Der Lehrmeister der Aleviten & Bektaschis - Hüseyin Özcan - E-Book

Der Lehrmeister der Aleviten & Bektaschis E-Book

Hüseyin Özcan

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Beschreibung

Das Aleviten- bzw. Bektaschitum genießt in der türkischen Volkskultur und im gesellschaflichen Leben der Türkei große Wertschätzung. Der bedeutendste Lehrmeister dieser Sufitradition war Haci Bektas Veli, ein Mystiker, der im 13. Jahrhundert in Anatolien gelebt und gewirkt hat. Seine facettenreichen, auf Toleranz basierenden Lehren haben die Menschen in Anatolien und auf dem Balkan über 700 Jahre hinweg entscheidend geprägt. Bis heute wird Haci Bektas Veli deshalb insbesondere von den alevitischen Gemeinschaften in höchstem Maße verehrt. Sein Leben und seine Wundertaten wurden von Volkssängern besungen. In ihren Liedern wurde er zur Legende. Wer Haci Bektas Veli aber wirklich verstehen möchte, sollte auch seine Werke studieren. Sie sind die authentischsten Quellen seiner Ideenwelt. Dieses Buch macht seine Werke erstmals auch in deutscher Sprache zugänglich. Es präsentiert und kommentiert Auszüge (zum Teil auch den ganzen Text) aus folgenden Abhandlungen: - Tefsir-i Fatiha (Kommentar zur ersten Sure des Korans - eine erst kürzlich im British Museum wiederentdeckte Handschrift) - Tefsir-i Besmele (Kommentar zur Formel „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“) - Makâlât (Aufsätze) - Makâlât-i Gaybiyye ve Kelimât-i Ayniyye (Aufsätze über das Verborgene und Worte über das Offensichtliche) - Fevâid (Die Nutzen) - Serh-i Hadis-i Erbaîn (Kommentar zu 40 Hadithen) Daneben widmet sich dieses Buch auch der Person und dem Lebensweg von Haci Bekta Veli, dem von ihm gegründeten Su orden der Bektaschis, den sozio-kulturellen Dimensionen seines Wirkens und dem Toleranzverständnis in der türkischen Kultur und bei den Aleviten. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Belege für die These, dass der Prophet Muhammed für Haci Bektas Veli eine überaus wichtige Referenzquelle war.

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Der Lehrmeister der

Aleviten &Bektaschis

Leben, Regeln und Werke von

Hacı Bektaş Veli

Hüseyin Özcan & Arhan Kardas

Der Lehrmeister der

Aleviten &Bektaschis

Leben, Regeln und Werke von

Hacı Bektaş Veli

Copyright © Main-Donau Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2015

1. Auflage

Es ist nicht gestattet, Teile dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder in PCs/Computern zu verändern oder einzeln oder zusam-men mit anderen Vorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Ge-nehmigung des Verlags.

Erschienen im Main-Donau Verlag

Übersetzung

Mehmet Oyran - Abdullah Kulaç

Lektorat

Wilhelm Willeke

Art Director

Engin Çiftci

Coverdesign

Yavuz Aydemir

Korrespondenz: Gerbermühlstr. 32 60594 Frankfurt am Main Tel: +49 69 95932138

Fax: +49 6995932139 www.main-donau-verlag.de

ISBN: 978-3-944206-27-1

Ebook ISBN: 978-3-946871-06-4

Druck: CPI books GmbHUlm - Deutschland

Inhaltsverzeichnis

Worte des Herausgebers zum Geleit vii


Zum Autor xi


Vorwort xiii


Einführung xvii


Kapitel 1: Hacı Bektaş Veli - Leben und Wirken 1


Kapitel 2: Vorstellungswelt der Bektaschis 11


Kapitel 3: Das sozio-kulturelle Milieu des Bektaschitums 17


Typologie der Bektaschis 21


Das Modell der 4 Pforten und 40 Rangstufen 23


Die Bektaschidichtung 31


Die großen Bektaschidichter 35


Kapitel 4: Toleranz in der türkischen Kultur und das 
 Toleranzverständnis der Aleviten und Bektaschis 37


Kapitel 5: Regeln und Grundsätze der Bektaschis 49


Die Hierarchie der Bektaschis 53


Die Krone (Tâc) 55


Geheimnisse der ehrwürdigen Krone (Esrâr-ı Tâc-ı Şerif ) 59


Die Weste (Hırka) 65


Über das Fell (Der beyân-ı post) 67


Der Leibgurt (Şedd) 84


Über den Weg der Armut und das Leben als Derwisch 


(Der beyân-ı tarikat-ı fakr) 92


Kapitel 6: Grundsätze der Erkânnâme in der Bektaschilyrik 103


a. Das Gelübde bei Eintritt in den Orden (Ikrar) 106


b. Freundschaft und Distanz (Tevella - Teberra) 109


c. Selbsterkenntnis (Kendini Bilmek) 113


d. Zu Erde werden (Toprak Olmak) 116


e. Alle (72) Völker mit einem Blick erfassen 


(Yetmiş İki Millete Bir Gözle Bakmak) 119


Kapitel 7: Hacı Bektaş Velis Werke 121


1. Tefsir-i Besmele (Kommentar zur Formel 
 „Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“) 121


2. Makâlât (Aufsätze) 126


3. Tefsir-i Fatiha (Kommentar zur Sure El-Fatiha) 132


4. Makâlât-ı Gaybiyye ve Kelimât-ı Ayniyye (Aufsätze über das


Verborgene und Worte über das Offensichtliche) 151


5. Şathiye (Scherze) 154


6. Nasihatler (Ratschläge) 154


7. Üssü’l-Hakîka (Die Essenz der Wahrheit) 154


8. Kitâbü’l-Fevâid (Die Nutzen) 155


9. Şerh-i Hadis-i Erbaîn (Kommentar zu 40 Hadithen) 158


Kapitel 8: Der Prophet Muhammed in Hacı Bektaş Velis Werken 167


Kapitel 9: Legenden 185


Glossar 196

Quellen- und Literaturverzeichnis 222


Worte des Herausgebers zum Geleit


Hacı Bektaş Veli (Beiname: Hünkâr) war einer der ein-flussreichsten muslimischen Mystiker Anatoliens. Er ist die unbestrittene Autorität des mit Bezug auf seinen Na-men gegründeten Sufiordens der Bektaschiyye und bis heute der ‚gemeinsame Nenner‘ aller alevitischen Gemeinschaften.

Neben seinen Zeitgenossen Mewlânâ Dschelaleddin Rumi und Yunus Emre steht auch sein Name für Liebe, Toleranz und die Kunst eines harmonischen und friedvollen Zusammenlebens. Doch während Dschelaleddin Rumi und Yunus Emre durch die Forschungsarbeiten einiger Orientalisten im deutschsprachigen Raum inzwischen wohl bekannt sind, liegen Werk und Wirken von Hacı Bektaş Veli noch immer weitgehend im Dunkeln. Die vorliegende Übersetzung des Buches von Prof. Dr. Hüseyin Özcan, was von mir kommentiert wurde, soll hier Abhilfe schaffen.

Nachdem sich das Fachgremium unseres Main-Donau Verlags zu einer Veröffentlichung entschlossen hatte, stellte uns die Bear-beitung dieses Buchs vor einige unerwartete Herausforderungen. Denn die Bektaschilehre und ihre Begrifflichkeiten dürften dem deutschsprachigen Leser erst einmal so fremd erscheinen, dass wir uns gezwungen sahen, viele Termini zu erläutern und in ih-rem jeweiligen Kontext zu kommentieren.

Die zum Teil fehlerhafte bzw. fehlende Transkription der au-thentischen Texte hat uns lange Zeit beschäftigt und viel Kopfzer-brechen bereitet. Aber sie erwies sich als unverzichtbar, denn nur so konnten die korrekten, sinnstiftenden Bedeutungen heraus-gearbeitet werden. Fachkundige Experten, die die Schriftquellen der Bektaschis kennen, werden nachvollziehen können, dass dies

Hacı Bektaş Veli

kein einfaches Unterfangen war. Die Anmerkungen unter dem Text und das Glossar am Ende des Buches werden den deutsch-sprachigen Leserinnen und Lesern dabei helfen, die Vorstellungs-welten, Regeln und Grundsätze des Sufismus bzw. der Bektaschis besser zu verstehen.

Die Bektaschilehre ist ausgesprochen facettenreich und tief verwurzelt. Sie hat die Geschichte und die Menschen in Anatolien und auf dem Balkan über 700 Jahre hinweg entscheidend geprägt. Das gilt ganz besonders für die Berufsgenossenschaften und tradi-tionell-islamischen Männerbünde Ahilikund Fütüvvet(die damals wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen der türkischen Gesellschaft) und für das Elitekorps der osmanischen Armee, die Janitscharen. Diese Privatgarde der osmanischen Sultane bekann-te sich zur Bektaschilehre, deren ethische Grundsätze ihr bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein Erfolge sowohl auf militärischer als auch auf spiritueller Ebene bescherten. Ogier Ghislain de Busbecq (1522-1592), Botschafter in Diensten von Ferdinand I., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nationen, bescheinigte den Janitscharen Enthaltsamkeit, Bescheidenheit, Charakterstär-ke und Dienstbereitschaft. Er beschrieb ihr Auftreten als das von „Mitgliedern eines Ordens türkischer Mönche oder von Glaubens-brüdern einer muslimischen Schule“. Der Bektaschiorden und die Janitscharen waren so stark miteinander verwoben, dass Sultan Mahmud II. 1826 nicht nur gegen die Janitscharen, sondern auch gegen den Bektaschiorden vorging. Erst 14 Jahre nach der Ab-schaffung des Janitscharenkorps wurde der Bektaschiorden wie-der offiziell zugelassen.

In spiritueller und literarischer Hinsicht brachte die Bekta-schilehre legendäre Muslime wie den bereits erwähnten Yunus Emre, Sarı Saltuk, Gül Baba, Cibali Baba, Kaygusuz Abdal, Balım Sultan und andere hervor, die die Menschenliebe im Islam über 500 Jahre lang vorlebten und personifizierten. Hacı Bektas Veli darf als das Samenkorn bezeichnet werden, das alle diese Früch-te hervorgebracht hat. Daher verdient er zweifellos unsere Auf-merksamkeit.

Dieses Buch stellt eine Einführung in die Primärliteratur zum Bektaschiorden dar. Es enthält Auszüge (zum Teil auch den gan-zen Text) aus folgenden authentischen Werken von Hacı Bektaş Veli:

• Tefsir-i Fâtiha (vollständiger Text des Kommentars zur ersten Sure des Korans - eine erst kürzlich im British Muse-um wiederentdeckte Handschrift)


• Tefsir-i Besmele / Şerh-i Besmele (Kommentar zur Formel


„Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen“)


• Makâlât (Aufsätze)


• Makâlât-ı Gaybiyye ve Kelimât-ı Ayniyye (Aufsätze über das 


Verborgene und Worte über das Offensichtliche)


• Fevâid (Die Nutzen)


• Şerh-i Hadis-i Erbaîn (Kommentar zu 40 Hadithen)


Ferner enthält es Auszüge aus authentischen Bektaschi-Er-kânnâmes (Regelwerken) zu folgenden Themen:

• Beyân-ı Tâc (Die Krone)


• Beyân-ı post (Das Fell)


• Şedd (Der Leibgurt)


• Hırka (Die Weste)


Diese Originalauszüge sind im Text durch Rahmen besonders gekennzeichnet. Die Fachbegriffe, die im Text vorkommen und zum Teil im Fußnotenapparat gesondert erläutert werden, sind am Ende des Buches auch noch einmal in einem eigenen Kapitel, dem Glossar, zusammengefasst. Im Fußnotenapparat selbst sind die Begriffe aus dem Text, die eigens erläutert werden, der Über-sichtlichtkeit halber fettgedruckt, damit der Leser sie auf einen Blick erkennen kann.

Im ersten Kapitel des Buches werden zunächst einige Infor-mationen zur Person und zum Lebensweg von Hacı Bektaş Veli gegeben. Anschließend werden seine Gedankenwelt, der von

Worte des Herausgebers zum Geleit


Hacı Bektaş Veli

ihm gegründete Bektaschiorden, die sozio-kulturellen Dimen-sionen seines Wirkens und das Toleranzverständnis in der tür-kischen Kultur und bei den Aleviten behandelt. Im zweiten Teil sollen die Regeln und Grundsätze der Bektaschis und das Leben als Derwisch mit authentischen Quellen belegt und ausführlicher beschrieben werden. Es folgen Kommentare zu Hacı Bektaş Ve-lis einzelnen Werken und Auszüge und Zitate daraus. Erstmals überhaupt wird hier auch der vollständige Text der Tefsir-i Fâ-tihaabgedruckt. Anschließend soll herausgearbeitet und anhand zahlreicher Textstellen belegt werden, dass der Prophet Muham-med für Hacı Bektaş Veli eine überaus wichtige Referenz war. Den Abschluss dieses Buches bilden sodann einige Legenden aus dem Leben von Hacı Bektaş Veli.

Danken möchte ich im Namen unseres Verlages zu allererst unseren Übersetzern Mehmet Oyran und Abdullah Kulaç, die sich bemüht haben, das Buch von Prof. Dr. Hüseyin Özcan möglichst korrekt und lesefreundlich zu übertragen. Und auch unserem erfahrenen, gewissenhaften Lektor Wilhelm Willeke sind wir zu Dank verpflichtet. Er hat mit seinen Feedbacks und Korrekturen einen wichtigen Beitrag zur Entstehung dieses Buchs geleistet.

Wir sind der festen Überzeugung, mit unserer Arbeit nicht das letzte Wort zu Hacı Bektaş Veli oder zur Bektaschilehre gesagt zu haben, und hoffen darauf, neues Interesse an den schriftlichen Quellen des Bektaschi- und Alevitentums entfachen zu können. Trotz aller Sorgfalt, die wir bei der Redaktion des Textes und seines Kommentars an den Tag gelegt haben, ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass sich hier und da ein Fehler eingeschlichen hat. In diesen Fällen fühlen wir uns geehrt, von unseren sach- und fachkundigen Leserinnen und Lesern korrigiert zu werden.

Beschließen möchte ich diese kurzen Worte mit einem be-rühmten Aufruf von Hacı Bektaş Veli an die ganze Menschheit:

„Lasst uns einig, stark und lebendig sein“

Arhan Kardaş

Frankfurt, 19. Dezember 2014

Zu den Autoren


Prof. Dr. Hüseyin Özcan wurde 1966 in Salihli / Manisa in der Türkei geboren. Nach dem Besuch von Grund- und Mittelschule studierte er an der Gazi Universität in Ankara Türkische Sprache und Literatur auf Lehramt. Er absolvierte zwei Masterstudiengän-ge, einen am Soziologischen Institut zur türkischen Volksliteratur und einen weiteren innerhalb des Lehramtsstudiengangs der Bil-denden Künste im Bereich Bildungs- und Lehrangebote. Anschlie-ßend promovierte er mit einer Dissertation zum Thema Regeln und Normen der Bektaschis (Bektaşî Âdâp ve Erkânı). Nach einem Auslandssemester in London ist er heute Wissenschaftlicher Mit-arbeiter am Institut für Türkische Sprache und Literatur der Fatih Universität in Istanbul.

Özcan hat auf vielen wissenschaftlichen Tagungen und Semi-naren im In- und Ausland Vorträge zu verschiedenen Themen rund um die türkische Sprache und Kultur gehalten und mehrere Aufsätze verfasst. Bisher wurden von ihm publiziert:

• Hacı Bektaş Veli (2009)


• Fâtiha Tefsiri (Auslegung der Sure El-Fâtiha; 2008)


• Havernâme (2008)


• Alevi-Bektaşi İnancına Bakışlar (Ein Blick auf die Glau-bensinhalte der Aleviten und der Bektaschis; 2007)


• Halk Edebiyatından Seçmeler (Ausgewählte Stücke aus der türkischen Volksliteratur; 2006


• Sürgün Gönüllerde Aşk (Die Liebe der Herzen im Exil; 2005) 


Hacı Bektaş Veli

• Alevi/Bektaşi Kültürüne Bakışlar (Ein Blick auf die Kul-tur der Aleviten und der Bektaschis; 2003)


• Sait Faik Abasıyanık ve Eserlerinde Çocuklar (Kinder in den Werken von Sait Faik Abasıyanık; 2002) 


• Abdulmalik Hilmi Hayatı ve Şiirleri (Abdulmalik Hilmi - Leben und Gedichte; 1994)


Arhan Kardaşwurde 1974 in Bolvadin / Afyonkarahisar gebo-ren. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Ankara und Philosophie an der Gazi Universität. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Geschich-te der Bilkent Universität. In Wien wurde ihm der Titel Magister iuris zugesprochen. Dort gehörte er auch zu den Mitgründern des Dialoginstitutes Friede, in dem er acht Jahre lang zuerst als Vorstandsvorsitzender und später als Generalsekretär tätig war. Für besondere Leistungen im Bereich der Wissenschaften und des interkulturellen Dialogs wurde ihm 2007 die österreichische Ehrenstaatsbürgerschaft verliehen. 2008 wurde Arhan Kardaş in Offenbach a. M. zum Chefredakteur der Zeitschrift "Zukunft" be-rufen. Nebenbei schrieb er zwischen 2004 bis 2012 als Kolumnist für eine türkische Tageszeitung. Und 2010 erschien ein Roman von ihm mit dem Titel "Aşkın Son Müdafaası".

Arhan Kardaş spricht Englisch, Deutsch, Arabisch, Persisch und Osmanisch und versteht Latein und Französisch sowie die Sprachen vieler Turkvölker. Er hält Vorträge zu Themen wie Me-dien, Menschenrechte, Religion, Sufismus, Theologie und zum in-terkulturellen und interreligiösen Dialog. Seit 2012 ist er Chefre-dakteur des Main-Donau Verlags in Frankfurt am Main.

Vorwort


Hacı Bektaş Veli war ein bedeutender Sufimeister, der mit seinen Epoche-übergreifenden Ideen einen wichtigen Bei-trag zur türkischen Gesellschaft und ihrer Mystik geleistet hat. Bis zum heutigen Tage wird er in Anatolien, auf dem Balkan und in anderen Weltregionen in hohem Maße verehrt. Seine Gedan-ken und Worte wurden weitgehend mündlich weiter tradiert. Hacı Bektaş Veli brachte die ‚Fackel‘ der Liebe von Chorasan nach Anato-lien und nimmt dort einen besonderen Platz in den Herzen ein, weil er allen Menschen Wertschätzung und Toleranz entgegenbrachte.1

Im Anatolien des 13. Jahrhunderts, das von sozialen und poli-tischen Umbrüchen geprägt war, sorgten nicht zuletzt seine Bot-schaften für Sicherheit und Frieden im gesellschaftlichen Leben. Mit Aufrufen wie: „Kommt, meine Lieben, lasst uns einig sein!“ oder „Lasst uns einig, stark und lebendig sein!“ widersetzte er sich Zwietracht und Spaltung und lud zu Einigkeit und Versöhnung ein. Vor dem Übel der Unwissenheit warnte er mit Worten wie: „Der Weg, der ohne die Wissenschaft bestritten wird, endet in der Dunkelheit.“ Und ein weiser Ratschlag für alle Menschen lautete: „Beherrsche deine Hand, deine Zunge und deine Lenden.“2

1 Chorasanist eine Region in Zentralasien, die im Gebiet der heutigen Staaten Iran, Afghanistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan liegt. Die mystische und spirituelle Kultur im anatolischen Verständnis des Islams hat sich in Chorasan entwickelt und wurde im 13. Jahrhundert durch Mystiker wie Rumi, Ahmet Yesevi und Hacı Bektaş Veli von dort aus nach Anatolien getragen. Insofern steht der Begriff ‚Fackel der Liebe‘ also symbolhaft für die humanistisch-mystische Kultur Chorasans.

2 Mit anderen Worten: Kontrolliere dein Handeln, deine Worte und deinen Geschlechtstrieb.

Hacı Bektaş Veli

Bedingt durch die mündliche Form der Überlieferung existie-ren heute im Glaubensverständnis und in der Vorstellungswelt der Menschen ganz unterschiedliche Bilder von Hacı Bektaş Veli - ein Phänomen, das auch bei anderen Sufimeistern zu beobachten ist. Sein Leben und seine Wundertaten wurden von Volkssängern (türk.: Âşıklar) besungen. In ihren Liedern, die die eine Generation an die nächste Generation weitergab, wurde er zur Legende. Wer Hacı Bektaş Veli aber wirklich verstehen möchte, wird nicht um-hin kommen, vor allem seine Werke zu studieren. Seine Schriften, die - typisch für die sufische Tradition - auf der Korrespondenz zwischen Schülern und Lehrer basieren, sind die authentischsten Quellen seiner Ideenwelt.

Einen besonders guten Einblick in seine Gedanken zu gesell-schaftlichen Fragen und sein Leben liefert uns das Velâyetnâme, ein posthum erschienenes biographisches Werk. Hacı Bektaş Veli war ein Mensch, der erfüllt war von der Liebe zu seinem Schöpfer und der es sich zur Aufgabe machte, diese Liebe auch seinen Mit-menschen zu vermitteln. Sein Leben und Handeln orientierte sich an dem, was sein Glaube ihm sagte. Diese Tatsache darf nicht au-ßer Acht gelassen werden, denn Haci Bektas Veli war Muslim. Aus seinen Schriften ist eindeutig ersichtlich, dass der Koran und die Sunna seine Referenzquellen waren. In dem Punkt unterschied er sich in keiner Weise von anderen Sufimeistern. In seinen Abhand-lungen zitiert er diese Hauptquellen des Islams an vielen Stellen und stützt sich auf sie.

Die Experten sind sich einig, dass folgende Werke aus seiner Feder stammen:

• Şerh-i Besmele / Tefsir-i Besmele, 


• Makâlât, 


• Tefsir-i Fâtiha, 


• Şathiyye, 


• Şerh-i Hadîs-i Erbaîn, 


• Makâlât-ı Gaybiyye ve Kelimât-ı Ayniyye. 


Allerdings haben gesellschaftspolitische Entwicklungen in der Türkei dafür gesorgt, dass nicht wenige in arabischer Schrift ver-

fasste Bücher im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Andere stehen heute in privaten Bibliotheken oder sind verschollen. Letz-teres gilt insbesondere auch für Bücher über das Bektaschitum. Und so sind Hacı Bektaş Velis bekannteste Werke, unter ande-rem das Buch Makâlât,zwar weit verbreitet; einige Originale von Werken, die ihm nach heutigem Forschungsstand zugeschrieben werden, sind jedoch unauffindbar. Dazu gehörten lange Zeit auch die Werke Tefsir-i Fâtiha(Eine Interpretation der Sure El-Fâtiha) und Şerh-iHadîs-i Erbaîn (Kommentar zu 40 Hadithen). Doch 2008 fand ich diese beiden Handschriften, welche von Wissen-schaftlern, die zum Aleviten- bzw. Bektaschitum forschen, als au-thentische Quellen eingestuft werden, bei meinen Studien in der Bibliothek des British Museum und machte sie der Öffentlichkeit zugänglich.

Prof. Dr. Hüseyin Özcan

Vorwort


Einführung


Das Aleviten- bzw. Bektaschitum erfreut sich in der türki-schen Volkskultur und im gesellschaftlichen Leben der Türkei großer Wertschätzung. Viele Türken akzeptieren es als eine Glaubensform, die Spuren alttürkischer Rituale enthält und aus der sich im Laufe der Jahrhunderte eine Sufitradition ent-wickelt hat. Doch in den letzten Jahren wurde vermehrt auch sehr kontrovers über das Alevitentum diskutiert. Zwei Punkte sind da-für verantwortlich. Zum einen die absurde These, dass das Alevi-tentum nichts mit dem Islam zu tun habe, und zum anderen eine Frage, die parallel dazu gestellt und auch in den EU-Fortschritts-berichten über die Türkei thematisiert wurde: Sollten die Alevi-ten in der Türkei einen Minderheitenstatus erhalten?

Darüber hinaus kreisten die Diskussionen in der Türkei um einige weitere offene Fragen. Zum Beispiel ging es um die Re-präsentation der Aleviten durch das türkische Präsidium für Re-ligionsangelegenheiten, um die Anerkennung der alevitischen Cem-Häuser als Religionsstätten, ein fixes Gehalt für die Dedes(die alevitischen Geistlichen), ein festes Budget für die aleviti-schen Gemeinden und die Vermittlung alevitischer Inhalte im Re-ligions- und Ethikunterricht an den Schulen.

All diese Punkte wurden in den Medien aus verschiedenen Perspektiven durchleuchtet. So mancher, der das Wort ergriff und sich zu dem Thema äußerte, besaß nicht wirklich fundierte Kenntnisse über das Alevitentum, und oftmals standen ideologi-sche Erwägungen im Vordergrund. Das gleiche Problem stellt sich auch in der Literatur, die zu dem Thema publiziert wird. Ausein-andersetzungen werden in aller Öffentlichkeit ausgetragen, was

Hacı Bektaş Veli

zu Irritationen sowohl bei den Aleviten selbst als auch bei der Restbevölkerung führt.

Da das Alevitentum auf einer mündlich tradierten Kultur grün-det, verfügt es über nur wenige schriftliche Quellen; und selbst diese wenigen schriftlichen Quellen waren nach der Umstellung vom arabischen auf das lateinische Alphabet, die in den Anfangs-jahren der republikanischen Ära erfolgte, nur noch schwer zu-gänglich. Das Volk konnte sie von nun an kaum mehr lesen, was Fehlinterpretationen nach sich zog und den Erkenntnisstand nicht eben verbesserte.

Doch um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren: Wer das Alevitentum außerhalb des Islams verortet, kann sich dabei nicht auf wissenschaftliche Argumente berufen. Die Aleviten [in der Türkei]3haben sich immer als dem Islam zugehörig und als Muslime betrachtet. Zum Beispiel bekennen sie in ihrem religiö-sen Ritus, dem sogenannten Cem, inbrünstig ihre Liebe zu Gott, dem Propheten Muhammed und seinem Schwiegersohn, Freund und Gefährten Ali.4Und auch die Gedichte der Aleviten künden seit Jahrhunderten von dieser Liebe. Mit der Zeit haben diese Wer-ke religiösen Status erlangt und sich zum vorrangigen Medium in der Vermittlung alevitischer Glaubensinhalte entwickelt. Bis heu-te werden sie in vielen Regionen der Türkei von alevitischen Dich-tern mit musikalischer Untermalung durch die Sazvorgetragen.5

Gewiss hat das Alevitentum, bedingt durch seine historische Entwicklung und äußere Einflüsse, zahlreiche Elemente fremder Kulturen in sich aufgenommen. Mystische Bewegungen aus Zen-tralasien wie die Melametiyyeaus Chorasan oder die Kalenderiyyeund die Hurufiyyehaben auf die Riten des Alevitentums einge-

3 In eckigen Klammern finden sich Ergänzungen zum ursprünglichen Text, die von der Redaktion zum besseren Verständnis eingefügt wurden. Für bloße Übersetzungen von türkischen Begriffen ins Deutsche werden hin-gegen runde Klammern verwendet.

4 Nach dem Tod des Propheten Muhammed war Alispäter der vierte und letzte seiner rechtmäßigen Nachfolger (Kalifen).

5 Die Sazist ein in Anatolien weit verbreitetes Langhals-Saiteninstrument, auf dem die Aleviten bei ihren Zeremonien spielen.

wirkt. Dennoch steht außer Zweifel, dass der Islam die Hauptquel-le und das Fundament des alevitischen Glaubens ist.

Die Dedes, die als geistliche Würdenträger eine wichtige Po-sition im Alevitentum einnehmen, unterstreichen diese Tatsache immer wieder und betonen die Zugehörigkeit des Alevitentums zum Islam. Auch in der Geschichte wurde dieser Grundsatz nie in Frage gestellt. Die Aleviten haben ihre Glaubensform stets als eine Art ‚Meta-Identität‘ innerhalb des Islams begriffen und sich dementsprechend präsentiert. Sie haben sich nie als unabhängi-ge Religionsgemeinschaft verstanden. Sonst hätten hochrangige Vertreter des Alevitentums beispielsweise keinesfalls zu Vorrei-tern der Verbreitung islamischen Gedankenguts auf dem Balkan avancieren können.

In den letzten Jahren haben Aleviten auf verschiedenen Kon-gressen innerhalb und außerhalb der Türkei diesen Standpunkt aufs Neue bestätigt und betont. Ihnen einen Minderheitenstatus zu verleihen, wäre schon deshalb falsch, weil sie sich der Türkei seit jeher verbunden fühlen. Daran hat sich von den Anfängen der türkischen Geschichte bis heute nichts geändert. Aleviten können in der Türkei, genau wie alle anderen Bürger, jedes Amt im Staat bekleiden. Auch die Tatsache, dass sie türkische Muttersprachler sind, entkräftet die Forderung nach einem Minderheitenstatus. Diese wurzelt vielmehr in diversen falschen Behauptungen, mit denen das Ziel verfolgt wird, eine künstliche alevitische Identität zu schaffen.

Nachdem sich der erste EU-Fortschrittsbericht noch für einen Minderheitenstatus der Aleviten ausgesprochen hatte, was hefti-ge Proteste seitens der alevitischen Gemeinschaft auslöste, wurde diese Empfehlung im zweiten Bericht entschärft, und es war nur noch von einer „muslimischen Minderheit“ die Rede.

Themen wie die Repräsentation der Aleviten durch das türki-sche Präsidium für Religionsangelegenheiten, die Anerkennung der alevitischen Cem-Häuser als Religionsstätten, ein festes Budget für die alevitischen Gemeinden und der alevitische Religions- und Ethikunterricht an Schulen stehen nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung. Es bleibt zu hoffen, dass die Diskussion mit der Zeit an Reife gewinnt und vernünftige Lösungen gefunden werden.

Einführung


Hacı Bektaş Veli

Anerkennung verdient, dass das türkische Bildungsministeri-um das Unterrichtsfach Alevitische Kultur in den Lehrplan aufge-nommen hat, und die Diyanet derzeit alevitische Originalquellen in modernes Türkisch übertragen lässt und dadurch allseits zu-gänglich macht. Und erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass Re-gierungsvertreter im Monat Muharrem6, der den Aleviten heilig ist, am Fastenbrechen teilnahmen. Der Staat sucht den Dialog mit Vertretern der alevitischen Gemeinden, und zu diesem Zweck wurden auch bereits einige Treffen organisiert. Weiterhin wur-den Maßnahmen zur Wiederinstandsetzung des Madımak Hotels7in die Wege geleitet und entsprechende Aufträge vergeben. Au-ßerdem unterhält die Regierung mehrere Arbeitskreise, in denen sich Vertreter der alevitischen Gemeinden und staatlicher Behör-den über Probleme austauschen.

Diese Entwicklung ist parallel zum Demokratisierungsprozess in der Türkei zu sehen. Themen, die noch vor kurzer Zeit völlig tabu waren, werden heute in aller Öffentlichkeit diskutiert. Die Dinge verändern sich, und uns fällt die Aufgabe zu, diese Veränderungen zu analysieren und zu einer objektiven, wissenschaftlich fundierten Einschätzung zu gelangen. Deshalb sollten sowohl die Geistlichen als auch die Institutionen von staatlicher Seite unterstützt werden. Ausbildung und Tätigkeit der alevitischen Geistlichen sollten insti-tutionell verankert werden. Doch leider ist die gegenwärtige Geset-zesgrundlage für den Status der Cem-Häuser unzureichend.

Die außerhalb der Türkei lebenden Aleviten sind, ähnlich wie viele andere Migrationsgruppen, mit dem Problem einer ‚kultu-rellen Identifizierungsnot‘ konfrontiert. Insbesondere die junge Generation steht vor der schwierigen Aufgabe, ihre eigene Kultur

6 Der Monat Muharremist der erste Monat des isylamischen Kalenders. In diesen Monat fällt das Aschure-Fest zum Gedenken an das Massaker von Kerbela und seine Opfer, unter denen sich auch der Enkel des Propheten Hüseyin und seine Familie befanden. Für Aleviten und Bektaschis ist die-ser Monat ein Monat der Trauer und des Fastens. Vom 1. bis zum 12. des Monats wird gefastet und auf jegliche Feiern und Genüsse verzichtet.

7 Das Madımak Hotelist ein Hotel in der Stadt Sivas. Es war 1993 Schau-platz eines Anschlags, der hauptsächlich gegen Aleviten gerichtet war und bei dem viele Zivilisten starben.

innheralb der einheimischen Kultur zu bewahren. Zwischen der alevitischen Diaspora und den Aleviten in der Türkei existieren in vielerlei Hinsicht grundlegende Meinungsverschiedenheiten. Ei-ner von mehreren Gründen dafür ist, dass den Nachfolgegenerati-onen gewisse Aspekte des alevitischen Glaubens entweder falsch oder gar nicht vermittelt wurden und werden. Diese Entwicklung könnte in Zukunft zu einer noch größeren Diskrepanz zwischen beiden Lagern führen und große Probleme innerhalb der alevi-tischen Kultur aufwerfen. Bei der Vermittlung der alevitischen Kultur und ihrer Werte an die Nachfolgegenerationen kommt den Dedes als Geistlichen und den Cem-Häusern als Religionsstätten eine ganz entscheidende Rolle zu.

Letztlich bleibt festzuhalten, dass die Aleviten als gesellschaft-liche Gruppe mit einem beachtlichen Bevölkerungsanteil ernst genommen werden müssen und dass ihre kulturelle und gesell-schaftliche Vergangenheit wissenschaftlich objektiv untersucht werden sollte.

Ein Problem stellen die häufig stark voneinander abweichen-den Auslegungen und (Selbst-) Verständnisse unter den aleviti-schen Gemeinden dar. Viele Menschen sehen im Alevitentum eine genealogische Linie, die über einen Glauben hinaus geht. Dabei war das Alevitentum seit jeher eng mit dem Glauben verbunden und hat seinen Anhängern somit auch von Anfang an klare Regeln und Gebote auferlegt. Trotzdem war es natürlich Veränderungen unterworfen. Daher dürften Untersuchungen, die sich ausschließ-lich auf die heutigen Verhältnisse oder ausschließlich auf die his-torischen Anfänge dieser genealogischen Linie beschränken, we-nig zielführend sein. Neben einem geschichtlichen Abriss sollten auch politische und soziale Faktoren sowie die Bereiche Theolo-gie, Literatur, Soziologie, Psychologie etc. in die Analyse mit ein-fließen und wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Die Glaubensfreiheit ist ein allgemeingültiges Menschenrecht, sie darf nicht aus politischen oder religiösen Motiven ausgebeutet werden. Deshalb sollte es in erster Linie darum gehen, ein korrek-tes Bild vom Alevitentum zu vermitteln - seinen Anhängern eben-so wie Außenstehenden. Zu diesem Zweck gilt es, wissenschaft-liche Publikationen und informative Beitrage in den Medien zu fördern; vor allem solche, von denen auch Jugendliche profitieren.

Einführung


Hacı Bektaş Veli

Es ist erfreulich zu beobachten, dass sowohl sunnitische als auch alevitische TV-Kanäle in der Türkei jüngst Beiträge im und über den Monat Muharrem ausgestrahlt haben, die in der sunniti-schen und der alevitischen Bevölkerung gleichermaßen auf posi-tive Resonanz stießen.

Von Aleviten und Sunniten gemeinsam organisierte Program-me, beispielsweise im Gedenken an das Martyrium der Enkel des Propheten Hüseyin in Kerbela8oder andere Festivitäten und Ge-denkfeiern sowie Besuche von staatlicher Seite anlässlich des Fas-tenbrechens im Monat Muharrem sind wichtige Veranstaltungen, weil sie einen versöhnenden und vereinenden Charakter haben und die beiden Bevölkerungsgruppen einander näherbringen.

Aleviten und Sunniten sollten sich gegenseitig so respektieren und akzeptieren, wie sie sind. Nur dann kann sich ein reger Dialog ohne Vorbehalte und Hintergedanken entwickeln. Die Tatsache, dass Aleviten und Sunniten eine lange gemeinsame Geschichte haben, darf nicht in Vergessenheit geraten. Sie waren immer und sind auch heute noch Angehörige derselben Gesellschaft. Sie bewohnen das gleiche Land, teilen das gleiche Schicksal, haben die gleiche Heimat.

Andererseits ist es nur natürlich, dass Menschen neben vielen gemeinsamen Werten auch unterschiedliche Meinungen haben. Auch Glaubensinhalte werden unterschiedlich ausgelegt und in die Praxis umgesetzt. Doch sollten diese Unterschiede nie zu grö-ßeren Differenzen führen. Die Zeit ist reif, um, wie Hacı Bektaş Veli es formulierte, „einig, stark und lebendig“ zu sein.

Unser Wunsch ist, dass Aleviten und Sunniten den großen Hacı Bektaş Veli in Zukunft aus verifizierten Quellen kennenlernen kön-nen. Dadurch ließe sich die Flut falscher Informationen eindäm-men, und Vorbehalte und Vorurteile könnten abgebaut werden.

8 Kerbelaist eine Stadt im heutigen Irak. Ihre Bedeutung leitet sich eben-falls von dem Massaker aus dem Jahr 683 ab, bei dem der Propheten-En-kel Hüseyin mitsamt seiner ganzen Familie und Gefolgschaft von dem Ummayaden-Herrscher Yezid getötet wurde. Noch heute ist dieses Er-eignis für alle Muslime entscheidend, insbesondere ist sie für die Schiiten und Aleviten von großer Relevanz.

Kapitel 1Hacı Bektaş Veli - Leben und Wirken


Hacı Bektaş Veli kam im 13. Jahrhundert von Chorasan nach Anatolien. Gemessen an den Früchten seines Lebenswerks zählt er zu den bedeutendsten Sufimeistern der Türkei. Er wurde in der Stadt Nischapur in Chorasan geboren. Seine Eltern, Vater Ibrahim und Mutter Hatem Hatun (Tochter Ahmeds), nann-ten ihn Muhammed. In alten Abschriften des Velâyetnâmewurden Ebced-Rechnungen9präsentiert, die ergaben, dass seine Geburt (im Jahr 1248) dem Wort Mürüvvet- Glück -, seine Übersiedlung nach Anatolien (1281) dem Wort raft [Persisch: er ging], sein Le-bensalter (92) dem Wort Muhammedund sein Tod (1325) dem Wort Bektaşoder dem Wort Bektaschiyyeentspricht, falls er im Jahr 1337 gestorben sein sollte.10

Abdülbaki Gölpınarlı hingegen geht von anderen Geburts- und Todesjahren aus: „In der Bibliothek von Ankara findet sich unter Hacı Bektaş Velis Werken ein Band mit der Signatur No. 132 AI. Dieser enthält die Schriften von Kaygusuz Abdal zum Thema Hu-rufund von Abdul Musa zu den Themen Pendund Nasihatnâme. In diesem Buch, das allem Anschein nach am 12. Ramadandes Jah-res 1875 in Sivas gedruckt wurde, steht geschrieben: ‚Wie dem

9 Ebced-Rechnung: Zahlensymbolik bzw. Buchstabenwissenschaft, bei der jedem Buchstaben im arabischen Alphabet ein Zahlenwert zugeord-net wird. Bei der Erforschung einer Thematik wandelt man den Namen einer Person, einer Sache oder eines Ereignisses in Zahlen um und leitet Bedeutungen daraus ab.

10 Noyan, Bedri; Bektaschis und Aleviten, Ankara 1987, S. 19

Hacı Bektaş Veli

osmanischen Staatsarchiv zu entnehmen ist, lassen sich seine eh-renvolle Geburt auf die Jahre 1209 oder 1210, sein Lebensalter auf 63 [Mond-]Jahre, und sein Tod auf die Jahre 1270 oder 1271 datieren. Diese Angaben wurden hier übernommen.‘“11

Obwohl in der Quelle nicht gesagt wird, wann diese Informati-on niedergeschrieben wurde, können also das Jahr 1209 als sein Geburtsjahr und das Jahr 1270 als sein Todesjahr angenommen werden.12

Hacı Bektaş Velis Abstammungslinie lässt sich über Seyyid13Muhammed Ibrahim, Seyyid Musa Sani, Ibrahim Mükerrem el-Mucab, Imam Musa Kazım, Imam Cafer-i Sâdık, Imam Muhammed Bâkır, Imam Zeynel-Âbidin und Imam Hüseyin bis Imam Ali zu-rückverfolgen.

Die ältesten Schriftquellen die uns von Hacı Bektaş Veli berich-ten, sind das Menâkıbü’l Ârifîn(Geschichten der Gelehrten) von Eflâki14aus dem Jahr 1360 und das Tevârih-i Âl-i Osman(Geschich-te der Osmanen) von Âşık Paşazâde15. Darüber hinaus verfassten seine Schüler nach seinem Tod diverse Darstellungen zu seiner Person, die zusammengefasst unter dem Titel Velâyetnâme veröf-fentlicht wurden. Bei diesen Arbeiten handelte es sich jedoch eher um Legendenerzählungen.

Der Beiname Bektaş geht etymologisch auf das türkische Wort Beg- Herr, Mann - und das Suffix -taşzurück, das auf eine Zusam-mengehörigkeit hindeutet.16Der Gelehrte Vâhidi analysierte die

11 Gölpınarlı, Abdülbaki; Regeln und Grundsätze der Mevlevis, Istanbul 1963, S. 24

12 Yılmaz, Ali u.a.; Das Makâlât. Klassische Werke von Aleviten und Bekta-schis, Ankara 2006, S. 15

13 Seyyidwerden die Nachkommen des Propheten genannt, die von seinem Enkel Hüseyin abstammen.

14 Ahmed Eflâki war ein Gelehrter aus dem 14. Jahrhundert. Er stammt ur-sprünglich aus Chorasan und ließ sich in Konya nieder. Sein wichtigstes Werk ist hier erwähnte Menâkıbü‘l Ârifîn.

15 Âşık Paşazâdewar ein osmanischer Historiker des 15. Jahrhunderts.

16 Aksoyak, I.Hakkı; „Eine etymologische Untersuchung des Begriffs Bek-taş“, in: Zweites internationales Wissenssymposium über das Aleviten- und Bektaschitum in der türkischen Welt, Ankara 2007, S. 1535

einzelnen Buchstaben dieses Namens. Er kommt, leicht verein-facht, zu folgendem Schluss:

„Das Wort Bektaş besteht aus fünf [arabischen] Buchstaben. Der erste Buchstabe ist das Ba. Es steht für Reife. Ein Bektaschi ist sich der Geheimnisse seiner Existenz und ihrer Bedeutung bewusst. Seine Weisheit lässt sich in einem Satz auf den Punkt bringen: Men arefe nefsehu fekad arefe rabbehu: Wer sich selbst kennt, kennt auch seinen Schöpfer. Der zweite Buchstabe ist Kaf. Das Kaf steht für Genügsamkeit. Er gibt sich im Haus dieser Welt, in der Wohn-statt des Menschen, mit einem ‚Happen‘ und einem ‚Tuch‘ zufrie-den, sodass er ganz und gar unbelastet von dieser Welt ins Jenseits hinübergehen kann. Der dritte Buchstabe ist das Ta. Es steht für die Erde. Der Bektaschi ist wie Erde. Er hat für jedermann ein offenes Ohr und enthält sich übler Nachrede. Für irdische Güter ist in sei-nem Herzen nicht viel Platz. Er lebt ein bescheidenes Leben, gele-gentlich sogar in Armut. Der vierte Buchstabe, das Elif, symboli-siert Freundschaft (Uhuvvet). Ein Bektaschi sollte unterschiedslos alle Gläubigen in sein Herz schließen. Er ist dazu aufgerufen, sie um des Jenseits willen zu lieben, zu beschützen und zu unterstützen. Der Prophet bekräftigte: Küllu mu’minine ihvetun - Alle Gläubigen sind Geschwister. Der fünfte Buchstabe ist das Şin. Es zeugt von Şeyn. Şeyn bedeutet Sittsamkeit und Enthaltsamkeit. Ein Bektaschi sollte in jeder Hinsicht rein sein und sich vor Unmoral hüten, damit er zu den Reinen gezählt werden kann und damit seine Ernsthaftig-keit, sein Ansehen und seine Reinheit nicht leiden.“

Im Velâyetnâme ist nachzulesen, wie Hacı Bektaş Veli seinen arabischen Beinamen Hacı (Pilger) verliehen bekam. Ausschlag-gebend sei eine Wundertat gewesen, die dort folgendermaßen geschildert wird:

„Eines Tages brach Hacı Bektaş Velis Lehrer Lokman-ı Perende von Chorasan zur Pilgerfahrt nach Mekka auf. Als er dort am Berg 
Arafat stand, sagte er: ‚Heute ist der Tag Arafat. An diesem Festtag

17 Karamustafa, Ahmet T.; Das Menâkıb-ı Hoca-i Cihan ve Netice-i Cân von Vâhidi, Harvard 1993, S. 165

18 Der Arafatist ein Berg in der Nähe der Stadt Mekka. Auf der großen Pil-gerfahrt, der Hadsch, wird hier Zwischenstation gemacht, bevor es wei-tergeht nach Mina. Auf dem Berg Arafat hielt der Prophet Muhammed

Hacı Bektaş Veli - Leben und Wirken


Hacı Bektaş Veli

wird bei uns zu Hause immer Teiggebäck zubereitet.‘ Diese Worte wurden Hacı Bektaş Veli auf metaphysischen Wegen zugetragen. Also brachte er auf wundersame Weise ein Tablett mit der Spezia-lität von Chorasan nach Arafat, und alle dort Anwesenden aßen da-von. Als die Menschen Lokman-ı-Perende später in Nischapur zur Pilgerfahrt gratulierten, sagte er: ‚Der wahre Hacı ist Bektaş. Er ist es, den wir beglückwünschen müssen.‘ Dann erzählte er ihnen von Hacı Bektaş Velis Wunder. Von dem Tag an wurde Bektaş mit dem Beinamen Hacı gerufen.“ 


Lokman-ı-Perende verlieh Bektaş noch einen anderen Bei-namen: Hünkâr, was soviel bedeutet wie Sultan oder Majestät. Eines Tages bat er ihn vor dem Gebet, Wasser für die rituelle Wa-schung zu holen. Daraufhin entgegnete Bektaş: „Könnten Sie nicht ein Bittgebet sprechen, damit in dem Ordenshaus eine Quelle ent-springt und wir nicht länger auf Wasser von außerhalb angewie-sen sind?“ Lokman-ı-Perende antwortete ihm: „Dafür reicht mei-ne Kraft nicht aus. Aber wenn du dazu imstande bist, dann sprich du es!“ Bektaş öffnete die Hände und sprach ein Bittgebet, das sein Lehrer mit einem „Amen!“ beendete. Dann führte er die Hän-de zum Gesicht und kniete sich auf den Boden. Plötzlich sprudelte mitten auf dem Hof eine Quelle aus dem Boden. Als Lokman-ı-Pe-rende dies sah, jubelte er vor Glück und rief: „Hünkâr Hacı Bektaş Veli!“ Fortan wurde Bektaş Veli auch Bektaş Hünkâr genannt. Da-neben finden sich im Velâyetnâme und in anderen Werken noch weitere Namen und Titel.20

Seine erste Ausbildung erhielt Hacı Bektaş Veli in der Stadt Nischapur in Chorasan, wo er die arabische und die persische Spra-

kurz vor seinem Tod im Jahr 632 seine Abschiedspredigt.

19 Der Beiname und Ehrentitel Hacıwird allen muslimischen Pilgern nach ihrer Rückkehr aus Mekka und Medina verliehen.

20 Kutbu’l- aktâb, Mesned-i ulu’l-elbâb, Sultân’ul-evliya, Burhân’ul- asfiyâ, Fahr-i erbâb-ı bâbullah, Envâr’ul-yakîn, Fatih’ül- ebvâb-ı sülâle-i hazreti sâhib-i sırr-ı ve’l-keşf, Aşk deryası, Küşâde-i bâb-ı hikmet, Nesl-i sâkî-i kev-ser, Sahib-i keşf-i ledünnî, Fahr-i ma’den-i erkân, Sultân’ul-ârifin, Serçeş-me-i nur-ı din, Tâc’ul-arifin, Gavsu’l vâsilin, Heykel-i nûranî, Kutb-ı Rab-bânî. Siehe: Güzel, Abdurrahman; Hacı Bektaş Veli; Festschrift für Kadri Erdoğan, Ankara 1997, S. 25

che erlernte. Die meisten Quellen bestätigen, dass Ahmed Yesevi21als sein wichtigster Einfluss gelten darf. Die Forschung hat in den vergangenen Jahren geltend gemacht, dass Hacı Bektaş Veli Ah-med Yesevi sogar persönlich kennengelernt haben könnte, da die-ser sehr alt wurde. Auch in dem Buch Menakıpnâmeist von einem Treffen der beiden Persönlichkeiten die Rede. In jedem Fall gehörte aber Lokman-ı-Perende zu Ahmed Yesevis Schülern, und ihm ver-dankte Hacı Bektaş Veli einen Großteil seiner Kenntnisse in den Be-reichen Wissenschaft und Theologie. Bei Güzel heißt es dazu:

„Hacı Bektaş Veli war ein Schüler von Lokman-ı-Perende, dem sechsten Nachfolger von Ahmed Yesevi. Nach Abschluss seiner Ausbildung bei Lokman-ı-Perende wurde von ihm erwartet, dass er seinen Beitrag zur Ausbildung und Erziehung der kommenden Ge-nerationen (auf türkischem und islamischem Boden) leistet. Daher schickte ihn sein Meister nach Anatolien.“

Nachdem Hacı Bektaş Veli seinem Meister drei Jahre lang ge-dient hatte, verlieh dieser ihm eine besondere Auszeichnung. Der Scheyh[sein Meister] sagte: „Meine Hochachtung! Der Titel Kutbu’l-aktâb23gehört dir. Für die kommenden 40 Jahre hast du nun die Befugnis, zu lehren und auszubilden. Bisher gehörte sie uns, nun gehört sie dir. Ich werde nicht mehr lange auf dieser vergänglichen Welt weilen und schon bald ins Jenseits aufbre-chen. Wir schicken dich nach Anatolien zum Orden nach Suluca Karahöyük.“24Kurze Zeit später brach Hacı Bektaş Veli auf.

Auf dem Weg nach Anatolien besuchte Hacı Bektaş Gelehrte in mehreren arabischen Ländern und tauschte sich mit ihnen über

21 Ahmed Yesevi: bedeutender Sufi, Gelehrter und Poet aus Chorasan (1093-1166). Er gilt als der Pionier der türkischen Sufis. Eine Sammlung seiner Dokumente wurde 2003 von der UNESCO zum Weltdokumenter-be erklärt.

22 Güzel, Hacı Bektaş Veli, S. 96

23 Kutub: (wörtlich: das Mühleisen, um das sich der Mühlstein dreht): Das Oberhaupt des spirituellen Rats der 40 (kırklar meclisi); der Kut-bu’l-aktâbist vor allem zuständig für weltliche, der Kutbu’l irşad hinge-gen für spirituelle Angelegenheiten.

24 Suluca Karahöyükwar eine Kleinstadt in der türkischen Provinz Nevşe-hir. Heute trägt sie den Namen Hacıbektaş.

Hacı Bektaş Veli - Leben und Wirken


Hacı Bektaş Veli

verschiedene Themen aus. In Nedschef, einer Stadt im heutigen Irak, in der sich das Mausoleum von Imam Ali befindet, zog er sich für 40 Tage in die Abgeschiedenheit zurück.25Danach unternahm er die Pilgerfahrt nach Mekka und Medina. Weitere Zwischenstati-onen waren Jerusalem, Aleppo, Elbistan, Sivas und Kayseri, bevor er schließlich die Stadt Kırşehir in Zentralanatolien erreichte. Zu dieser Zeit dürfte er schätzungsweise 24 Jahre alt gewesen sein.

Âşık Paşazâde schreibt in seinem Buch Tevârih-i Âl-i Osman, Hacı Bektaş Veli sei mit seinem Bruder Menteş über Sivas, Kırşehir und Kayseri nach Anatolien gekommen, um dort einen Baba26na-mens Ilyas zu treffen. Dieser stand zu jener Zeit an der Spitze des Vefaiyye-Sufiorden27und unterhielt auch Verbindungen zu dem turkmenischen Gelehrten Dede Garkın.28Anschließend sei Menteş wieder nach Sivas zurückgekehrt und später im Krieg gefallen. Hacı Bektaş Veli hingegen habe sich in der Kleinstadt Suluca Karahöyük, die heute seinen Namen trägt, niedergelassen.29

Baba Ilyas schickte ihn zwischenzeitlich zu dem Gelehrten Baba Ishak, dem Hacı Bektaş verriet, dass er sich nicht für Kriegs-führung interessiere; seine wahre Berufung liege darin, die Her-zen der Menschen zu gewinnen.30

Hacı Bektaş Veli wusste, dass sich die Turkmenen und ihre Stammesfürsten, die nach Anatolien übergesiedelt waren, nicht gänzlich vom Schamanismus abgewandt hatten, zweifelte aber

25 Dieser asketisch motivierte Rückzug in die Abgeschiedenheit wurde Riyâzetgenannt. Er wurde auch von vielen Propheten praktiziert, so zum Beispiel von Moses, der den Berg Tur (Sinai) als Rückzugsort aus-wählte, von Jesus und auch von Muhammed, der vor der ersten Offenba-rung mehrere Monate in der Höhle