Der Leidenschaft verfallen - Nora Darcy - E-Book

Der Leidenschaft verfallen E-Book

Nora Darcy

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Beschreibung

Bedächtig fuhr der Zug in die kleine Bahnhofstation von Solitude ein. Der Waggon, in dem Emily saß, ruckelte, als hätte der Zugführer die Bremsen nicht richtig erwischt, ehe die Bahn anhielt. Emily warf einen Blick aus dem Fenster, an dem dicke Regentropfen ihre Spuren hinterlassen hatten. Grau und düster wirkte die Landschaft an diesem Oktobernachmittag. Dichter Nebel verschluckte alles, was mehr als ein paar Fuß entfernt lag. Emily erhob sich von ihrem Platz, umfasste den harten Griff ihres altmodischen kleinen Koffers und verließ das Abteil, das sie ganz für sich gehabt hatte. Überhaupt schien es ihr, als sei sie mit dem Fahrer und einem ältlichen Schaffner allein im Zug gewesen. Wer wollte auch schon nach Solitude außer ihr? Dieses winzige Nest an einem unbenannten Seitenarm des River Towy, das doch immerhin zur Ortschaft Carmarthen gehörte. Kaum hatte sie den Bahnsteig betreten, setzte sich der Zug hinter ihr wieder zuckelnd in Bewegung und entfernte sich. Emily stand auf dem verlassenen Gleis, und klamme Kälte kroch unter ihr Kleid. Sie sah sich um und schauderte. Statt eines Bahnhofsgebäudes gab es nur eine Art Unterstand für die Reisenden sowie einen leuchtend blauen Fahrkartenautomaten, der in der verlassenen Gegend wie ein Fremdkörper wirkte. Sie hatte den Bahnsteig viel einladender in Erinnerung. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte die Sonne geschienen, und Tante Matilda hatte auf sie gewartet. Die Tante hatte ein blaugeblümtes Kleid getragen, das über ihren rundlichen Hüften spannte, und auf ihrem Kopf saß ein dunkelrosa Hütchen, unter dem ihre silbernen Locken hervorlugten. Doch heute wusste ihre mittlerweile 82-jährige Tante nichts von Emilys Besuch. Emily wollte sie überraschen. Sie straffte die Schultern und wandte sich nach rechts. Vor ihr lag die schmale asphaltierte Straße, die sie nehmen musste, um zur nächsten Bushaltestelle zu gelangen.

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Der Leidenschaft verfallen – 5 –

Der Leidenschaft verfallen

Nora Darcy

Bedächtig fuhr der Zug in die kleine Bahnhofstation von Solitude ein. Der Waggon, in dem Emily saß, ruckelte, als hätte der Zugführer die Bremsen nicht richtig erwischt, ehe die Bahn anhielt. Emily warf einen Blick aus dem Fenster, an dem dicke Regentropfen ihre Spuren hinterlassen hatten. Grau und düster wirkte die Landschaft an diesem Oktobernachmittag. Dichter Nebel verschluckte alles, was mehr als ein paar Fuß entfernt lag.

Emily erhob sich von ihrem Platz, umfasste den harten Griff ihres altmodischen kleinen Koffers und verließ das Abteil, das sie ganz für sich gehabt hatte. Überhaupt schien es ihr, als sei sie mit dem Fahrer und einem ältlichen Schaffner allein im Zug gewesen. Wer wollte auch schon nach Solitude außer ihr? Dieses winzige Nest an einem unbenannten Seitenarm des River Towy, das doch immerhin zur Ortschaft Carmarthen gehörte.

Kaum hatte sie den Bahnsteig betreten, setzte sich der Zug hinter ihr wieder zuckelnd in Bewegung und entfernte sich. Emily stand auf dem verlassenen Gleis, und klamme Kälte kroch unter ihr Kleid. Sie sah sich um und schauderte. Statt eines Bahnhofsgebäudes gab es nur eine Art Unterstand für die Reisenden sowie einen leuchtend blauen Fahrkartenautomaten, der in der verlassenen Gegend wie ein Fremdkörper wirkte. Sie hatte den Bahnsteig viel einladender in Erinnerung. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte die Sonne geschienen, und Tante Matilda hatte auf sie gewartet. Die Tante hatte ein blaugeblümtes Kleid getragen, das über ihren rundlichen Hüften spannte, und auf ihrem Kopf saß ein dunkelrosa Hütchen, unter dem ihre silbernen Locken hervorlugten. Doch heute wusste ihre mittlerweile 82-jährige Tante nichts von Emilys Besuch. Emily wollte sie überraschen. Sie straffte die Schultern und wandte sich nach rechts. Vor ihr lag die schmale asphaltierte Straße, die sie nehmen musste, um zur nächsten Bushaltestelle zu gelangen. Die Teerdecke glänzte schwarz vom Regen, der mittlerweile nachgelassen hatte. Links wuchsen Bäume und Sträucher, dicht an dicht, von dem welkenden Laub tropfte die Nässe. Rechts der Straße ragten in gleichmäßigem Abstand gusseiserne Laternen in die Höhe. Sie brannten jedoch nicht, dazu war es noch zu früh am Nachmittag. Ein schwarzes Geländer sicherte den abschüssigen Bereich, wo etwa fünf Fuß tiefer das dunkel erscheinende Wasser des Flusses dahinrauschte.

Emily sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor drei. Bis zur Bushaltestelle waren es höchstens fünf Minuten, und alle volle Stunde fuhr der Bus zu den wenigen Wohnhäusern von Solitude. Sie war viel zu lange nicht hier gewesen. Das letzte Mal war bestimmt schon drei Jahre her. Spätestens in einer halben Stunde würde sie in Tante Matildas gemütlicher Wohnküche sitzen. Die Tante würde ihr Tee kochen und Plätzchen servieren, und bestimmt war sie ganz durcheinander vor Begeisterung über ihren Besuch. Sie wünschte sich die Vorfreude zurück, die sie gestern empfunden hatte, als sie sich spontan entschloss, Matilda zu überraschen. Während sie mit gleichmäßigen Schritten in Richtung Bushaltestelle ging, wurde ihr klar, was ihr auf der Seele lag. Es war diese Stille. Es schien, als wäre sie ganz allein auf der Welt. Oder als hielte die Welt den Atem an. Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken, und sie ging etwas schneller. Im selben Moment knackte ein Zweig. Erschrocken verhielt sie im Schritt und sah sich um. Nichts. Sie war noch immer allein. Dennoch … es hatte geklungen, als wäre jemand auf einen Ast getreten. Ihre Finger wurden kalt. Dann mochte sich dieser Jemand seitlich der Straße im Gebüsch verbergen. In einem Anflug von Panik wollte sie anfangen zu rennen und beherrschte sich eben noch. Welch ein Unsinn! Vielleicht war es ein Tier gewesen. Sie verdrängte das Wissen, dass die Vögel, Eichhörnchen oder Igel, die im Dickicht Unterschlupf suchten, kaum einen Ast zum Knacken bringen würden, und lief zielstrebig weiter. Nach einer Biegung tauchte die Bushaltestelle auf. Auch schien ihr jetzt der Nebel ein wenig lichter zu werden. Emily stellte sich an den Busplatz und hielt ihren Koffer mit beiden Händen. Das antiquierte Stück war unhandlich und schien mit der Zeit immer schwerer zu werden. Dennoch hatte sie keine Wahl gehabt. An ihrer Reisetasche war der Reißverschluss kaputt, und ihren großen Koffer hatte sie für die wenigen Tage, die sie Matilda besuchen wollte, als zu ausladend empfunden.

In der Ferne tauchten die Scheinwerfer des Busses auf, der zügig näher kam und nahezu geräuschlos vor ihr hielt. Das Fahrzeug war rot und modern, mit gepolsterten Sitzen, und der Innenraum war wohlig warm. Erleichtert setzte sie sich. Der einzige Fahrgast außer ihr war ein alter Mann, der mit eingezogenem Kopf auf dem hintersten Platz saß. In ein paar Minuten würde sie bei Tante Matilda sein.

*

Eine halbe Stunde später stand Emily vor dem schmiedeeisernen kleinen Tor, welches das Anwesen ihrer Tante zur Straße hin begrenzte. Es begann bereits zu dämmern. Sie ließ den Blick über den Rasen schweifen, auf dem hier und da ein wenig Herbstlaub lag, und blickte über die Hausmauer. Efeu rankte sich über grobe Mauersteine und bedeckte einen Großteil der Fassade. Um die kleinen Fenster mit den weißen Sprossen waren die Kletterpflanzen offenbar erst kürzlich gestutzt worden. Hinter sämtlichen Fenstern des zweistöckigen alten Gebäudes war es dunkel, und Emily wurde zunehmend unsicher. War Matilda etwa nicht zu Hause? Das war ungewöhnlich. Durch häufige Telefonate glaubte sie, den Tagesablauf der alten Dame recht gut zu kennen. Vielleicht war sie aber auch nur im Keller oder in einem der hinteren Räume des Hauses? Das Gartentor quietschte, als sie es öffnete und über den schmalen Kiesweg zum Haus ging. Drei Treppenstufen führten zu der grünlackierten Haustür. Sie drückte auf die messingfarbene runde Glocke in der Mauer und hörte das melodische Läuten durch den Hauseingang. Sie lauschte, doch innen rührte sich nichts. Erneut drückte sie auf die Klingel, diesmal um einiges energischer, und wartete weiter vergeblich. Emilys Magen zog sich zusammen. Wo war Matilda? Es war Samstagnachmittag. Samstagnachmittags war sie üblicherweise zu Hause. Sie hatten erst gestern miteinander telefoniert. Die Tante war ihr ein wenig aufgeregt erschienen, aber sie hatte nicht erwähnt, dass sie die Tage etwas Außergewöhnliches vorhatte. Ihre Aufregung hatte Matilda auf Emilys Nachfrage damit erklärt, dass sie eben beim Aufräumen sei. Emily stellte ihren schweren Koffer ab und wippte nervös von den Zehen zu den Fersen. Sie hatte keinen Schlüssel zum Haus, und Tante Matilda besaß kein Handy. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie mit einem Besuch zu überraschen. Vielleicht saß sie bei einer Bekannten zum Tee. Vielleicht hatte sie eine überraschende Einladung bekommen. Hier im Ort wusste Emily allerdings niemanden, mit dem Matilda ein wenig Kontakt hatte. Die meisten ihrer Freundinnen wohnten in Carmarthen. Ratlos setzte sie sich auf ihren Koffer. Und nun? Nur mal angenommen, Matilda kam heute gar nicht mehr nach Hause, was sollte Emily dann machen? Hier in diesem verschlafenen Nest gab es keine Pension, ein Bus fuhr heute auch nicht mehr nach Carmarthen, und ein Zug zurück nach Cardigan, wo sie selbst wohnte, wohl auch nicht. Ihr blieb höchstens, ein Taxi zu rufen und sich in Carmarthen eine Unterkunft zu suchen. Dann konnte sie morgen erneut probieren, ihre Tante zu erreichen. Was sie allerdings machen sollte, wenn diese dann immer noch nicht zu Hause war, war ihr ein Rätsel. Von einem Moment zum anderen durchzuckte sie ein fürchterlicher Schreck. Was, wenn Matilda durchaus zu Hause war? Wenn sie einen Schwächeanfall erlitten hatte oder gar … Immerhin war sie 82 Jahre alt. Emily mochte es sich gar nicht vorstellen. Hastig stand sie auf. Oder hatte sie sich in letzter Zeit mit jemand aus der Nachbarschaft angefreundet und war nun dort, um sich ein wenig zu unterhalten? Nein. Diese Überlegungen führten zu nichts. Sie beschloss, bei den unmittelbar angrenzenden Häusern zu klingeln und sich nach Matilda zu erkundigen. Mit einer Mischung aus Sorge und Missmut erhob sie sich von ihrem unbequemen Sitzplatz, nahm ihren Koffer und ging zurück auf die Straße. Sie betrachtete die wenigen Häuser der Straßenzeile. Das linke Gebäude neben dem Anwesen der Tante stand eindeutig leer. Unkraut wucherte, eine Fensterscheibe war zerbrochen, und ein verwittertes Schild stand im Garten und verkündete, dass das Haus zum Verkauf stand. Das Anwesen zur rechten Seite erinnerte Emily an eine kleine Kirche. Es war größer als die anderen Häuser in Solitude, mehrere Stufen führten zu einem bogenförmig überdachten Eingang, und am Dach ragten zwei kleine Türme gen Himmel. Auch das Grundstück um das Gebäude war sehr viel größer als die anderen, und es gab keinen Zaun, der es begrenzte. Fast rechnete sie damit, dass es hinter dem Haus einen Friedhof gab. Unkrautüberwuchert und mit verwitterten Grabsteinen. Sie schauderte bei der Vorstellung und fragte sich, warum ihr das Nachbarhaus zu Tante Matildas Anwesen bei ihren früheren Besuchen nicht wirklich aufgefallen war. Egal, es ging jetzt um Wichtigeres. Zögerlich wandte sie sich dem Bau zu. Es gab keine Glocke zum Läuten, jedoch einen altmodischen Türklopfer. Sie pochte zweimal. Die Haustür wurde so rasch geöffnet, dass sie vor Schreck beinahe einen Schritt rückwärts gemacht hätte, wobei sie wahrscheinlich ins Straucheln gekommen wäre. Gerade noch konnte sie sich zurückhalten. Im Türrahmen stand ein schlanker junger Mann mit dunklen Haaren und musterte sie. Er trug eine Jeans und ein kurzärmeliges weißes Hemd, eindeutig zu leicht für den kalten Nachmittag.

»Ja?«, sagte er, ohne den inneren Türgriff loszulassen.

»Ich … ähm.« Sie musste sich räuspern. Abwartend betrachtete er sie. Er sah unverschämt gut aus und war mindestens einen Kopf größer als sie. Da ihr ein Schritt nach hinten wegen der Treppe nach wie vor verwehrt war, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihn richtig anzusehen.

»Mein Name ist Emily Cooper. Ich bin die Nichte von Matilda Davies. Also, eigentlich die Großnichte …« Sie brach ab, und ihr wurde heiß. Der Mann verzog keine Miene und ließ sie nicht aus den Augen. Das machte sie unsicher, und dies wiederum machte sie ärgerlich. Was fiel ihm ein, sie derart zu begutachten?

»Und?«, sagte er schließlich. Ihr Puls beschleunigte sich vor Ärger.

»Wissen Sie vielleicht, wo meine Tante steckt?«, platzte sie heraus, wobei sie spürte, dass ihre Wangen sich röteten. Der Koffer, den sie eisern umklammert hielt, schien immer schwerer zu werden.

»Sie möchten damit sagen, sie ist nicht zu Hause?«, erkundigte er sich.

»Genau.« Allmählich wurde aus ihrem Ärger Wut. Machte sich der Kerl über sie lustig? Unerwartet hielt er ihr die Hand hin.

»Tyler Roberts«, stellte er sich vor. Zögernd schlug sie ein.

»Emily Cooper.«

»Das sagten Sie schon.« Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Emily presste die Lippen zusammen und entzog ihm ihre Hand. Sie fühlte sich wie ein Schulmädchen. Hilflos, beschämt und ratlos gleichermaßen. Aber auch voller Hoffnung, er könnte und würde ihr helfen. Dabei kannte sie ihn ja gar nicht.

»Ihre Tante ist also abgängig. Waren Sie verabredet?«, fragte er.

»Ja. Nein.« Wurde das jetzt ein Verhör? Sie hatte doch nur wissen wollen, ob er etwas wusste!

»Was denn nun?« Jetzt lehnte er im Türrahmen, lässig, als habe er jede Menge Zeit. Entnervt stellte sie ihren Koffer neben sich. Das hätte sie eigentlich gleich tun sollen. Ihr Arm war schon ganz taub.

»Ich wollte meine Tante mit meinem Besuch überraschen. Aber nun scheint sie nicht da zu sein. Das ist ungewöhnlich. Ich mache mir Sorgen«, erklärte sie ihm und hatte das Gefühl, wirr durcheinanderzusprechen.

»Aha.«

»Ja!« Fast hätte sie mit dem Fuß aufgestampft. »Ich telefoniere mehrmals in der Woche mit Tante Matilda. Samstagnachmittag ist sie immer zu Hause. Das letzte Mal habe ich sie gestern angerufen. Sie hat nichts davon gesagt, dass sie heute etwas vorhat.«

»Nun, es kann sich ja überraschend etwas ergeben haben. Ich nehme an, Ihre Tante hat kein Handy, auf dem man versuchen könnte, sie zu erreichen?«, erkundigte er sich.

»Da nehmen Sie richtig an.« Am besten, sie ließ ihn stehen und klingelte beim nächsten Nachbarn. Hier kam sie nicht weiter.

»Möchten Sie bei mir auf Ihre Tante warten?«, schlug er unvermittelt vor.

»Nein, nein.« Sie erschrak, ohne es sich erklären zu können. Er zuckte mit den Schultern. »Wie kann ich Ihnen dann helfen?«

Emily hatte das Gefühl, innerlich zu schrumpfen.

»Ich weiß es doch auch nicht.« Unglücklich sah sie zu Boden. »Ich dachte nur, Sie wohnen gleich nebenan. Vielleicht wissen Sie irgendwas. Vielleicht haben Sie sie weggehen sehen. Oder vielleicht hat sie Ihnen irgendwas erzählt, was sie heute vorhat.«

»Nein, das hat sie nicht. Ich habe Ihre Tante vor ein oder zwei Tagen das letzte Mal gesehen. Wir haben uns nur zugewunken.« Er schien nachzudenken.

»Was mach ich denn jetzt?«, jammerte sie.

»Lassen Sie mich überlegen.« Er stieß sich mit der Schulter vom Türrahmen ab und hängte die Daumen in die Gürtelschlaufen ein.

»Tante Matilda ist 82 Jahre. Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Wissen Sie, ich habe keinen Schlüssel zum Haus …« Beschämt brach sie ab. Prompt lächelte er.

»Das habe ich mir schon gedacht. Aber ich habe einen.«

»Was?« Verblüfft sah sie zu ihm auf.

»Ja. Ihre Tante hat sich im letzten Jahr zweimal ausgesperrt und jedes Mal ganz aufgeregt bei mir geläutet, um den Schlüsseldienst zu informieren. Nach dem zweiten Mal hat sie mich gebeten, einen Zweitschlüssel für sie aufzubewahren.«

»Und das sagen Sie jetzt erst?« Empört funkelte sie ihn an.

»Ja. Ich muss ja erst einmal sicher sein, dass Sie keine schlechten Absichten haben«, entgegnete er ungerührt. »Da könnte ja jeder kommen und ins Haus Ihrer Tante wollen.«

»Aber ich wollte doch gar nicht ins Haus! Ich wollte doch nur wissen, ob Sie …«

»Ach, Sie möchten gar nicht rein? Ich dachte, Sie machen sich Sorgen, dass etwas passiert ist?«

Zornige Hitze durchrann Emily vom Kopf bis zu den Zehen und zurück. Was fiel ihm ein, so mit ihr zu reden und sie immer mehr durcheinanderzubringen?

»Dann kann ich ja jetzt wieder an meine Arbeit gehen. Mir wird auch langsam kalt.« Nun machte er ernsthaft Anstalten, die Tür zu schließen.

»Nein!« Hastig stellte sie den Fuß in den Rahmen. »Bitte … ich möchte dort drüben nach dem Rechten sehen.«

»Na dann. Warten Sie einen Moment.« Emily presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch ihr war kalt, und sie hatte Hunger. Hauptsächlich aber hatte sie schreckliche Angst, was sie im Haus von Tante Matilda erwartete.

Tyler Roberts war nach kaum einer Minute zurück. Er trug nun eine bunt karierte Strickjacke, die aussah, als wäre sie nicht billig gewesen, und klimperte mit einem Schlüsselbund.

»Gehen wir«, sagte er, und ehe sie reagieren konnte, hatte er ihr Gepäck an sich genommen.

»Sie müssen meinen Koffer nicht tragen«, protestierte sie und beeilte sich, ihm zu folgen.

»Schon recht. Was haben Sie dabei? Bleikugeln?« Er warf einen flüchtigen Blick auf das altertümliche Stück. »Und überhaupt. Solche Koffer gibt es doch eigentlich nur noch im Antiquitätenhandel.«

Sie beschloss, darauf keine Antwort zu geben.

Mit pochendem Herzen stand sie kurz darauf auf der Treppe zu Matildas Haus hinter Tyler Roberts, der aus seinem Schlüsselbund den Schlüssel der Tante heraussuchte. Er hielt ihn ihr hin.

»Hier.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte machen Sie das.«

Verwundert zog er die Augenbrauen hoch, kam aber ihrem Wunsch nach. Ehe er den Schlüssel im Schloss drehte, wandte er sich ihr noch einmal zu.

»Vielleicht klingeln wir doch erst noch mal.«

Emily nickte, und Tyler Roberts drückte auf die Glocke. Sie hörten das melodische Läuten durch die alten Mauern und das Holz der Tür, sonst blieb alles ruhig.

»Okay. Dann schauen wir rein. Aber Sie übernehmen die Verantwortung«, sagte er, ohne Emily anzusehen, und sperrte auf.

Die Haustür knarrte ein wenig, und die Luft im dunklen Flur roch muffig.

»Tante Matilda?«, rief Emily. Ihre Stimme krächzte. Sie räusperte sich und rief noch einmal nach der Tante. Im Haus blieb es still. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Ein schwerer Druck lag ihr im Magen. Das Licht flammte auf. Der Flur lag verlassen vor ihnen. Alles war, wie sie es in Erinnerung hatte. Die leicht vergilbte Blümchentapete an den Wänden, der weiße Holzstuhl mit den grazilen Armlehnen und dem rosa Bezug, der Garderobenständer aus Messing, an dem zwei Jacken und zwei Hüte von Matilda hingen. Darunter standen, sorgsam aufgereiht, drei Paar Schuhe.

»Bitte«, wandte sie sich an ihren Begleiter. »Würden Sie vorausgehen? Ich hab Angst, dass …« Sie drückte die Fingernägel in die Handballen. Er nickte. Zielstrebig marschierte Tyler Roberts voraus. Die Küche war leer, das Wohnzimmer auch, ebenso wie die Gästetoilette und die Abstellkammer. Auch im oberen Stockwerk, wo sich Matildas Schlafzimmer, ein Bad, zwei ungenutzte Räume sowie das Gästezimmer befanden, war die Tante nicht.

»Ich kann noch im Keller nachsehen?«, schlug Roberts vor.

»Bitte ja«, erwiderte Emily, die nicht sicher war, ob sie erleichtert sein sollte. Mittlerweile war es fast dunkel draußen. Sie wusste, dass die Tante es vermied, bei Dunkelheit unterwegs zu sein. In den Keller ließ sie den Nachbarn allein gehen. Wenige Sekunden später tauchte Roberts am Treppenabgang wieder auf und schüttelte den Kopf.

»Eines ist sicher: Im Haus ist Ihre Tante nicht.« Emily nickte. Wirklich leichter war ihr nicht ums Herz. Abwartend sah ihr Begleiter sie an und spielte mit dem Schlüsselbund.

»Und nun?«, fragte er schließlich.

»Ich weiß es nicht.« Hilflos zuckte Emily mit den Schultern.

»Kann ich Sie irgendwohin bringen? In ein Hotel? Oder möchten Sie zurück nach Hause, wo immer das auch ist?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde gern hierbleiben. Ich bin sicher, Tante Matilda hätte nichts dagegen.« Sie stockte, und ihr wurde immer elender. Fast hatte sie das Gefühl, die alte Dame nie mehr gesund und munter zu sehen. Tyler Roberts rührte sich nicht vom Fleck. Für einen Moment schien es ihr, als überlege er, ob er ihren Aufenthalt im Haus seiner Nachbarin zulassen dürfte. Emily straffte die Schultern.

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung Mister Roberts. Wenn Sie mir nun den Schlüssel geben würden, damit ich auf…«

»Den Schlüssel?«, wiederholte er gedehnt.

»Ja! Ich meine, ich muss doch zusperren können!«

»Ich kann doch nicht einfach den Schlüssel, den Ihre Tante mir anvertraut hat, aus der Hand geben. Wie stellen Sie sich das vor?« Er verzog keine Miene. Emily schnappte nach Luft.

»Hören Sie, Mister! Es geht hier um meine Tante! Ich möchte hier auf sie warten!«