Der leere Platz von Ssolutsch - Mahmud Doulatabadi - E-Book

Der leere Platz von Ssolutsch E-Book

Mahmud Doulatabadi

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Beschreibung

Seit Tagen schon haben sie nicht mehr miteinander geredet. Ssolutsch war in den letzten Tagen verwirrt, verstört gewesen, aber auch Mergans Lippen waren wie von unsichtbarer Hand verschlossen. Eines Morgens ist der Platz neben ihr leer: Ssolutsch hat sie und seine Familie verlassen. Mergan muss nun alleine für ihre Kinder sorgen. Aus dem kargen Leben wird ein erbarmungsloser Überlebenskampf. Hadjer, die fünfzehnjährige Tochter, wird an einen alten Mann verheiratet. Abrou, der jüngere Sohn, gerät in ein Intrigenspiel um Grund und Boden. Abbass, der andere Sohn, altert in einer einzigen Nacht, als er, von einem tollwütigen Kamel verfolgt, in einen Brunnen voller Schlangen fällt. Wie lange wird sich Mergan gegen ihr Schicksal stemmen können?

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Seitenzahl: 676

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Über dieses Buch

Eines Morgens ist der Platz neben Mergan leer: Ihr Mann Ssolutsch hat sie und seine Familie verlassen. Mergan muss nun alleine für ihre Kinder sorgen. Aus dem kargen Leben wird ein erbarmungsloser Überlebenskampf. In eindrucksvollen Bildern schildert Doulatabadi das Auseinanderfallen der sozialen Ordnung in der nordöstlichen Wüstenregion Irans.

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Mahmud Doulatabadi (*1940) gilt als bedeutendster Vertreter der zeitgenössischen persischen Prosa. Er arbeitet als Schriftsteller und Universitätsdozent für Literatur in Teheran.

Zur Webseite von Mahmud Doulatabadi.

Sigrid Lotfi lebte in Deutschland und im Iran. Sie hat an der Universität Göttingen promoviert und zahlreiche Werke aus dem Persischen übersetzt. Sie starb 2014 in Teheran.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Mahmud Doulatabadi

Der leere Platz von Ssolutsch

Roman

Aus dem Persischen von Sigrid Lotfi

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die persische Originalausgabe erschien 1979 unter dem Titel Dja-ye Chali-ye Ssolutsch in Teheran.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1991 im Unionsverlag Zürich.

Die Übersetzung aus dem Persischen wurde unterstützt durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit dem Institut für Auslandsbeziehungen.

Originaltitel: Dja-ye Chali-ye Ssolutsch (1979)

© by Mahmud Doulatabadi 1979

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30512-0

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 23.11.2022, 21:45h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DER LEERE PLATZ VON SSOLUTSCH

Erster Teil1 – Als Mergan den Kopf vom Kissen hob …2 – Der Boden unter den Füßen von Mergans Söhnen …3 – Abrou kam, als die Sonne ging. Er trug …4 – Die trockene Kälte oben auf den gewölbten Dächern …Zweiter Teil1 – Der Winter schritt voran, der träge, stille Winter …2 – Besorgt, bedrückt stand Abrou in der Morgendämmerung auf …Dritter Teil1 – Den Vorratssack des Vaters hatte Abbass genommen …2 – Jeder wusste, was er zu tun hatte3 – Abbass trat mit einem ganz neuartigen Gefühl aus …4 – Karbalai Doschanbeh hatte die Angewohnheit, sich mit dem …5 – »Das hier schickt Ssardar. Er hat gesagt …Vierter Teil1 – Zusammen mit dem Herbst kam die Pumpe …2 – Roghiyeh, Ali Genous Frau, hatte Abbass ihre aus …3 – Wo bist du4 – Es ging nicht. Es war unmöglich, das Kamel …WorterklärungenDie wichtigsten PersonenZur Aussprache persischer Wörter

Anmerkungen

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»… da wird man dich vermissen,wenn dein Platz leer bleibt.«

1. Samuel 20, 18

Erster Teil

1

Als Mergan den Kopf vom Kissen hob, war Ssolutsch nicht da. Die Kinder, Abbass, Abrou und Hadjer, schliefen noch. Mergan strich die Haarsträhnen unters Kopftuch, stand auf, trat über die tief liegende Schwelle in den kleinen Hof und ging geradewegs zum frei stehenden Backofen. Auch da war Ssolutsch nicht. In den letzten Nächten hatte er neben dem Backofen geschlafen. Warum, das wusste Mergan nicht. Sie sah nur, dass er neben dem Backofen schlief. Abends kam er spät, sehr spät heim, ging stracks zum Backofen und rollte sich unter dessen schadhaftem Schutzdach zusammen. Von Gestalt war er klein und schmächtig. Er rollte sich zusammen, zog die Knie bis zum Bauch an, steckte die Hände zwischen die Oberschenkel, zwei Stück Knochen, lehnte den Kopf an die Mauer, wickelte sich in die alte Satteldecke seines Esels – des Esels, der im vergangenen Frühjahr hungers gestorben war – und schlief ein. Vielleicht schlief er auch nicht. Was weiß man denn? Vielleicht kauerte er bis zum Morgen da und führte Selbstgespräche? Denn in diesen letzten Tagen hatte er das Reden aufgegeben. Schweigend kam er, schweigend ging er fort. Morgens war Mergan zu ihm getreten. Ssolutsch war schweigend aufgewacht und war, ohne seiner Frau einen Blick zu schenken, bevor die Kinder aufstanden, durch den Mauerspalt hinausgegangen. Mergan hörte nur von der Gasse her das ewige Husten ihres Mannes, danach war er verschwunden. Ssolutsch und sein Husten waren verschwunden. Er trug auch keine Schuhe, dass Mergan seine Schritte hätte hören können. Wohin ging er? Auch das hatte sie nicht herausfinden können. Wohin wohl mochte er gehen? Wohin verschwand er? Das war nicht festzustellen. Keiner wusste es. Keiner gab auf den anderen acht. Alle hatten mit sich selbst zu tun. Jeder war mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt und hielt den Kopf eingezogen. Die Einwohner von Semindj ließen sich nicht blicken. Keiner ließ sich blicken. Als wären alle in einer Schicht aus trockenem Eis eingeschlossen. Nur die unerbittliche, nicht enden wollende Kälte füllte die gewundenen Gassen von Semindj.

Ssolutsch, in Lumpen, ohne Schuhe, ohne Mütze, legte sich die Satteldecke seines toten Esels um die Schultern und verschwand in diese trockene Kälte, die selbst für einen Panter unerträglich war. Und Mergan wusste nicht, wohin ihr Mann ging. Anfangs war sie begierig, es zu erfahren, aber allmählich verlor sie das Verlangen danach. Er war eben gegangen. Soll er doch gehen! Mergan fühlte sich nicht mehr hingezogen zu Ssolutsch. Seine Anziehungskraft hatte er längst für sie verloren, nur die Gewöhnung war geblieben. Und in der letzten Zeit begann auch diese Gewöhnung blasser und blasser zu werden … um sich, wer weiß, wann, gänzlich zu verlieren. Nichts Verborgenes, nichts Offensichtliches, das Frau und Mann aneinander kettet, bestand mehr zwischen ihnen. Es gab keine Arbeit, keinen gedeckten Tisch, keins von beiden. Ohne Arbeit gibt es keinen gedeckten Tisch, ohne gedeckten Tisch keine Liebe. Ohne Liebe gibt es kein Gespräch. Und wenn es kein Gespräch gibt, gibt es nicht Zank und Streit, nicht Lachen und Scherzen; Zunge und Herz nutzen sich ab, eine Schicht aus Staub und Schweiß verschließt die Lippen, im Antlitz verdorrt die Seele, in den Augen der Blick, die Hände erlahmen aus Mangel an Betätigung, und Spaten, Hacke und Sichel verbergen ihre Gesichter in der leeren Abstellkammer unter einer diken Schicht von Staub. Was noch? Wenn der Esel gestorben ist, wenn der kalte, trockene Winter den Leib mit seinem schwarzen, kalten Leib erdrückt und wenn der Gram das Gefäß der Seele zum Überlaufen bringt … wo bleibt dann noch Platz für die Zuneigung? Wo Platz für Herz und Zunge?

Ssolutsch war in diesen Tagen verwirrt, verstört gewesen. Weder sprach er, noch schien er zu hören. Aber hatte Mergan denn Ssolutsch etwas zu sagen, um zu erfahren, ob er es hörte oder nicht? Gab es denn etwas, ein geringstes Etwas, so dass Mergan einen Vorwand zum Sprechen gefunden hätte? Wenn alles unter einem unbegreiflichen, kranken Staub begraben liegt – zu welchem Zweck können sich dann die Lippen öffnen? Mergans Lippen waren von unsichtbaren Händen verschlossen worden. Nur ihre Augen waren offen, und ihre offenen Augen waren voll Verwunderung. Als versetzten selbst die Wände sie in Erstaunen. Auch die Luft, auch Tag und Nacht. Als wunderte sie sich, dass sie da war, dass sie ging, dass sie atmete, dass sie die Kälte bis ins Mark ihrer Knochen spürte. Als staunte sie darüber, dass eine Mutter sie geboren, sie genährt und großgezogen hatte. Ist es denn wahr? Ist es denn möglich? Ist so etwas überhaupt möglich? Wie viele merkwürdige, unglaubliche Dinge gibt es doch in dieser Welt!

Mergan kam alles merkwürdig vor, und am merkwürdigsten war der leere Platz von Ssolutsch. Aber an keinem anderen Tag hatte der leere Platz von Ssolutsch sie in diesen Zustand versetzt. Das war kein Erstaunen mehr, Entsetzen war es. Eine neue Angst, jäh und fremd. Ohne dass sie es merkte, waren ihre Augen weit aufgerissen, stand ihr Mund offen. Der leere Platz von Ssolutsch schien diesmal leerer als sonst. Für Mergan war er wie ein geheimes Zeichen. Etwas Sichtbares und doch nicht Sichtbares. Eine Vermutung. So etwas, was eine Bäuerin als Offenbarung bezeichnet. Eine Ahnung – vielleicht! Ssolutsch war fortgegangen. Das wurde Mergan nun klar. Erst jetzt begann sie zu begreifen, dass Ssolutschs Verzicht auf alles, sein Sichfernhalten von ihr und dem Haus, kein Vorwand gewesen war; es war eine Vorbereitung. Ssolutsch hatte sich abgetrennt, sich losgerissen. Wie ein mit einem Schlag abgeschnittener Fingernagel. Was für lange Nächte muss Ssolutsch mit sich gekämpft haben! Was für schwere Tage muss er überdrüssig und abgestorbenen Herzens in den Trümmern verfallener Häuser, in den Feldern voll Disteln zugebracht haben! Was für Gedanken, Ahnungen, Träume! Die Kinder hatte er sich – gewiss – eins nach dem anderen unter Qualen aus dem Herzen gerissen und von sich geworfen. Und Mergan hatte er – gewiss – aus seinem Gedächtnis getilgt. Was blieb denn, das er bei seinem Fortgehen dagelassen hätte? Seine Sorgen? Nein, bestimmt hat er seinen Anteil davon mit sich genommen. Ganz gewiss hat er ihn mit sich genommen. So etwas kann man nicht aus sich herausreißen und von sich werfen. So etwas kann man nicht auf einen anderen übertragen. Nein, mit einer schwereren Last auf dem Herzen muss er fortgegangen sein. Fortgegangen ist er, fortgegangen. Soll er gehen!

›Soll er doch gehen!‹

Sich dies in Gedanken zu sagen schien leicht. Nur in Gedanken. Denn nie im Leben hatte Mergan sich so wie in diesem Augenblick mit ihrem Mann eins gefühlt. Sie hatte plötzlich etwas verloren, wovon sie nicht genau wissen konnte, was es war. Dem Namen nach war es ihr Mann, Ssolutsch, doch dem Gefühl nach etwas anderes. Vielleicht kann man sagen, dass eine Hälfte von Mergan selbst verloren gegangen war. Das aber erklärte nicht den Schmerz. Der Schmerz war Mergan unverständlich. Was war ihr verloren gegangen? Sie wusste es nicht. Es war nicht die Hand, nicht das Auge, nicht das Herz. Ihre Seele, ihr Gefühl, sie selbst war verloren gegangen. Die Decke über ihr, die Wände neben ihr waren niedergerissen worden. Ein Gefühl wie von Nacktsein, innerlichem Nacktsein. Nackt auf dem Eis. Unbekannte Hände hatten sie ausgehöhlt. Als wäre sie nackt und ausgehöhlt auf dem zugefrorenen Teich neben dem Badehaus ratlos zurückgeblieben. Nackt und ohne Schatten. Lässt sich denn eine Gestalt finden, die keinen Schatten hätte? Was Mergan von sich empfand, war dies: nackt, ausgehöhlt, schattenlos. Schutzlosigkeit und Kälte. Ihr Herz klopfte: ein glühendes Stück Kohle in den Kälteschauern der Mitternacht. Mit einem Mal brannte sie. Etwas hatte sie in Brand gesetzt. Die erkaltete Asche, die alles in ihrem Leben zugedeckt hatte, wurde urplötzlich von ihrem Herzen gefegt. Etwas Dumpfes, etwas Vergessenes tauchte in ihrer Brust wieder auf: Ssolutsch. Eine alte, verrostete Liebe. Eine Liebe, vermischt mit Leid. Ein jähes Gefühl. Sie entdeckte, wie sehr sie nach Ssolutsch verlangt hatte, auch jetzt nach ihm verlangte!

Solange du Augen hast, scheinen sie eine Selbstverständlichkeit; aber sowie diese Augen erblinden, durch ein glühendes Eisen oder durch kalte Krallen, siehst du nicht einmal mehr den Herd, in dem du ein Leben lang Feuer gemacht hast. Jetzt erst verstehst du, was du verloren hast. Was für ein geliebtes Wesen dir abhanden gekommen ist: Ssolutsch!

›Ist Ssolutsch denn wirklich fortgegangen? Wohin ist er gegangen? Und was wird aus mir? Und was aus Hadjer? Was aus den Jungen, Abbass und Abrou? Ist Ssolutsch fortgegangen? Wohin ist er gegangen? Wessen Obhut hat er uns anvertraut, als er fortging? He?‹

Mergan kam allmählich zu sich. Die Augen gingen ihr langsam auf für das, was geschehen war. Ein Druck, eine elementare Kraft stieg erneut aus ihrem Inneren auf. Ihre Augen sahen wieder sie selbst. Deutlich sah sie alles um sich her. Alles hatte sich wieder belebt. Aus dem trockenen Herzen der Winterkälte sprudelte wieder Leben. Der Panzer aus Eis, der Mergan monatelang in sich gefangen gehalten hatte, begann aufzubrechen. Sie hatte einen Stoß erhalten. Aus der Kälte war sie in Feuer geraten. Sie brannte und war im Begriff, andere in Brand zu setzen. Sie fühlte, wie alles Eis der Welt in ihr schmolz. Sie glühte so, dass sie das Gefühl hatte, sie könne die Kälte des Winters zu Grabe tragen. Das Herz in Mergans Brust war kein Herz, eine Feuerstätte war es, eine Feuerstätte aus Hass.

Sie wandte sich ab. Aber noch etwas, eine magnetische Kraft, zwang sie, auf den leeren Platz von Ssolutsch zu blicken. Ihr schien, sein leerer Platz schrumpfe von Augenblick zu Augenblick mehr und mehr zusammen. Klein wie eine Gebärmutter. Der Platz des Kopfes. Der Platz der angezogenen Beine. Der Platz des gekrümmten Rückens. War denn Ssolutsch so klein geworden? Mergan drehte sich um. Ssolutschs großes irdenes Getreidefass stand noch im Hof, neben der Grube. Das halb fertige Getreidefass. Der Fuß und die erste Schicht waren trocken geworden und hatten in der strengen Kälte Sprünge bekommen. Ssolutsch hatte das Fass halb fertig stehen lassen, aus Hoffnungslosigkeit hatte er es halb fertig stehen lassen. Seit etwa einem Monat war auch der Backofen dort drüben so geblieben, war aufgegeben worden. Niemand hatte bei Ssolutsch ein Fass bestellt. Von sich aus hatte er aus Mangel an anderer Beschäftigung mit der Herstellung begonnen und einige Tage später die Arbeit wieder eingestellt. Warum auch sollte er diese Arbeit nicht einstellen? Wenn es keine Ernte gibt, kein Getreide gibt – wozu dann ein Gefäß für Getreide? Wozu dient es dann? Und wozu ein Backofen? Für wen? Für welche Teigschüssel? Schade um diese Tonerde, die er auf den Schultern herangetragen hatte, der Ssolutsch! Schade um diesen Ton, den er zur Reife brachte! Schade um diesen Schweiß auf der Stirn; schade um Ssolutsch! Den Ton knetete er, knetete und bearbeitete ihn, bis er bereit war und aufging wie Hefeteig. Kein gelernter Bäcker brachte seinen Teig so gut zum Gehen, bereitete ihn so vor. Wie ein Alchimist arbeitete er, der Ssolutsch. Alle Tongefäße für Mehl und Getreide, alle neuen Backöfen in Semindj waren von den mageren Händen, von den schlanken Fingern Ssolutschs gemacht worden. Solange sie ihn brauchten, hatten alle ihn als Meister geschätzt. Als einen, dem von jeder Fingerspitze eine Kunstfertigkeit tropft: Ssolutsch der Ofensetzer, Ssolutsch der Brunnengräber, Ssolutsch der Kanalreiniger, Ssolutsch der Schnitter, Ssolutsch der Kuppelmaurer, Ssolutsch der Lehmträger, Ssolutsch der Schreiner, Ssolutsch der Hufschmied. Sogar aus den umliegenden Dörfern kamen die Leute und nahmen ihn mit sich, damit er für sie Backöfen baue. Ton war wie Wachs in den Fingern von Ssolutsch:

›Ach, was für Finger!‹

Ein Andenken an Ssolutsch war jetzt ebendieses halb fertige, gesprungene, stehen gelassene Getreidefass. Da, wohin Ssolutsch gegangen war, gab es da wohl Bedarf an Fassbauern?

Abrou, der zweitälteste Sohn, mit großen, abstehenden Ohren, mit großen, schlaftrunkenen Augen, trat durch die tief liegende Tür in den Hof und ging geradewegs zur Grube an der Mauer. Seine Mutter ging an ihm vorbei und verschwand im Stall. Abrou kam das Hin und Her der Mutter anders vor als sonst. Sie schien unruhig, war aufgeregt. Nirgendwo hielt es sie. Sie kam aus der Tür und ging unter das Schutzdach des Backofens. Keine Ruhe hatte sie. Sinnlos drehte sie sich um sich selbst, kehrte sich von diesem Winkel zu jenem Winkel und sprach vor sich hin: »Weg ist er! Weg ist er, weg! He! Auf und davon! Soll er doch über alle Berge gehen! Soll er doch! Was passiert denn? Werd’ ich denn vom Wolf gefressen? He! Weg ist er!«

Mergan mit den Blicken folgend, fragte Abrou: »Wer ist weg? Mit wem sprichst du da?«

»Zum Teufel mit ihm! In die Grube ist er gefahren zu seinem Vater, diesem buckligen Kerl. In die Grube ist er gefahren zu seiner Mutter. Was weiß ich? Fortgegangen ist er. Es gibt ihn nicht mehr. Siehst dus nicht? Er ist nicht da, nicht da. Jeden Tag, wenn er rausging, blieb irgendwas von ihm hier. Hier herum … Aber heute hat er keine Spur hinterlassen. Nichts!«

»Was hatte er denn hier zurückzulassen? Was hatte er? Nur die Satteldecke seines Esels hatte er, und die nahm er jeden Tag mit sich.«

Mergan war verstört. Allmählich regte sich Furcht in ihr. Sinnlos fuchtelte sie mit den Händen in der Luft herum. Sie schlug mit den Flügeln. Wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat. Zu sich selbst – und zu Abrou – sagte sie: »Ich weiß auch nicht. Ich weiß nicht. Aber ich meine, er hätte immer etwas, etwas von sich selbst, zurückgelassen. Oder nicht?«

»Was denn?«

»Was weiß ich?« schrie Mergan den Sohn an. »Was weiß ich denn? Ich weiß nicht. Vielleicht sein Totenhemd, sein Totenhemd!«

Abrou wusch sich die Hände und stand vom Rand der Grube auf. Das kalte Wasser tropfte ihm von den Fingerspitzen; er steckte die Hände unter die Achseln und wollte weiter mit der Mutter reden. Aber es hielt Mergan nicht mehr. Sie stürzte durch den Mauerspalt hinaus und trat, das Gesicht dem trockenen Wind zugekehrt, in die Gasse. Wohin sollte sie gehen? Wohin geht sie? Die Gasse war leer, alle Gassen waren leer. Die trockene Kälte der Wüste rieb ihren harten Leib an Mauern und Türen von Semindj. Hunde, nur Hunde, streunten in den Gassen herum. Magere, hungrige, kranke Hunde. Aufgeregt, mit bloßen Füßen, nichts auf dem Körper als ein Kleid, schlug Mergan den Weg zum Haus des Dorfvorstehers ein.

Als sie beim Teich ankam, erblickte sie Karbalai Ssafi, den alten Vater des Dorfvorstehers Nourus, der aus dem Badehaus kam und breitbeinig die steile Gasse hinaufstieg. Karbalai Ssafi gehörte zu den Respektspersonen von Semindj. Sein Auftauchen veranlasste Mergan stehen zu bleiben. Sie stellte sich dicht an die Mauer und grüßte. Karbalai Ssafi kam näher heran, stemmte die Hände in die Seiten, holte Atem und sagte: »Ah, Mergan! … wohin so früh am Morgen? Ist was passiert?«

Mergan, die erst jetzt merkte, dass sie am ganzen Leib zitterte, verbarg ihre langen, schmalen Hände unter den Achselhöhlen, trat von einem Fuß auf den anderen und sagte: »Ssolutsch ist nicht da, lieber Karbalai. Ssolutsch ist nicht da. Fortgegangen ist er. Ssolutsch ist auf und davon. Ist nicht da!«

Ohne Mergan anzublicken, ging Karbalai Ssafi an ihr vorbei und sagte: »Wohin er auch gegangen ist, der kommt zurück. Wo kann er denn hingehen, dieser armselige Kerl? Wo kann er hingehen?«

Mergan zog es hinter Karbalai Ssafi her: »Er ist nicht da! Er ist nicht da, lieber Karbalai! Ich fürchte, er ist ganz fortgegangen. Immer ist er frühmorgens von zu Hause fortgegangen, aber heute war sein Fortgehen irgendwie anders. Irgendwie ist er fortgegangen wie sonst nie.«

Karbalai kratzte sich am Bart, schwieg einen Moment und drückte dann, ohne ein Wort zu sagen, seine plumpen, krummen Finger gegen das von Termiten zerfressene Hoftor. Das Tor ging mit einem kalten, trockenen Laut auf, Karbalai Ssafi trat in den gepflasterten Torweg und ging ruhigen Schritts in den Hof. Mergan blieb nichts übrig, als stehen zu bleiben und hinter Karbalai Ssafi herzublicken. Der setzte den Fuß auf die Treppe aus Ziegelsteinen, zog seinen ziemlich schweren Körper behutsam nach und entschwand in der Veranda ihren Blicken. Mergan blieb noch einen Augenblick stehen, schlich sich dann in den Torweg und setzte sich in einem Winkel neben der Schwelle nieder. Beim Gedanken daran, dass der Dorfvorsteher wohl noch schlafe und dass sie geduldig warten müsse, bis er aufwachte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Aber sie sah keine andere Möglichkeit, als zu warten, bis sie etwas hörte. Am Ende würde doch jemand herauskommen.

»Allah ist groß«, ertönte Karbalai Ssafis Gebetsruf.

Danach hörte sie Mosslemeh, die Frau des Dorfvorstehers, hin und her gehen. Sie hantierte mit Tiegeln und Töpfen. Das Klirren des Kupfergeschirrs, vermischt mit dem Gebrumm von Mosslemeh, übertönte Karbalai Ssafis Worte.

Von morgens an, wenn sie aufstand, brummte Mosslemeh vor sich hin; ihre finster gerunzelte Stirn glättete sich keinen Augenblick. Sie sprach mit niemandem und schien mit allen böse zu sein. Wie man zu sagen pflegt: ›Zu ihrem Hintern sagt sie: Komm nicht hinter mir her, du stinkst!‹ oder: ›Vor lauter Aufgeblasenheit passt sie nicht in ihre Haut!‹

Frauen und Männer von Semindj kannten Mosslemehs Charakter und betrachteten sie mit der Zeit als eine, die anders war als andere. Eine Art Halbverrückte. Und den überzeugendsten Grund für diese Veranlagung von Mosslemeh sahen sie in ihrem Vater und ihrem Bruder. Mosslem, der Bruder von Mosslemeh, war tatsächlich verrückt. Aber Mosslemehs Vater, Hadj Ssalem, hielten sie nur für verrückt.

»Hach! Weshalb sitzt du da, Mädchen?«

Das war Mosslemeh. Einen Melkeimer an der Hand, stand sie unten an der Treppe, Mergan gegenüber. Mergan stand von ihrem Platz in der Ecke des Torwegs auf und grüßte. Mosslemeh ging zum Stall und sagte: »Komm, hilf mir, komm! Bring das Kalb her, dass es ein paar Mal mit dem Kopf ans Euter seiner Mutter stößt, komm! Bis diese Verfluchte nicht den Schwanz ihres Kälbchens abgeleckt hat, gibt sie keine Milch. Dies knauserige Tier!«

Mergan ging hinter Mosslemeh in den Stall, in dessen finsterem Hintergrund die Umrisse der Kuh kaum erkennbar waren. Ihre grünen Augen glänzten, ihr großer Kopf war zur Seite geneigt. Sie stand ruhig da, aber als die Tür sich öffnete, trat sie einen Schritt vor.

Bevor sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, hatte Mosslemeh schon ihren Eimer auf dem alten, weichen Dung des Stallbodens zurechtgestellt. Sie sagte zu Mergan: »Fass sie am Hals und bring sie her!«

Mergan brachte die Kuh, drehte sie hin und her, bis ihr volles Euter über dem Eimer hing. Mosslemeh zog einen alten Packsattel, der neben der Krippe lag, zu sich heran; die Schulter an den Bauch der Kuh gelehnt, setzte sie sich auf den Sattel, spielte mit den Fingerspitzen an den geschwollenen Zitzen, schnalzte mit der Zunge und begann zu melken: »Sei nicht knauserig, mein Tier! Sei doch nicht knauserig! Oh, mein Liebchen. Immer freundlich! Haou … haou … haou … Gib her, Knauserige! Gib her! Gib, Mütterchen! Gib, mein Lämmchen! Haou … schön … haou … schön … Gib, mein Schätzchen! Gib, meine Gute! Gib, mein Mütterchen!«

Die Kuh gab keine Milch. Ein Euter von solcher Größe müsste wie Frühlingswolken Milch regnen, aus jeder Zitze müsste sie wie aus einer Dachrinne in den Eimer fließen; aber die Kuh gab keine Milch. Ihren großen Kopf hielt sie gegen die Schranke gesenkt, ihre grünen Augen waren auf die Augen ihres hennafarbenen Kälbchens geheftet, das auf der anderen Seite der Schranke hinter zwei Balken eingesperrt stand. Das hennafarbene Kälbchen streckte seinen schönen, zierlichen Kopf über die Balken vor, muhte sanft, und die Mutter antwortete ihm mit einem gedämpften Klageruf. Mosslemeh wurde langsam wütend: »Zum Henker mit ihr! Die bringt einen ja um, bis sie einen Becher Milch von sich gibt. Gib dem Kälbchen den Weg frei, lass es herkommen und sich satt saufen.«

Mergan nahm das Halfter vom Pfosten, das Kälbchen drängte den Kopf unter den Bauch der Kuh, stieß mit der Stirn von unten gegen das strotzende Euter der Mutter, und ohne zu säumen, machten sich Mosslemehs Finger ans Melken.

Die Kuh gab nun Milch, der Eimer wurde schnell voll und voller. Mosslemeh, den Kopf an den Bauch der Kuh gedrückt und kraftvoll und geübt an den Zitzen ziehend, schrie: »Halt es fest, das Hurenkind! Es säuft ja die Milch wie aus einer Röhre. Halts doch fest! Bist du denn lahm?«

Den Arm um den Nacken des Kälbchens geschlungen, gab Mergan sich alle Mühe, es vom Euter der Mutter fortzuziehen, aber es ließ nicht davon ab.

»Meine Kräfte reichen nicht«, sagte Mergan hilflos und beschämt. »Es hat das Euter so fest ins Maul genommen, dass …«

»Deine Kräfte reichen nicht? Kriegst du etwa nicht genug zu essen? Nimm den Maulkorb da vom Nagel und leg ihm den an. Da ist er. In der Ecke. Neben der Tranlampe.«

Mergan nahm den Maulkorb vom Nagel und brachte ihn her. Mosslemeh unterbrach ihre Arbeit, und gemeinsam zogen sie den Kopf des Kälbchens unter dem Bauch der Kuh vor. Mosslemeh legte ihm den Maulkorb an und sagte: »Jetzt lass es los!«

Mergan ließ den Hals des Kälbchens los, das den Kopf unter den Bauch der Mutter schob. Mosslemeh setzte sich wieder auf den alten Packsattel und machte sich ans Melken. Mergan hatte jetzt nichts zu tun. Sie setzte sich auf den Rand der Krippe und sah zu, wie das Kalb vergeblich das Maul am Euter der Mutter rieb und wie die Kuh ihm den Schwanzansatz leckte. Die Arbeit war in Gang gekommen. Mosslemeh, die Sorge um das Kalb losgeworden, fragte: »Nun? Was wolltest du so früh am Morgen?«

Wie aus dem Schlaf aufschreckend, sagte Mergan: »Er ist fort! Hadjers Vater ist fort!«

»Fort?« fragte Mosslemeh. »Lass ihn! Sowie er merkt, dass er keinen besseren Platz findet, wird er zurückkommen. Wo soll der schon hingehen?«

Mergan sagte nichts mehr. Reden war nutzlos. Auch Mosslemeh sprach nichts mehr. Sie war in ihre Arbeit vertieft und verwandte ihr ganzes Geschick darauf, die Milch aus dem Euter zu pressen. Als der Eimer bis auf einen Fingerbreit voll war, hörte sie müde, aber zufrieden mit dem Melken auf, stieß den alten Packsattel zur Seite und hob vorsichtig und geschickt den Melkeimer in die Höhe. Zur Stalltür hinausgehend, sagte sie zu Mergan: »Nimm dem Kalb den Maulkorb ab!«

Mergan nahm den Maulkorb ab, hängte ihn an seine alte Stelle an den Nagel und ging hinaus. Draußen hatte Mosslemeh den Melkeimer abgestellt und wartete auf sie. Mergan trat hinzu, nahm den Eimer auf, hob ihn sich behutsam auf den Kopf, rückte ihn zurecht und ging gemessenen Schritts zur Kammer, deren Tür unter der Treppe lag. Diese Kammer war der Vorratsraum, wo Mosslemeh aus der Milch Joghurt und Sahne bereitete. Mergan, die Mosslemeh häufig bei ihren Arbeiten geholfen hatte, wusste den Weg und kannte alle Ecken und Winkel im Haus. Neben der Kellertür nahm sie den Eimer vom Kopf, stellte ihn an die Wand und richtete sich auf. Mosslemeh deckte den Eimer mit einem Tablett zu und sagte im Fortgehen zu Mergan: »Bis du den zweihenkligen Krug da in der Zisterne gefüllt und hergebracht hast, wacht der Dorfvorsteher auf. In der Verandaecke steht er. Hier. Aus Angst, dass die Krüge in der Kälte springen könnten, hab’ ich eine alte Steppdecke draufgetan.«

Mergan nahm den Krug auf die Schulter und ging zum Hoftor hinaus. Die Gassen waren immer noch leer. Als dächte niemand daran, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Der kalte Wind züngelte herum und verfing sich in Mergans durchlöchertem Kleidersaum. Ihre steif gewordenen Finger umklammerten die Henkel des Krugs und drückten ihn fest auf die Schulter, damit der Wind ihn nicht umblies. Die Kälte, die der Wind mit sich brachte, trieb Mergan das Wasser in die Augen. Aber sie war noch nicht richtig zu sich gekommen; unwillkürlich wandte sie ihren Blick hierhin und dahin, um vielleicht doch Ssolutsch oder eine Spur von ihm – was das sein könnte, wusste sie nicht – zu entdecken. Doch Mauern, Gassen und Tore und die Trümmer verfallener Häuser waren so leer und verlassen, dass sie in Mergans Herzen keinen Hoffnungsschimmer am Leben erhielten. Trotzdem versäumte sie es nicht, in dieser Ruine nachzusehen, den Kopf hinter jenes Mäuerchen zu stecken. Auch als sie zur Zisterne gelangte, umrundete sie, bevor sie den Fuß auf die Stufen setzte, deren Kuppel und überflog mit den Augen alle Löcher und Vertiefungen ringsum. Aber es war ihr klar, dass Ssolutsch hier nicht sein konnte. Sie stieg die Stufen hinab, füllte den Krug mit Wasser, brachte ihn nach oben und trat, den Rücken dem Wind, das Gesicht dem Haus des Dorfvorstehers Nourus zugekehrt, den Rückweg an. Der Wind trieb sie voran, sie konnte leichter ausschreiten. Trotzdem mühte sie sich, den Krug auf der Schulter festzuhalten. Denn mit jedem seiner Stöße versuchte der Wind, ihn umzustürzen. Die schwierigste Strecke war diese freiliegende Stelle – von der Zisterne bis zur Gasse. Als sie die Gasse erreichte, zog sie sich in den Schutz einer Mauer zurück, nahm den Krug von der Schulter, lehnte ihn mit seinem Bauch an ihre Waden und fühlte erst jetzt, dass ihre Finger vor Kälte wimmerten. Sie schob die Hände unter die Arme und drückte die Arme an, dann zog sie die Hände wieder hervor und rieb sie aneinander. Aber die steif gewordenen, erstarrten Hände wurden davon nicht warm. Es genügte, dass sie sich öffnen und schließen ließen. Mergan packte die Henkel, hob sich den Krug auf die Schulter und löste die Füße vom kalten, harten Boden.

Unterwegs sah sie Hadj Ssalem mit seinem Sohn Mosslem auf sich zukommen. Hadj Ssalem hatte seine fünf Sinne noch so weit beisammen, dass er erwartete, von einer Frauensperson zuerst gegrüßt zu werden. Mergan grüßte mit gesenktem Kopf, und Hadj Ssalem erwiderte ihren Gruß mit kehliger Stimme. Mosslem starrte Mergan mit seinen großen, weißlichen Augen an und sagte zum Vater: »Wasser! Wasser! Papa, ich will Wasser.«

Mergan verlangsamte nicht ihren Schritt. Sie hatte keine Lust, sich mit diesen beiden abzugeben. Sie bog um die Ecke und hörte im Weitergehen die alte, tiefe Stimme von Hadj Ssalem hinter der Mauer sagen: »Manieren! Zeig doch, dass du Manieren hast, mein Junge! Du hast ja noch nicht einmal gefrühstückt, wie kannst du da Durst haben? Du willst aber auch alles, worauf dein Blick fällt, du Dummkopf! Vielleicht trug das Weib Gott weiß was für’n Dreck auf der Schulter – hättest du den auch gewollt? Manieren! Benimm dich doch, du Dummkopf!«

Mosslem sagte: »Jetzt, wo du davon sprichst – ich hab’ auch Hunger. Brot! Ich will Brot! Ich hab’ Hunger!«

»Manieren!« sagte Hadj Ssalem. »Du Viech, benimm dich doch!«

Mergan hörte nicht mehr, was Vater und Sohn noch zueinander sagten. Sie war am Ziel und trug den Krug auf die Veranda. Der Dorfvorsteher hatte sich die Hände gewaschen und kam gerade die Stufen herauf. Mergan stellte den Krug zurecht, drehte sich um und grüßte. Der Dorfvorsteher hob den Saum seines Mantels hoch, erwiderte murmelnd ihren Gruß, trat ins Zimmer und sagte: »Lass hören, was du willst, Mergan!«

Mergan ging hinter ihm her und blieb an der Tür stehen. Der Dorfvorsteher trocknete die behaarten Hände am Vorhangsaum, setzte sich oben an den Korssi, zog die Steppdecke über die Knie und brüllte den einen seiner Söhne, der noch an der anderen Seite des Korssi schlief, an: »Steh auf, reg dich und mach Platz! … Mergan, komm, setz dich, wärme dir die Hände. Komm! Du zitterst ja!«

Mergan trat näher, kniete neben dem Sohn von Nourus nieder, steckte die Hände unter den Korssi und rieb das Gesicht an der warmen Steppdecke. Ihr Rücken war jetzt gebeugt, die Knochen der Wirbelsäule zeichneten sich unter dem Kleid aus Nesselstoff ab. Blanke Knochen. Man konnte ihre Rippen zählen. Es gelang ihr nicht, das Beben ihrer Schultern, das Kribbeln in ihrem Rücken zu unterdrücken. Die sanfte, wohl tuende Wärme des Korssi war in ihren Körper gedrungen und hatte die erstarrten Nerven gelöst. Daher kam es, dass Mergan mal zitterte, mal still dasaß, ihr Körper in Bewegung war und zur Ruhe kam.

Der mittlere Sohn des Dorfvorstehers brachte den Samowar. Mergan wusste, was sie zu tun hatte. Sie stand auf, nahm das an der Wand lehnende große Metalltablett, legte es auf den Korssi, trug das kleine Tablett mit Gläsern und Untersetzern nach draußen, wusch alles ab und brachte es zurück. Sie wusste, dass Mosslemeh, die Frau des Dorfvorstehers, selten mit Mann und Kindern Abendessen und Frühstück einnahm. Sie machte ihnen das Essen und ging selbst in ein anderes Zimmer, wo sie allein für sich aß. Heißt es denn nicht, dass sie verrückt ist? Jetzt gab sie Mergan Brot und abgetropften Joghurt, damit diese es vor Nourus auf das große Tablett stellte, und sagte zu Ssafi-ollah, dem ältesten Sohn, der dabei war, dem weißen Esel der Familie den Packsattel aufzulegen: »Wo gehst du hin? Die gefrorene Erde kannst du doch nicht pflügen! Lass wenigstens die Sonne ihre Augen auftun!«

Die Söhne von Nourus gaben selten Antwort auf die Reden ihrer Mutter. Ssafi-ollah zog dem Esel den Bauchgurt fest. Mergan trug Brot und Joghurt ins Zimmer und stellte beides vor Nourus hin. Nourus setzte seinen Fuß auf das Handgelenk des Sohns, der immer noch schlief, und drückte zu. Schlaftrunken schrie Nassr-ollah auf, und der Dorfvorsteher sagte zu ihm: »Steh auf, reg dich doch endlich! Steh auf und geh dir Hände und Fratze waschen!«

Nassr-ollah, das Handgelenk mit der anderen Hand haltend, kroch unter der Steppdecke hervor und ging schwankend und taumelnd aus dem Zimmer. Nourus griff nach dem Brot und brach ein Stück ab. Mergan hielt den Kopf gesenkt. Sie wollte das Brot und die behaarten Hände des Dorfvorstehers nicht ansehen. Sie schluckte. Sie wollte nicht in Versuchung geraten. So beschäftigte sie sich mit dem Samowar, goss dem Dorfvorsteher Tee ein, wusch die Gläser, spülte sie aus, goss wieder Tee ein.

»Gieß dir auch ein Glas ein, damit dir warm wird. Du scheinst tüchtig durchgefroren zu sein.«

»Ich hab’ schon gefrühstückt … Wohl bekomms dir!«

Der Dorfvorsteher Nourus wusste, dass Mergan log. Und Mergan wusste das, wusste, dass der Dorfvorsteher wusste, dass sie log. Trotzdem sagte er nichts mehr. Mergan hoffte auf ein Wort von ihm. Ein Wort, das – vielleicht – einen Knoten in ihrem Herzen lösen werde. Das ein Fensterchen öffne, vielleicht. Obwohl Mergan im gleichen Augenblick, als sie ihre Hoffnung auf ein Wort von Nourus setzte, alle Hoffnung auf diese Art Suche nach einem Ausweg schwinden fühlte. Die Hoffnungslosigkeit trat heran wie die Nacht, um sie und ihre trügerische Suche nach einem Ausweg einzuhüllen. Und dies hatte bei ihr mit einer Frage seinen Anfang genommen: Weshalb war sie überhaupt hergekommen? Was konnten andere schon für sie tun? Wozu dies nutzlose Suchen? Der Mann, der viele Nächte lang allein und stumm neben dem Backofen zugebracht hatte, würde doch niemanden von seinem Fortgehen unterrichtet haben. Auch hatten die anderen nicht die Gabe des Hellsehens, dass sie Mergan etwas, was sie nicht wusste und gern wissen wollte, sagen könnten. Angenommen, sie trösten sie in mitleidigem Ton! Wozu das – Trost, nutzloses Mitleid? Angenommen sogar, dass es aus tiefstem Herzen kommt, dies Mitleid! Nun, was ändert es denn? Wann haben solche Worte und Reden eine Last vom Herzen nehmen können? Aber warum dann war Mergan so plötzlich zur Tür hinausgelaufen und hatte sich geradewegs zum Haus des Dorfvorstehers Nourus aufgemacht? Warum hatte sie sich nicht in ihrer Ungeduld mit Geduld gewappnet? Warum hatte sie nicht das Gesicht gewahrt? Was für einen Nutzen hatte das? Gewohnheit! Das geschieht aus reiner Gewohnheit, dass du ein Problem mit Klügeren besprichst. Und danach Reue! Die folgt auf eine solche Gewohnheit.

Sie stand auf und ging hinaus. Aber bevor sie den Fuß auf die Stufen setzte, blickte sie in Mosslemehs Zimmer und fragte, ob sie nicht noch etwas für sie zu tun habe. Gewohnheit! Die immer wortkarge Mosslemeh gab Mergan mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen: Nein. Als sie am Torweg war, hörte sie Nourus Mosslemeh fragen: »Die Frau von Ssolutsch – was wollte sie eigentlich?«

Mergan blieb nicht stehen. Sie beschleunigte ihre Schritte und bog in die Gasse.

Der Schwiegersohn von Agha Malek, Sabih-ollah, und Karbalai Doschanbeh, der Vater von Ssalar Abdollah, kamen auf das Haus des Dorfvorstehers zu. Mergan wich an die Mauer zurück, senkte den Kopf und grüßte. Der Schwiegersohn von Agha Malek erwiderte ihren Gruß und fuhr in seinen Worten fort: »Einige Dinge gehen einem wie ein Dorn ins Auge. Ob mans will oder nicht, sie tuns nun mal. Sagen Sie, was Sie wollen, aber ich sehe, dass dieser Ghanat in den letzten Zügen liegt. Ich hab’ schon mit Ssalar Abdollah und dem Dorfvorsteher Nourus darüber gesprochen. Ehe wir vom Wassermangel überrascht werden, müssen wir auf Abhilfe sinnen. Ich setze mein ganzes Vertrauen in die ›Gotteserde‹.«

Als Mergan zu Hause ankam, war Abbass eben aufgestanden und suchte nach einem Strick. Abbass war bereits ein Jüngling. Ein junger Falke. Über fünfzehn Jahre alt. Mit großen, abstehenden Ohren, länglichem, magerem Gesicht, großen schwarzen Augen, einer Gesichtsfarbe, die vom Gelblichen ins Bläuliche hinüberspielte. Solange sein Vater da war, hatte der ihn genötigt, sich den Kopf zu rasieren. Aber Abbass hatte es mit viel List und Tücke und mit Fußaufstampfen verstanden, Ssolutsch die Erlaubnis abzutrotzen, vorn am Kopf eine Tolle stehen zu lassen. Daher hing ihm jetzt ein Büschel harter, krauser Haare unter der zerrissenen Mütze hervor. Er trug eine Jacke, die ihm zu eng geworden und an Schultern und Ellbogen verschlissen war. Als Gürtel hatte er einen Strick umgebunden, seine Hosenbeine unten mit Schnur umwickelt, die Kappen der Stoffschuhe hochgezogen und die Schuhe selbst fest mit einer Schnur zusammengebunden. Stoffschuhe sollte man nicht umschnüren, aber wenn Abbass Sohle und Oberteil seiner verschlissenen Schuhe nicht zusammengebunden hätte, wären sie ihm von den Füßen gefallen.

Mergan zog ihrer kleinen Tochter Hadjer den als Decke dienenden Tschador fort, stieß Abrou mit dem Fuß an der Schulter und sagte: »Willst du dich immer noch nicht regen? Du warst doch schon mal im Halbdunkel aufgestanden! Steh du auch auf, Mädchen! Ihr habt schon viel zu lange geschlafen!«

Mergan hörte sich das Jammergeschrei der Kinder nicht an. Sie lief hinaus und wollte in die Gasse treten, als Abbass aus dem Stall kam. Er wischte Oberlippe und Nase am Jackenärmel ab und sagte: »Mutter, Brot!«

Mergan hörte das nicht gerne. Sie lief durch den Mauerspalt hinaus. Aber Abbass wollte Brot. Er reckte den Hals über die niedrige Mauer und sagte: »Hörst du nicht? Brot! Ich will gehen, Baumwollstauden ausreißen.«

Mergan wandte den Kopf zurück: »Unten im Brotkasten war doch noch Brot!«

»Das hab’ ich gegessen.«

Mergan blieb stehen: »Gegessen? Alles? Und deine Schwester und dein Bruder? Sollen die am Daumen lutschen?!«

»Wie viel war denn das schon?« brüllte Abbass. »Weniger als das Futter für ein Zicklein.«

Auf sein Gebrüll antwortete Mergan: »Kannst du mir sagen, was ich tun soll? Soll ich mich selbst zu Brot machen? Es ist nichts da! Siehst du das nicht?«

»Dann leih dir zwei von den Nachbarn. Geh zu Ali Genou. Hast du keine Beine?«

Mergan, der Lippen und Augenlider vor Zorn zitterten, trat näher, schluckte ihren Ärger hinunter und sagte Abbass ins Gesicht: »Beine hab’ ich, die nötige Unverfrorenheit nicht. Hast du das verstanden?«

Sie ging weiter. Abbass rief hinter ihr her: »Dann verkauf’ ich heute meine Last Baumwollholz. Ich bring’ sie ins Dorf und verkauf’ sie!«

Im Weiterlaufen sagte Mergan: »Weck den da, den Abrou. Nimm ihn mit dir. Stoß ihn mit dem Fuß und zieh ihn aus dem Bett!«

Abbass rief: »Keinen Schahi von meinem Geld für das Baumwollholz geb’ ich ab. Alles geb’ ich für Brot aus und ess’ es selber!«

Mergan hörte nicht. Sie ging dem Wind entgegen auf dem Weg, der aus Semindj hinausführte.

Noch waren alle in ihren Häusern. Einzig Hadj Ssalem und Mosslem waren draußen. Beide hatten sich mit den Rücken an die Mauer gelehnt und warteten darauf, dass die Sonne sich zeige. Mosslem hatte die Hände unter die Kniekehlen geschoben, hob ab und zu seine großen, nackten Füße vom Boden und senkte sie wieder; leise sagte er vor sich hin: »Oh … oh … die Sonne hat sich verspätet, verspätet. Sie kommt nicht, kommt nicht, kommt nicht. He, Papa? Zeigt sich heute die Sonne nicht?!«

»Sei still, du Viech«, sagte Hadj Ssalem. »Red nicht so sündhaftes Zeug. Gott nimmt das übel. Sei ruhig!«

Mergan ging an dem zerlumpten Gespann vorbei auf die Landstraße, die vom Rand des Bezirks heraufführte, sich in Semindj mit der Straße von Dehbid vereinigte und zur Stadt hinzog. Semindj lag jetzt hinter Mergan. Die Sonne verbarg sich immer noch hinter einer Schicht trockener, lebloser Wolken, Wolken, die im Herzen keines Bauern Freude erwecken. Solche Wolken versperren lediglich der Sonne den Weg. Sie dienen allein dazu, die Kälte zu steigern, den Wind schneidender zu machen, den Verdruss maßlos. Die Wüste lag ausgetrocknet unter der kalten Brust der Wolken, ihre Haut war hart, wie erfroren. Die Wolken sahen mit finsteren Gesichtern drein und schienen mit allem und jedem verzankt: wie mürrisch dreinblickende Väter, die ihre Kinder, die Regentropfen, verloren haben. Warum wurden die Kinder nicht wieder geboren? Warum kamen sie nicht zurück: als ein Platzregen!

Der Weg zerkratzte die Brust der Salzwüste, lag in der trockenen Kälte da wie eine Schlangenhaut. Die Wüste war leer, von den vorjährigen Sträuchern waren nur noch hier und dort trockene Zweige geblieben. Trockene Zweige. Fasern hier und dort, um das Wehen des Windes noch geheimnisvoller zu machen. Wind und Wüste. Wüste und Wind. Weg und Wind und Wüste. Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Mergans bloße Füße hatten vor Kälte zu wimmern begonnen. Ganz deutlich wimmerten ihre Zehen. Etwas Größeres als Schmerz, Tieferes als Schmerz, hatte die Zehen zum Wimmern gebracht.

Mergan kam zum Rand des Salzwasserbachs. Der Bach mit seinen sieben Armen – jeder Arm ein alter Drache – schlich langsam und schweigend dahin. Das Wasser war spärlich, träge, nicht der Rede wert. Auf dem Wasser eine feste Eisschicht. Man könnte mit nackten Füßen über das Eis gehen, es würde nicht brechen. Aber was nützte das? Auf der anderen Seite des Salzbachs gab es, so weit Mergan blicken konnte, nichts, was sich bewegte, damit sie ihre Gedanken von Ssolutsch abwenden und darauf hätte richten können. Gar nichts. Als sei die Erde von allen lebenden Seelen verlassen worden. Nicht einmal weidendes Vieh, nicht einmal ein Kriechtier. Wohin kann Ssolutsch gegangen sein? Wohin soll Mergan gehen? Warum war sie überhaupt hergekommen? Warum? Wozu? Selbst wenn sie Ssolutsch sähe? … sähe? Ihn sah?! Er war es! War er es, der da kam? Ssolutsch? Er war aus der Deckung der verfallenen, verlassenen Mühle herausgetreten und kam, in seine Satteldecke gewickelt, heran! Er wars! War es Ssolutsch? Ein Traum? Nein, es ist Tag, heller Tag. Er ist es. Klein und schmächtig. Sie rieb sich die Augen mit den Handrücken. Nein, er ist es: die eingesunkenen Augen, das magere, längliche Gesicht, die finster gerunzelte Stirn, die zusammengepressten Lippen. Die bläuliche Farbe seines Gesichts, seine alte Stoffmütze. Er kommt, er kommt!

Er kam näher. Seine bloßen Füße schleppten den in die Decke gehüllten Körper näher und näher heran. Langsam ging er, wie ein Schatten. Den Blick auf den trockenen Boden zu seinen Füßen gerichtet, kam er näher, bis dahin, wo Mergan stand. Stumm. Als stände seine Frau nicht da. Als wäre Mergan nicht auf der Suche nach ihm hierher gekommen! Als hätte er nie jemanden gehabt, der ihm angehörte. Ein Schatten! Vor Mergans trockenen Augen ging er vorüber auf den Bach zu. Schweigend, geräuschlos, wie er immer war. Ohne die Hosenbeine hochzukrempeln, setzte der Schatten den Fuß auf das Eis des Bachs. Leicht ging er, als träten seine Füße nicht auf. Nicht vorsichtig und behutsam ging er, eher als flöge er. Der flüchtige Schatten entfernte sich. Der Wind zerrte an seiner Decke. Er entfernte sich, entschwand den Blicken jenseits des Bachs, jenseits des Eises. Eine Fläche aus Eis lag jetzt zwischen Mergan und Ssolutsch. Vielleicht, dass er den Kopf wendet und einen halben Blick … Doch nein. Ein Schatten hat keinen Kopf. Er geht weiter. Ein trauervoller, kurzer Flug. Der letzte Hauch des fliegenden Schattens kroch über den Staub des Weges. Entfernte sich. Immer weiter, ganz langsam. Ohne Gehalt, ohne Form. Entfernte sich, immer weiter. Ein kleiner Schatten. Noch weiter. Ein Punkt. Löste sich auf. Rauch. Nichts.

Wüste und Wind. Wind und Wüste. Ein Trugbild. Ein Trugbild und der Bach.

›War er es?‹

Mergan öffnete die Lippen. Dann fühlte sie, dass ihre trockenen Augenhöhlen ein wenig feucht geworden waren. Vielleicht von der Kälte des Windes? Was sollte sie jetzt tun? Bleiben? Noch länger bleiben? Gehen? Wieder gehen? Gehen und bleiben?! Sollte sie die Augen gehen lassen und selbst bleiben? Die Augen schließen? Ja, das wäre besser! Sollte sie ihre Hände, ihre Schultern ein wenig bewegen? He? Sich aus der Schicht Eis, die sie in sich gefangen hielt, losmachen? Ja. Die Kälte schüttelte sie. Sie zitterte. Sie glaubte, einen Albtraum hinter sich zu haben, einen Albtraum, der sie eher in Erstaunen als in Entsetzen versetzt hatte. Es war, als hätte ihr Leben einen Augenblick ausgesetzt. Nur ihre Fähigkeit zu sehen war noch wach in ihr. Erstaunen: Kann man denn mit diesen zwei kleinen Augen all diese wunderlichen Dinge sehen? Kann man das? Aber Mergan hatte sie ja gesehen! Wie Wasser, das unter einer Eisdecke rinnt, ist Ssolutsch gegangen, ist verschwunden.

›Ich hab’ ihn gesehen! Ich hab’ Ssolutsch fortgehen sehen!‹

Mergan konnte sich jetzt wieder rühren. Sie kam zu sich. Ihr Körper hatte sich in ein Kleid aus Kälte gehüllt. Sie durfte nicht länger bleiben, musste gehen. Ganz gewiss nicht hinter Ssolutsch her. Den Rücken Ssolutsch, das Gesicht Semindj zugekehrt. Sie machte sich auf den Weg und gab sich Mühe, ihre Schritte zu beschleunigen. Der Kälte darf man keine Gelegenheit bieten. Wenn du stehen bleibst, greift sie an. Du darfst nirgends stehen bleiben. Du musst den Körper bewegen. Du musst die Seele rege halten. Die Kälte der Wüste greift unbarmherzig an.

Mergan floss Wasser aus den Augen; sie selbst hätte gern angenommen, dass es vom Wind kam. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie weinte. Ihr Herz wollte das nicht. Was soll denn das Weinen? Jahre waren es her, dass das Wasser in Mergans Augen versiegt war, und jetzt … war sie nicht mehr dazu aufgelegt. Was war ihr denn abhanden gekommen?

›Soll er doch gehen! Zum Henker mit ihm! Gar nichts geschieht. Gibt es denn wenig Frauen, die ohne Männer sind? Gibt es denn wenig Männer, die fortgegangen und nicht wiedergekommen sind? Nein, da braucht man nicht zu weinen. Soll doch jeder seinen eigenen Weg gehen. Soll sich jeder Wasserlauf sein eigenes Bett suchen. Zum Henker mit ihm!‹

Was Mergan da vor sich hin brummte, war nach außen hin nur dies. Grobe Bauern graben mit Pflügen das Herz der Frauen um. Mergan fühlte die Kälte der scharfen Pflugschar bis ins Mark, und das, was aus diesem vergessenen Boden zutage trat, bewirkte, dass ihre Augen sich weiteten: Mergan liebte ihren Mann! Das fühlte sie jetzt. Sie liebte Ssolutsch! Sie erinnerte sich, dass sie ihren Mann geliebt hatte. Eine Liebe, die vergessen worden war. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie die Liebe zu ihrem Mann aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte, zu einem Mann, dessen Nichtvorhandensein an ihrer Seite sie, auch wenn er tausend Nächte neben dem Backofen geschlafen hätte, in der letzten Zeit nicht bemerkt hatte.

Die Person, deren Dasein oder Nichtdasein in letzter Zeit völlig belanglos gewesen war, erstand jetzt in Mergans Herzen wieder auf. Mergan fing an zu begreifen, dass sie Ssolutsch liebte. Dass sie Ssolutsch geliebt hatte. Was war denn das? Woher war denn das gekommen? Wieso war das in ihr wach geworden? Schön, er ist auf und davon. Zum Teufel mit ihm! Aber was ist das, was er in Mergan von sich zurückgelassen, das Zurückgelassene zum Wachsen gebracht hat? An die siebzehn Male war der Frühling gekommen und gegangen, seit sie Mann und Frau geworden waren. Siebzehn Frühlinge. Abbass, ihr ältester Sohn, reifte langsam zum Manne heran. Schon wuchs ihm Flaum auf der Oberlippe. Der mit seinen beiden großen Schneidezähnen und dem breiten Mund stieß bereits Flüche aus!

Siebzehn Jahre! Ist es möglich, dass etwas jahrelang in dir verborgen ist und du nichts davon gewusst hast? Deinen Mann geliebt und es vergessen hast?! Wem kann man das sagen?

Mergan fühlte mit jedem Schritt, den sie tat, mit jedem Atemzug, der sie weiter von Ssolutsch entfernte, dass sie ihm tausend Meilen näher kam. Wie weit, wie weit voneinander hatten sie die Tage und Nächte verbracht! Ach … wie das Leben vertan wird!

Allmählich kamen nun Leute aus Semindj heraus. Es war Pflügenszeit. Aber noch nicht für die unbewässerten Felder. Deren Pflüger warteten auf Regen; sie saßen noch in ihren Häusern, die Herzen aufs Beten, die Augen zum Himmel gerichtet. Einzeln kamen Männer und Kühe von Semindj und gingen auf die hochgelegenen Felder zu, die bewässerten Felder. Hadj Ssalem und sein Sohn Mosslem standen genau wie vorher an der Mauer. Mosslem trat nicht mehr von einem Bein aufs andere, aber die Hände hielt er noch unter die Arme gesteckt.

»Papa … Papa …«

Hadj Ssalem gab keine Antwort; sein Blick war unter den grauen Augenbrauen starr auf eine Stelle gerichtet, als wäre er an etwas hängen geblieben.

»Papa … Papa …«

Der Alte schreckte auf: »Verflucht noch mal! Was willst du jetzt schon wieder?!«

Zufrieden zeigte Mosslem seine großen gelben Zähne und sagte: »Die Sonne! Die Sonne ist rausgekommen!«

»Schön, und was soll ich mit ihr?«

»Wärm dich, wärm dich!«

Hadj Ssalem blickte den Sohn an, schwieg eine Weile und sagte dann: »Dummkopf!«

Wie der Wind lief Mergan an Vater und Sohn vorbei, kam blau vor Kälte zu Hause an und stürzte ins Zimmer. Auf der Bank am Webstuhl saß Ssalar. Den Turban hatte er sich fest um den Kopf gewickelt, die Schöße des gestreiften Kaftans über die Knie gebreitet. Grußlos, sogar ohne einen Blick, ging Mergan an ihm vorbei nach hinten, setzte sich in das ungewisse Dunkel der hintersten Ecke und hob die vor Kälte schmerzenden Hände, von denen die krumm gewordenen Finger abstanden. Schmerz durchzuckte die Finger, und nur die Scham hinderte Mergan zu weinen. Aber ein Wimmern konnte sie nicht unterdrücken. Der Schmerz – er selbst wie ein in der Kehle stecken gebliebenes Wimmern – wand sich in ihren Fingern. Warmes Wasser!

Ssalar schrie Hadjer an: »Warum sitzt du da so mürrisch rum, Mädchen? Steh auf, mach eine Schüssel warmes Wasser zurecht und bring es her. Steh auf!«

Hadjer stand auf und machte Feuer. Abrou kam mit einer kaputten Zange herein. Sein pockennarbiges Gesicht war finster, mit den Zähnen nagte er an der dicken Unterlippe. Ohne jemanden anzusehen, sagte er: »Mit dieser Zange kann man doch kein Baumwollholz ausreißen!«

Mergan, deren Lippen und Zunge vor Kälte gefühllos waren, fragte: »Wo ist dein verflixter Bruder? Wo steckt er?«

»Der ist dabei, seine Schuhe zusammenzunähen«, sagte Abrou. »Seine Zange ist nicht kaputt. Erwartest du etwa, dass ich mit dieser kaputten Zange eine gleich große Last Holz wie er heimbringe?«

»Geh und leih dir von jemand eine aus. Jetzt sind ja keine Zigeuner hier, denen ich sie zum Ausbessern geben könnte.«

Abrou schickte sich brummend an hinauszugehen: »Leih dir eine! Leih dir eine! Wer leiht mir denn eine? Jeder hat seine Zange selbst nötig.«

»Willst du mir dann sagen, was ich tun soll? Soll ich mir eine Zange aus den Rippen schneiden? He … Abbass!«

Mit einem Schuh in der Hand erschien Abbass in der Tür. Mergan fragte: »Warum sorgst du nicht dafür, dass dein Bruder seine Arbeit tun kann?«

Am Faden kauend, erwiderte Abbass: »Bin ich denn ein Schmied?«

»Dann besorg ihm eine Zange! Stumm bist du ja wohl nicht! Geh und leih dir eine für ihn!«

»Was soll ich leihen? Gibts denn hier einen Schmiede-Basar? Sag ihm, er soll einen Spaten nehmen. Alle reißen ja nicht das Baumwollholz mit der Zange aus!«

Ssalar mischte sich ins Gespräch; er sagte zu Abrou: »Geh zu mir nach Haus und sag Ali Resas Mutter, sie soll dir aus der Rumpelkammer die Zange mit dem kurzen Stiel geben. Geh! Zum Zeichen, dass ich dich schicke, erinnere sie daran, dass wir gestern Abend Melonenkerne geröstet haben. Geh!«

Abrou trat von einem Fuß auf den anderen. Abbass packte ihn am Kragen und schob ihn durch den Mauerspalt auf die Gasse. Unter Stöhnen und Jammern machte Abrou sich auf den Weg. Abbass setzte sich neben der Zimmertür auf den Boden und zog den Schuh an. Das Haus war jetzt voll Rauch. Ssalar ging zur Feuerstelle, tauchte die Hand in die Schüssel und sagte: »So ists gut. Zu kochen braucht es ja nicht.«

Er nahm die Schüssel vom Feuer, trug sie zu Mergan und stellte sie vor sie hin: »Steck deine Hände ins Wasser. Steck sie rein! Sieh mal einer an, wo die gewesen ist in aller Herrgottsfrühe!«

Mergan tauchte die Hände ins warme Wasser: »Gott segne dich, Ssalar! Ah … warum bin ich nicht selbst auf den Gedanken gekommen?! Auch meinen Verstand hab’ ich verloren!«

Ssalar setzte sich an die Wand und sagte: »Jedes Geschöpf, Mergan, bringt es auf irgendeinem Gebiet zur Meisterschaft. Ein Mann auf diesem, eine Frau auf jenem Gebiet. Auf unseren Wanderungen nach Maschhad zog sich eines Nachts ein Reisegefährte, einer aus Anarak, Erfrierungen zu. Du musst schon entschuldigen … eine peinliche Sache – er hatte sich die Männlichkeit erfroren. Ratlos, wie wir waren, brachten wir ihn zu einem Teehaus. Ein alter Mann, ebenfalls unterwegs, war da, der dem Gottesknecht aus Anarak zu Hilfe kam. Sowie er ihn erblickte, stand er auf, leerte alles heiße Wasser aus Kesseln und Kannen des Teehauses in einen Bottich, goss einen halben Krug kaltes Wasser zu und sagte uns, wir sollten den Mann nackt ausziehen. Wir zogen ihn aus und setzten ihn bis zur Taille ins Wasser. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da war er wieder obenauf. Gott sei Dank trug er auch keinen Schaden davon … Nach dieser Reise war es, dass ich meine Kamele verkaufte und mir von dem Erlös einige Stunden Ghanatwasser pro Tag kaufte. Das erlöste mich von diesem unsicheren Zigeunerleben, und seitdem befasse ich mich mit meiner Handbreit Boden und diesem spärlichen Rinnsal von Wasser … Nun, und wo ist Meister Ssolutsch? Wo steckt er?«

Mergan sagte: »Dass ihn die Pest hole!«

»Was? Seid ihr wieder mal wie Hund und Katze aufeinander losgegangen? He? Was ist passiert? Du bist schlechter Laune. Wo ist er so früh am Morgen hingegangen?«

»Fortgegangen ist er.«

»Wohin?«

»Gott weiß. Ich weiß von nichts. Als ich heute Morgen aufstand, sah ich, dass er nicht da war. Das heißt, auch gestern Abend … Ich weiß nicht, bin ganz durcheinander. Jeden Abend kam er heim und legte seinen verwünschten Kopf neben den Backofen, aber gestern Abend verschwand er. Mehr weiß ich nicht.«

In seiner Verblüffung sagte Ssalar unwillkürlich: »Teufel auch! Gestern Morgen hat er doch vor der Moschee mit mir abgemacht, dass ich heute herkommen und mir die fünf Man Kupfersachen abholen soll.«

»Welche fünf Man Kupfersachen?!«

»Na die doch, für die er von mir die fünfzehn Man Weizen bekommen hatte!«

Mergan sagte: »Er ist ja jetzt nicht da.«

»Das macht nichts, dass er nicht da ist. Ich hab’ schließlich sein Wort. Wir hatten auch einen Zeugen. Der Dorfvorsteher Nourus ist Bürge.«

»Dann geh und lass dir die Sachen vom Dorfvorsteher geben.«

»Vom Dorfvorsteher?! Den Weizen hab’ ich Ssolutsch gegeben und soll mir die Kupfersachen vom Dorfvorsteher geben lassen?!«

»Das Kupfer gehört ja gar nicht Ssolutsch. Hat denn etwa dieser Bastard von seinem nicht vorhandenen Vater Kupferzeug geerbt und mir ins Haus gebracht?! Diese paar Stücke hat mir mein Bruder in die Aussteuer gegeben. Soll ich die jetzt hergeben zur Begleichung der Schuld eines Ehemanns, von dem ich nicht weiß, in welchen Höllenschlund er sich aufgemacht hat?«

Ssalar, der sich etwas beruhigt hatte, fragte erstaunt: »So? Und … was wird am Ende mit meinem Eigentum? Ssolutsch hat meinen Weizen hierhergebracht, ihr habt ihn gegessen – und ich? War das eine Sünde, dass ich mitten im Winter seiner Frau und den Kindern zu Hilfe kam?«

»Ich hab’ kein aus deinem Weizen gebackenes Brot gegessen, seine Kinder habens gegessen. Wenn du willst, reiß den Kindern die Bäuche auf und hol dir deinen Weizen aus ihren Mägen raus!«

Ssalar, gereizt über Mergans Widerspenstigkeit, wurde grob: »Was sagst du da, Weibsbild? Glaubst du, du hast es mit einem Einfaltspinsel zu tun? Treiben wir denn Spaß miteinander, dass du mir mit diesen Ausflüchten kommst? Ich habe Weizen hergegeben und will jetzt Geld oder Entsprechendes dafür haben. Ssolutsch hat es mir gestern zugesichert.«

»Dann geh und such ihn. Er hat ja keine Flügel bekommen, in den Himmel zu fliegen! Wahrscheinlich hat er sich in irgendeinen Schutthaufen gelegt und ist gestorben!«

»Das heißt also, du willst mir das Kupfer nicht geben??«

»Ich hab’ kein Kupfer herzugeben.«

Ssalar brachte seinen Kopf dicht an Mergans Gesicht heran: »Sieh mich an! Warum starrst du auf deine Handrücken? Hör gut zu: Ich will das Kupfer haben!«

Mergan nahm die Hände aus dem Wasser, trocknete sie ab und sagte: »Und wenn du die Köpfe meiner Kinder haben willst, muss ich sie dir dann geben?«

»Hier handelts sich schließlich nicht um die Köpfe deiner Kinder. Ich hab’ eine Forderung.«

»Zieh deine Forderung von dem ein, mit dem dus abgemacht hast! Ich hab’ nichts mit dir zu schaffen. Halt dich gefälligst an den, der dir wirklich was schuldet. Hab’ denn ich mir den Weizen von dir geben lassen?«

»Dein Mann hat ihn sich geben lassen. Und war es nicht dein Sohn, der den Sack mit dem Weizen auf die Schulter nahm und in dies Haus hier brachte? Warst du das nicht, Abbass? Warst dus nicht?«

Abbass sah die Mutter an. Mergan sagte: »Der ist noch nicht volljährig. Wenn er volljährig wird, verkauft er die Winde der Wüste, die er von seinem Vater zum Erbe bekommt, und begleicht damit deine Forderung.«

Ssalar verlor jetzt völlig seine Beherrschung; er brüllte Mergan an: »Willst du mich mit Ausflüchten abspeisen?! Hast dir eine glatte Zunge zugelegt, du unverschämte Person, du! Glaubst du, du hast deinesgleichen vor dir, der sich mit dir in Erörterungen einlässt? Was bildest du dir eigentlich ein? Dass ich zulasse, dass du mein unbestreitbares Hab und Gut schluckst? Ich hol’ mir mein Recht sogar aus dem Rachen des Wolfs, geschweige denn aus dem deinen!«

»Wenn dus kannst, hols dir. Ich bin ohnehin dies Leben satt.«

»Den Teufel scherts mich, ob dus satt bist. Ich nehm’ mir meine Sachen mit.«

Mergan, der wieder das Blut in Händen und Füßen zirkulierte, stand auf und kreischte: »Steh auf und mach dich fort, du habgieriger Kerl! Scher dich fort aus meinem Haus! Sieh mal einer an, was der für Drohungen gegen mich ausstößt! Du Hyäne! Ich kann meinen Kindern kein Brot zu essen geben, und da kommt der und will mir die paar Stück Kupfergeschirr, die mir geblieben sind, aus den Zähnen reißen! Hoho! Hat er doch endlich ein wehrloses Opfer gefunden!«

Ssalar, der mit Mergan zugleich aufgesprungen war, sagte: »Fortgehen soll ich? Ich geh’. Ich geh’, aber die fünf Man Kupfer, die mir zustehen, nehm’ ich von hier mit.«

Ssalar stürzte in die Vorratskammer und kam mit Tablett, Schüssel, Napf und Tiegel wieder heraus. Ohne sich lange zu besinnen, warf Mergan sich auf Ssalar und schrie: »Stell sie wieder hin! Stell sie wieder hin, du ehrloser Kerl!«

Ssalar streckte die Hand aus und nahm auch den an der Schwelle stehenden Topf an sich. Mergan hing sich an seinen Arm und sagte: »Stell sie wieder hin! Stell sie wieder hin, du Hurensohn! Sonst pack’ ich dich an deinen Hoden und bring’ dich um. Stell sie wieder hin!«