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Mit sanftem Ton und warmem Humor erzählt Frode Grytten von einer großen Liebe und dem Glück eines einfachen Lebens
An einem ruhigen Novembertag beschließt Nils Vik, dass dies der letzte Tag seines Lebens sein wird. Er trinkt einen Kaffee, schließt sein Haus ab und begibt sich ein letztes Mal zu seiner Fähre, mit der er sein Leben lang Menschen über den Fjord gefahren hat. Doch nun führt eine Brücke über das Wasser, sein Boot hat seine Aufgabe erfüllt. Und auch Nils Vik hat die Aufgaben seines Lebens erfüllt. Auf dieser letzten Fahrt durchstreifen noch einmal die Menschen, die seinen Weg kreuzten, seine Gedanken und verweilen für eine Weile an seiner Seite, auch seine große Liebe Marta. Bis es für den Fährmann an der Zeit ist, den letzten Teil seiner Reise anzutreten.
Mit großer Klarheit und Empathie erzählt Frode Grytten von einem Mann, der sich mit dem Leben und dem Tod aussöhnt, und schreibt gleichzeitig eine Hymne auf die norwegischen Fjorde und die Menschen, die so fest mit ihnen verbunden sind.
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mit sanftem Ton und warmem Humor erzählt Frode Grytten von einer großen Liebe und dem Glück eines einfachen Lebens.
An einem ruhigen Novembertag beschließt Nils Vik, dass dies der letzte Tag seines Lebens sein wird. Er trinkt einen Kaffee, schließt sein Haus ab und begibt sich ein letztes Mal zu seiner Fähre, mit der er sein Leben lang Menschen über den Fjord gefahren hat. Doch nun führt eine Brücke über das Wasser, das Boot hat seine Aufgabe erfüllt. Und auch Nils Vik hat die Aufgaben seines Lebens erfüllt. Auf dieser letzten Fahrt nimmt er in Gedanken noch einmal all die Menschen mit an Bord, die seinen Weg kreuzten. Auch seine große Liebe Marta. Bis es für den Fährmann an der Zeit ist, den letzten Teil seiner Reise anzutreten.
Mit großer Klarheit und Empathie erzählt Frode Grytten von einem Mann, der sich mit dem Leben und dem Tod aussöhnt, und schreibt gleichzeitig eine Hymne auf die norwegischen Fjorde und die Menschen, die so fest mit ihnen verbunden sind.
Frode Grytten, geboren 1960, hat Romane, Kurzgeschichten, Gedichte und Kinderbücher geschrieben. Nach einer zehnjährigen Pause erschien 2023 in Norwegen sein Roman »Der letzte Tag des Fährmanns«. Der Roman erscheint in 20 Ländern und wurde mit dem Brage-Preis ausgezeichnet. Frode Grytten lebt in Bergen.
»›Der letzte Tag des Fährmanns‹ ist eine warmherzige und berührende Geschichte über die einfachen und intimen Aspekte des Lebens, die zugleich eindrücklich von Freundschaft, Liebe und Tod erzählt.« Aus der Jurybegründung des Brage-Preises
»›Der letzte Tag des Fährmanns‹ ist ein unsentimentaler, warmherziger Tribut an einen Alltagshelden der Fjorde.« Dagsavisen
»Ist es traurig? Nein. Natürlich ist es bittersüß, aber vor allem ist es ein sowohl poetischer als auch überraschender Roman.« VG
www.penguin-verlag.de
FRODE GRYTTEN
Roman
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Den dagen Nils Vik døde bei Forlaget Oktober, Oslo.
Die Publikation der Übersetzung wurde von NORLA, Norwegian Literature Abroad, gefördert
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Copyright © der Originalausgabe 2023 by Frode Grytten
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagabbildung: © Rawpixel.com, Anna_Zaitzeva, Martin Charles Hatch / Shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32738-5V002
www.penguin-verlag.de
Am frühen Morgen um Viertel nach fünf schlug Nils Vik die Augen auf, und der letzte Tag seines Lebens begann. Er verweilte zunächst irgendwo zwischen Traum und Wachzustand in der Annahme, wie üblich wieder in den Schlaf zu sinken. Doch der Tag war jetzt da. Er drehte sich auf die andere Seite und nahm ganz allmählich das Zimmer in sich auf, den Radiowecker, die durch das Fenster kriechende Kälte. Soweit er sehen konnte, waren auf dem Kopfkissen heute keine Blutflecken. Wovon hatte er geträumt? Ja, eine Hand auf dem Weg durch seine Haare, Finger auf seiner Wange, eine Stimme, die im Dunkeln auf ihn zu kam. Ich warte unten auf dich, Liebster.
Er setzte die Füße auf den kalten Boden, ging ins Badezimmer, zog die Schlafanzughose herunter und erleichterte sich von der Last der nächtlichen Pisse. In einem einzigen langen Seufzer ergoss sie sich in die Kloschüssel. Er nahm in Angriff, was getan werden musste. Noch war er in der Lage, das morgendliche Ritual mit effektiven Bewegungen auszuführen. Aufstehen, Kleider raussuchen, Kaffee kochen, Frühstück machen, bei jedem Wetter zum Boot gehen. Diese Bewegungen, die sich ihm über ein ganzes Leben eingeprägt hatten.
Unter der Dusche sah er, wie Wasser über weiße Haut lief. Am Waschbecken zog er die Rasierklinge über Wangen und Unterkiefer, Hals und Adamsapfel. Seine rechte Hand zitterte leicht, er musste aufpassen. Er wollte nicht mit einem Pflaster auf der Oberlippe oder einem blutigen Fetzen Papier am Kinn über den Fjord fahren. Was noch? Zähne? Hände? Pomade? Er erwog, das Aftershave wegzulassen. Aber dieser Tag sollte nicht anders sein als der gestrige Tag oder der Tag davor oder alle anderen Tage vor diesem.
Der Mann im Spiegel. Ein Mann von mittlerer Statur, kompakt und muskulös, Haare, die einmal dunkel gewesen waren, jetzt mit grauen Einsprengseln durchsetzt. Grobe Gesichtszüge, hohe Stirn, schmale Augen, Brauen, die gestutzt werden müssten. Die Schwerkraft hatte das Ihre dazu beigetragen, gern sagte er, dass nur noch seine Füße aussahen wie er selbst. Er hielt dem Blick stand. Der Mann im Spiegel starrte zurück, ließ die Arme sinken, versuchte zu lächeln. Er war ein Mann, der gern Bescheid wusste über das, was um ihn herum passierte. Das Wetter. Den Wind. Die Zeit. Jetzt sah er einen Mann, der nicht länger wusste, wohin er unterwegs war.
Stimmen drangen durch die Luft in den ersten Stock. Nils ging die Treppe hinunter, sein Blick fiel auf einen Stuhl in der Küche. Im Kissen war eine kleine Delle, eine Mulde, die ihm bisher nicht aufgefallen war, als wäre jemand in der Nacht hier eingebrochen und wartete nun auf ihn. Ansonsten war alles wie immer. Das Brummen des Kühlschranks, dreckige Teller in der Spüle.
Irgendwo im Haus plapperte eine Stimme. Nils machte kehrt und folgte dem Geräusch. Das Transistorradio stand im Flur, den Apparat musste er gestern Abend angelassen haben. Er nahm das Radio mit in die Küche. Was würde heute für ein Tag werden? Ein ruhiger Novembertag mit Regen. Die Stimme im Radio konnte vermelden, dass es später aufklaren würde, es könnte sogar die Sonne scheinen. Am Fjord war ein Hirsch in ein fahrendes Auto gesprungen. In der Stadt war ein vermisster Junge von der Polizei aufgespürt worden. Auf einer Fähre war ein Feuer ausgebrochen.
Nils kochte Kaffee, schenkte sich ein und rührte zwei Zuckerwürfel hinein. Er war noch nicht ganz da, bestrich eine Scheibe Brot mit Sirup, blieb aber reglos sitzen und starrte sie an. Seine Magenprobleme hatten zur Folge, dass sich jede Mahlzeit hinzog und sinnlos war. Während er kaute und jeden Bissen nur mithilfe von Kaffee hinunterbekam, schaute er sich im Wohnzimmer um. Die alten Möbel waren dunkel und schwer, als sollten sie für immer hier stehen. Drei Generationen waren durch diese Zimmer gegangen, waren wie Insekten herumgeschwirrt, hatten die Stockwerke mit Leben und Freude gefüllt.
Noch immer hingen Fotos von Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und von Tagen vor diesem letzten Tag oben an der Wand oder standen gerahmt auf der Anrichte. Sein ganzes Leben hatte er hier verbracht, zuerst mit Mutter, Vater und Bruder, später mit Frau und zwei Töchtern. Er wusste nicht, was mit dem Haus passieren würde, wenn er nicht mehr wäre. Im Sommer hatte er sich Eli und Guro zur Brust genommen, hatte sie am Küchentisch Platz nehmen lassen und gesagt, sie müssten sich einig werden, wer was bekommen sollte. Er wolle keinen Streit über das Elternhaus, wenn er nicht mehr da wäre, er habe viel zu viele Geschwister erlebt, die bei der Beerdigung der Eltern zum letzten Mal ein Wort miteinander gewechselt hätten. Seine Töchter hatten die Sache ins Lächerliche gezogen, sie hatten gelacht und gegrinst, aber sie hatten ihm versprochen, dass es keinen Streit geben würde.
Nils drehte sich um und streckte sich nach der Küchenschublade, nahm einen Stift und eine Postkarte heraus. Darauf war der Fjord an einem Sommertag mit Sonne und weißen Schönwetterwolken über den Bergen zu sehen. Mit zittriger Hand schrieb er einen kleinen Gruß quer über den Himmel. Er lehnte die Karte an den Kaffeebecher. Was würden die Mädchen denken, wenn sie die Karte fänden? Würden sie lächeln? Würden sie heulen? Ich bin weggefahren und kehre nicht mehr zurück. Passt gut auf euch auf. Vater.
Nachdem er um halb sieben die Nachrichten gehört hatte, stand er auf und bedankte sich für das Essen. Das tat er nach jeder Mahlzeit, auch nachdem seine Frau gestorben war. Danke, Marta, sagte er und schaute zu dem Küchenstuhl, der einmal ihrer gewesen war. Als sie noch lebte, hatte sie sich nach dem Essen über den Tisch gebeugt, ihre Hand auf seine gelegt, seinen Handrücken gestreichelt und gesagt, gern geschehen.
Er ging hinaus, um die Zeitung zu holen. Seine letzte Zeitung. Sie war etwas zerfleddert, nachdem sie im Regen gelegen hatte. Auf der Titelseite stand: Nach einer Stunde lebend aus der Tiefe gezogen. Unter der Überschrift Traumdebüt war ein Fußballspieler abgebildet. Sollte er sich hinsetzen, um sie zu lesen? Nein, diese letzte Zeitung sollte ungelesen bleiben. Er ging in den Keller und legte sie auf den Zeitungsstapel. So gehörte es sich, seine Pflichten erledigen, auch die allerletzte Zeitung an ihren Platz räumen. Die Leute waren überrascht, wenn sie mit ihm in den Keller gingen und all die Zeitungsstapel sahen. All die Tage, all die Jahrgänge, all die verlorene Zeit, die hier gestapelt lag, seit dem Tag, an dem er den Auftrag erhalten hatte. Früher einmal war er der Mann gewesen, der den Leuten am Fjord die Zeitung brachte, der ihnen Kriege, Brände, Morde, Wettervorhersagen, Wahlergebnisse, Fußballergebnisse, Anzeigen von Autos, Anzügen und Fernsehern servierte.
Wir können den Keller nicht mit der Vergangenheit vollstopfen, hatte Marta gesagt.
Nicht?
Nein, außerdem brennen die Zeitungen wie Zunder.
So ist die Welt, Marta.
Sie sagte es nicht laut, aber Nils begriff, dass sie sich gern von den Zeitungen getrennt hätte, die zuerst auf Stühlen, Decken und Tischplatten landeten, ehe sie in den Keller wanderten. Sie mochte die Druckerschwärze nicht, die sich in Tischdecken und Kleidern festsetzte, sie war sogar der Ansicht, die Tapete im Wohnzimmer hätte von den frischen Zeitungen Flecken davongetragen. Nils hatte geantwortet, es sei doch schön, wenn die Muster an der Wand von kleinen und großen Ereignissen draußen in der Welt herrührten, aber er war sich sicher, dass die Spuren von seinem Haaröl stammten. Wenn er nach einer Nacht auf dem Fjord besonders erschöpft war, kam es vor, dass er sich neben der Tür an die Wand lehnte und im Stehen einschlief, so wie Pferde es tun. Sie hatten versucht, die Flecken wegzuwischen, aber alles Wischen hatte die Sache nur verschlimmert, die Flecken hatten sich ausgedehnt, ähnelten Karten von fremden Kontinenten.
Nils überlegte, ob im Haus noch mehr getan werden müsste. Sollte er etwas mitnehmen? Was nimmt man mit, wenn man weiß, dass man nicht mehr zurückkommt? Er holte die Omega aus dem Eckschrank und stellte fest, dass die Zeiger am neunzehnten irgendeines vergessenen Monats um kurz nach zehn stehen geblieben waren. Er zog die Uhr auf und stellte sie neu. Viertel vor sieben? Achter November? Neunter? Nein, achter November natürlich. Nils hatte die Uhr zur Silberhochzeit bekommen. Marta hatte für dieses Geschenk viel Geld ausgegeben, und es kränkte sie, dass er im Alltag immer noch die alte trug. Er hatte ihr erklärt, dass er Kratzer und Schrammen im Glas vermeiden wollte, bei seiner Arbeit konnte er nicht mit so einer edlen Uhr herumlaufen.
Er ging wieder hinauf ins Schlafzimmer, zog das Bett ab und legte alles auf einen Haufen. Dann hob er die Matratze aus dem Rahmen und schob den ganzen Plunder zur Treppe. Er bugsierte die Matratze die Stufen hinunter und durch den Flur, zog sich die Schuhe an, machte die Tür auf und stieß die Matratze auf den Schotter. Streichhölzer und Paraffin hatte er schon bereitgelegt. Er zog die Matratze ein Stück von der Hauswand weg und zündete sie an. Zweimal im Jahr hatten sie die alte Matratze in den Garten getragen, um den Schlafgeruch daraus zu entfernen und den durchgelegenen Fasern neues Leben einzuhauchen. Wenn sie die Matratze zurück in den Bettrahmen legten, sorgten sie stets dafür, dass die andere Seite nach oben kam, sodass sie auf jeder Seite sechs Monate lagen.
Die Matratze schwelte eine Weile vor sich hin, ehe sie richtig Feuer fing. Die Oberfläche war voller Flecken. Nils Vik starrte auf dunkle Blutringe, gelbe Urinblüten, Muttermilchflecken und Jahrzehnte an Sperma, Schweiß, Hautfetzen, Haaren und abgebrochenen Nägeln, Spuren von Kaffee und Marmelade im Bett an Geburtstagen, Hoffnungen und Freuden, die er vergessen hatte und die jetzt in Rauch aufgingen. Er meinte sogar, den Abdruck ihres Körpers zu erkennen, wie sie zu einem S geformt auf ihrer Bettseite lag, aber vermutlich bildete er sich das nur ein. Die Matratze erzählte von einem ganzen Leben. Es fühlte sich zu intim an, als dass andere Menschen, möglicherweise sogar völlig fremde Menschen sich ihrer Vergangenheit annehmen sollten. Nils ging die Treppe hinauf, drehte sich um und sah die Matratze auf dem Schotter lichterloh brennen.
Kurz nach sieben ging Nils Vik zum allerletzten Mal durchs Haus. Unter seinen Füßen knarrten die Dielen. Das Treppengeländer in seiner Hand fühlte sich kühl an. Er schlüpfte in einen Wollpullover, griff nach der Seemannsjacke, schnappte sich die Zigarettenschachtel und nahm die Schiffermütze vom Haken. Dann kramte er in der Jackentasche nach dem Schlüsselbund und fand ihn.
Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Das hatte er sich zur Gewohnheit gemacht in der Annahme, die Fahrt verlaufe besser, wenn er sich vorher einen Moment hinsetzte. Einfach in aller Ruhe dasaß. Über Dinge nachdachte. Den Kopf freikriegte. An diesem Morgen fürchtete er, er könnte sitzen bleiben, es würde ihn nicht mehr zum Boot ziehen. Er war bereit loszufahren, und er wollte sitzen bleiben. Mit pochendem Herzen stand er auf. Beim letzten Arztbesuch hatte er erfahren, dass sein Herz sehr geschwächt sei. Der Arzt hatte ihn ernst angeschaut und gesagt, er mache sich Sorgen um Nils’ Herz. Was für eine Farce, Zeit für eine Diagnose aufzuwenden, die er selbst innerhalb von einer Minute hätte stellen können.
Auf der Außentreppe blieb er einen Augenblick stehen, hörte ein Flüstern und Seufzen im Haus, leise Stimmen, Streitereien, das Radio mit den Angelnachrichten, Schritte und ein Summen, die Toilettenspülung. Marta, die mit den Mädchen Karten spielte, das Gurgeln der Kaffeemaschine, Türen, die auf- und zugingen. Er zog den Schlüssel heraus und wollte schon abschließen, ging aber noch einmal hinein, um das Radio und den Flachmann zu holen. Dann knipste er die Außenleuchte an, die er gerade ausgemacht hatte. Marta hatte immer gewollt, dass ein Licht am Haus anblieb, eine Lampe, die die ganze Nacht hindurch brannte. An ihr könne Nils sich orientieren und den Heimweg finden, falls er draußen auf dem Fjord Probleme bekomme. Daran hatte er festgehalten. Es gab keinen Grund, heute etwas anders zu machen. An diesem Haus brannte immer ein Licht.
Der Tag hatte noch keine Farben bekommen. Das Gras war niedergetrampelt und zeigte herbstliche Flecken. Es hatte aufgehört zu regnen. Er liebte diese aufgeladenen, unberührten Morgenstunden, wenn sich der Nebel wie Milch über die Berghänge ergoss. Zum Boot gehen, am Steuerrad stehen, sich eine Zigarette anzünden, die Glut auf und ab wippen sehen. Unten beim Schotterweg tauchte ein Schatten auf. Luna löste sich aus dem grauen Dunst. Die Hündin sprang an ihm hoch, drehte und wand sich, grinste und kicherte.
Hoho!, rief Luna. Hier bin ich! Hier unten! Hier!
Nils musste lachen. Wo kam der Hund her? Von der anderen Seite? Von der nächsten Welt? Wie viele Jahre war es her, dass Luna auf die Straße gerannt war und von einem Lastwagen erfasst wurde? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Sie hatte immer geduldig im Ruderhaus gesessen, hatte auf die Wellen, den Regen und die Lichter am Fjord gestarrt. Irgendwann hatte die Hündin angefangen zu reden, sie hatte Menschen, Ereignisse und das Wetter kommentiert. Komischer Typ!, sagte Luna zum Beispiel. Die Frau ist nicht ganz dicht!, sagte sie. Was für ein schöner Tag! Was haben wir nicht alles zusammen erlebt, Nils!
Mit der Zeit konnte er mit Luna über alles Mögliche reden, über Boote und Flugzeuge, Politik und Fußball. Jetzt ging sie wieder gehorsam neben ihm, verspielt und glücklich, ging bei Fuß bis hinunter zum Wasser und zum Bootshaus. Dort drückte er die windschiefen Fenster von außen zu, ehe er die Tür aufmachte. Hallo?, rief er halblaut in die Dunkelheit, sog den Duft von Diesel und verrottendem Fischernetz ein. Er hatte gehofft, sie würde vielleicht hier auf ihn warten, aber als er das Licht anknipste, sah er, dass er allein war.
Nils ging zu den Fenstern und hakte sie von innen ein. Er hatte für das Bootshaus, vielmehr für das ganze Grundstück mehrere Kaufangebote erhalten, aber er hatte den Maklern und Baufirmen klargemacht, dass nichts davon zum Verkauf stand. Willst du nicht doch verkaufen, Nils?, hatten die Nachbarn gefragt. Alle hatten sie verkauft. Vika war jetzt voller Feriengäste, Städter, die sich bis vor an die Wasserkante drängelten, solche, die innen alles ausbauten, heimlich renovierten und dann bei der Gemeinde eine Nutzungsänderung beantragten. Eines schönen Tages fällt dir das Dach auf den Kopf, Nils!, sagten die Leute. Sieh nur, wie es bei dir reinregnet! Aber sein Bootshaus stand unerschütterlich da. Alles wurde älter, alles war im Verfall begriffen, alles war gemacht, um kaputtzugehen. Sein Bootshaus aber stand unerschütterlich da.
Dort drüben in der Ecke, unter einem Dach, das schwer über ihren Köpfen ruhte, war ihre älteste Tochter gezeugt worden. Er erinnerte sich an den Regen, er erinnerte sich an die Hose in den Kniekehlen und wie Marta die Spermien kommentierte, die langsam in ihr hochschwammen, um dann wieder aus ihr herauszusickern. Vielleicht schafft es eine davon ins Ziel, hatte sie gesagt. Und so war Eli entstanden. War es so passiert? Oder hielt er an der Version nur als Teil der Erzählung ihres Lebens fest? Doch, so war es passiert, aber bei derlei Dingen konnte man sich nie zu hundert Prozent sicher sein. Er nahm Hammer und Zange vom Werkzeugregal und entfernte zwei Glieder aus dem Stahlarmband der Omega. Seit er die Uhr zuletzt getragen hatte, schien er dünner geworden zu sein, ja er war schrumpliger und zerbrechlicher geworden. Er griff nach Schmieröl und Ölzeug und ließ das Schnappschloss einrasten, hörte es ein allerletztes Mal hinter sich klicken.
An diesem Morgen herrschte Ebbe, ein ruhiger Tag, nicht still, am Fjord ist es niemals still, es rumpelt und raschelt, es wispert und rauscht, selbst an Tagen ohne Wind. All diese Geräusche, mit denen er sich so gut auskannte, all der Krach und der Lärm, den zu verstehen und zu deuten er gelernt hatte. Am Kai kletterte er die Leiter hinunter und bestieg das Boot, körperlich schwächer und steifer, jedoch mit ausreichend Muskelspannung, um sicher an Bord zu gelangen. Luna wartete kurz am Anleger, drehte sich mehrmals um sich selbst und trippelte auf der Stelle, ehe sie ihren Mut zusammennahm und an Deck sprang.
Was war das für ein Boot? Die MB »Marta«, ein Boot, das ihm gute Dienste geleistet hatte, ein Boot, das er gleich nach dem Krieg gekauft hatte, voller Optimismus und Zuversicht. Es war ein Boot, das das Meer bezwang, das Wind und Wellen trotzte. Ein Boot aus Eichenholz, sechsunddreißig Fuß lang, neun Fuß breit, weiß gestrichen mit roten Rändern an Rumpf und Kajüte. Es war ein stattliches Segelboot gewesen, er hatte die Segel entfernt und einen zwölf PS starken Verbrennungsmotor eingebaut. Er hatte eine Kajüte und ein Ruderhaus gezimmert, hatte vierzehn Monate gebraucht, um das Segelboot in eine Fähre zu verwandeln.
Er warf den Motor an, der auf Anhieb ansprang, wie am Schnürchen lief, bei jedem Wetter. Der Kolben erwachte zum Leben. Zwischen den Bolzen zuckten Blitze. Der Verteiler versorgte die Zylinder mit Strom. Aus dem Motorraum stieg Dieselgeruch auf wie Gerüche aus einer Küche. Das Steuerrad in seinen Händen begann leicht zu zittern. Er lauschte dem Stampfen und Klopfen, dem beruhigendsten Geräusch der Welt, diesem Herzen, das all die Jahre mit starken, zähen Muskeln unter ihm gearbeitet hatte.
Über den Fjord geht es. Zügig über den Fjord. Wie so viele Male zuvor. Spät und früh. Morgens und abends. Bei Sturm und bei Windstille. Nach Ost und nach West. Nur die Möwen folgen ihm, sie flüstern und klagen, wirken unnatürlich weiß, wie sie dort über dem Boot schweben. Das einzige Anzeichen für Menschen an diesem Morgen sind die Leuchte am Haus und die Scheinwerfer eines Autos, das sich am Westufer vorarbeitet.
Nils Vik dreht sich um. Er meint, am Haus eine Rauchsäule aufsteigen zu sehen, die Matratze dürfte jetzt verbrannt sein, zu Asche reduziert. Bald schiebt sich das Haus aus seinem Blickfeld. Wenn er sich das nächste Mal umdreht, wird er es nicht mehr sehen können. All seine Minuten finden sich hier, all seine Stunden, all seine Tage. Nach all den Jahren hat er gelernt, dass ein gutes Haus eine Festung ist, eine Hülle um den Körper, eine Schutzschicht, die auf Haut und Kleider folgt. Darin konnte man sich aufhalten, kochen, Kinder zeugen, schlafen, aufwachen, essen, scheißen, pissen, lieben.
Es ist kurz vor halb acht. Es ist Morgen, trotzdem Nacht, noch wird die Dunkelheit in den Schlafzimmern zurückgehalten. Die Leute haben zum Schlafen die Decke über sich gezogen. Bald werden sie Frühstück machen, bald werden sie zum Stall gehen, um nach den Tieren zu schauen, sie werden die Melkmaschinen anwerfen, werden Schleppnetze und Reusen kontrollieren, sie werden zu Fußballspielen und Familienessen fahren. Die Glocken werden zu Gottesdiensten läuten, die Schläge lassen die Wasseroberfläche erzittern. Ihm ist die Zeit davongelaufen. Seit einer Weile schon ist alles eine Frage der Zeit. Es ist immer eine Frage der Zeit. An diesem letzten Tag wird er einen Faden durch die Zeit spannen, ihm auf dem Weg in die Vergangenheit folgen, schauen, wohin er ihn führt. Er wird die übliche Route nehmen, oder die üblichen Routen, zum allerletzten Mal. Er wird aufzeichnen, was er im Leben geliebt hat, es ins Licht halten und ehren. Denn wenn er es nicht tut, wer dann?
Ach, sagt Luna und wirft Nils einen Blick zu.
Sie sagt noch ein paarmal leise ach, eine Art Seufzer im Ruderhaus. Das Boot liegt jetzt gut im Wasser, erzeugt kleine Bugwellen, während sie über eine dunkel und rätselhaft daliegende Oberfläche gleiten. Nils dreht sich nicht um, dreht sich nicht um, dreht sich nicht um, starrt durch die Scheibe.
Ach, sagt Luna noch einmal.
Halt die Klappe, sagt Nils.
Hab nichts gesagt, sagt der Hund.
Woher weiß man es? Die Blutflecken auf dem Kissen? Die rosa Farbe in der Kloschüssel? Man kann es unmöglich wissen. Ihn überrascht nur, dass dieser letzte Tag bisher allen anderen Tagen gleicht. Nils ist aus demselben Bett gestiegen, hat dasselbe gefrühstückt wie immer, ist langsam zu dem alten Boot geschlendert. Jetzt ist er auf demselben Fjord unterwegs, ein kurzes Zögern in der Landschaft, ehe sich alles ausdehnt.
Luna starrt ihn mit Augen wie zwei nasse Fragezeichen an.
Woran erinnerst du dich am besten, Nils?, fragt sie.
Weiß nicht.
So vieles ist für ihn verloren, so vieles ist fort, eine Abwesenheit, die bald alles umschließen wird. Vielleicht sollte er in den Logbüchern nachschauen. Sie liegen doch noch hier? Ja, dort sind sie. Kleine blaue Logbücher, eins auf dem anderen, rund fünfundzwanzig Stück. Er hat nachgedacht und in die Luft gestarrt, dann hat er ein paar Zeilen hingekritzelt. Er hat sogar an seinem rechten Handschuh die Fingerkuppen abgeschnitten, um den Stift besser halten zu können. Was hielt er für würdig, aufgeschrieben zu werden? Wind und Wetter natürlich. Politik und Geografie. Er hat mit dem Stift Kringel auf das Blatt gemalt und Zitate aus der Zeitung abgeschrieben. Er hat Mannschaftsaufstellungen und Terminlisten angefertigt. Er hat aufgeschrieben, welche Fahrpreise er genommen hat, und um jeden Betrag einen kleinen Kreis gezeichnet.
Er hat für die Menschen ein kleines Wartezimmer in der Zeit geschaffen, ja, sogar Schafe und Ziegen hat er transportiert. Alle möglichen Leute haben sich bei ihm zusammengekauert, für Minuten, für Stunden. Dann sind sie an Land gegangen, haben sich verteilt, diese Menschen,
