Der leidenschaftliche Zeitgenosse - Roger Willemsen - E-Book

Der leidenschaftliche Zeitgenosse E-Book

Roger Willemsen

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Beschreibung

Roger Willemsen war einer der vielseitigsten und bekanntesten Intellektuellen der Gegenwart. Nach seinem unerwarteten Tod mit nur sechzig Jahren stellt sich die Frage »Wer war Roger Willemsen?« neu. Was trieb ihn an, und welche Überzeugungen leiteten ihn? Wie lässt sich sein schillerndes Werk fassen? Dieser Band sucht in einem langen Gespräch, das die Herausgeberin Insa Wilke mit Roger Willemsen ein Jahr vor seinem Tod führte, nach Antworten und ergänzt sie um zahlreiche Materialien und Beiträge von Weggefährten, Lesern und Kollegen. Es entsteht das Bild eines außergewöhnlichen Menschen und eines einmaligen künstlerischen und intellektuellen Werks.

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Der leidenschaftliche Zeitgenosse

Zum Werk von Roger Willemsen

FISCHER E-Books

Herausgegeben von Insa Wilke

Inhalt

VorbemerkungEinleitungAnfängeGespräch 1Abiturrede vom 25. Juni 1976Gespräch 2Schellingstraße, dicht vor Augen, hingeknietGespräch 3Die Bar als LebensgefühlGespräch 4Briefe an JosephGespräch 5Die ParasitenGespräch 6Kelly Marcel – Incest SurvivorGespräch 7Figuren der WillkürAnfangen mit Roger WillemsenGespräch 8Das Existenzrecht der DichtungSchreiben und ReisenGespräch 9If rhymes should not be dry, man: Laßt Roger W. sie reimen!Gespräch 10Die RaupeGespräch 11Tage mit W.Gespräch 12»Ich kann nicht genug kriegen von der Fremde.«Gespräch 13Michael Serrer kommentiert die Kolumne Willemsens JahreszeitenGespräch 14Elias Canetti an Roger Willemsen, 12. August 1981Gespräch 15Kleine Bemerkungen über das Reisen und die Enden der Welt1.2.3.4.Sehen Sie mehr, wenn [...]TeilnehmenErste Schritte in die Welt des Internets: Chat-Interview von 1997Gespräch 16Roger Willemsen als ProgrammmacherGespräch 17Aber ich habe doch Ja gesagt!Gespräch 18»Bruder Rogerwilmen Jan«Reisen mit Roger zu den Enden der Welt IReisen mit Roger zu den Enden der Welt IIGespräch 19Der melancholische BlickElf Fragen an sechs Mitglieder des Deutschen BundestagesDie FragenDie AntwortenWehret den Müttern!Gespräch 20Schauen, Sprechen, ZuhörenGespräch 21Es geht um VerwundbarkeitGespräch 22Das Auge hört und fühltBild-AlchemieNeu-Gier und/statt VoyeurismusSensualismus als Erkenntnismedium»Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«Der Mann mit zu vielen Eigenschaften*Gespräch 23Zwei Tode(i)(ii)(iii)(iv)Sie kennen das Fernsehen [...]Aus dem Gästebuch von Willemsens WocheUnterwegs – Weltmusik mit Roger WillemsenDie Freiheit des Denkens und die Ernsthaftigkeit des Tuns»Man hat ja Angst davor, sich als Mensch zu zeigen.«Gespräch 24Trauerrede für Dieter HildebrandtBrief an einen FreundGespräch 25Von Bühnenehre und AuftrittskunstLektion 1: »Lass es dir gut gehen!«Lektion 2: »Nimm das Publikum ernst!«Lektion 3: »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«Lektion 4: Er macht aus seiner Lesung unsere Lesung.Auf TourneeDie OrteDie BühneDie TonprobeZwischenfälleIm Dienst des PublikumsRogerGespräch 26Willemsen legt auf: Klassik und JazzAnhangVitaBibliographieWerke von Roger WillemsenDie Autorinnen und Autoren

Durch den Band führt ein Gespräch zwischen der Herausgeberin und Roger Willemsen (Gesprächsteile 1 bis 26)

Einleitung

»Gott sei Dank, endlich Wirklichkeit!« Das ruft der Erzähler in Roger Willemsens literarischem Debüt Figuren der Willkür, und er spricht damit aus, was leitmotivisch die Arbeiten seines Autors begleitet, ob er nun Querulanten wie Samuel Pepys und William Lithgow zu neuer Bekanntheit verhilft, mitten aus Deutschland oder von den Rändern der bekannten Welt berichtet, Musik auf die Bühne bringt, über erotische Literatur, das müde Glück des Hiob und den Knacks, nach dem das Leben ein anderes ist, nachdenkt oder ob er das Mannheimer Literaturfestival Lesen.Hören kuratiert. Für die Ernsthaftigkeit seines Tuns und die Freiheit seines Denkens wird Roger Willemsen geschätzt. Für die Vielfalt seiner Tätigkeiten und seinen Übermut, der die tiefe, grundsätzliche Melancholie seiner Existenz wie ein rheinischer Zwillingsbruder begleitet, im deutschen Kulturbetrieb zuweilen mit Skepsis betrachtet. Wohl auch, weil er darauf beharrt, dass das vermeintlich Anstößige meistens weniger unsittlich ist als die Rede davon und das scheinbar politisch Korrekte hingegen zutiefst unanständig ist, wenn es auf unreflektierten Konventionen beruht.

Ein Journalist soll einmal über Serge Gainsbourg gesagt haben: »Auch andere waren Sänger, aber haben sie auch Bücher geschrieben? Auch andere haben Bücher geschrieben, aber haben sie auch Dokumentarfilme gedreht?« Übertragen auf Roger Willemsen kann man sagen: Auch andere haben politische Bücher geschrieben, aber haben sie auch Reime erfunden? Auch andere sind als Kabarettisten aufgetreten, aber haben sie auch Dokumentarfilme gedreht? Auch andere haben Musik aufgelegt, aber haben sie auch für CARE und den Afghanischen Frauenverein gearbeitet? Roger Willemsen war Schriftsteller, bevor er zum Fernsehen kam, er war Programmmacher, während er Bestseller schrieb, deren Themen und Schreibweisen niemand einen solchen Erfolg vorausgesagt hätte, und er setzte seine humanitären Arbeiten fort, als er schon den Gipfel einer intellektuellen Karriere in Deutschland erreicht hatte, die Ehrenprofessur. Hinter dem bunten Treiben schimmert stets die selbstgesetzte Maxime: sich dem Nichts zuzuwenden, um sich in die Richtung des Lebens zu bewegen.

Wie diesem schillernden Leben und Arbeiten und seinem fast asketischen, im Schreiben gründenden Kern mit einem Materialienband gerecht werden? Die Antwort ergab sich erstaunlich rasch. Sie orientiert sich an einem Formmerkmal seines schriftstellerischen Werkes – dem Fragment. Kein Anspruch auf Vollständigkeit also, sondern ein als Einladung aufgeschlagenes Notizbuch. Wie die italienische Bar, die Roger Willemsen in einem seiner ersten Essays porträtiert, hat auch dieses Notizbuch drei Perspektiven der Wahrnehmung, im übertragenen Sinn: »den Spiegel, der das Innen doppelt, das Fenster, das das Außen spiegelt, das Telephon, das die Entfernung hereinholt«.

Gelingen konnte dieser Dreischritt durch die Offenheit und Experimentierfreudigkeit der Autorinnen und Autoren. Darunter sind Weggefährten, die ihre Erinnerungen aufgeschrieben haben, aber auch jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dem Werk Roger Willemsens in diesem Band zum ersten Mal bewusst begegnen und die Auseinandersetzung suchen. Es gibt Entgegnungen wie die Reaktionen von sechs Bundestagsabgeordneten nach der Lektüre von Das Hohe Haus, aber auch zugeneigte Annäherungen im Gespräch. Meine Hoffnung, dass sich in der Reflexion derjenigen, die mit Roger Willemsen zusammenarbeiten oder ihm lesend gefolgt sind, Mosaiksteine für das Bild seines Denkens ergeben, ist aufgegangen. Dafür danke ich allen Beteiligten. Danken möchte ich auch Roger Willemsen, der für diesen Band so bereitwillig seine Schubladen geöffnet hat und der mir das Vertrauen schenkte, ohne die Beiträge und die Anlage des Buches zu kennen, ein Gespräch über sein Leben und Arbeiten zu führen.

»Zum Reisenden gehört, dass er immer auf dem Weg ist, dass er alles in Bewegung und schließlich in Erfahrung verwandelt«, schreibt Roger Willemsen im Vorwort zu Gute Tage. Als seine Leserinnen und Leser werden wir zu solchen Reisenden und nehmen unsere Wirklichkeit für einen Moment persönlich und die Menschen und mit ihnen uns selbst für den Augenblick der Lektüre ernst.

 

Insa Wilke, Frankfurt am Main 2015

Anfänge

»Alle wurzeln im Märchen: Ich war einmal.«

Roger Willemsen 1959

Wo kommen Sie her?

 

Aus der Sprachlosigkeit.

 

Was heißt das?

 

Ich hatte immer das Gefühl, erst wenn ich Dinge genau bezeichnen kann, besitze ich sie auch. Einmal suchte ich den richtigen Ausdruck für eine Vor-Gewitter-Stimmung in den Straßen Bangkoks und schrieb schließlich: »In den Häuserschluchten räuspert sich der Donner.« Erst mit dem Wort »räuspern« stellte sich die Empfindung ein, in der Passform meines Erlebens angekommen und im Besitz von mehr Welt zu sein.

 

Aus dem Wort entsteht die Welt, ein Geburtsvorgang.

 

Ich könnte aber auch einfach sagen, ich komme vom Land, aus der Natur. Denn meine ersten Wahrnehmungen der Außenwelt sind solche der Natur gewesen, verbunden mit der des Hochadels.

 

War es eine freundliche oder eine feindliche Natur?

 

Eine durch und durch freundliche Natur, deren innerer Charakter es war, sich zu entziehen. Ich bin in einem Hügelland groß geworden. Die Natur, das war für mich vor allem die Landschaft der Hügellinien, die noch nicht überschritten waren. Dieses Motiv ist mir geblieben. Es ist der Horizont meiner frühen Zeiten.

 

Sie sind in einem Schloss groß geworden.

 

In einem Häuschen, das Teil eines Schloss-Anwesens war, ja. Unsere Familie aber gehörte weder zur reichen noch zur im engeren Sinne bürgerlichen Welt. Am ehesten waren wir wohl Angehörige der Boheme, schauten aus der Froschperspektive auf ein Schloss-Szenario, in dem es sieben Töchter gab wie im Märchen, in dem Adenauer verkehrte und vor meiner Geburt einmal Thomas Mann zu Gast war. Die höfische Welt war dort mit einem allerletzten Ausatmen des 19. Jahrhunderts noch intakt: Es gab Kutschen, Tapisserien im Haupthaus und geriffelte Bretter, zwischen denen die Butterkügelchen gerollt wurden. Die vorderste Bank in der Kirche gehörte dem Fürsten, der im Herbst zur Jagd einlud. In den ersten fünf Jahren meines Lebens hielt ich mich nur in dieser geschlossenen Welt auf. Das nächste Draußen wären die Brombeerhaine gewesen, die Wiesenlandschaften und der Wald, durch den ich streunte. Als ich sechs war, zogen meine Eltern ins Nachbardorf.

 

Ihre Eltern waren Untermieter des Fürsten. Wie war das Verhältnis zur Herrschaft? In den 1950er Jahren kann das ja nicht mehr wie im Märchen gewesen sein.

 

Es gab wohl eine Form des akademischen Dünkels, durch den meine Eltern den Adelsdünkel zu konterkarieren versuchten. Sie hatten zwar nicht viel Geld, weil mein Vater ursprünglich Maler war und die Familie nicht vom Malen ernähren konnte, sagten aber unausgesprochen: Wir haben die Bücher, ihr habt das Kapital.

 

Sie sind mit Büchern, bildender Kunst, mit Musik aufgewachsen?

 

Mein Vater schrieb an Paul Klee, wechselte Briefe mit Ernst Wilhelm Nay. Sein Sachverstand von der mittelalterlichen bis zur zeitgenössischen Kunst war schlicht einschüchternd. Kürzlich las ich einen Brief, in dem er einem Bankier vom Kauf eines El Greco abrät. Hinreißend formuliert. Im Krieg blieb er als Funker auf einer norwegischen Insel zurück, lernte die Sprache und übersetzte Knut Hamsun. In unserem Keller stand eine Gesamtausgabe von Hamsuns Werken, auf Norwegisch. Eine Erzählung hat er sogar illustriert. Also ja, ich bin aufgewachsen, überzeugt vom Nährwert der Künste.

 

War die Malerei die Kunstform, die Ihnen als Kind am nächsten war?

 

Es war die, die mir am nachdrücklichsten angetragen wurde. Dauernd diese Kruzifixe, die mittelalterlichen Altäre, die polychromen Skulpturen! Mein Territorium war von Anfang an das geschriebene Wort. Auch war ich von früh an so redselig, dass meine Eltern mich »Klokasten« nannten. Früher gab es doch unter der Decke diese Wasserkästen, die wieder vollliefen, wenn man an der Strippe gezogen hatte. Meine Eltern meinten, so sei das, wenn man mir eine Frage stelle. [lacht] Ich hatte einfach von früh an meine Freude an der Strahlkraft von Worten. Vor kurzem bin ich auf ein Heft gestoßen, in dem meine Mutter einiges aufgeschrieben hat.

Der ganz frühe Willemsen

»Kriegen wir den Schlitten, wenn es mittagt?« (mit 3 Jahren)

 

»Kann ich denn nicht direkt Jäger werden oder muss man da erst Vater sein?« (mit 5 Jahren)

 

»Wie lecker ist das Essen und das Leben knusprig dazu!« (mit 7 Jahren)

 

»Jetzt ist mein Bauch prall – da hausen die Pralinen drin!« (mit 8 Jahren)

 

»Ach, ich bin heute wirklich vom Unglück bemächtigt!« (mit 9 Jahren)

 

»Die Königin von Dänemark hat mir eine zu geschwülstige Brust.« (mit 11 Jahren)

 

Wer war der Erzähler oder die Erzählerin in Ihrer Familie?

 

Mein Vater. Er schrieb auch, vor allem kunsthistorische Aufsätze und hat mir seine hohe Wertschätzung für sprachliche Differenzierung vermittelt.

 

Saßen die Willemsens abends ums sprichwörtliche Lagerfeuer?

 

Meine Mutter las uns vor. Zu meinen glücklichen Erinnerungsbildern gehört außerdem, wie meine Eltern sich abends an die großen Fenster im Wohnzimmer setzten, das Licht löschten, in die Bonner Ebene schauten, rauchten und sich unterhielten. Bei den Mahlzeiten sprachen sie bisweilen Französisch, damit wir drei Kinder nichts verstünden.

 

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?

 

Wer glaubt, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben, kann sich meist nicht besser erinnern. Nein, in der Kategorie des Glücks kann ich meine Kindheit nicht so einfach fassen. Sie kannte das verwilderte, unbehütete Schwärmen. Ich glaube, ich war ein brütend melancholisches Kind, das sich oft in die Wiesen setzte und isolierte, ein Kind, das wegwollte: raus in die Welt und raus aus der Welt. Gleichzeitig war ich hysterisch fröhlich und entflammte gern die Mitwelt.

 

Der spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina hat einmal gesagt, wir seien alle aus der Kindheit vertrieben, das sei der erste und größte Verlust. Setzt das nicht die Vorstellung einer glücklichen Kindheit voraus?

 

Ach, und ich nannte uns alle immer Heimatvertriebene. Die Heimat setzt sich aus lauter verlorenen, entzogenen, verschwundenen Dingen zusammen. Die kleinen Mädchen in den Kattunkleidern gibt es nicht mehr. Die Gosse, durch die das Spülwasser lief, gibt es nicht mehr. Dort, wo ich geküsst habe, steht ein Baumarkt. Er löst in mir nichts mehr aus. Alle Dinge der Kindheit sind der Materialermüdung erlegen. Insofern betritt man ihren Garten nicht mehr. Die Kindheit verführt zur Idealisierung, weil man die Anlässe, die einen früher traurig machten, im Nachhinein verniedlicht. Den Lederball aber, in den damals jemand ein Messer steckte, bloß um der Verletzung willen – an den werde ich nie gleichgültig denken können. Dahinter aber eröffnete sich bald der größere Horizont der Trauer: Meine Jugend ist ja auch vom Sterben meines Vaters begleitet gewesen. Alle Wachstumsbewegungen bei mir waren zeitweilig kontaminiert durch Betrachtungen des Erlöschens und Verschwindens bei ihm. Meine Güte, heute bin ich schon zwei Jahre älter als er wurde.

 

Sie sind liberal erzogen worden?

 

Ja, politisch, moralisch, künstlerisch. Ich bin aber auch durch Schuld erzogen worden. Bei aller Freizügigkeit, die meine Eltern bewiesen, gaben sie der zeittypischen Neigung nach, durch die Erzeugung von schlechtem Gewissen zu erziehen. Es dauert ein Leben, das abzuwerfen.

 

»Wenn wir Kinderfotos betrachten, betrachten wir uns immer als Sterbende.« Der Satz stammt von Ihnen. Wen sehen Sie auf dem Bild mit Ihrem Vater?

 

Ich sehe den Stolz, unter dem Protektorat dieses Mannes zu sein, der so patriarchalisch wirkte, dass ich mich seiner Autorität leicht unterstellen konnte. Dazu enthält dieses Bild etwas von der Ikonographie meiner Kindheit: Wir zogen in meinem sechsten Lebensjahr direkt neben einen Fußballplatz. Die schönsten Sonntage verbrachte ich dort mit meinem Vater: Über Stunden und Stunden standen wir an dem eisernen Gatter und guckten uns von der A-Jugend bis zu den »Alten Herren« Bauernfußball an. Selbst das Mittagessen wurde nach den Halbzeitpausen ausgerichtet. Das waren Stunden inniger Verschworenheit.

Roger Willemsen mit seinem Vater

Foto: Käthe Augenstein

 

Haben Sie mitgespielt?

 

In der Schülermannschaft. Ich war schlecht, aber manchmal dennoch Torschützenkönig: Ich hob mein Bein hoch, der Ball prallte von ihm ins Tor. Trotzdem fühlte ich mich untauglich und war es auch.

 

Wie sehen Sie sich heute in Ihren ersten Texten?

 

Als ein Schwärmer, der mit Vokabeln jongliert und seinem Innenleben nicht gewachsen ist.

 

Welchem Autor begegnen Sie da?

 

Von früh an führte ich Notizhefte, die ich nach Marcel Proust als Cahiers bezeichnete und nummerierte. Da habe ich ehemals relativ autobiographisch an meinen Tagesabläufen entlanggeschrieben. Als ich dann in München studierte, bin ich spontan vom Schreibtisch aufgestanden, habe 500 Seiten dieser Tagebücher auf dem Balkon verbrannt und dann mit Kaffee gelöscht. Da musste ich etwas von mir abtrennen, das mir an mir selbst peinlich war. Diese unerlösten Texte! Damals dachte ich, meine sinnlose Präzisionsanstrengung im Umgang mit mir selbst hat jemanden hervorgebracht, der qualmt und müffelt, halb fertig ist und nicht bleiben sollte.

 

Die sprachliche Form war nicht auf der Höhe des Denkens. Mit den Gedanken von damals sind Sie noch einverstanden?

 

Bestimmte Schmerzzentren waren schon da: Heimweh, als ich mit siebzehn Jahren im Internat war und an Liebeskummer litt. Dieses unablässige Zu-wenig-geliebt-Werden, mit seiner leitmotivischen Präsenz. Auch Einsamkeit, ich war als Kind mehrfach im Krankenhaus. Einmal teilte ich mir das Zimmer nur mit einem Romajungen, der herzzerreißend weinte, nie mehr aufhören wollte. Dann wieder lagen wir zu sechzehnt auf einem Zimmer und wurden zu einer Gang der kranken Kinder. Diese Erfahrungen sind alle noch wie im Körpergedächtnis eingelagert. Ihre Bearbeitung spielte auch eine Rolle im Schreiben. Die Gedanken dazu waren Weltschmerz, lebensphilosophisches Kunsthandwerk, die Erfahrungen selbst aber wiegen.

 

Das ist der Blick nach innen. Was prägte den nach außen gerichteten Blick?

 

Wie die meisten Kinder hatte ich wohl ein präzises soziales Gewissen. Einmal kam ich mit meiner Mutter in Bonn an einem Bettler vorbei, der unter einer Brücke saß. Ich könnte heute noch die Stelle bezeichnen. Ich fragte meine Mutter: »Was macht der Mann?« Sie sagte: »Der schläft draußen.« Ich fing an zu weinen und zu randalieren, weil ich nicht begreifen wollte, dass es etwas wie Obdachlosigkeit geben könnte. Für ein Kind das natürlichste Verhalten. In dieser Hinsicht steckt in der Gesellschaftskritik oft noch dieser kindliche Impuls des Nicht-Wahrhaben-Wollens.

 

Sind Sie ein Nachkriegskind?

 

Ich bin in der Zeit groß geworden, in der das »Wirtschaftswunder« fühlbar wurde, sich alle aber noch immer im Schatten des Krieges aufhielten. Dazu gehört eine asketische Moral, eine Sinnen- und Genussfeindlichkeit und eine langsam entstehende hysterische Fröhlichkeit, die sich im »Wunder von Bern« befreite wie im Karneval. Plötzlich wurde Heiterkeit wieder legitim. Zugleich war das eine Zeit, in der man darum kämpfte, dass das Dritte Reich in die Lehrpläne kam, eine Zeit, in der Minister und Funktionsträger mit Nazivergangenheit enttarnt wurden. Das hat früh zur Politisierung beigetragen.

 

An welchen Orten wurden Sie sozialisiert?

 

Das Schloss ist der erste Ort meiner Sozialisierung. Mein erster Mythos. Dort konnte ich erkennen, was soziales Gefälle ist, was Dekadenz bedeutet, sowohl in Gestalt der Boheme als auch in der des Adels. Die nächsten Orte sind das Familienensemble, mit seiner klaren Ordnung in den ersten dreizehn Jahren meines Lebens, und das Dorf. Das Dorf schärfte das soziale Bewusstsein, schon weil wir zu den ersten Nicht-Bauern dort gehörten. Ich bin zu einem wesentlichen Teil unter Bauernkindern groß geworden, bin mit den Bauern zum Holzschlagen in den Wald gefahren, saß immer hinten auf dem Pferdewagen, half beim Ernten.

 

Wovon träumten Sie damals?

 

Von einem Leben im Wald. Ich wollte Förster werden, sammelte Pflanzen in Botanisiertrommeln, Tierskelette, Mineralien.

 

Waren Sie unter Ihren Dorffreunden ein Exot mit Ihrer Künstlerfamilie?

 

Wahrscheinlich schon. Ich hätte das so nicht gesehen. Mein Held war Jack London, ein Abenteurer und Bauer. Es zogen dann aber bald einige Ministerialfamilien ins Dorf, und so entwickelten sich zwei Kulturen: eine akademisch-verbeamtete und eine bäuerliche. Unter Kindern waren die Brückenschläge mühelos, die Erwachsenen betrachteten sich schon eher scheeläugig.

 

Wo fand die Überschreitung der Grenzen dieser Welt statt?

 

Der vierte Ort meiner Sozialisierung war das Gymnasium als Lehrinstitut, dann das Internat. Das Internat war Exil und Zwangsanstalt. Es war zwar liberal, aber ich war siebzehn Jahre alt und verliebt. Der Tod meines Vaters markierte das Ende der Kindheit. Mutter, Schwester, Bruder, alle gingen eigene Wege, schlossen neue Allianzen. Ich war siebzehn, lebte in diesem Nordsee-Internat mit einem Langzeitzögling auf etwa acht Quadratmetern zusammen. Das Beste war, nachts auszubrechen, um auf die Nordsee hinauszurudern.

 

Was haben Sie von Ihrer Mutter gelernt? Bei positiven Prägungen erzählen Sie eher von Ihrem Vater.

 

Meine Mutter hat Humor. Es wurde bei uns sehr viel gelacht. Außerdem ist meine Mutter von einnehmender Großherzigkeit, begeistert sich für alle Kunstformen und förderte uns früh. Im Haus wurde dauernd Musik gemacht, meine Eltern spielten Klavier. Meine Schwester studierte Musik, wir hatten einen Flügel. Meiner Mutter, einer gelernten Schneiderin, habe ich bei ihren Näharbeiten immer vorgelesen. Ich war sechs Jahre alt, als ich damit anfing und habe damit aufgehört, als ich einundzwanzig wurde. Bis dahin habe ich meiner Mutter viele tausend Seiten Weltliteratur vorgelesen, anfänglich Charlotte Welskopff-Henrich, Jack London, romantische Märchen, später Dostojewskij, Flaubert, Stendhal, Gogol, Kafka, Alfred Andersch. Meine Mutter erklärte mir die Fremdworte, als ich noch klein war. So wurde alles zugänglich.

 

Haben Sie überhaupt Kinderliteratur gelesen?

 

Otfried Preussler, Michael Ende, klar, dann Tom Sawyer und Huckleberry Finn, aber parallel dazu Brentano und Eichendorff. Zur Gegenwartsliteratur bin ich erst spät gekommen. Den letzten Außenposten der Literatur besetzte Samuel Beckett, so ist es lange geblieben. Das Projekt der Moderne ist für mich federführend im Wortsinne gewesen.

 

Das heißt, Ihre Mutter hat Sie eigentlich in die Literaturgeschichte gebracht oder haben Sie sich die Wege selbst gebahnt?

 

Meine Mutter repräsentierte den Kanon. Alle Bildung schließt aber ein, dass man sich selbst eine Geheimgesellschaft schafft, eigene Favoriten findet, Musik hört, die niemand sonst hört. Das waren für mich Prokofjew, Alban Berg, der Jazz. Mündig wird man ja am leichtesten in den Arealen der Künste: Man folgt dem eigenen Spürsinn, selbst wenn er dich in die Schlesische Dichterschule, zu Klopstock, Rabelais oder Calderon führt. In jener Zeit gab es einfach keine Bücher, die mir nichts gesagt hätten. Man sollte übrigens nicht unterschätzen, dass man bestimmte Werke zu bestimmten Zeiten besser versteht. Ich habe Cesare Pavese, der einer der wichtigsten Autoren meiner Jugend war, damals sicher besser verstanden als heute.

 

Wie haben Sie ihn damals verstanden?

 

Existentiell. Ich war von dem Geist dieser piemonteser Landschaft, auch der Turiner Großstadt-Erfahrung, der Libertinage, der Dekadenz regelrecht infiziert. Ich habe alles, was daran Natur war, auch die beginnende und vereitelte Liebe, genauer verstanden als heute, wo diese Dinge weniger Pathos für mich besitzen.

 

Wer waren wichtige Lehrer für Sie?

 

In der Volksschule Othmar Rahm, ein begeisterter Orgelspieler und Pianist. In unserer Klasse stand ein Flügel, auf dem er uns vorspielte und uns über 200 Volkslieder beibrachte. Er schaffte es außerdem, von 42 Schülern seiner Klasse 22 auf Realschule oder Gymnasium zu bringen, darunter viele, die diesen Schritt als Erste in ihrer Familie schafften.

Roger Willemsens Kommentar auf dem Löschblatt seiner letzten Mathematikarbeit und die Antwort seiner Lehrerin

Auf dem Gymnasium war Karl-Günther Tenberken wichtig, mein Philosophie- und Musiklehrer. Er wollte alles ausbilden, was in Kindern noch unfertig ist: kritisches Denken und Beobachten, Sprache, Musik, das komplexere Hören. Unter seiner Leitung spielte ich in einem Ensemble aus Laien und ausgebildeten Musikern. Einmal »komponierte« ich ein Stück zu Anna Livia Plurabelle von Joyce für zwei Frauenstimmen, Cembalo, Querflöte, Vibraphon und Naturgeräusche – eine Laienarbeit, die mir einen Preis einbrachte: Wir durften das Stück auf einer Bonner Bühne aufführen, und im zweiten Teil des Konzerts spielte Friedrich Gulda mit der Gruppe »Between«. Zuletzt improvisierten wir dann gemeinsam. Ich habe auf dem Vibraphon dilettiert, aber das darf man kaum nennen, so unbeholfen war das.

 

Was waren das für Leute, wenn man an den Krieg denkt?

 

Othmar Rahm war nicht viel älter als wir, vielleicht Ende zwanzig. Der hatte den Krieg nicht erlebt, er spielte auch keine große Rolle. Er ging mit uns in den Wald, wollte, dass wir die deutschen Märchen und Erzählungen kennen. Er versuchte, uns Wege zu ebnen. Ich weiß noch, wie er vor der Entscheidung für oder gegen das Gymnasium sagte: »Ihr sitzt jetzt in einem Zug, die eine Weiche führt euch nach Paris, die andere nach Hinteroberfischbachshausen.« [lacht] Und: »Ihr wollt alle nach Paris!« Das war drastisch. Nein, er sei nicht zufrieden gewesen mit sich als Lehrer, sagte er mir später. Ich habe ihn bewundert.

 

Über den deutschen Wald nach Paris …

 

Ja, da empfing mich gewissermaßen Karl-Günther Tenberken. Der interessierte sich für alles, was Moderne war, wollte Gegenwärtigkeit herstellen – in der Philosophie durch die Lektüre von Marx, der Frankfurter Schule, antifaschistischer und futurologischer Literatur. Er schärfte unser Bewusstsein für Umweltzerstörung. Außerdem verpasste er mir den ersten musikalischen Schock meines Lebens, als er Alban Bergs Wozzeck auflegte – eine der wirklichen Erschütterungen, die ich in der Begegnung mit Kunst erlebt habe.

 

Hat das schulische Leben Funktionen übernommen, die man eigentlich dem Studium zuschreibt?

 

Vielleicht haben wir damals der Schule ein paar Dinge abgetrotzt, die sie, bis auf Tenberken, nicht anbot. Die Schule trug zur Entfaltung von Begabungen sonst nicht gerade bei. Meine Geschwister und ich sind in dem Jahr, in dem mein Vater starb, alle drei solidarisch hängengeblieben. Ich später dann allein noch einmal. In der Schule sind mir schon auch Lehrer begegnet, die mich dringend irgendwie loswerden wollten. Ich war Klassensprecher, später Schülersprecher, politisch schnell engagiert, Schülerzeitungsmacher. Ich kiffte relativ früh, hatte lange Haare. Nichts Großes. Wie soll man denn sonst erwachsen werden? Meiner schlimmsten Widersacherin auf Lehrer-Seite, Senta Fernau mit Namen, habe ich nach dem Abitur in einem Akt der Schwäche einen Brief geschrieben mit den Worten: »Ich werde Sie mir immer merken als eine Person, die verhindert, dass Menschen das werden, was sie werden sollen. Sie betreiben eine böse Pädagogik, und die ist gefährlich.« Sie sehen, der Groll ist noch da, auch weil ich diesen Kampf austragen musste, während mein Vater starb.

Als ich mich endlich immatrikulieren konnte, war alles gut. Das Evangelische Studienwerk stattete mich mit einem Stipendium aus, die Professoren verstanden sich eher als Förderer. Nebenher arbeitete ich als Nachtwächter und Museumswärter. Das rettende Ufer war erreicht.

 

Sie haben schon vorher kuriose Jobs gehabt.

 

Neben der schulischen, dann akademischen gab es früh die Welt der Arbeit. Das war nicht weiter besonders. Ich war ja mit sechzehn Jahren genötigt, erwachsen zu werden. Wenn wir aus der Schule kamen, gab es kein Essen, meine Mutter arbeitete in einem Kölner Auktionshaus. Also machte man sich sein Essen selber oder fuhr gar nicht erst nach Hause, weil eh keiner da war. Es gab Phasen, da haben wir meine Mutter tagelang nicht gesehen. Nebenher trug ich Illustrierte aus und die Verbandszeitung der deutschen Kriegsversehrten, arbeitete als Gärtnereigehilfe, als Kellner im China-Restaurant und eben jahrelang als Nachtwächter bei der Bonner Wach- und Schließgesellschaft.

Abiturrede vom 25. Juni 1976

Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.

(Georg Christoph Lichtenberg)

Meine Damen und Herren, liebe Schüler, was erwarten Sie von mir? –

Daß ich ein wenig gerührt, ein wenig sentimental bin, aber auch kritisch, ein derbes Wort fallenlasse und doch dankbar, beseeligt, zuletzt ergreifend, versuche, alles aufzunehmen, was unbesprochen liegen blieb – oder aber alles liegenlasse, was früher aufzunehmen gewesen wäre, um endlich zur großen Harmonie des Abschieds emporzusteigen und abzurunden; daß ich redlich anformuliere gegen die Gewißheit um die Wirkungslosigkeit aller Abitursworte? – Mit Worten sind wir empfangen worden, mit Worten wollen wir gehen.

Erlassen Sie mir die unglaubwürdigen Anekdoten aus der Geschichte der Schul-Ungerechtigkeit, erlassen Sie mir die dekorativen Kommentare zur Schul-Spießigkeit und zu disziplinarischer Grausamkeit, erlassen Sie mir Lob und Einklang, und lassen Sie mich statt dessen einen Blick auf die Schülerpersönlichkeit tun, oder besser: auf das, was davon übrigblieb: auf den verbreiteten, modernen Schüler.

Über allem steht der Schüler, und alles steht über ihm und steigt ihm rasch zu Kopfe. Er weiß sich im Herzen einer Erziehung, die zur Mündigkeit führen soll, und versteht sich, endlich ausgeschieden, aufs Pfuschen und aufs Mosern, auf die notwendigen Kniffe der Schmeichelei und aufs Stillhalten – nur auf die Mündigkeit, die nach Kant die Emanzipation vom infantilen Bann postuliert, auf die versteht er sich nicht. Darum ist die Haltung, in der er sich auf das Schulsystem bezieht, nicht kritisch, sondern es ist die Attitüde des Stänkerers, der nicht ernst genommen wird, weil er meist gar nicht ernst zu nehmen ist; die Gebärde seiner Kritik ist das Herumfahren im Nebel mit der Stange. Und ist er nun auch allen Ernstes als »mündig« in den Ernst des Lebens entlassen, so läßt er sich doch stets wieder lieber vom Leben bewirten, als daß er selbst aufzutischen hätte, und wird endlich doch seinen Mann stehen; denn Schule, als die zum Ernst des Lebens verkleidete Leistungsapparatur, hat ihm den Ernst des Lebens oft bitterer vorgespielt, als das Leben selbst es zu tun vermöchte. Sosehr man den Schüler institutionell vereinnahmt hat, der Bildungsgang ein undurchschaubarer Bürokratismus geworden ist, so sehr schlägt sich der Formalismus in den papiernen Beziehungen der Schüler untereinander und im Verhältnis zu ihren Lehrern nieder.

Dem modernen Schüler ist seine Schule alles und nichts; alles, wenn die Mittel für die Zwecke einstehen, wenn es gilt, mit minimalem Aufwand Maximales zu erreichen; nichts, wenn endlich der Versuch unternommen werden soll, dem System ein »Trotzdem« entgegenzusetzen, durch einen freien, produktiven Akt, der sich dem Schuldruck entwindet und vielleicht gar gegen ihn aufzukommen vermöchte; nicht, daß er imstande wäre, ihn aufzuheben, aber indem er sich der Verkümmerung der Individualität, der Durchschnittlichkeit, der Verwechselbarkeit entgegensetzte. Weil man aber die Kraft, »Trotzdem« zu sagen, nicht mehr aufbringt und weil man zum »Trotzdem-Sagen« auch nicht mehr erzogen wird, darum hat man sich abgefunden mit dem Faulbett, in dem man der selbstgemachten, helmhöltzernen Schlafmützigkeit huldigt. Hier läge das Gebiet individuellen Freiraumes, doch liegt’s überblüht vom Dickicht geistiger Unfruchtbarkeit, schöpferischer Reglosigkeit. Vom Faulbett aus betreibt man so nicht allein die Affirmation des Systems, gegen das die längst müden Fäuste zu schwenken man aber fortfährt, sondern auch die Kräftigung einer Mittelmäßigkeit, in deren Dunstkreis verdirbt, was anders zu sein begehrte.

Kultur – im weitesten Sinne – wird hier, wie meist auch in der Erziehung, immer noch als etwas genommen, das sich mit dem Vorzimmer des Lebens abfinden möge, als etwas, das zur Bildung, nicht zum Leben selbst gehöre und so erfreulich ist wie gute Kinderstube, aber ebensowenig notwendig. Nur wo der Begriff von der »geistigen Notdurft« zum Wort aus der Fremde geworden ist, nur dort ist solche Haltung möglich. Wo zwischen den einzig funktionalen Gesichtspunkten, nach denen gelernt wird, nichts verbleibt als der Brackwassersumpf der Durchschnittlichkeit, der nicht mehr auszutrocknen ist, da muß das Zur-Schule-Gehen eine wahrhaft freudlose Angelegenheit werden.

So ist des modernen Schülers Schulverdrossenheit eine zum guten Teil selbstgemachte; er nimmt und bestätigt die Schule als das, was sie nie hat sein und werden wollen: als eine Bildungsapparatur, die im Niedergang von Persönlichkeit, von Kultur, von Originalität und in den Beziehungen der Schulinsassen untereinander täglich die Zeichen einer Verminderung des Menschengeistes offenbart.

Aber – so wird man mit Recht einwenden – spiegeln sich nicht im modernen Schüler das System, die Pressionen der Umwelt, so daß er gar nicht anders kann, als mittelmaß-freundlich, konformistisch, unproduktiv und feige zu sein? Ist die Beschädigung seiner Persönlichkeit nicht Konsequenz eines Gesellschaftsganzen? – Es gibt nur Unschuldige. Und weil alle Schuld an den Defekten des modernen Schülers abfließt in die ungründbare Kanalisation aus System und Erziehung, Umwelteinflüssen und Erbmasse, darum wird der Schüler sich immer erneut dispensiert fühlen, sein »Trotzdem« zu sagen und zur Tat zu bringen, so, wie es noch vor wenigen Jahren möglich gewesen ist.

Es bleibt uns Abiturienten Dank zu sagen Herrn Dr. Bergener und Frau Semerau, die in schier unermüdlichem, viel zuwenig gewürdigtem persönlichem Einsatz stets hilfreich um uns bemüht gewesen sind – Dank zu sagen jenen Lehrern, die uns wahrhaft zu fördern vermochten, nicht jenen immer unvorbereiteten, aber denjenigen, in deren Unterricht wir nicht umsonst gegangen sind, sei Dank.

Es bleibt uns zuletzt jener acht Schüler zu gedenken, die unser schlechtes Gewissen sind, die heute nicht feiern, weil sie ihr Abitur nicht bestanden haben.

Erkennen Sie in den Leuten, die Ihnen heute Ihre Fähigkeiten vorwerfen und dass Sie sie nicht verstecken, diese Lehrerin von damals wieder?

 

Die Verletzung durch die Lehrerin war eine andere: Als mein Vater starb, stand ich am Tiefpunkt meiner schulischen Laufbahn, war ein Versager mit langen Haaren. Selbstverschuldet. Einer der letzten Sätze, die mein Vater an mich richtete, als er schon unter Morphium stand und in der Krebsklinik lag, war: »Wer ist das?« Ich, die Flasche, hätte ich sagen müssen. In der Anstrengung, doch etwas zu sein und zu werden, war die Lehrerin jene, die wollte, dass ich nichts würde.

Mein Vater starb im Augenblick, als ich zu begreifen begann, was für eine große Persönlichkeit er war. Diese Autorität bricht weg, und du musst sie dir dann also selber geben. Deshalb war Dieter Hildebrandt auch so eine väterliche Figur für mich oder früher Ernst Brücher vom DuMont Verlag. Später, als viele den wohlerzogenen Streber aus mir machen wollten, dachte ich oft: Wenn ihr wüsstet!

 

Ihnen ist der Tod auffällig früh und auffällig häufig begegnet: der Grundschulfreund, der in einen Berg aus Einmachgläsern stürzte, der Freund, mit dem Sie gereist waren und der sich dann umbrachte, der andere, der starb, während Sie in Indonesien unterwegs waren, schließlich eine offenbar ermordete Frau, die Sie beim Nachtwächterdienst fanden … Ziehen solche Todeserfahrungen den Vorhang zwischen dem Leben und einem selbst weg oder ziehen sie ihn zu?

 

Sie ziehen ihn weg. Es gibt so einen Existentialismus des Halbwüchsigen, der sich immer mit den Lebensgrundlagen verbunden fühlt. Ich habe es mir selbst dadurch zu erklären versucht, dass Jugendliche den vorbewussten Zustand noch nicht so lange verlassen haben. Der Rückweg scheint ihnen vielleicht kürzer.

 

Was hieß das für Sie?

 

Man glaubt in diesem Alter, man hätte etwas von »dem« Leben begriffen, empfindet Einsamkeit tief und kann sie existentialphilosophisch sogar begründen. Auch dieser Freund, der sich umbrachte, vollzog seinen Suizid wie einen persönlichen, heroischen Akt. Er fiel auf dem Feld des Lebens, wenn Sie so wollen, und so umgab jene, »die sich heimdrehen«, wie man in Österreich sagt, immer etwas Erhabenes.

 

Von welchen Vorstellungen, die Sie als junger Mann durch diese Erfahrungen bildeten, haben Sie sich später getrennt?

 

Nicht getrennt habe ich mich von dem Pathos, das Weltbild des Unglücks begreiflich machen zu wollen, Lebensbrüche, das Scheitern von Entwürfen, auch das Versagen insgesamt fruchtbar machen zu wollen. Viele existentielle Fragen aber habe ich später in gesellschaftskritische zu übersetzen gelernt. Ich wollte, durch die Frankfurter Schule trainiert, eher Systemkritiker sein – was für ein pompöses Wort! Aber so fühlte es sich an.

 

Sind Sie es geblieben?

 

Wenn ich eine Idee verraten habe, dann ist es die der Systemkritik. Ich hätte als junger Mann über den, der Brunnen in Afghanistan bohrt, gelacht, hätte gemeint, dies sei ein Herumdoktern an Symptomen, das vor allem die politischen Akteure entlastet. Sich auf Strukturen zu konzentrieren, hat etwas Richtiges, weil man so immer das Wesentliche bearbeitet. Es hat aber auch etwas Kaltes im Augenblick, wo es sich über das Einzelleben hinwegsetzt. Heute bedeutet mir die eine Schule, die ich in Afghanistan mit bauen helfe, das einzelne Mädchen, dem ich den Zugang zur Universität ermögliche, sehr viel mehr als das Arbeiten an Strukturen, denen ich mich so unterlegen fühle, dass ich weiß, ich werde sie nicht ändern. In dieser letztlich apokalyptischen Perspektive habe ich mich schuldbewusst eingerichtet, gemeinsam mit der Mehrheit.

 

Nach einem Dreivierteljahr in Florenz setzten Sie Ihr Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität fort. Hat München Sie noch einmal auf andere Weise politisiert?

 

Entscheidend waren schon in Bonn die Demonstrationen zu den Notstandsgesetzen, später die Initiativen gegen die RAF und die Terrorismusfahndung. 1968 war ich dreizehn. Meine Eltern verboten uns damals in die Stadt zu gehen wegen »der« Studenten, auf einmal eine offenbar homogene, bedrohliche Gruppe. Man muss sich das vorstellen: Man kam aus dem Krieg, die Kubakrise malte schon wieder ein Kriegsszenario an die Wand, der Kalte Krieg führte zum Wettrüsten, gleichzeitig setzten wir uns mit der Elterngeneration auseinander und bearbeiteten gut antifaschistisch die politische Vergangenheit der Vätergeneration. Wir waren also schon deshalb bewusster als die Studenten heute, weil die Alten alle noch lebten. Wir guckten in ihre Gesichter und konnten fragen: »Wo warst du im Krieg?« Was ich mich übrigens meinen Vater nie getraut habe zu fragen.

 

Wie war Ihr Verhältnis zum Staat?

 

Ich erlebte ihn durch die Art, wie er mit seinen Gegnern umging. Zum Beispiel in der Zurücknahme mühsam erkämpfter Rechte. Es gab Angriffe auf das Briefgeheimnis, das Demonstrationsrecht, es gab den Radikalenerlass, nach dem ein Briefträger entlassen wurde, weil er in der DKP war.

 

Haben Sie sich je parteipolitisch engagiert?

 

Nein. Wo immer ich mit einer Arbeit in die Nähe von Parteien geriet, hatte ich den Eindruck ineffizienter, auch unsachlicher zu arbeiten, als ich es ohne politische Begleitung getan hätte. Selbst aus Hilfsorganisationen habe ich mich zurückgezogen, sobald ich fand, ich säße dort eigentlich nur im Schaufenster.

 

Auch etwas, das einen Wandel des Zeitgeistes verrät?

 

Gewiss, er bewegte sich während meiner Lebenszeit gewissermaßen vom Pathos der Aufklärung über die Ironie zum Zynismus, der der Zerstörung nichts mehr entgegenzusetzen hat. Ich beharre, was die politische Kritik, auch die Kulturkritik angeht, unwillentlich auf dem Pathos, insofern ich sage: Ich weiß, was nicht sein soll, ich kann es auf den Begriff bringen und meine Kraft dagegen mobilisieren.

Schellingstraße, dicht vor Augen, hingekniet

Jens Jessen

Das für seine Kürze unter Historikern berüchtigte 20. Jahrhundert hat dann doch, wenn nicht alles täuscht, ziemlich lange gebraucht, um zu Ende zu gehen. Manches spricht dafür, dass es sogar noch dabei ist, ein bedeutendes Stück des 21. Jahrhunderts zu dominieren; die Gestalten und Ideen, mit denen wir heute umgehen, sind jedenfalls schon im Humus des vorangegangenen Saeculums entstanden, und mit Sicherheit gilt dies für Roger Willemsen, den ich, ohne dass er oder ich es gewusst hätten, noch im grünenden Moosbett einer sorgenloseren Zeit erlebt habe.

Waren es zweitausend oder dreitausend Studenten, die in den siebziger Jahren mit uns an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität Germanistik studierten? Jedenfalls waren es mehr als genug, um in mir schon damals den Verdacht keimen zu lassen, dass sie nicht alle gleichermaßen für den Umgang mit Literatur begabt oder auch nur motiviert sein konnten. Der Musil-Forscher Wolf-Dietrich Rasch musste in seinem Seminar den Protest von Studenten erleben, die eine vollständige Lektüre von mehr als tausend Seiten Mann ohne Eigenschaften als Zumutung empfanden. Anderseits wird offensive Leseunlust noch eine Ausnahme gewesen sein; sonst hätte sich die Anekdote nicht so schnell am Institut für Deutsche Philologie verbreitet. Man schämte sich. Man spottete auch gerne über die eifrigen Lehramtskandidaten, die in den obligatorischen Einführungsvorlesungen das zugehörige Skript nach und nach mit Textmarkern fast vollständig giftgrün oder leuchtend orange einfärbten. Alles war so wichtig! Es war eine schöne und unschuldige Zeit, die an Wert und Bedeutung von Literatur nicht zweifelte und auch noch nicht jenen Theoriekater kannte, der die heutige Germanistik so brummschädelig macht.

Im Gegenteil blühten damals in der Schellingstraße, in den brutalistischen Bunkerbauten des Instituts, noch alle gepflanzten Theorien gleichzeitig, der Marxismus, die psychoanalytische Literaturdetektei, der strenge Strukturalismus, der nach dem Harten und Weichen im Prosawerk E.T.A. Hoffmanns suchte, der faktensammelnde Positivismus, der sein Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur pflegte, und eine klassisch geistesgeschichtliche Hermeneutik, die sich der politisierenden Banausen zu erwehren trachtete. Walter Müller-Seidel las über die Geschichtlichkeit der Weimarer Klassik, die ihrerseits einer erheblichen Geschichtlichkeit unterlag, und Friedrich Sengle durchforstete das Gestrüpp der Trivialliteratur, das rings um Goethe wuchs. Nebenan wurde das bedrohliche Vater-Imago bei Schiller unschädlich gemacht und wenige Seminarstunden später das unzureichende Klassenbewusstsein in der Frühromantik beklagt. Überflüssig zu sagen, dass sich die Dozenten sämtlich spinnefeind waren.

Aber das ideologische Gift wirkte nicht auf die Studentengeneration, in der sich schon die politisch erkaltenden achtziger Jahre ankündigten. Sie genoss das Ideengewimmel oder organisierte wenigstens ihr Überleben darin. »Hast du schon jemals Moos gesehen?«, lautet die passende Frage eines Gedichts des baltischen, nach Bayern verschlagenen Schriftstellers Siegfried von Vegesack. »Nicht bloß / so im Vorübergehen, / so nebenbei von obenher, so ungefähr – / nein, dicht vor Augen, hingekniet, / wie man sich eine Schrift besieht?«

Und in der Tat. Auch wenn Vegesack seinerzeit gewiss nicht an das Institut in der Schellingstraße dachte, kann seine Antwort als emblematisch gelten: »O Wunderschrift! O Zauberzeichen! / Da wächst ein Urwald ohnegleichen / und wuchert wild und wunderbar / im Tannendunkel Jahr für Jahr, / mit krausen Fransen, spitzen Hütchen, / mit silbernen Trompetentütchen, / mit wirren Zweigen, krummen Stöckchen, / mit Sammethärchen, Blütenglöckchen …« Obwohl ich nicht beschwören kann, dass damals wirklich alle spitzen Hütchen und Trompetentütchen zuverlässig erkannt wurden, war doch die individuelle Sichtbarkeit, auch aller Exzentrizitäten, deutlich gesicherter als an den Universitäten unserer Tage. Und nicht nur der krausen Fransen am Lehrkörper. Auch Studenten konnten seinerzeit, vorausgesetzt man kniete, für ihre Sammethärchen berühmt werden.

Die Zeit war eine des Übergangs. Es gab schon die Masse, aber das Individuum versank noch nicht in ihr. Zu den andächtig Knieenden, die mir die Augen öffneten, gehörte ein Mädchen, das den Zutritt zur Institutsbibliothek kontrollierte. Gesprächigkeit wäre ein Hilfsausdruck für die gesellige Neigung der Studentin gewesen. Man kam an ihr nicht vorbei. Ich weiß nicht, ob sie mich bevorzugt abfing, Furcht und Beglückung wechselten in mir, aber eine wesentliche Information verdankte ich ihr doch, und diese lautete: Roger Willemsen.

Sammethärchen, Blütenglöckchen. Roger Willemsen war offenbar eine bedeutende Persönlichkeit, zumindest der bedeutendste Student am Institut, und diese Meinung beherrschte, wie ich bald herausfand, nicht nur die Bibliotheksaufsicht, sondern die Vorstellungskraft vieler Studentinnen. Ob ich etwas über Roger gehörte hätte? Was er so dächte, meinte, gesagt habe? Nicht auszuschließen, dass ich damals, wenn ich nur etwas von ihm gehört oder mir eine gewisse Nähe zu dem Fabeltier erschwindelt hätte, das Herz mancher Studentin erobert hätte, und sei es bloß als Auskunftsquelle und Ersatzfigur.

Nun, ich hatte leider nichts gehört, aber das sollte sich bald ändern. Denn die Ausstrahlungskraft des Studenten Willemsen entsprang keinem kollektiven weiblichen Wahn, sondern wirkte auch auf männliche Kommilitonen, die vielleicht Anlass gehabt hätten, ihm eifersüchtig gegenüberzustehen. Zu diesen gehörte mein Freund Christian Begemann, der mit Roger zusammen das Oberseminar der gestrengen Renate von Heydebrand besuchte. Wenn ich mit Christian daheim, teetrinkend, vor dem Plattenspieler saß und Swjatoslaw Richters romantisierende Interpretation des Wohltemperierten Klaviers hörte, sprach er von Roger. Von Rogers Arbeit über den Mann ohne Eigenschaften, von Rogers Gedanken, von Rogers Thesen und seinem Mut, es überhaupt mit Musil aufzunehmen. Das war keine Kleinigkeit. Denn Christian Begemann gehörte ebenfalls zu den prominenten Studenten, von denen man am Institut sprach, oder war jedenfalls der einzige von ihnen, den ich kannte und der mich einschüchterte. Ich verstand nichts von dem feinen methodologischen Gewebe, das er vor mir ausbreitete. Aus dem feinen Knistern des Theoriebrokats hörte ich aber sehr wohl das Wörtchen Roger heraus. Wirre Zweige, krumme Stöckchen, und dann – das Blütenglöckchen.

Indes dauerte es nicht lange, bis eine ganz andere Glocke Alarm läutete. Das Institut empörte sich über ein Unrecht, und in dieser Empörung zeigte sich erst das wahre Ausmaß der Sympathie für Roger Willemsen. Begemann empörte sich, die Mädchen empörten sich, selbst die Professoren entfernter Lehrstühle waren empört, weil Renate von Heydebrand – nun, was eigentlich getan hatte? Es hieß, sie wolle Willemsens Arbeit über Musil eine nicht ganz so gute Note geben. Es war nur ein Gerücht, aber entfaltete seine Wirkung doch. Mein eigener Professor, der Altgermanist Werner Betz, für den ich arbeitete, sah mich aus dunklen Augen an und murmelte: »Wo Begabungen nicht erkannt werden …« Erst Wochen später führte er bei anderer Gelegenheit den Gedanken zu Ende: »Da dürfen sich die Professoren nicht über die Zukunft der Germanistik wundern.«

Und allerdings musste die Germanistik ihre fernere Zukunft ohne Roger Willemsen gestalten. Eine Zeit lang sah es auch so aus, als käme sie ganz gut ohne ihn zurecht. Neue Theorien erblühten in der Schellingstraße, Foucault, Lacan, die Poststrukturalisten waren die Trompetentütchen der achtziger Jahre, Paul de Mans Dekonstruktivismus brachte die krausen Fransen der neunziger, die Gendertheorie lieh ihr krummes Stöckchen dazu. Es grünte im Tannendunkel. Nur wir freilich hatten gesehen, »was alles hier geschieht, / was nur das Moos im Dunkeln sieht«, wie Siegfried von Vegesack dichtet. Wir hatten Macht und Wirkung der akademischen Nickeligkeit erlebt. »Ein Sprung und Stoß / – und kalt und groß / gleitet die Schlange durch das Moos.«

Roger Willemsen verließ das Institut ohne die Habilitation, die er schon begonnen hatte. Er suchte und fand neue Auditorien mit neuen Verehrerinnen. Auch ich verließ das Institut, aber ohne Perspektive, ohne Verehrerinnen und ohne Abschluss, nachdem Professor Betz gestorben war (übrigens in der Klinik des chefärztlichen Vaters Begemann). Ich überlebte im Rückgriff auf meine altsprachlichen Gymnasialkenntnisse, indem ich kunsthistorische Quellentexte aus dem byzantinischen Griechisch übersetzte. Nicht München mit seinen modischen Theorien, sondern mein armes altes Berlin mit seinem verstaubten Humanismus ernährte mich.

Nur Christian Begemann, die solideste Begabung von uns allen, kehrte nach einem langen akademischen Umweg wieder ans Institut in der Schellingstraße zurück: als ordentlicher Professor. Möge ihn seine methodische Vernunft vor den Schlangen in der Dichtung bewahren! In meinen Träumen kehre auch ich manchmal zurück und sehe in den fensterlosen Bunkerhörsälen Wolf-Dietrich Rasch mit Renate von Heydebrand und dem Musil-Herausgeber Adolph Frisé streiten. Wer hat den Dichter besser verstanden, persönlicher gekannt und früher für die Forschung entdeckt? Manchmal wähne ich mich sogar, wenn ich aus dem Arbeitszimmer in die Schwärze der Nacht blicke, in der Institutsbibliothek sitzen. Die Blätter fallen. Ich fühle mich müde und alt. Die Schallplatte rauscht; matt und süß lässt Richter das erste Bach’sche Präludium perlen. Der Tee ist bitter geworden, das Moos im Sieb welk und braun. Um wie viel jünger mag sich wohl Roger Willemsen fühlen? Viel jünger jedenfalls, ein strahlender Held, für immer ein Stern wie am Institut für Deutsche Philologie. –

Das aufsichtsführende Mädchen damals in der Bibliothek hieß übrigens, jetzt fällt’s mir wieder ein, Constanze, wie die Witwe Mozarts. Und mit Nachnamen Haffner, wie die Serenade Mozarts. Da konnte man wohl einen Sinn für Götterlieblinge entwickelt haben.

Und in München?

 

In München bekam das Ganze eine agitatorische Seite. Auch die war janusköpfig: Auf der einen Seite organisierte ich mit Joseph Vogl politische Veranstaltungen gegen die Libyenbombardierung der Amerikaner. Auf der anderen Seite hatte ich ein großes Interesse an der Frage, was man jenseits von Demonstrationen tun kann. Wir fuhren nach Wackersdorf, wo die bayrische Polizei an einem Ostersonntag die Demonstration nicht genehmigt hatte. 30000 Menschen erschienen dennoch, wurden aus Helikoptern mit CS-Gasen besprüht, die man auch im Vietnamkrieg eingesetzt hatte. Die Bilder aus dieser Demonstration erinnern wirklich an Kriegsbilder. Es war ja nicht meine erste Demonstration. So erwarb ich immer mehr Anschauung von dem, was eine aktive Politik des Staates gegen seine Bürger bedeutet. In München hat das eine Differenzierung erfahren, weil dort die Marxistische Gruppe sehr stark war.

 

Und Delegierte in Ihre Lehrveranstaltungen schickte?

 

In jede, wie zu allen Kollegen auch. Sie waren Systemkritiker, die radikalsten, und fanden, es sei alles falsch: auf die Universität zu gehen, sich mit Lyrik auseinanderzusetzen, Literatur für einen Forschungsgegenstand zu halten. Meine Studenten wünschten sich immer, ich würde sie rauswerfen. Ich wollte es lieber argumentativ lösen.

4 frühe Collagen von Roger Willemsen, ca. 1973

 

Warum saßen sie bei Ihnen? Sie waren doch eher auf deren Seite als andere.

 

Das spielte keine Rolle. Das ganze System war vom Teufel.

 

Wirkt von heute aus betrachtet pubertär.

 

Es war aber hoch theoretisch, sehr intelligent vorgetragen – und borniert.

 

Erinnern Sie sich an Ihren ersten literarischen Text?

 

Uwe und die Mondmänner. [lacht] Ein Text von dreizehn oder achtzehn Seiten, den ich »Roman« nannte, und den mein Vater tippte, der Ritterschlag. Da meine Mutter mich mein Jugendleben lang aufforderte, ich solle ausmisten, und ich nie wusste, was mistet man denn aus, nach welchen Kategorien bewahrt man Dinge oder wirft sie weg, habe ich irgendwann diesen Text weggeworfen. Ich vermutete, er gehöre zu dem, was man ausmistet, bin aber auch ganz froh, dass er weg ist. [lacht] Die ersten Texte, die ich dann schrieb, waren für die Schülerzeitung. Dann habe ich eine Zeit lang für Untergrundorgane geschrieben, und zwar aus dem Internat. Es gab damals eine starke Szene von Splitterverlagen. Bei denen fing ich an zu publizieren: Lyrik, lyrische Prosa, die unter den Schmerzen der Internatserfahrung entstand.

4 Zeichnungen von Roger Willemsen, Anfang der 70er Jahre

 

Wie kam der Kontakt zu solchen Untergrundverlagen und Zeitschriften zustande?

 

Einer meiner Mitschüler zeichnete für sie. Ich schickte einen Text hin, der Herausgeber antwortete, ich hätte etwas zu sagen. Ich hätte nicht sagen können, was das sein sollte, das ich zu sagen hatte. Vermutlich war es symbolistischer Jahrhundertwenderamsch. In dieser Tonlage hatte ich damals auch schon sechs Bleichnessel-Geschichten geschrieben – lauter halb märchenhafte Stoffe, die, was mir gar nicht recht klar war, die fürstliche Bildwelt der Kindheit aufgriffen.

 

Erinnern Sie sich an eine Geschichte?

 

Eine spielte auf einer Insel, deren Entstehung allmählich aufgedeckt wird: Man hatte ehemals eine Leiche ins Wasser geworfen. Als sich in einem Strudel um die Leiche dann immer mehr Dreck sammelt, wird eine Insel daraus, eine unheilvolle. Wunderliche Texte. Damals sah ich sie mit einem gewissen Ernst.

 

Die Geschichten ähneln den Collagen und Zeichnungen, die in dieser Zeit entstanden.

 

Wann fingen Sie denn mit dem journalistischen Schreiben an?

 

Gegen Ende der Schulzeit und während der ersten Semester. Ich war auf eine Marktlücke aufmerksam geworden: Die Redaktionen schafften es nicht, solide Gedenk-Artikel zu schreiben. Zu hoch der Aufwand. Also suchte ich mir alle kommenden Jahrestage, hundertste Geburtstage und Todestage heraus, schrieb unaufgefordert Texte und bot sie an. So hatte ich plötzlich bei sechs Zeitungen und Hörfunkstationen feste Kontakte, schrieb über Stefan George, Achim von Arnim, Johann Peter Hebel, Oskar Loerke … immer lange Riemen.

 

Wer waren die ersten regelmäßigen Auftraggeber?

 

Radio Bremen, wo mich eine Redakteurin namens Ulla Hahn betreute, der Bonner Generalanzeiger, die taz, dann aber auch schon der Zibaldone, der Merkur mit »Gewalt als Unterhaltung« und »Kritik der Ohnmacht«, dann eine Reihe von kleineren Zeitungen. Der erste prämierte Text war »Die Bar als Lebensgefühl«, Wettbewerbsgewinner der Zeitschrift Italienisch.

Die Bar als Lebensgefühl

Roger Willemsen

für Donatella Ricci

Wir haben das Gasthaus, wir hatten das Wirtshaus. Das paßte zu uns. Man saß, gruselte sich und die Anderen, verbreitete allerlei Rauch, zündete Kerzen an; dann standen Gestalten hinter der Tür, die Wälder rauschten und trieben Gesichte und Märchen herein … Wir haben die Bar nicht, wir hatten sie nicht. Wir sitzen gern und bei geschlossenen Türen.

In Österreich kreuzte man das Gasthaus mit der Bar und erhielt das Kaffeehaus; das war etwas anderes, verwandelte sich aus Coffein und Aperçus in Literatur, in Geistesgeschichte und dann zurück in Sekundärliteratur und so weiter.

Die Bar verwandelte sich in gar nichts, sie wurde von selbst nichts und ist auch zu nichts gemacht worden, sie ist kulturell gesehen ein hoffnungsloser Schauplatz. Wohl sind Pavesische Romangestalten manchmal auf ihren schlaflosen Wanderungen dort aufgetreten, ihr unendliches Gespräch aber haben sie immer draußen geführt. Die Bar ist allenfalls der szenische Raum von Schlagertexten, dekoriert mit den ölgewollten Leinwandpromenaden eines lokalen Privatiers, sterblich unverkäuflich. Man sagt allerdings, die Fauvisten hätten einmal ihren Sitz im Florentiner ›Giubbe Rosse‹ gehabt, aber das ist unwahr. Nichts hat seinen Sitz, wo man nur stehen oder lehnen kann, und selbst wer lehnt, hat oftmals einen schweren Stand.

Man kommt und sieht und steht also, aber man steht nicht an: was man essen mag, entnimmt man den Vitrinen – saftige ›paste‹, schwitzende ›panini‹ – was man zu trinken wünscht, fordert man. Seinen Anspruch behauptet man nicht durch Anstehen, sondern durch Andrängen, als seine Artikulation gilt der Imperativ, keine ›forma della cortesia‹, kein Konjunktiv: ›Mi fa un caffè!‹ – »Die einzige rhetorische Figur, die ich kenne, ist die Wiederholung«, sagte Napoleon. Die gilt auch. – Erst dann lehnt man. Woran? An der Bar. Denn die Bar ist immer um die Bar gebaut und nur um sie. Das Wort ›Bar‹ soll übrigens vom altfranzösischen ›barre‹ (Stange) über das englische ›bar‹ (Schranke) zu uns gekommen sein; aber warum hält man denn dieser Schranke immerzu die Stange? Weil sie nichts beschränkt, nicht die Befugnisse, nicht die Güter, nicht die Menschen. Im Gegenteil: würde ein Bauwerk, ein Monument, ein Kunstwerk je die Menschen so einhellig, so oft, so unterschiedslos bei sich versammeln können, wie die anspruchslose, gebadete Architektur der Bar? Man stelle sich Menschen über einen Raum verteilt vor – würden sie je so freiwillig zusammenrücken wie vor dem unpathetischen Schimmern der Bar? Sie ist das kleinste gemeinsame Vielfache der italienischen Geselligkeit, ihre erste Nahrung, ihr frühestes Zuhause.

Lehnt man erst einmal an der Bar und taucht mit befangenen Augen auf vom schaumigen Spiegel eines ›cappuccio‹, so wird einem alles Genre und Gleichnis. Genre, weil diese Kulisse erst wird, wenn sie bevölkert ist, weil sie in der Musikalität des Lärms erst zu schwirren beginnt, weil sie mit Fragmenten von Unterhaltungen, die irgendwo begannen, irgendwo anders enden werden, wie bekleidet werden muß, um selbst aus den kleinen, ungemütlichen Requisiten heraus zu sprechen zu beginnen. Wenn Fetzen von Verständigung, aufgespießt von neuem Streit, neuem Witz, wenn die Sätze fliegen und in Anakoluth und Interjektion sich splittern, wenn Befehl und Lob, Werbung, Schmeichelei und Zuruf sich in barbarischen Tönen auflösen, dann kommt die Bar zu sich selbst, und er, der Barmann, das erste Bewußtsein des Chaos, dient heiterer. Und Gleichnis wird alles. Denn blickt man nochmals auf vom ›cappuccio‹, läßt vom Rudel der Geschäftigen ab und sucht die Tiefe der Bar, so wird man immer sein eigenes Gesicht finden, gespiegelt auf der Rückwand, zwischen Flaschen und bunten ›liquori‹. Szenischer Raum? Jetzt erst recht. Als Ansehender und Angesehener im Spiegel, in der Grundstellung der Erkenntnis, als eine Prudentia-Allegorie mit Glas oder Tasse, entdeckt man da, wo die Bar ihren letzten Grund haben sollte – sich selbst.

Und da man sich so wiederfindet, ohne sich noch verloren zu haben, sich findet, als Gesicht, als Blick, als Entsprechung, die durch den ganzen Raum von Bild zu Spiegelbild wie eine schwingende Saite verläuft, ereignet sich das Vermeidliche: man muß auf der Saite spielen – der Monolog ist eröffnet: In einer Florentiner Bar besprach ein Gemüsehändler fragmentarisch-ausgreifend das Werk Friedrich Nietzsches (denn in Florenz reden die Professoren von der Steuererhöhung und die Gemüsehändler über Geschichtsphilosophie), in Rom meditierte ein Mann lange über das Abholzen eines Baumes, unter dem er häufig gesessen hatte, in Syrakus brachte einer nach einem Monolog über Glanz und Elend der Lokalkurtisanen mit händedrückendem Bedauern in einem einzigen englischen Satz hervor: »We are like passing ships in the night …«

Jeder Monolog ist in der Bar ein Dialog, mit dem eigenen verblasenen Spiegelbild, mit dem Barmann, dem Glas, den Hereintretenden, dem unsinnig schwellenden Crescendo des beflügelten Raums. Es gehört zur Rhetorik der Bar vom Largo bis zum Allegretto hinauf, vom Presto bis zum Grave hinabspielen zu können, ohne daß je eines ganz glaubwürdig würde; es gehört zu ihrer Theatralik, sich selbst neben den Worten zu fühlen, sich zu inszenieren, treffsicher Nicht-Ich zu sein. Regisseur ist bei alledem der Spiegel, er korrigiert, unterstützt, lobt. Man bringt in die Bar nichts mit, man wird alles und man kann alles werden, weil alles barfähig ist, selbst das, was nicht mehr gesellschaftsfähig ist. Wo trinken die Rentnerverkäufer der ›Lotteria di Merano‹ ihren ›vinsanto‹? Wo die Fassadenreiniger des Palazzo Vecchio ihren Espresso? Wo sucht das Parkettpublikum der Scala in der Pause seinen ›spumante‹? In der Bar.

Das Wesen der Bar ist die Verinnerlichung der Straße. Bars sind Leibesöffnungen von Straßen, sind Nervenpunkte des italienischen Lebens überhaupt. Man versteht dessen Vitalität nicht, wenn man die Bar nicht versteht – und versteht man sie, so versteht man sich selbst bald nicht mehr, seine Isolationswut, seine ganze existentielle Appetitlosigkeit. Die Bar ist eine Duzform des Alltags, mit einer Musikalität, die nicht nach dem Radio verlangt, mit einem Witz, der nicht auf laubgesägte Täfelchen schreibt und nicht auf einem freien Fleck erhängt werden kann, mit eigenen Gezeiten und eigenen Genüssen. Die wichtigsten beiden Gänge zur Vollendung des italienischen Alltags heißen Bar: Aperitivo und Digestivo. Man kostet die Laune der Straße – und geht in die Bar; man verströmt sich in ›passeggiate‹ – und geht in die Bar; die Straße steigt schließlich zu Kopfe – man geht in die Bar. Das Nervenende der Straße heißt ›Bar‹, man verweilt hier nicht, man stößt sich ab, von innen betreibt man allezeit seine äußeren Geschäfte, mit der Straße hat man immerzu zu schaffen. Darum hat die Bar drei Sinnesorgane: den Spiegel, der das Innen doppelt, das Fenster, das das Außen spiegelt, das Telephon, das die Entfernung hereinholt. Dies Telephon versammelt durch die Stimme des Telephonierenden die Abwesenden in den Kreis der Anwesenden. Ungeschützt vor den Ohren des Raumes tritt die drängendste Entfernung durch das Außen ins Innen, durch die rasche, präzise Telephonstimme beschworen, treten sie heraus: Geliebte, verbotene Freunde, Flüchtige, neue Bekannte, selten Geküßte, Ausschweifende.

Die Bar ist immer am nächsten, von hier ruft die Vergnügungssüchtige die Freundin an, mit der der Freund allen Umgang verboten hat, hier weist der Gigolo den beiden Touristinnen mit drei ›vini bianchi‹, über den Stadtplan gelehnt, den richtigen Weg. Die Bar, das ist die Allpräsenz der Temperamente, das ist der Zeitentiegel mit dem Meinungssud und die Institutionalisierung des Persönlichen. Darum ist, wer die Bar bedient, meist irgendwie weise. Er hat im Leben zu viel gesehen und getrunken, um wirkliche Erregung zu empfinden, in der Läuterung jahrzehntelanger Barzeit ist er allein zuletzt oft stoisch-echt geworden. Aber das muß nicht sein, alles ist barfähig: die alte Frau, die beständig genüßlich über ihren farbigen ›liquori‹ schnüffelt und, ›ci si diverte un po’‹, die Schönheit des Lebens durch Flaschen verteidigt, oder ihre Tochter, die, halb mütterlich, von ausströmender Sinnlichkeit, den halben Augenaufschlag der ganzen Runde schenkt, oder deren Tochter, jung, herb und präzis im Ausschank, mit sehr geschwindem Lächeln, oder der weinselige Alte, der seine Bar ›Rondini‹ nannte, oder der Junge, an dessen Witz sich die Geschwindigkeit der italienischen Replik studieren läßt, oder die Witwe oder der Pensionär oder der alternde Lebemann, der philosophierende Kraftwagenfahrer, der frühere Küster.  

Die Bar also, die für sich nichts ist, nichts wurde, ist ein Lebensgefühl. Die Philosophie dieses Gefühls lautet: Wer sind wir? Italiener. Woher kommen wir? Aus der Bar. Wohin gehen wir? In dieselbe. Wenn alle Bars erloschen sind, geht in Italien der Tag zu Ende. Lange noch haben sich zuvor hinter dem halbgeschlossenen Lid der eisernen Jalousie die Verspäteten an den Flaschen erwärmt, dann sind sie in die Nacht hinausgeschwärmt, und auf der silbermetalligen Bar bleiben nur die kleinen, süffigen Lachen zurück und dazwischen die unzähligen, braun angelaufenen Fingerabdrücke der Besucher eines Tages. Da nimmt der Barmann den Lappen und wischt sie weg mit dem Schwung des Croupiers, der seinen imaginären Kunden zuflüstert: faites les jeux!

Wie kamen Sie nach Italien?

 

Ich wollte nach dem Grundstudium ins Ausland, eigentlich nach Wien. Die Wiener Kultur hatte mich immer besonders beschäftigt. Hofmannsthal, Schnitzler, Karl Kraus waren Leitbilder, auch Musil natürlich. Drei Wochen lang suchte ich in Wien eine Wohnung, machte aber bizarre, auch hässliche Erfahrungen. Als ich zuletzt eine Wohnung anschaute, für die ich eigentlich schon eine Zusage hatte, drehte sich die Vermieterin auf der Treppe plötzlich um und fragte: »Ach, übrigens: Sind Sie Ausländer?« – »Ja, Deutscher.« Daraufhin nahm sie, mit verlangsamter Grazie, ihren Schlüssel, steckte ihn im hohen Bogen wieder in die Schürze und sagte: »Dann tut es mir leid.«

 

Kriegsfolgen?

 

Vielleicht. Aber wir waren halt immer schon Piefkes. In meiner Enttäuschung sagte ich zu einer Freundin, die mich zum Nachtzug brachte: »Jetzt gehe ich nicht nach Wien.« Und sie fragte, wo ich denn dann hinwolle, und ich erwiderte: »Jetzt gehe ich nach Florenz.«

 

War Italien für Sie ein ähnliches Erweckungserlebnis wie für Goethe?

 

Ich hatte schon Reisen nach Sardinien und Sizilien hinter mir. Jetzt aber ging ich jeden Tag in die Via Giuseppe Giusti, setzte mich in das Deutsche Kunsthistorische Institut und arbeitete akribisch an meinem Forschungsauftrag über die Kunsttheorie der Frührenaissance. Ohne Publikationswillen, einfach so.

 

Den Auftrag hatten Sie sich gegeben?

 

Man bekam eine Zulassung nur mit Forschungsvorhaben. Mein Bonner Professor Müller-Hofstede beantragte es für mich, und nun las ich mich quer durch die ganzen Quellenschriften der Frührenaissance, lebte in Settignano auf den Hügeln in einem Kloster, lernte auf den Busfahrten in die Stadt Gedichte aus Rudolf Borchardts Ewigem Vorrat deutscher Poesie auswendig und besuchte in den nächsten Monaten bestimmt fünfzig italienische Städte. Eines Tages fand ich einen Aushang am Institut: Reiseführer gesucht. Wenig später führte ich eine Münchener Reisegruppe durch Florenz, in den nächsten Jahren dann einige durch Umbrien und die Toskana.

 

War das eine einsame oder eine gesellige Zeit?

 

Gesellig. Einsam nur nach meinen Vorgaben. Ich befreundete mich mit einem amerikanischen Maler, mit dem ich später Straßentheater machte, lebte zuerst in einer Wohngemeinschaft mit einer Argentinierin, zwei Amerikanern und einem Türken. Darauf zog ich dann in das Benediktiner-Olivetaner-Kloster mit vier Mönchen und drei Weltlichen. Sehr pittoresk im Nachhinein.

 

Aber schon eine Zeit, in der Sie noch, blumig gesprochen, »unterwegs« waren. Zumindest haben Sie einmal geschrieben, dass Sie sich das erste Mal zu Hause gefühlt hätten, als Sie Anfang der 1990er Jahre im Londoner East End wohnten.

 

Die Enklave in Italien war eine Gesellschaft der Boheme, die sich vor allem künstlerischen Fragen widmen wollte. Mit dem Maler Peter Hoyle, der auch im Kloster wohnte, stand ich morgens um sechs Uhr auf und ging in die Bar an der Piazza, die zwei alten Frauen gehörte. Wir stellten ihnen die Stühle raus und setzten uns dann zum Frühstück hin. Jeden Tag stellte er mir eine neue Frage zur Kunsttheorie von Platon bis Panofsky, dann ging Peter in die Hügel, um zu malen, ich fuhr ins Institut und forschte. Abends trafen wir uns wieder.

 

Diese Boheme-Kreise ermöglichen nicht das Gefühl zu Hause zu sein?