimpften. Bei der Auswahl zur Fußballmannschaft rissen die Jungs sich nicht gerade um mich: »Nimsch du den Zischeuner, nimsch du’n?!«, wurde ich wie saures Bier angeboten. Das versetzte mir jedes Mal einen Stich, aber ich manövrierte mich so durch. Hätte es nicht einige Schüler:innen gegeben, die dennoch meine Freunde wurden, hätte ich mich geweigert, weiter zur Schule zu gehen.

Es gab auch schöne Seiten in meiner Kindheit. Da war zum Beispiel meine Musiklehrerin, Frau Kühlwetter, eine liebe ältere Dame, die ich sehr mochte. Im Musikunterricht langweilte ich mich oft. Meist wurden Orff-Instrumente ausgeteilt, und ich musste die Blockflöte oder das Tamburin spielen. Ich empfand das als emotionslos, ja, fast träge. Irgendwann beichtete ich das meiner Lehrerin. Ob ich denn schon ein Instrument spiele, fragte Frau Kühlwetter, und ich erzählte ihr, dass ich neben dem Klavier nun auch die Geige lernte. Daraufhin antwortete sie: »Dann bringscht mol die Geisch mit, Romeo, dann gucke mer mol.« Und als ich das schließlich tat, löste das ein großes Erstaunen aus.

Da waren ferner unsere Nachbarn, zu denen wir ein sehr gutes Verhältnis hatten. Mit einer Familie waren wir so eng befreundet, dass der Kontakt noch jahrzehntelang hielt. Ich spielte regelmäßig mit den drei Nachbarsjungen draußen in unserem Garten oder im Dorf. Wir beobachteten den Bach, um darin Fische oder Ratten an der Böschung zu entdecken, kletterten im Wald auf Bäume und versteckten uns in Büschen. Mit meinem Klassenkameraden Stefan baute ich im Wald eine Höhle; wir gruben ein tiefes Loch und deckten es mit Ästen ab. Das war unser ganz geheimer Ort. Gleich um die Ecke von unserem Haus befand sich der Schützenverein »Enzian«. An den Wochenenden knallte es dort ordentlich, weil die Vereinsmitglieder mit Kleinkalibern trainierten. Tate war schon Mitglied geworden und als Schütze anerkannt. Ich traute mich schließlich zu fragen, ob ich zusehen durfte. Man ließ mich ein Luftgewehr ausprobieren, und da waren einige Kinder, die ich aus der Nachbarschaft und der Schule kannte. Die Atmosphäre im Verein war freundlich, ganz anders als in der Schule. Im Schützenverein gehörten Tate und ich schnell richtig dazu, und bald machte ich bei Wettkämpfen mit.

Eigentlich war das Leben in Spesbach ganz in Ordnung. Am Ende der Oberen Talstraße, am Friedhof, lebte Lena, eine alte Dame, die alle »das Lensche« nannten. Wenn ich zu Kirmeszeiten an ihrem Haus vorbeiging, trat das Lensche in ihrer Schürze und mit Kopftuch aus dem Haus.

»Wo gehsch den hi?«, fragte sie mich.

Und ich antwortete: »Auf die Kepp.«

»Dann musch i dir ebbes gebe«, erwiderte sie und steckte mir zwei Mark zu. Sie war ein ganz liebes Mütterchen, das Lensche, wie aus dem Märchen.

Das Schöne und das Hässliche wechselten einander ab. Eines Tages hatte ich es mir, wie so oft, mit einem Buch in einem der Gebüsche gemütlich gemacht und wartete auf Stefan, der sich verspätete. Plötzlich hörte ich die berüchtigte Gruppe Jugendlicher aus unserem Ort mit ihren Mopeds herbeiknattern. Sie waren einige Jahre älter als ich, viel größer und kräftiger. Ich kauerte mich tiefer in den Strauch, damit sie mich nicht entdeckten, doch vergeblich. »Da isch der kleine Zischeuner drinne«, sagte einer, und schon zerrten sie mich heraus, traten, schubsten und beschimpften mich. Gegen vier ältere Jungs konnte ich mich nicht wehren, das Gefühl der Machtlosigkeit überwältigte mich. Irgendwann schaffte ich es, gedemütigt, leicht blutend und mit Prellungen nach Hause zu kommen. Tate und Mama waren sehr aufgebracht und fuhren umgehend zu den Eltern der Jungen, um sich zu beschweren. Doch es nützte nichts, diese Bande Halbstarker hatte mich auf dem Kieker; sobald sie mich allein im Ort sahen, und sei es auch nur auf dem Weg zum Einkaufen, begann der Spießrutenlauf. Ich entwickelte eine regelrechte Panik, die mich von zu Hause zum Schulbus und umgekehrt verfolgte. »Woher weiß ich denn, ob die mich nicht eines Tages umbringen werden?«, fragte ich mich. Ich rannte um mein Leben. Die Angst vor den körperlichen Angriffen begann mich zu lähmen. In der Schule fiel es mir immer schwerer, mich zu konzentrieren.

Mein Anglerausflug hatte mich müde gemacht, ich war am Abend sofort eingeschlafen. Nun war es Sonntag, und Mamis Mutter, meine Urgroßmutter Frieda Pohl, wurde zu Besuch erwartet. Frieda ist in Brandenburg aufgewachsen und als Kind mit ihren Eltern nach Berlin gezogen, wo sie bis nach dem Zweiten Weltkrieg blieb. Obwohl sie jetzt schon so lang in Rheinland-Pfalz lebte, war sie durch und durch Berlinerin geblieben. Tate oder Onkel Peter holten sie am späten Vormittag in Kaiserslautern ab. Wir nannten Frieda die »alte Mami«, wobei das Adjektiv »alt« nicht abwertend zu verstehen ist, sondern ganz im Gegenteil als Würdigung ihres Lebens. Die alte Mami war jetzt 84 Jahre alt, sie war sehr klein und tat sich schwer mit dem Laufen. Die paar Treppen ins Haus und in die Küche hinein: Es dauerte jedes Mal ewig, bis sie endlich Platz nahm, das fand ich ziemlich langweilig.

Wenn Frieda kam, kochten entweder Mama oder Mami, und bis das Essen zum Auftischen bereit war, saßen die Frauen in der Küche und klatschten. Da flogen die Geschichten nur so durch den Raum! Wir Sinti sind echte Geschichtenerzähler:innen, das gehört zu unserer Tradition. Mama hatte ein üppiges Essen zubereitet, und nun saß die gesamte Familie beisammen, und alle redeten durcheinander. Den Kirschstreuselkuchen gab es anschließend im Wohnzimmer. War das wieder ein Zeitaufwand, bis die alte Mami Frieda in ihren Pantoffeln im Trippelschritt von einem zum anderen Raum geschlurft war und auf das Sofa plumpste! Nach Kaffee und Kuchen blickte meine Urgroßmutter mich an und sagte: »Spiel doch mal einen Ländler, Meo!«, und schon machte sie es sich bequem. Diese ländliche Tanzmusik, die Märsche und Walzer der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, waren ganz ihre Sache. Mir gefiel Jazz viel besser, aber der war ihr zu modern. Dabei hatte Frieda in den 1920er-Jahren ihren Mann Julius in dessen fahrendem Kino bei Vorstellungen auf der Bassgitarre begleitet, was für Frauen damals sehr progressiv war.

Ich setzte mich für die alte Mami also ans Klavier und spielte ihr etwas vor. Doch je länger ich spielte, umso trübsinniger wurde sie. »Mein Junge Joschi hat so fabelhaft Akkordeon gespielt«, stieß sie unvermittelt aus. Joschi war neben ihren vier Töchtern – die älteste davon war meine Großmutter Ursula – ihr einziger Sohn gewesen. Er starb kurz nach meinem Großvater Alfons an den Folgen seiner KZ-Aufenthalte und der Zwangsarbeit an Tuberkulose. Frieda ließ ihn auf dem Waldfriedhof von Freising begraben.

Natürlich lobte die alte Mami mich überschwänglich für mein Vorspiel, das vergaß sie nie. Doch das Gespräch wendete sich dann schnell ihrer Tochter Bärbel zu, die die Nazis aus Berlin deportierten, und schließlich zu den Onkeln meines Vaters, Albert und Paul Franz. Auch sie fielen dem Baro Marepen, dem Völkermord, zum Opfer. Es war immer das Gleiche: Spätestens beim Kaffee kamen die Gespräche über die toten Verwandten auf, und dann war die Stimmung schlagartig dahin. Für die Älteren waren die Verfolgung und der Krieg gerade mal ein paar Jahrzehnte her, die Ereignisse waren für sie noch ganz frisch. Die fehlenden Verwandten kamen aber schließlich nicht wieder. Alle diese Erzählungen blieben mir im Gedächtnis. Ich bin den ermordeten Angehörigen nie begegnet, durch die vielen Geschichten über sie habe ich jedoch das Gefühl, sie sehr gut zu kennen. Die Toten leben weiter unter uns. Ich wuchs mit ihnen auf.

2Das rollende Kino

Familie Hoff und Pohl (1871 – 1928)

Die alte Mami Frieda war am Nachmittag erschöpft. »Ursula, dein Kuchen war wieder mal famos«, sagte sie zu meiner Großmutter, ihrem ältesten Kind. Sie legte die Beine hoch und nickte mehrfach auf der Couch ein. Wir ließen sie schlafen, damit sie sich erholen konnte, bevor Tate sie wieder in ihre Wohnung nach Kaiserslautern zurückfuhr. »Nach so einem harten Leben hat sie sich ihre Päuschen verdient«, sagte die junge Mami verständnisvoll. »Decke ihre Füße mit der Baumwolldecke zu, Meole«, bat sie mich.

Mami hatte nach Alfons’ Tod meist an der Seite ihrer Mutter gelebt, sie hielten eng zusammen und stritten nur selten; das war erstaunlich, weil beide starke Persönlichkeiten waren und leicht aneinandergeraten konnten. Meine Mutter Mery ist nicht minder resolut, sie kommt ganz nach Ursula und Frieda. Unterwürfig ist bei uns wirklich niemand, die Frauen schon gar nicht. Im Gegenteil, wir sind alle ein bisschen dickköpfig und dominant. Meine Angehörigen haben gelernt, nie aufzugeben, immer einen Weg zu suchen, jedoch in einer Auseinandersetzung eben auch nicht nachzugeben. Ich würde erst später lernen, dass das nicht immer konstruktiv ist. Wenn man etwas erreichen will, muss man auch Kompromisse eingehen und sich in andere Perspektiven einfühlen.

Die drei Generationen von Frauen in meiner Familie sind für mich stark präsent. Manchmal zogen meine Verwandten mich liebevoll auf und nannten mich »Mami-Kind« – weil meine Großmutter Ursula mir so viel Aufmerksamkeit schenkte. Das lag daran, dass sie selbst ein Papo-Kind war.

Denke ich an die Kindheit und an Urgroßmutter Friedas Besuche zurück, so sehe ich mich jetzt, wie ich auf dem Bauch am Boden liege und meine Murmeln über den Teppich rollen lasse. Ich setze mein Kinn auf die weiche Unterlage, bedecke ein Auge mit der Hand und fixiere mit dem anderen die Murmel. Das Farbspiel der Glaskugel verändert sich im Licht der Sonne, die einen breiten Strahl auf den Teppich wirft. Die Farben ziehen mich in ihren Bann, je mehr ich blinzele und das Auge wieder öffne, umso unterschiedlicher sind die Farbkombinationen. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Die Erinnerung kommt mir heute vor wie ein komplexes Gewebe mit vielfältigen Mustern und Farben. Manche Fäden sind zart und gerissen, andere treten robust hervor. Manche Motive sind verblasst, andere strahlen farbenprächtig.

Ich entsinne mich intensiv meiner Kindheit, sie ist dicht verwoben mit den Erzählungen von meinen Vorfahren, ihren Erfahrungen und Prägungen. Ihre Vergangenheit ist meine Gegenwart und Zukunft. Ich empfinde mich als Teil des familiären Ganzen und zugleich als ganz eigenen Faden in diesem einzigartigen Tuch, das unsere Geschichte darstellt. Es fließt wie Seide, bindet, wärmt und schützt vor äußeren Einflüssen. Ich habe gelernt, mit unserem transgenerationellen Erbe umzugehen – mit dem, was durch vergangene Ereignisse an Gefühlserbschaften an die nächsten Generationen weitergegeben wurde: so wie die Liebe, die Loyalität, aber auch die Ängste und fortwirkenden Traumata. Ich habe mich mit diesem Erbe konfrontiert, ich muss die belastenden Dinge nicht verdrängen oder kompensieren, sondern habe sie als Teil meiner familiären Vergangenheit und deren Prägungen integriert. Deshalb weiß ich auch das Gute zu schätzen, das bei allem Leid stets vorhanden war. So kann ich offen zu meiner Herkunft stehen, ohne Angst, Scham, Ohnmachts- oder Rachegefühle. Ich bin verblüfft, verzaubert, mitunter auch bedrängt davon, dass in meiner Familie so vieles bewahrt wurde – an Erzählungen, an Fotos, Dokumenten, an Wissen, Instrumenten und Melodien. Die biografischen Kontinuitäten, aber auch die Brüche der Personen in unserer Familie bilden die vielen Facetten meines jetzigen Daseins. Meine Erinnerung beruht auf gesicherten Fakten und Forschung, jedoch auch auf subjektiven Eindrücken, die über die Generationen weitergereicht wurden – Gerüche, Bilder und Gefühle.

Im Wohnzimmer ist es plötzlich sehr still geworden. Die alte Mami schnarcht leise im Schlaf. Ursula, ihre Tochter, hat es sich im Sessel gemütlich gemacht. Meine Mutter Mery hält meinen Bruder im Arm, Manolito hat sich an sie gelehnt und träumt vor sich hin. Tate und Peter haben die Gelegenheit genutzt, um sich Luft zu verschaffen: Mein Vater ist im Garten verschwunden, mein Onkel sitzt in der Küche und blättert in einer Zeitschrift. Ich sehe ein Stillleben vor mir: Urgroßmutter, Großmutter und Mutter im Wohnzimmer in einem Augenblick vollkommener Ruhe. In ihren Gesichtern zeichnen sich die Geschichten ihrer Leben ab, die tiefen Linien und die zarten. Ich versetze mich in die Vergangenheit der drei, und vielleicht vermengen sich die zeitlichen Ebenen an manchen Stellen: Ist es gerade das Kind, der Jugendliche oder der Erwachsene, der sich erinnert? Doch spielt das eigentlich eine Rolle? Es ist meine, es ist unsere Geschichte.

Wir gedenken unserer Menschen: Mare Manuschenge. Wie viele andere diskriminierte und ausgegrenzte Minderheiten blieben die Sinti und Roma meist untereinander, die Gemeinschaft bot ihnen Sicherheit vor den Anfeindungen der Gesellschaft. Und da, wo sie dieselben Berufe ausübten und sich in denselben Schichten bewegten, wuchs oft die Liebe. Deshalb kannten sich die Familien Hoff, Pohl, Blum und Franz, deren Nachkomme ich bin, teilweise schon seit Anfang des vorletzten Jahrhunderts. Seit dem Zweiten Weltkrieg geht es bei unseren Menschen um das kollektive Gedenken an alle Sinti und Roma, die von den Nationalsozialist:innen ermordet wurden.

Ich beginne die Erzählung mit der mütterlichen Linie, mit meiner Urgroßmutter Frieda Mathilde Pohl. Frieda ist eine geborene Hoff, 1892 in Bandelow in Uckerland zur Welt gekommen. »Ick bin ’ne Brandenburgerin«, sagte sie bis an ihr Lebensende; und tatsächlich verbrachte sie den entscheidenden Teil ihres Lebens in Brandenburg und in der Hauptstadt. Das Berlinern legte nicht nur Frieda, sondern auch meine Großmutter Ursula nie ab. Friedas Vater war Waidemann Wilhelm Hoff, ebenfalls ein gebürtiger Brandenburger, der 1871 in Stolzenhagen im Kreis Angermünde zur Welt kam. Schon vier Tage später ließen ihn seine Eltern, Dorothea (geborene Bill) und Johann Hoff, taufen, der Eintrag im Kirchenbuch Stolzenhagen ist erhalten. Bei den meisten Sinti haben die amtlichen Namen eine geringere Bedeutung als traditionelle Namen. Im Innenverhältnis identifizieren wir uns über unsere traditionellen Namen und darüber, aus welcher Region unsere Vorfahren stammen. Bereits im Kaiserreich waren die Sinti eine stark diskriminierte Minderheit. So etwa gab es »Zigeunererhebungen«.

1886 zählten die preußischen Behörden 1057 ortsansässige Romanes-sprachige Menschen – darunter vermutlich auch meine Vorfahren. Ein preußischer Ministerialerlass vom 29. September 1887 ordnete an, dass Sinti und Roma, die nicht beweisen konnten, dass sie preußischer oder deutscher Abstammung waren, wie Ausländer zu behandeln seien. Der britische Historiker Simon Constantine konstatiert die Schwierigkeiten dieser Dokumentierung, denn die Betroffenen mussten belegen, dass sie oder ihre Eltern bereits vor 1870 in einem der deutschen Staaten ansässig gewesen waren, lediglich eine Geburtsurkunde reichte nicht. Dies habe in vielen Fällen dazu geführt, dass ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde und die Ausbürgerung die Folge war, so Constantin.1

Der Reichstag verschärfte die Reichsgewerbeordnung zudem mehrfach, um es Sinti und Roma besonders schwer zu machen, an Arbeitsgenehmigungen und Wandergewerbescheine zu kommen. Ziel war dabei auch, den gewerblichen Mittelstand vor Konkurrenz zu schützen.2 Diese Einschränkungen für bestimmte Menschengruppen verstießen gegen das Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867.3 In München entstand 1899 der »Zigeunernachrichtendienst«, um Sinti und Roma in einem Zentralregister zu erfassen, und schon sieben Jahre später wurden »Zigeunerlizenzen« eingeführt.4 Laut den preußischen »Anweisungen zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« vom 16. Februar 1906 sollte nicht-deutschen Sinti und Roma nun die Einreise ins Deutsche Reich verwehrt werden. Die Behörden wollten nicht sesshafte Sinti, die nachweisen konnten, dass sie deutsche Bürger:innen waren, zwingen, sich fest anzusiedeln. Nur so kamen diese überhaupt an Ausweispapiere oder Gewerbescheine, doch die Behörden legten ihnen Hindernisse in den Weg, wo es nur ging.5 Damit schränkten sie das Bleiberecht ein, um Sinti und Roma aus dem Land zu vertreiben. Da die Hoffs einen festen Wohnsitz und ein Steuerkonto nachweisen konnten, ereilte sie dieses Schicksal nicht. Die rassistische Behandlung unserer Minderheit ging in der Weimarer Republik nahtlos weiter. Doch das war nichts gegen das, was später unter den Nationalsozialist:innen kam.

Das Wort »Zigeuner« lehnt die überwältigende Mehrheit der Sinti und Roma strikt ab, wir empfinden es als »Schimpf- und Schmähwort«.6 Bis heute ist etymologisch nicht abschließend geklärt, ob es ursprünglich aus dem Persischen oder dem Griechischen entstanden ist. Dieser Begriff ist insbesondere aber die Fremdbezeichnung, die die Nationalsozialist:innen für ihre Politik der Verfolgung und Vernichtung benutzten. Er ist rassistisch und stigmatisierend aufgeladen. Die Unabhängige Kommission Antiziganismus bemerkte in ihrem Bericht von 2021, dass sich dieses Wort im deutschen Sprachraum »mehrheitsgesellschaftlich unhinterfragt und unhinterfragbar« konkurrenzlos durchgesetzt habe.7 Dabei verwiesen sämtliche »Herleitungsversuche beziehungsweise Thesen zur Herkunft und Entstehung des Wortes Zigeuner … auf die hierarchisierenden und vor allem abwertenden Zuschreibungen und Unterscheidungspraktiken«, so die Wissenschaftler:innen.8 Die Kommission kommt in ihren sehr lesenswerten Ausführungen über diese »diskriminierende und diffamierende Fremdbezeichnung«9 zu einem klaren Urteil: »In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Verfolgung und Ermordung unter dem Begriff Zigeuner organisiert, mit der Abkürzung ›Z‹ wurde er in die Körper der im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau inhaftierten Sinti_ze und Rom_nja eingeschrieben, als Tätowierung auf dem Arm und bei den Säuglingen auf den Oberschenkel. Zigeuner ist demnach nicht nur eine abwertende Bezeichnung und ein pejorativer Begriff, Zigeuner ist zudem kollektiv und individuell mit Gewalterfahrungen der so Bezeichneten verwoben. Zigeuner ist also ›nicht nur eine Fremdbezeichnung, sondern eine im Zuge der Umsetzung des Völkermords an Sinti und Roma … entscheidende Kategorie: eine Täterkategorie‹.«10

Aus genau diesem Grund folge ich in diesem Buch dem Vorbild der Unabhängigen Kommission und streiche das besagte Wort aus, wann immer es im Kontext der historischen Erzählung beziehungsweise in Dokumenten der NS-Täter:innen auftaucht. Sprache prägt unser Bewusstsein, und die Benutzung der Eigenbezeichnungen hat politische Strahlkraft, die wir brauchen, wenn wir den rassistischen Sprachgebrauch abschaffen wollen. Es ist ein großes Verdienst der Bürgerrechtsbewegung und des Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, dass sich in der Praxis im Allgemeinen schon viel verändert hat.

»Die Eigenbezeichnung Sinti und Roma ist wesentlicher Teil unserer Identität als Minderheit. In unserer pluralistischen Gesellschaft sollte dieses ureigenste Recht auf Selbstbestimmung respektiert werden«, so erklärt es der Zentralrat.11

Ich will zusätzlich noch betonen, dass dieses Wort in unserer Herkunftssprache Romanes überhaupt nicht existiert und wir es untereinander auch in der deutschen Sprache niemals verwenden. Der Zentralrat bemerkt auch richtig, dass die Begriffe Sinti und Roma keineswegs, wie häufig unterstellt, »politisch korrekte« Erfindungen der Bürgerrechtsbewegung (sind), sondern … in Quellen bereits seit dem 18. Jahrhundert auftauchen.12 Kritik gibt es am Doppelbegriff Sinti und Roma vor allem deshalb, weil er die Heterogenität unserer Minderheit nicht darstellt und vielmehr sogar suggeriert, dass es sich hier um eine homogene Gruppe handele, Sinti und Roma also ein und dasselbe seien. Sinti und Roma, die sich gegenüber Vertreter:innen der Mehrheitsgesellschaft selbst weiter mit dieser stigmatisierenden Fremdbezeichnung benennen, tun dies in der Regel, um es ihrem Gegenüber zu ersparen, sich mit den Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen, sofern das Wort wertneutral benutzt wird. Gelegentlich bedeutet dessen Verwendung auch eine Form von internalisiertem Antiziganismus, oder er wird für kulturelles Marketing in romantisierender Weise eingesetzt.

Wir Sinti leben in diversen Gruppen mit Eigenbezeichnungen seit Anfang des 15. Jahrhunderts in Mitteleuropa, wir sind seit sechs Jahrhunderten ein fester Bestandteil der deutschen Geschichte und Kultur. Doch das glauben uns viele Menschen nicht, weil sie nur Sinti oder Roma wahrnehmen, die aufgrund ihrer prekären Lebensverhältnisse gezwungen sind, unterwegs zu sein. Dabei wissen sie kaum je zu unterscheiden zwischen Sinti und Roma oder halten Jenische oder Pavees – die irischen Landfahrer – für unsere Menschen, obwohl wir ethnisch nicht miteinander verwandt sind. Auch ist der Oberbegriff »Sinti und Roma« in Wahrheit nicht präzise, weil dieser die vielen anderen Gruppen derselben ethnischen Herkunft negiert. Ich verwende deshalb »Menschen mit Romanes-Hintergrund«, um da, wo es sie betrifft, alle Angehörigen dieser Minderheiten einzuschließen. Im Englischen fasst es der Begriff »Romani People« griffig zusammen.

Uns pauschal als Nicht-Sesshafte zu bezeichnen, hat mit der Realität nichts zu tun. Aber es ist dadurch vermutlich einfacher, uns als Nicht-Dazugehörige, als ewig Fremde abzutun und sich gar nicht erst mit uns auseinanderzusetzen. Das liegt im jahrhundertealten Antiziganismus begründet. 1498 beschloss der Reichstag zu Freiburg, die Minderheit des Landes zu verweisen und für »vogelfrei« zu erklären. Es war also rechtens, gegen Zigeuner Straftaten zu begehen, ja, sogar sie zu töten. Bis 1774 folgten in den deutschen Kleinstaaten über 146 Edikte, die sich gegen sie richteten und sie sogar zur Versklavung freigaben. Es war ihnen verboten, in Städten zu wohnen, sie waren ausgeschlossen von Bildung und dem Erlernen von zunftgebundenen Berufen. Der Ausschluss aus den Zünften führte dazu, dass Sinti und Roma zum Überleben auf Wanderberufe ausweichen oder sich als Soldaten dem Militär anschließen mussten. Ihre Nicht-Sesshaftigkeit wurde somit erzwungen und setzte sich über die Jahrhunderte fort. Doch wo die gesellschaftspolitische Situation es zeitgeschichtlich ermöglichte, siedelten sie sich fest an. Bis heute sind viele europäische Sinti und Roma aufgrund ihrer sozialen Situation genötigt, in abgesonderten Vierteln zu leben und ihren Lebensunterhalt durch ambulante Berufe zu verdienen. Das heißt jedoch nicht, dass der Großteil mittlerweile nicht dauerhaft ansässig wäre.

Das Klischee, dass Menschen mit Romanes-Hintergrund keine festen Wohnsitze besäßen, sitzt aufgrund dieser historischen Entwicklungen und des politischen Antiziganismus unbeschreiblich tief. Außerdem nimmt die Mehrheitsgesellschaft meist nur diejenigen wahr, die aus der Rolle fallen, weil sie aufgrund struktureller Armut besonders auffällig sind. Die stille Mehrheit der Sinti und Roma aber, die ihr Leben so wie alle anderen Deutschen lebt, existiert in dieser vorurteilsbehafteten Sichtweise nicht. Man will uns nicht sehen, wie wir wirklich sind. An uns haftet das Stigma des Negativen, oder wir werden romantisiert, zum Beispiel wegen unserer schönen Musik. Doch das ist nur die Kehrseite desselben Antiziganismus, einem gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber sozialen Gruppen, die als Zigeuner oder mit anderen verwandten Bezeichnungen identifiziert werden. Dieser seit Jahrhunderten bestehende Antiziganismus hat dazu geführt, dass viele von uns nicht sichtbar werden wollen und sich als Menschen mit italienischer, spanischer oder türkischer Biografie ausgeben: Zu groß ist die berechtigte Angst vor Nachteilen in allen Bereichen des Lebens.

Die Sinti leben seit über 600 Jahren in Europa, insbesondere in Deutschland und Österreich. Doch viele auch in Italien, Frankreich, den Niederlanden und Schweden sowie einige in der Slowakei oder Ungarn. Sinti und Roma – also Menschen mit Romanes-Hintergrund – kamen um das vierte und fünfte Jahrhundert nach Christus aus dem nordwestlichen Indien, genauer aus dem Punjab, nach Persien und wanderten ab dem siebten Jahrhundert nach Armenien. Sie waren Teil des indischen Kastensystems, von dem sie sich später durch neue Berufe und neue Gruppen trennten. Historiker:innen gehen davon aus, dass Sinti und Roma seit dem 13. Jahrhundert in Griechenland und seit dem 14. auf dem Balkan ansässig waren. Im 19. Jahrhundert gab es unter ihnen auch einige Amerika-Auswander:innen, die auf dem anderen Kontinent ihr Glück versuchten. Roma emigrierten erst im 19. und 20. Jahrhundert in größerer Zahl nach Deutschland. Andere kamen in den 1950er-Jahren aus Polen, der Tschechoslowakei und Österreich in die BRD, und in den 1960ern folgten jugoslawische Roma als Gastarbeiter. Später flüchteten sie vor dem Bürgerkrieg aus dem zerbrechenden Jugoslawien und suchten Zuflucht in der BRD. Unsere Menschen gingen in höchst unterschiedliche Umgebungen nach Asien, Europa, Amerika und Australien ins Exil. Diese Ortswechsel waren zumeist durch Not begründet, seien es wirtschaftliche Probleme, Kriege, Bürgerkriege, Verfolgung oder gezielte Vertreibung.