Der letzte Tanz - Douglas Smith - E-Book
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Der letzte Tanz E-Book

Douglas Smith

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Beschreibung

Der Untergang des russischen Adels – eine Tragödie um Terror und Tod in einer entfesselten Welt. Erstmals erzählt der renommierte Historiker Douglas Smith die ganze Geschichte. 1917 wird die russische Aristokratie im Mahlstrom der bolschewistischen Revolution vernichtet. Douglas Smith beschreibt die berührenden Schicksale und menschlichen Dramen, die sich dahinter verbergen. Er erzählt von nächtlichen Fluchten, plündernden Bauern und brennenden Herrenhäusern. Im Mittelpunkt stehen zwei der mächtigsten Familien des Zarenreiches, die Scheremetews und die Golizyns, deren Mitglieder ermordet wurden, in sibirischen Lagern hungerten oder ins Exil gingen. Das brutale Ende einer glanzvollen Epoche und der Untergang einer prachtvollen Welt – packend erzählt, mit zahlreichen historischen Fotos von Menschen und Ereignissen.

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Seitenzahl: 834

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Douglas Smith

Der letzte Tanz

Der Untergang der russischen Aristokratie

Aus dem Amerikanischen von Bernd Rullkötter

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]Erläuterung zu Daten und SchreibweisenHauptfigurenDie ScheremetjewsIhre KinderIhre EnkelDie GolizynsIhre KinderIhre EnkelIhre UrenkelStammbäumneKartenPrologTeil I Vor der Sintflut1 Russland, 19002 Die Scheremetjews3 Die Golizyns4 Der letzte TanzTeil II 19175 Der Fall der Romanows6 Ein Land der rebellischen Sklaven7 Der bolschewistische PutschTeil III Bürgerkrieg8 Expropriation der Expropriateure9 Das Eckhaus10 Kurorthölle11 Bogorodizk12 Dr. Golizyn13 ExodusTeil IV NÖP14 Lebensschule15 Adlige Überreste16 Die Foxtrott-Affäre17 Tugend in LumpenTeil V Stalins Russland18 Der große Durchbruch19 Der Tod des Parnass20 Entrechtete21 Die Maus, das Benzin und das Streichholz22 Annas Segen23 Glückliche Zeiten24 Giftschlangen und das Racheschwert: »Operation ehemalige Leute«25 Der große Terror26 Krieg: Das EndeEpilogTafelteil 1Vor der RevolutionHerren und Diener: Szenen aus MenschowoDer BürgerkriegTafelteil 2NÖPStalins RusslandAnhangZu den QuellenBibliographieManuskriptquellenPersönliche Sammlungen und unveröffentliche QuellenZeitungenVeröffentlichte QuellenDankAbkürzungenAbbildungsnachweis

Für Emma und Andrew

»Es gibt keinen russischen Adel mehr. Es gibt keine russische Aristokratie mehr … Ein künftiger Historiker wird in allen Einzelheiten beschreiben, wie diese Klasse starb. Man wird den Bericht lesen, und man wird Wahnsinn und Schrecken wahrnehmen …«

– Krasnaja gaseta (Petrograd), Nr. 10, 14. Januar 1922

Erläuterung zu Daten und Schreibweisen

Bis Februar 1918 benutzte Russland den Julianischen Kalender alten Stils, der dem im 20. Jahrhundert von den westlichen Ländern verwendeten Gregorianischen Kalender neuen Stils um dreizehn Tage hinterherhinkte. Im Januar dekretierte die bolschewistische Regierung, dass Russland am Monatsende den Gregorianischen Kalender übernehmen werde, womit dem 31. Januar 1918 der 14. Februar folgte. Ich zitiere Daten alten Stils für Ereignisse in Russland vor dem 31. Januar 1918 und neuen Stils für die Zeit danach. Wann immer Missverständnisse auftreten könnten, füge ich »a. S.« oder »n. S.« hinzu. Eine Reihe der in diesem Buch angeführten Dokumente kann nicht exakt datiert werden, da manche Russen den Julianischen Kalender noch Jahre nach 1918 beibehielten, weshalb sich nicht immer nachvollziehen lässt, welches Datierungssystem benutzt wurde.

Russische Namen und Begriffe werden anhand der (leicht modifizierten) Duden-Umschrift transkribiert. Widersprüche ergeben sich dann, wenn im Deutschen eine andere Form gebräuchlich ist (etwa Zar »Nikolaus« statt »Nikolai«) oder wenn in Titeln und Zitaten eine abweichende Variante vorkommt.

Hauptfiguren

Die Scheremetjews

Graf Sergej Dmitrijewitsch Scheremetjew – »Graf Sergej« oder »der Graf«

Gräfin Jekaterina Pawlowna Scheremetjewa (geb. Wjasemskaja), seine Frau – »Gräfin Jekaterina«

Ihre Kinder

Graf Dmitri Scheremetjew – »Dmitri« Gräfin Irina Scheremetjewa (geb. Woronzowa-Daschkowa), seine Frau – »Ira«

Graf Pawel Scheremetjew – »Pawel« Gräfin Praskowja Scheremetjewa (geb. Obolenskaja), seine Frau – »Praskowja«

Graf Boris Scheremetjew – »Boris«

Gräfin Anna Scheremetjewa (verehel. Saburowa) – »Anna« Alexander Saburow, ihr Mann – »Alik«

Graf Pjotr Scheremetjew – »Pjotr« Gräfin Jelena Scheremetjewa (geb. Meiendorff), seine Frau – »Lilia«

Graf Sergej Scheremetjew – »Sergej«

Gräfin Maria Scheremetjewa (verehel. Gudowitsch) – »Maria« Graf Alexander Gudowitsch, ihr Mann – »Alexander«

Ihre Enkel

Kinder von Dmitri Scheremetjew und seiner Frau Irina

Gräfin Jelisaweta Scheremetjewa (verehel. Wjasemskaja) – »Lili« Fürst Boris Wjasemski, ihr Mann

Gräfin Irina – »Irina«

Graf Sergej Scheremetjew – »Sergej«

Gräfin Praskowja – »Praskowja«

Graf Nikolai Scheremetjew – »Nikolai«

Graf Wassili Scheremetjew – »Wassili«

Kind von Pawel und Praskowja Scheremetjew

Graf Wassili Scheremetjew – »Wassilik«, »Wassili«

Kinder von Anna Saburowa und ihrem Mann Alexander

Boris Saburow – »Boris«

Xenia Saburowa – »Xenia«

Georgi Saburow – »Juri«

Kinder von Pjotr Scheremetjew und seiner Frau Jelena

Graf Boris Scheremetjew – »Boris«

Graf Nikolai Scheremetjew – »Nikolai« Cecilia Mansurowa, seine Frau – »Cecilia«

Gräfin Jelena Scheremetjewa (verehel. Golizyna) – »Jelena« Fürst Wladimir Golizyn, ihr Mann – »Wladimir«

Gräfin Natalia Scheremetjewa – »Natalia«

Graf Pjotr Scheremetjew – »Pjotr«

Gräfin Maria Scheremetjewa – »Maria«

Graf Pawel Scheremetjew – »Pawel«

Kinder von Maria und Alexander Gudowitsch

Gräfin Warwara Gudowitsch (verehel. Obolenskaja) – »Warwara«, »Warenka« Fürst Wladimir Obolenski, ihr Mann – »Wladimir«

Graf Dmitri Gudowitsch – »Dmitri«

Gräfin Maria Gudowitsch (verehel. Istomina, Lwowa) – »Merinka« Pjotr Istomin, ihr erster Mann – »Pjotr« Sergej Lwow, ihr zweiter Mann – »Sergej«

Graf Andrej Gudowitsch – »Andrej«

Graf Alexander Dmitrijewitsch Scheremetjew – »Graf Alexander« Gräfin Maria Fjodorowna Scheremetjewa (geb. Geiden), seine Frau – »Gräfin Maria«

Ihre Kinder

Gräfin Jelisaweta Scheremetjewa – »Jelisaweta«

Graf Dmitri Scheremetjew – »Dmitri«

Gräfin Alexandra Scheremetjewa – »Alexandra«

Graf Georgi Scheremetjew – »Georgi«

Die Golizyns

Fürst Wladimir Michailowitsch Golizyn – »der Bürgermeister«

Fürstin Sofia Nikolajewna Golizyna (geb. Deljanowa), seine Frau – »Sofia«

Ihre Kinder

Fürst Michail Golizyn – »Michail« Fürstin Anna Golizyna (geb. Lopuchina), seine Frau – »Anna«

Fürst Nikolai Golizyn – »Nikolai« Fürstin Maria Golizyna (geb. Swerbejewa), seine Frau

Fürstin Sofia Golizyna (verehel. Lwowa) – »Sonja« Konstantin Lwow, ihr Mann

Fürst Alexander Golizyn – »Alexander« Fürstin Ljubow Golizyna (geb. Glebowa), seine Frau – »Ljubow«

Fürstin Vera Golizyna (verehel. Bobrinskaja) – »Vera« Graf Lew Bobrinski, ihr Mann – »Lew«

Fürst Wladimir Golizyn – »Wladimir Wladimirowitsch« Fürstin Tatjana Golizyna (geb. Goworowa), seine Frau – »Tatjana«

Fürstin Jelisaweta Golizyna (verehel. Trubezkaja) – »Jelisaweta«, »Eli« Fürst Wladimir Trubezkoi, ihr Mann – »Wladimir«

Fürstin Tatjana Golizyna – »Tatjana« Pjotr Lopuchin, ihr Mann

Ihre Enkel

Kinder von Michail Golizyn und seiner Frau Anna

Fürstin Alexandra Golizyna (verehel. Ossorgina) – »Lina« Georgi Ossorgin, ihr Mann – »Georgi«

Fürst Wladimir Golizyn – »Wladimir« Gräfin Jelena Scheremetjewa, seine Frau – »Jelena«

Fürstin Sofia Golizyna (verehel. Meyen) – »Sonja« Viktor Meyen, ihr Mann – »Viktor«

Fürst Sergej Golizyn – »Sergej« Klawdia Bawykina, seine Frau – »Klawdia«

Fürstin Maria Golizyna (verehel. Wesselowskaja) – »Mascha« Wsewolod Wesselowski, ihr Mann – »Wsewolod«

Fürstin Jekaterina Golizyna – »Katja«

Kind von Nikolai Golizyn und seiner Frau Maria

Fürst Kirill Golizyn – »Kirill« Natalia Wolkowa, seine Frau – »Natalia«

Kinder von Alexander Golizyn und seiner Frau Ljubow

Fürstin Olga Golizyna – »Olga«

Fürstin Marina Golizyna – »Marina«

Fürstin Natalia Golizyna – »Natalia«

Fürst Alexander Golizyn – »Alexander«

Fürst George Golitsyn – »George«

Kinder von Vera Bobrinskaja und ihrem Mann Lew

Gräfin Alexandra Bobrinskaja (verehel. Baldwin) – »Alka« Philip Baldwin, ihr Mann

Gräfin Sofia Bobrinskaja (verehel. Witter) – »Sonja« Reginald Witter, ihr Mann

Graf Alexej Bobrinski – »Alexej«

Gräfin Jelena Bobrinskaja

Kinder von Wladimir Wladimirowitsch Golizyn und seiner Frau Tatjana

Fürst Alexander Golizyn – »Alexander« Darja Krotowa, seine Frau – »Darja«

Fürstin Jelena Golizyna – »Jelena«

Fürstin Olga Golizyna (verehel. Urussowa) – »Olga« Fürst Pjotr Urussow, ihr Mann – »Pjotr«

Kinder von Jelisaweta (Eli) Trubezkaja und ihrem Mann Wladimir

Fürst Grigori Trubezkoi – »Grischa«

Fürstin Warwara Trubezkaja – »Warja«

Fürstin Alexandra Trubezkaja – »Tatja«

Fürst Andrej Trubezkoi – »Andrej«

Fürstin Irina Trubezkaja – »Irina«

Fürst Wladimir Trubezkoi – »Wolodja«

Fürst Sergej Trubezkoi – »Sergej«

Fürst Georgi Trubezkoi – »Georgi«

Ihre Urenkel

Kinder von Wladimir Golizyn und seiner Frau Jelena (geb. Scheremetjewa)

Jelena Golizyna (verehel. Trubezkaja) – »Jelena« Andrej Trubezkoi, ihr Mann

Michail Golizyn – »Mischka«

Illarion Golizyn – »Larjuscha«

Prolog

Das Eckhaus, Moskau, den 23. November 1918, am späten Abend

Die Krankenschwester legte einen frischen Verband bereit, als die Männer von der Tscheka, der gefürchteten bolschewistischen politischen Polizei, ins Zimmer stürzten. »Seht ihr nicht, dass hier jemand im Sterben liegt?«, fragte sie und drehte sich zu den Männern um, die jäh stehen blieben.[1] Im Halbdunkel vor ihnen lag Graf Sergej Dmitrijewitsch Scheremetjew, 73 Jahre alt, Adjutant des verstorbenen Zaren Alexander III., Mitglied des Staatsrats des Russischen Reiches, Oberjägermeister und Spross einer der großen russischen Adelsfamilien. Graf Sergej, seit Jahren bei schlechter Gesundheit, war dem Tode nahe, denn der Wundbrand in seinen Beinen griff mittlerweile auf seinen ganzen Körper über. Nun machten die Ärzte einen letzten Versuch, ihm das Leben zu retten, indem sie eine Radikalamputation durchführten. Die unerwarteten Besucher zogen sich, bis auf einen, aus dem Raum zurück. Der Anführer der Gruppe, Jakow Peters, ein kräftiger Mann mit dichtem dunklen Haar und gewölbter Stirn, beobachtete die Operation, um sich zu überzeugen, ob der Graf, den er verhaften wollte, überleben würde.

Sie waren ohne Warnung erschienen, nachdem sie sich vom Kreml her in mehreren Autos durch die Wosdwischenka-Straße genähert hatten. Dann bogen sie in den Hof des Eckhauses, der prächtigen Scheremetjew-Residenz, ein, parkten dort und schlossen das Tor hinter sich, damit niemand die Flucht ergreifen konnte. Panik erfasste die Dienerschaft auf der Hauptetage des Eckhauses. Zuerst war nicht klar, was vor sich ging. Seit der Abdankung von Zar Nikolaus II. im Vorjahr und dem Zusammenbruch des alten Regimes war das Land in Chaos und Gesetzlosigkeit abgeglitten. Bewaffnete Banden streiften nachts durch die Straßen, um zu rauben, zu plündern und zu morden. Einst mächtige und immer noch enorm reiche Familien wie die Scheremetjews waren ihre bevorzugten Opfer. Doch als die Männer in ihren dunklen Lederjacken ins Haus stürmten, wurde deutlich, dass sie keine Banditen waren, sondern Angehörige der Allrussischen Außerordentlichen Kommission für die Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage, der sogenannten Tscheka.

Nachdem sie die Haupttreppe hinaufgerannt waren, drangen sie in den Speisesaal ein, wo die Familie Scheremetjew an der Tafel saß. »Hände hoch!«, rief Peters und richtete seinen Nagant-Revolver auf die Anwesenden. Alle blieben fassungslos sitzen und hoben die Hände. Sogar der alte Butler Dmitri Fjodorowitsch, der gerade Gräfin Jekaterina Scheremetjewa, Graf Sergejs Gemahlin, die Mahlzeit darreichte, legte den Servierteller auf den Boden und riss die Hände hoch. Da Graf Sergej nicht an der Tafel zu sehen war, machten sich Peters und ein paar weitere Tschekisten auf die Suche nach ihm. Die Erwachsenen wurden für die Nacht im Speisesaal eingesperrt, während die Enkel der Scheremetjews zu ihrer Kinderfrau in einem anderen Teil des Hauses hinübergehen durften. Unter ihnen waren Jelena Scheremetjewa, in einem goldenen Seidenrock, das lange Haar mit einer großen weißen Schleife zusammengebunden, und ihr älterer Bruder Nikolai. Als die Kinder der Frau mitteilten, was sich abspielte, nahm sie den Familienschmuck, der in einen langen Samtstreifen eingenäht worden war, und ließ ihn in einen Wasserbehälter fallen, wie man ihr für einen solchen Fall aufgetragen hatte.

Viele in der Familie hatten diesen Tag vorausgeahnt, denn in den vergangenen Monaten hatte einiges darauf hingedeutet, dass die Scheremetjews ins Fadenkreuz der Bolschewiki geraten waren. Im Sommer hatte man zwei von Graf Sergejs Schwiegersöhnen kurzfristig inhaftiert: Alexander Saburow, einen früheren Offizier der Chevaliergarde und Zivilgouverneur von Petrograd, sowie Graf Alexander Gudowitsch, einen Kammerherrn am Hof von Nikolaus II. Bald darauf war ein Rotarmist ins Haus gekommen und hatte Baron Joseph de Baye verhaftet, einen französischen Bürger und alten Freund von Graf Sergej, der seit vielen Jahren bei der Familie wohnte. Auf die Frage des Grafen, wer den Befehl für diese Maßnahme gegeben habe, hatte der Soldat auf den Kreml gewiesen und geantwortet: »Die da.« Im September war der Sohn des Grafen, der ebenfalls Sergej hieß, auf dem Familiengut Ostafjewo von Tscheka-Agenten verhaftet worden, die ihn mit seinem Vater verwechselt hatten. Eine Gruppe besorgter Wissenschaftler wandte sich an Anatoli Lunatscharski, den bolschewistischen Volkskommissar für das Bildungswesen, mit der Bitte, »spezielle Schutzmaßnahmen« für den Grafen und seinen Sohn Pawel in ihrem Heim an der Wosdwischenka zu ergreifen. Lunatscharski erwiderte, man werde »alle revolutionären Kräfte« zu ihrem Schutz einsetzen.[2] Anscheinend hatte der Volkskommissar selbst zu wenig Möglichkeiten, ihre Sicherheit zu garantieren.

Die Bedeutung, welche die Bolschewiki Graf Scheremetjew zumaßen – einem der prominentesten Vertreter des alten Russland, das nun vom Wirbelwind der Revolution hinweggefegt wurde –, ließ sich an der Anwesenheit von Jakow Peters an jenem Abend im Eckhaus ablesen. Peters, der Sohn verarmter lettischer Bauern, war seit Beginn des Jahrhunderts ein engagierter Revolutionär. Die zaristische Polizei hatte ihn nach der Revolution von 1905 wegen der Teilnahme an Streiks verhaftet und gefoltert. Für den Rest seines Lebens konnte er seinen Einsatz für die Sache mit Hilfe von verstümmelten Fingernägeln nachweisen. Nach seiner Entlassung floh er 1908 nach London. Im Frühjahr 1917 kehrte er nach Russland zurück und spielte eine aktive Rolle bei der bolschewistischen Machtübernahme im Oktober. Zusammen mit Felix Dserschinski gründete er die Tscheka und diente, berüchtigt für seine Grausamkeit, jahrelang als einer ihrer hochrangigen Funktionäre.[3]

Peters gehörte zu den Urhebern des Roten Terrors, der durch die Ermordung von Moissej Urizki, dem Chef der Petrograder Tscheka, am 30. August 1918 und den Mordversuch an Lenin durch Fanja Kaplan am selben Tag ausgelöst wurde. Das Ziel des Tschekaterrors bestand darin, einen Klassenkampf gegen »Konterrevolutionäre« und sogenannte Volksfeinde zu führen. Im September verkündete der Kommunistenführer Grigori Sinowjew: »Um unsere Feinde zu besiegen, müssen wir unseren eigenen sozialistischen Militarismus entwickeln. Es gilt, 90 der 100 Millionen Russlands für unsere Sache gewinnen. Den Übrigen haben wir nichts zu sagen. Sie müssen vernichtet werden.«[4] Peters’ Tschekakollege Martin Lazis ließ wenig Zweifel daran, wo diese unglücklichen zehn Millionen zu finden seien. »Schaut nicht in die Akten mit belastendem Material, um herauszufinden, ob der Angeklagte mit Waffen oder Worten gegen die Sowjets aufgestanden ist. Fragt ihn vielmehr, welcher Klasse er angehört, welche Herkunft, welche Ausbildung, welchen Beruf er hat. Dies sind die Fragen, die das Schicksal des Angeklagten entscheiden werden. Das ist Sinn und Wesen des Roten Terrors.«[5] Peters selbst hatte die Rolle des Terrors dargelegt: »Wer immer es wagt, gegen die Sowjetregierung zu agitieren, wird unverzüglich verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht werden.« Die Feinde der Arbeiterklasse würden mit »Massenterror« bekämpft »und vom schweren Hammer des revolutionären Proletariats zerstört und zermalmt werden«.[6]

Der Hammer des Roten Terrors war nun auf das Eckhaus gefallen. Jakow Peters und Sergej Scheremetjew verkörperten das epochale Ringen im Russland des Jahres 1918: auf der einen Seite Peters, jung, kräftig und überzeugt von der Rechtschaffenheit der bolschewistischen Sache; auf der anderen Seite Scheremetjew, krank, schwach, besiegt und dem Tod nahe. An jenem Abend standen sich in Graf Sergejs Zimmer zwei Russlands gegenüber: das der Zukunft und das der Vergangenheit.

 

 

Die Geschichte wird, wie es heißt, von den Siegern geschrieben. Weniger oft hebt man die genauso wichtige Tatsache hervor, dass die Geschichte gewöhnlich über die Sieger geschrieben wird; Gewinner erfahren in den Geschichtsbüchern mehr Aufmerksamkeit als Verlierer. Die Literatur über die Russische Revolution mag als Beweis dafür dienen. Die Biographien über Lenin sind viel zahlreicher als die über Nikolaus II., genau wie die Bücher über die Bolschewiki, verglichen mit denen über die Menschewiki. Verlierer sind jedoch nicht weniger als Gewinner der Erinnerung wert, schon deshalb, damit wir den ganzen Reichtum des Vergangenen abschätzen und das Andenken an jene, die von der Geschichte zu Unrecht vergessen wurden, bewahren können.

Ich stieß auf diese vergessene Episode, während ich ein Buch über den Grafen Nikolai Scheremetjew schrieb, Sergejs Großvater, einen exzentrischen und märchenhaft reichen Aristokraten, der für seine leibeigene Operntruppe und seine skandalöse Ehe mit deren Primadonna bekannt war. Diese Sängerin namens Praskowja Kowaljowa trat als »Die Perle« auf.[7] Durch meine Recherchen lernte ich mehrere von Nikolais und Praskowjas Nachfahren kennen, und als ich deren Erzählungen über das hörte, was der Familie während der Revolution widerfahren war, wurde mein Interesse an der umfassenderen Geschichte des Adels in jenen turbulenten Jahren geweckt. Bei einem Besuch in Moskau im Frühjahr 2006 durchsuchte ich die vielen Schubladen des Zettelkatalogs, welcher der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« in der Russischen Staatsbibliothek (der ehemaligen Lenin-Bibliothek, damals noch nicht völlig digitalisiert) gewidmet war, konnte jedoch nichts über den Adel entdecken. Überrascht erkundigte ich mich bei einer Bibliothekarin, warum der Katalog nichts zu dem Thema enthielt. Sie blickte mich so ungläubig an, als hätte ich wissen wollen, wer im Lenin-Mausoleum beigesetzt sei. »Tschto? Was?«, stotterte sie. »Die Revolution und der Adel? Natürlich gibt es dazu nichts, denn die Revolution hatte nichts mit den Adligen zu tun, und sie hatten nichts mit der Revolution zu tun«, belehrte sie den ahnungslosen amerikanischen Historiker.[8] Bei den Forschungen zu dem vorliegenden Buch habe ich ähnlich herablassende Kommentare von Personen im Westen gehört. Der Adel sei doch ausgelöscht worden, wurde ich beschieden, und das zu Recht. Manch einer ist der Meinung, dem Adel sei genau das zugestoßen, was er verdient habe, weshalb wir nicht überrascht oder auch nur interessiert zu sein brauchten. Beide Gesichtspunkte – dass die Revolution nichts mit dem Adel zu tun gehabt habe oder, wenn doch, dass uns dies gleichgültig sein könne – sind historisch und moralisch falsch.

Das Schicksal des Adels, eine der außer Acht gelassenen Geschichten der Russischen Revolution, bedarf der Wiedergabe. Die Vernichtung einer ganzen Gesellschaftsschicht muss ein Echo bei uns finden. Aber es gibt noch andere Gründe. Die Zerstörung des Adels war eine der Tragödien des Landes. Fast ein Jahrtausend lang hatte der Adel – von den Russen als belaja kost (wörtlich »weißer Knochen«, was unserem »blauen Blut« entspricht) bezeichnet – die politischen, militärischen, kulturellen und künstlerischen Führer Russlands gestellt. Die Adligen hatten den Zaren als Berater und Beamte, als Generale und niedrigere Offiziere gedient; sie hatten Generationen von Schriftstellern, Künstlern und Denkern, Geistes- und Naturwissenschaftlern, von Reformern und Revolutionären hervorgebracht. In einer Gesellschaft, in der die Entwicklung einer Mittelschicht lange auf sich warten ließ, spielte der Adel eine im Verhältnis zu seiner Größe übermächtige Rolle für das politische, gesellschaftliche und künstlerische Leben des Landes. Sein Ende in Russland war auch das Ende einer langen und verdientermaßen stolzen Tradition, die vieles von dem, was wir noch heute für durch und durch russisch halten, geschaffen hat: von den großen Palästen St. Petersburgs bis hin zu den Landgütern um Moskau, von der Dichtung Puschkins bis hin zu den Romanen Tolstois und der Musik Rachmaninows.

Die Geschichte des russischen Adels muss auch deshalb erzählt werden, weil dessen Schicksal das anderer Gruppen in den kommenden Jahrzehnten vorwegnahm. Die Entscheidung der Bolschewiki, den Adel politisch zu verfolgen, seine Vermögen zu enteignen, seine Angehörigen zu inhaftieren, hinzurichten oder einfach nur als »ehemalige Leute« abzustempeln, ließ eine brutale, manichäische Mentalität erkennen, durch die ganze Gesellschaftsgruppen zu extremer Repression oder sogar zum Tode verurteilt wurden. Zudem sollte die gegen den Adel angewandte Taktik gegen sämtliche angeblichen Klassenfeinde des Regimes eingesetzt werden. Lenin vermutete solche Feinde überall, sei es unter den gemäßigteren Sozialisten, die seine radikale Vision nicht unterstützen wollten, oder unter denjenigen der russischen Bauern, denen es ein wenig besser ging als ihren Nachbarn. Er forderte, die Feinde zu zermalmen, und genau das geschah. Doch eine seltsame Dynamik der Revolution sah vor, dass die eigene Sicherheit durch die Niederschlagung von Klassenfeinden nicht gewährleistet werden konnte, denn während man die alten Feinde besiegte, musste man neue finden, um den anhaltenden Kampf für die lichte kommunistische Zukunft zu rechtfertigen. Und wie Stalin später die Altbolschewiki vernichtete, darunter Jakow Peters, der im Großen Terror verhaftet und ermordet wurde, so sollte auch das gesamte Bauerntum brutal unterjocht werden. Eine Revolution, die im Namen der Bedürftigen durchgeführt worden war, sollte mehr Arme als Reiche, die der Revolution als ursprüngliche Zielscheibe gedient hatten, das Leben kosten.

In einem größeren Maßstab deutete die Tragödie der Adligen auch auf künftige Gräuel des blutigen 20. Jahrhunderts hin, als Rassen-, Klassen-, Volks- und Religionszugehörigkeit herangezogen wurden, um Unterdrückung und Massenmorde auszulösen und zu rechtfertigen: von Hitlers Deutschland über Pol Pots Kambodscha bis hin zu Kambandas Ruanda. Die russischen Adligen – aus ihren Häusern verjagt und enteignet, gezwungen, die Straßen zum Zweck ihrer öffentlichen Erniedrigung zu reinigen, in Arbeitslager entsandt und mit einer Kugel in den Hinterkopf für das Verbrechen ihrer sozialen Herkunft getötet – waren eine der ersten Gruppen, die man einer neuen, doch dann für das vergangene Jahrhundert charakteristischen Variante der politischen Gewalt aussetzte.

Der letzte Tanz erzählt, wie die russische Elite zwischen den Revolutionen von 1917 und dem Zweiten Weltkrieg ausgeraubt und vernichtet wurde. Die Geschichte ist gespickt mit Beschreibungen geplünderter Paläste und brennender Landgüter, von nächtlichen Fluchtversuchen vor brandschatzenden Bauern und Soldaten der Roten Armee, von Haft, Exil und Hinrichtung. Aber es ist auch die Geschichte von Überleben und Anpassung, davon, wie viele Angehörige der zaristischen Führungsschicht – verlassen, vertrieben und unterdrückt – die psychischen Verletzungen, die sie durch den Verlust ihrer Welt erlitten hatten, überwanden und in der neuen, feindlichen Ordnung der Sowjetunion um einen Platz für sich selbst kämpften. Sie zeigt, wie selbst in den dunkelsten Abgründen des Terrors das Alltagsleben weiterging: Männer und Frauen verliebten sich ineinander, Kinder wurden geboren, Freunde kamen zusammen; schlichte Freuden wurden ausgekostet. Letztlich ist Der letzte Tanz ein Zeugnis für die bemerkenswerte Fähigkeit der Menschen, sogar unter den erschütterndsten Umständen Momente des Glücks zu finden.

Wie kann man die Vernichtung einer ganzen Gesellschaftsschicht beschreiben? Dieser Vorgang ist so gewaltig, dass er sich dem Verständnis widersetzt. Die Dimension ist zu groß, der Beobachtungspunkt, von dem sich alles erfassen ließe, zu fern, um einzelne Lebensgeschichten deutlich hervortreten zu lassen. Sich in das Schicksal von fast zwei Millionen Menschen einzufühlen strapaziert die Phantasie, denn wir scheinen eher in der Lage zu sein, kleinere Gruppen wahrzunehmen und ihre Erfahrungen nachzuempfinden.

In den vergangenen sechs Jahren hatte ich das Glück, viele Personen, deren Familien das Thema dieses Buches bilden, zu treffen und mit ihnen zu korrespondieren. Ihre Großzügigkeit und Bereitschaft, Erfahrungen und Sammlungen von Familiendokumenten mit mir zu teilen, waren das Erfreulichste bei der Niederschrift dieses Buches. Während ich Dutzende von persönlichen Berichten las und noch mehr Geschichten in Wohnungen, Archiven und Bibliotheken sowohl in Russland als auch im Westen hörte, wurde ich besonders zu den Schicksalen von zwei Familien hingezogen: der Scheremetjews und der Golizyns. Beide zählten zur höchsten Adelsschicht, das heißt zur Aristokratie; beide hatten eine angesehene, langjährige Tradition; beide hatten während der Revolution und danach schrecklich gelitten; beide wurden auseinandergerissen, denn manche Familienmitglieder hatten Russland für immer den Rücken gekehrt; und beide hinterließen eine Fülle von Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen und Fotos, mithin genau die Quellen, die benötigt werden, um ihre Geschichte vollständig, exakt und überzeugend wiederzugeben.

Die Golizyns bildeten eine weitläufige Sippe – anders als die Familie Scheremetjew – mit mehr als einem Dutzend separater Zweige zur Zeit der Revolution. Einer ging von Fürst Fjodor Golizyn aus, einem Kammerherrn unter Katharina der Großen und späteren Treuhänder der Moskauer Universität. Fürst Wladimir Golizyn, Fjodors Enkel und langgedienter Bürgermeister von Moskau, war ein Zeitgenosse des Grafen Sergej Scheremetjew. Während die Scheremetjews Beziehungen zum Hof und insbesondere zur Zarenfamilie in St. Petersburg unterhielten, waren die Golizyns typische Moskauer, die wenig mit der Reichshauptstadt zu tun hatten. Gleichwohl kannten die Familien einander – nichts Ungewöhnliches in der kleinen Welt der russischen Aristokratie –, und während Wladimir (ein liberaler Westler) und Sergej (ein konservativer Monarchist) einander kaum ausstehen konnten, gingen einige ihrer Kinder gesellschaftlich miteinander um und arbeiteten zusammen. Zwei ihrer Enkel – Jelena Scheremetjewa und Wladimir Golizyn, benannt nach seinem Großvater – verliebten sich Anfang der 20er Jahre im Eckhaus ineinander und ließen sich trauen. Infolge seiner Kopfstärke und Verzweigtheit konnte das Fürstengeschlecht der Golizyns in Russland überleben, was den Scheremetjews versagt blieb.

Das Leben mehrerer Generationen von Scheremetjews und Golizyns bildet den roten Faden, der sich durch dieses Buch zieht. Zwar erlebte jeder Adlige die Revolution und den Übergang zur neuen Sowjetordnung auf seine eigene Art, doch was den Scheremetjews und den Golizyns zustieß und wie sie auf die Ereignisse reagierten, galt für die Mehrheit des Adels. Ihr Leben war einerseits so außergewöhnlich, wie es das für jeden Einzelnen ist, und andererseits typisch für ihre soziale Gruppe im Russland jener Jahre.[1]

 

 

Ende September 1917, einen Monat vor der Machtübernahme der Bolschewiki, schrieb Lenin: »Eine wirkliche, eine tiefgehende ›Volks‹revolution, um mit Marx zu sprechen, ist der unglaublich komplizierte und qualvolle Prozess des Sterbens einer alten und die Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung, einer neuen Lebensstruktur für Millionen und Abermillionen von Menschen. Die Revolution ist der heftigste, wütendste, erbittertste Klassenkampf und Bürgerkrieg.«[9] Die bolschewistische Revolution wurde von ihren Urhebern als eine neue Ära der Menschheitsgeschichte gesehen, welche die Vergangenheit für immer hinter sich lassen würde, und es ist weitgehend diese Hälfte der Geschichte, Lenins »Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung«, der die Historiker ihre Aufmerksamkeit widmeten. Doch nicht weniger wichtig ist die andere Hälfte: »das Sterben der alten Ordnung«.

Im Jahre 1920 knüpfte Dmitry Fedotoff White, ein früherer zaristischer Marineoffizier, auf einer Zugfahrt von Sibirien nach Moskau ein Gespräch mit einer Gruppe von Rotarmisten an. Er las DasABC des Kommunismus, die neue populäre Fibel des Bolschewismus von Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobraschenski, was eine Debatte über den Marxismus und die Revolution auslöste. Fedotoff White war erstaunt über die große Kluft zwischen den erhabenen Idealen, die von den Revolutionsführern vertreten wurden, und den Zielen der gemeinen Soldaten. Diese Männer verstanden die marxistische Theorie nicht und hatten kein Interesse an ihr, noch dachten sie darüber nach, wie die neue russische Gesellschaft aussehen würde. Nur eines motivierte sie: der Wunsch, die alte Ordnung zu zerschlagen. »Für sie alle lief die bolschewistische Revolution auf die Vernichtung der Monarchie, der Aristokratie, der Bürokratie und der Offiziersschicht hinaus«, schrieb er. »Alle rebellierten gegen die alte Ordnung, und darauf beschränkten sich ihre politischen Gefühle.«[10]

Die Rolle der Ideologie während der Revolution und des sich anschließenden Bürgerkriegs ist komplex (komplexer, als sich an diesem einen Gespräch ablesen lässt), doch Fedotoff White weist auf einen entscheidenden Punkt hin, was das Verständnis der schieren Grausamkeit jener Jahre angeht: nämlich darauf, dass der Vernichtungswille stärker war als der Schöpfungswille und dass er die Hauptantriebskraft für den Gang der Ereignisse darstellte. Seit dem Beginn der Revolution fürchteten sich Lenin und die Bolschewiki vor der Wiederkehr der alten Ordnung. Dies ließ sich am sichersten dadurch vermeiden, dass man ihre Wurzeln ausriss und sie abtötete. Wenn man jede Spur der zaristischen Vergangenheit vernichtete, hatten die Feinde des Bolschewismus keine Möglichkeit, sie auferstehen zu lassen. Allerdings erkannten die Bolschewiki bald, dass sie ohne die Kenntnisse, Fähigkeiten und die Qualifikationen der alten Elite nicht überleben konnten. Die Arbeiter und Bauern, in deren Namen die Bolschewiki zu herrschen behaupteten, waren einfach nicht versiert genug für die Regierung eines riesigen Staates. Damit begann eine heikle Zusammenarbeit zwischen den alten und den neuen Gebietern Russlands, die länger als zwei Jahrzehnte andauern sollte.

Das Fortleben der früheren gebildeten Elite, zu der viele Adlige gehörten, führte zu Frustration und Zorn bei den Klassen, in deren Namen die Revolution ausgerufen worden war. Wenn die Große Sozialistische Oktoberrevolution eine neue Morgenröte der Menschheitsgeschichte angekündigt habe, warum seien dann, wollten manche wissen, frühere Grafen und Fürstinnen, frühere Landbesitzer und zaristische Beamte immer noch in leitenden Positionen; warum wohnten sie immer noch auf ihren Gütern; mehr noch, warum seien sie überhaupt noch am Leben, obwohl sie einer längst begrabenen Welt angehörten? Die Abhängigkeit von der früheren Elite stellte eine Bedrohung für das Sowjetregime dar, doch sie lieferte auch eine bequeme Ausrede dafür, dass die Realität des Lebens den tönenden Versprechungen des Regimes nicht gleichkam. Wenn der Sozialismus noch nicht verwirklicht war, wenn die Arbeiter kein besseres Leben führten, wenn man immer noch um die Existenz ringen musste, dann war dies nicht die Schuld der Revolutionsführer oder ein Hinweis auf Makel der marxistischen Ideologie, sondern es ließ sich mit dem Dasein von Klassenfeinden – von Saboteuren, Schädlingen, Weißgardisten und Monarchisten – erklären, die im Innern einen geheimen Krieg führten, um die Sowjetunion zu zerrütten. Wie andere verachtete Minderheiten wurden die Ehemaligen zu bequemen Sündenböcken, die man für die Versäumnisse der Bolschewiki verantwortlich machen konnte, und zu einer Zielscheibe, auf die sich die allgemeine Wut ungestraft ablenken ließ.

 

 

Für viele russische Adlige war die Revolution alles andere als eine Überraschung. Bereits im 18. Jahrhundert konnten sich einige ihrer weitsichtigen Vertreter den Tag vorstellen, an dem sie von den Massen hinweggefegt werden würden. Auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution im Jahr 1792 schrieb Graf Semjon Woronzow, der russische Botschafter in Großbritannien, in einem Brief an seinen in der Heimat weilenden Bruder:

»Frankreich wird sich nicht beruhigen, bevor sich seine abscheulichen Prinzipien nicht in Russland festgesetzt haben. Dies wird, wie ich Dir bereits mitgeteilt habe, kein Krieg ums Leben, sondern ein Krieg bis zum Tode zwischen denjenigen sein, die nichts besitzen, und denjenigen, die über Eigentum verfügen, und da die Letzteren gering an Zahl sind, werden sie unvermeidlich zugrunde gehen. Diese Infektion wird weltweit um sich greifen. Unsere Entfernung von dem Aufruhr wird uns eine zeitlang schützen; wir werden die Letzten sein, doch nichtsdestoweniger werden wir der allgemeinen Seuche zum Opfer fallen. Wir werden es nicht erleben, weder Du noch ich, aber mein Sohn wird es durchmachen.«[11]

Woronzow war im Irrtum, was den Zeitpunkt der Revolution betraf, doch er hatte damit recht, dass es ein Krieg bis zum bitteren Ende zwischen Reich und Arm sein und dass die Ersteren unterliegen würden. Jahrhundertelang hatte der russische Adel von der Schufterei der leibeigenen Bauern gelebt. Adlige Grundeigentümer, ob sie nun grausame Tyrannen oder wohlwollende Gutsherren waren, genossen die Früchte ihres privilegierten Standes. Ihr Reichtum, ihre Kultur, ja ihre ganze Lebensweise wurden durch ein striktes System der Zwangsarbeit ermöglicht, das sich im 18. Jahrhundert kaum von dem der amerikanischen Sklaverei unterschied. Die Befreiung der Leibeigenen im Jahr 1861 trug wenig dazu bei, die Unterwürfigkeit der Bauern gegenüber ihren einstigen Besitzern zu ändern. Die Kluft zwischen der Welt der Massen und der dünnen Schicht der Mächtigen und Privilegierten sollte bis 1917 bestehen bleiben.

Die Bauern hatten kaum eine andere Wahl, als sich mit ihren Lebensbedingungen abzufinden. Wenn sie hin und wieder einen Aufstand wagten, waren die Ergebnisse zwangsläufig von Gewalt und Blut geprägt. Die großen Rebellionen Stenka Rasins und Jemeljan Pugatschows im 17. und 18. Jahrhundert, durch die weite Landstriche in Schutt und Asche gelegt und Zehntausende getötet wurden, weckten Hoffnung bei den Unterdrückten und machten der Oberschicht Angst. Im Sommer 1917 brachen in den russischen Landgebieten erneut Tumulte aus. Diesmal waren die Verhältnisse jedoch anders, und die Bauern würden sich nicht niederwerfen lassen. Die adligen Gutsbesitzer hatten das Gefühl, aufzuwachen und hinter den feindlichen Linien gefangen zu sein. »Anscheinend haben wir einen Schiffbruch erlitten«, hörte Sinaida Baschkirowa von ihrer Großmutter auf dem Gut Kurbatika. »Wir sind in der Lage der Schweizer Familie Robinson … Wir werden in ständiger Furcht vor Angriffen durch die wilden Stämme dort draußen leben.«[12] Die »wilden Stämme« waren nach drei Kriegsjahren noch wilder geworden. Das sinnlose Gemetzel des Ersten Weltkriegs hatte die Bauernsoldaten gegen die entsetzlichste Gewalt abgestumpft, und sie kehrten verroht und aller Hemmungen beraubt in ihr Dorf zurück.

Kurz nachdem Fürstin Vera Urussowa aus ihrem Gut Kotowka in Südrussland geflohen war, rissen Deserteure und Bauern es Brett um Brett, Stein um Stein in Stücke, bevor sie die Überbleibsel verbrannten. Am Ende schändeten sie das Grab ihres Vaters. Zwei Diener versuchten, die Plünderer aufzuhalten, doch sie wurden vom Pöbel ergriffen und enthauptet; die Bauern verfütterten einen der Köpfe an die Hunde. Später, als man sie aufforderte, die Bösartigkeit ihres Angriffs auf den Besitz der Urussows zu erklären, antworteten sie: »Weil sie unser Blut gesaugt haben.« Ein paar Adlige, darunter auch Vera, waren fähig, über ihren persönlichen Verlust hinwegzusehen und die Welle der Gewalt, die über Russland hinwegraste, als einen Moment der historischen Abrechnung zu begreifen. Sie und ihre Adelsgeneration würden für die Ungerechtigkeit der Leibeigenschaft bezahlen müssen. Schon im jungen Alter schien Vera das Kommen dieses Tages gespürt zu haben. Eines ihrer Lieblingsspiele war es gewesen, sich in die Rolle einer Aristokratin mitten in der Französischen Revolution hineinzuversetzen, um dann vor dem wütenden Pöbel zu fliehen.[13]

In vieler Hinsicht spiegelte das Schicksal des russischen jenes des französischen Adels wenig mehr als ein Jahrhundert zuvor wider. In den frühen 1790er Jahren waren die französischen Adligen zum Ziel von Repression und Gewalt geworden, als sich die Kräfte der Revolution unter der Parole »Krieg den Palästen, Friede den Hütten!« sammelten. Dem Adel wurden seine Titel, seine uralten Privilegien und der größte Teil seines Reichtums entzogen. Auf dem Höhepunkt des Terrors wurden Châteaus geplündert und verwüstet, Tausende von Adligen inhaftiert und getötet, während Hunderte in Paris das Leben durch die Guillotine verloren.[14] Diejenigen, die ins Ausland flüchteten, brandmarkte man als Verräter und Volksfeinde, konfiszierte ihr Eigentum und nahm in extremen Fällen ihre in Frankreich verbliebenen Angehörigen als Geiseln. Wer zurückblieb, wurde als ci-devant abgestempelt – das erste Beispiel von »ehemaligen Leuten« in der Geschichte. Und nach einer seltsamen Dynamik, die sich in Russland wiederholen sollte, wurden, während die Revolution fortschritt und die konterrevolutionäre Bedrohung zurückwich, die vom Adel ausgehenden vermeintlichen Gefahren hochgespielt und die repressiven Maßnahmen gegen ihn verstärkt. Als die Revolution sich nicht so entwickelte, wie es ihre Anführer versprochen hatten, machten sie die Adligen dafür verantwortlich, was in Russland ebenfalls geschah. Der Angriff der neuen Machthaber auf die alte Elite wurde zu einer günstigen Gelegenheit, Popularität zu erringen und ihr Engagement für die Sache und für das Volk unter Beweis zu stellen.[15]

Aber es gab auch erhebliche Unterschiede. Trotz der verbreiteten Gewalttaten und des Blutvergießens der Französischen Revolution fiel das, was sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Russland abspielte, in eine ganz andere Dimension. Unter den 16594 Personen, die während des Terrors in Frankreich durch außerordentliche Gerichte zum Tode verurteilt wurden, waren 1158 Adlige, weniger als ein Prozent ihres gesamten Standes. Und wenn man die Gesamtzahl der Opfer des Terrors betrachtet, machten die Adligen keine neun Prozent aus.[16] Die Zahl der Opfer in Russland war von einer völlig anderen Größenordnung. Zwischen 1917 und 1941 sah sich der Adel mehreren Terrorwellen ausgesetzt, die wahrscheinlich Zehntausende, wenn nicht mehr, das Leben kosteten. Aufgrund der chaotischen Art so vieler Gewalttaten fehlt es an detaillierten Aufzeichnungen, weshalb die exakte Zahl wohl nie ermittelt werden wird. Das Schicksal der Golizyns liefert ein drastisches Beispiel für das Ausmaß des Terrors. Von den zahlreichen Familienzweigen, die 1917 existierten, überlebte in Russland nur einer; alle anderen wurden vernichtet oder ins Exil gezwungen. Die Bolschewiki verhafteten Dutzende von Golizyns, um sie dann zu erschießen oder im Gefängnis umkommen zu lassen; weitere Dutzende verschwanden im Sturm der Revolution, und ihr Schicksal bleibt unbekannt. Heute leben mehr Golizyns in Nordamerika als in Russland.[17]

Das Ausmaß der Morde markierte jedoch nicht den einzigen Unterschied. Als Napoleon, selbst ein ci-devant, 1799 die Macht ergriff, holte er den alten Adel zurück und verschmolz ihn mit der von ihm ernannten und mit Titeln ausgestatteten neuen Elite. Repressive Gesetze wurden abgeschafft, und Adlige des Ancien Régime übernahmen wieder maßgebliche Ämter. Mit der endgültigen Niederlage Napoleons und der Restauration der Bourbonen im Jahr 1814 war der Prozess der Wiederkehr abgeschlossen.[18] In Russland dagegen kam es zu keiner Restauration, weder der Monarchie noch des Adels. Stalin war im Unterschied zu Napoleon kein ci-devant. Weit davon entfernt, die frühen Extreme der Revolution aufzugeben, verstärkte er sie und entfesselte einen neuen, endgültigen Krieg gegen die Klassenfeinde des Staates.

Mit Beginn der 1940er Jahre war der Adel als Stand ausgelöscht. Für diejenigen, die irgendwie überlebt hatten, gab es kaum noch etwas, das sie an die Zeit vor 1917 erinnerte. Sie hatten ihre Wohnsitze verloren, ihre Habseligkeiten im Lauf der Jahre auf Märkten oder in Kommissionsläden für wenig Geld verkauft, ihre Briefe und Fotos vernichtet oder versteckt. Familien waren dezimiert und durch Exil und Haft voneinander getrennt worden. Die meisten höheren Adligen verbargen sich, so gut sie konnten, im Schatten. Ihre Vergangenheit war schädlich, und die Überlieferung wurde absichtlich vergessen oder nur im Flüsterton erwähnt. Manche änderten ihre Namen, um nicht aufzufallen; andere logen oder gaben ausweichende Antworten auf Fragen nach ihrer Vergangenheit und ihrer Familiengeschichte. Das Überleben erforderte in der Regel eine selbstgewählte Amnesie, die Unterdrückung der Erinnerungen. Wer das ablehnte, musste oftmals die strengsten Strafen hinnehmen.[19] Doch paradoxerweise machte der Staat es den ehemaligen Leuten durch seine ständigen Repressionen unmöglich zu vergessen, wer sie waren und woher sie kamen.[20]

Die Kinder des alten Adels, die in den 1930er und 1940er Jahren geboren wurden, hatten keine persönliche Kenntnis des Lebens vor der Revolution und waren den Schrecken des Bürgerkriegs nicht ausgesetzt gewesen. Trotzdem lernten auch sie, dass es notwendig war zu schweigen. Sein Privatleben für sich zu behalten war ein Gebot für jeden Sowjetbürger, aber dies galt in noch höherem Grade für ehemalige Leute und ihre Kinder.[21] Sie wuchsen in einer Welt auf, in der man so tat, als hätte vor 1917 niemand gelebt. Jelena Schuwalowa, 1930 als Kind einer alten russischen Grafenfamilie geboren – zu ihren Vorfahren zählten prominente Höflinge, Diplomaten und Generale –, erinnerte sich, wie sie sehr bald begriff, dass ihre Selbsterhaltung Schweigen voraussetzte:

»Wir zeigten kein Interesse an der Vergangenheit. Das kam nicht in Frage. Es wurde nicht einmal erwogen. Ich erinnere mich aus meiner frühen Kindheit, dass ich, wenn ich etwas erfahren wollte, immer die für mich erstaunliche Antwort erhielt: ›Je weniger du weißt, desto besser.‹ Das hörte ich entweder von meinem Onkel oder von Mama oder Papa. Ich war im Grundschulalter, es war das Ende der 1930er Jahre, und so benahm man sich damals. Niemand sagte ein Wort.«[22]

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders nach Stalins Tod im Jahre 1953, gefolgt von Chruschtschows »Tauwetter«, brach das Schweigen allmählich auf. Ein paar ehemalige Adlige sprachen und schrieben offen über ihre Vorväter, und in den 1960er Jahren kehrten einige verstohlen dahin zurück, wo ihre ländlichen Familiensitze gestanden hatten. In den 1980er Jahren, unter Michail Gorbatschows neuer Politik der Glasnost und Perestroika, begannen Ortshistoriker, Lehrer und Volkskundler, die Kinder und Enkel von Landadligen ausfindig zu machen, um Informationen über das Leben und die Kultur in diesen Winkeln Russlands zu erhalten. Nach siebzig Jahren wurden ein paar neue, dünne Bande zwischen den Ortsansässigen und den Erben ihrer alten Grundherren geknüpft.[23] In den beiden vergangenen Jahrzehnten ist das Interesse an der verlorenen Geschichte Russlands schlagartig gewachsen, und dieser Prozess der Rückbesinnung erstreckt sich auch auf das Schicksal der Adelsfamilien. Ihre Nachfahren, die sich nun nicht mehr fürchten, das Wort zu ergreifen, veröffentlichen ihre Familienarchive, organisieren Konferenzen, untersuchen ihre Genealogien und bemühen sich, wieder eine Beziehung zu ihren Familien und ihrer Vergangenheit herzustellen.[24]

 

 

Olga Scheremetjewa gehörte einem nicht titelbefugten Zweig der Familie an. Ihr Ehemann Boris war ein entfernter Cousin des Grafen. An jenem Novemberabend, als die Tscheka kam, hielt sich Olga in ihrer Wohnung an der anderen Seite des Eckhaushofes auf. Sie und die übrige Familie kauerten sich zusammen, während die Männer das Haus plünderten. Niemand konnte schlafen, und sie lugten hin und wieder aus den Fenstern, um zu erfahren, was vor sich ging. Die Nacht und den frühen Morgen hindurch fuhren Autos vor und entfernten sich wieder. In der Dunkelheit waren Männer zu sehen, die Sachen aus dem Haus zu den Autos schleppten. Peters und seine Leute verschwanden erst um sieben Uhr morgens. Olgas Mann Boris, der selbst erst kurz vorher aus einem bolschewistischen Gefängnis entlassen worden war, ging nach nebenan, sobald die Tscheka abgefahren war. Er fand Graf Sergej zutiefst verzweifelt vor. Die Männer hatten seine Privatkorrespondenz, seine Tagebücher sowie Gold und Silber im Wert von rund zehn Millionen Rubel mitgenommen. Maria Gudowitsch, die jüngere Tochter des Grafen, hatte zusehen müssen, während sich die Tschekisten die Taschen mit ihrem Schmuck vollstopften. Einer griff nach Gräfin Jekaterina Scheremetjewas Nadelkissen, riss sämtliche mit Juwelen besetzten Nadeln heraus und erklärte: »So nehmen wir alles an uns.«[25] Am schlimmsten war jedoch, dass die Tscheka neun Männer verhaftet hatte. Sechs von ihnen waren Familienmitglieder: die Söhne der Scheremetjews Pawel, Boris und Sergej, ihre Schwiegersöhne Gudowitsch und Saburow sowie ihr Enkel Boris Saburow. Anna Saburowa, die ältere Tochter der Scheremetjews, war außer sich vor Sorge um ihren Mann und ihren Sohn und versuchte sich zu beruhigen, indem sie Formeln über die Unvermeidlichkeit des Schicksals und des göttlichen Willens vor sich hin sprach. Alle hatten Angst, dass die Tscheka zurückkehren würde. Niemand ahnte, was den Männern zugestoßen war. »Wir tappten völlig im Dunkeln«, vertraute Olga ihrem Tagebuch an.[26] Sowohl Gudowitsch als auch der ältere Saburow sollten im folgenden Jahr im Gefängnis erschossen werden.

Vier Tage später wurde Graf Sergej vierundsiebzig Jahre alt; er war an jenem Morgen in einem bedauernswerten Zustand und verlor immer wieder das Bewusstsein, doch im Lauf des Tages lebte er ein wenig auf. Er verbrachte seinen Geburtstag in der Gesellschaft seiner Frau und einiger Angehöriger. Auch sein alter Freund Wladimir Dschunkowski, früher ein Adjutant von Großfürst Sergej Alexandrowitsch und Generalgouverneur von Moskau, machte ihm seine Aufwartung. Der Besuch löste beim Grafen einen Strom von Erinnerungen an seine Zeit am Hof Alexanders III. aus. Ein paar Wochen später starb Graf Sergej am 17. Dezember in seinem Bett. Seine Leiche wurde auf einem Tisch aufgebahrt und mit einem schwarzen Anzug bekleidet. Zwei Tage darauf fand die Beisetzung auf einem neuen Friedhof gegenüber dem Nowospasski-Kloster statt. Man konnte ihn nicht in der Familiengruft des Klosters beerdigen, wo die Scheremetjews seit Jahrhunderten ruhten, da die Bolschewiki die Mönche vertrieben und das Gebäude in ein Gefängnis umgewandelt hatten.

Die Revolution und ihre Konsequenzen hatten Graf Sergej, der sich mit ganzem Herzen für den Zarismus – und für alles, was dieser repräsentierte – einsetzte, fast das Leben gekostet. In Briefen an Freunde schrieb er von der Tragödie, die ihr Vaterland heimgesucht habe: Sie seien »einem modernen Tatarenjoch« ausgesetzt, und das »Damoklesschwert« schwebe über ihnen. Gleichwohl versuchte er, den Glauben an Russland und dessen Zukunft aufrechtzuerhalten. Er widmete sich historischen Darstellungen der Französischen Revolution und Napoleons und tröstete sich mit dem Gedanken, dass auch Russland aus der Schwärze der Anarchie zu einer lichteren, von Friede und Ordnung geprägten Zukunft überwechseln werde. Er bekundete weiterhin seinen Glauben an Gott und zitierte die Worte Alexander Puschkins: »Ich schaue furchtlos nach vorn.«[27]

Teil IVor der Sintflut

»Waren wir alle so vollständig gefühllos, so schrecklich abgestumpft, daß wir es gar nicht empfanden, wie das behütete Leben, das wir führten, in sich eine ungeheure Ungerechtigkeit darstellte und darum möglicherweise nicht von Dauer sein konnte?«

 

– Nicolas Nabokov,Zwei rechte Schuhe im Gepäck. Erinnerungen eines russischen Weltbürgers

1Russland, 1900

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts eilte Russland der modernen Zeit entgegen. In den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erlebte das Land außergewöhnliche industrielle Wachstumsraten, mit denen es die Vereinigten Staaten, Deutschland und Großbritannien hinter sich ließ. Unter Finanzminister Sergej Witte wurden gewaltige in- und ausländische Investitionen in die russische Industrie, den Bergbau und die Eisenbahnen getätigt. Zwischen 1850 und 1905 weitete sich das Eisenbahnnetz von 1360 auf fast 64000 Kilometer aus. Die Ölindustrie nahm die Ausmaße der amerikanischen an, und Russland übertraf Frankreich in der Stahlerzeugung. Anfang der 1880er Jahre wurden St. Petersburg und Moskau durch die längste Telefonleitung der Welt miteinander verbunden. Die ersten Kinos machten in Russland im Jahr 1903 auf, als auch die Zahl der elektrischen Straßenlaternen auf 3000 anstieg. Bis 1914 war das Zarenreich zur fünftgrößten Industriemacht der Welt geworden.[28] Das Tempo und die Zukunftsaussichten in Bezug auf Wirtschaftswachstum und künftigen politischen Einfluss hatten zur Folge, dass die anderen führenden Staaten es mit einer Mischung aus Erstaunen, Neid und Furcht betrachteten.[29]

Aber trotz der raschen Industrialisierung, des explosiven Wachstums der städtischen Zentren und der beispiellosen ausländischen Investitionen war Russland im Jahr 1900 weiterhin eine Feudalgesellschaft. Sein gesellschaftlicher Aufbau glich dem einer Pyramide mit einem breiten Sockel, die sich allmählich zu einer schmalen Spitze verjüngte. Ganz unten befand sich die große Masse der Bauern, 80 Prozent der Gesamtbevölkerung. An der Spitze stand der Zar, der autokratische Herrscher eines riesigen, multiethnischen Reiches von im Jahr 1897 fast 130 Millionen Menschen. Dazwischen gab es mehrere Gesellschaftsgruppen, die durch jahrhundertealte Gesetze und Bräuche definiert wurden: die Geistlichkeit, die Stadtbewohner, die sogenannten vornehmen oder ehrenwerten Bürger, die Kaufleute und den Adel.[30] Anders als in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten kannte man keine große städtische Mittelschicht oder Bourgeoisie. In den späten 1890er Jahren wohnten nur knapp über 13 Prozent der Bevölkerung in Städten, verglichen mit 72 Prozent in England, 47 in Deutschland und 38 in den Vereinigten Staaten. Die Städte Russlands beherbergten die überwiegende Mehrheit der kleinen gebildeten Elite, während in den Landgebieten weniger als ein Viertel der Bevölkerung lesen und schreiben konnte.[31]

Russland war nicht nur eine traditionelle Bauerngesellschaft, sondern es blieb auch politisch in der Vergangenheit gefangen, denn es wurde nicht durch Gesetze oder Institutionen beherrscht, sondern von einem einzigen Mann, dem Zaren. Laut den Staatsgrundgesetzen von 1832 »wird das Russische Reich auf der festen Basis positiver Gesetze und Statuten regiert, die sich aus der Autokratischen Macht ableiten«. Tatsächlich galt die Macht des russischen Zaren als unbegrenzt; kaiserliche Erlasse, genau wie verbale Anweisungen und Befehle des Monarchen, hatten Gesetzeskraft. Dies heißt nicht, dass es keine amtlichen Gesetze oder ein Gefühl der Rechtmäßigkeit gegeben hätte, sondern vielmehr, dass der Zar die Freiheit und Macht hatte zu entscheiden, ob er sie anerkennen wollte.[32]

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts machten sich die gebildeten Schichten Russlands zunehmend mehr Sorgen über den Zwiespalt zwischen einer sich modernisierenden Gesellschaft und einem altmodischen und starren politischen System. Während das Land dem modernen Zeitalter entgegenschritt, schien der Staat jeglichem Wandel zu widerstehen. Dabei hatte Zar Alexander II. Schritte unternommen, um Russland in der Ära der Großen Reformen zu modernisieren. Im Jahr 1861 wurden die Leibeigenen befreit, womit ein entsetzliches System der menschlichen Knechtschaft endete, das im 18. Jahrhundert auf einen mit dem der amerikanischen Sklaverei vergleichbaren Grad der Unmenschlichkeit hinabgesunken war.[33]1864 wurde das Justizwesen reformiert, und es entstand eine unabhängige Rechtsprechung, die besagte, dass alle Russen – mit Ausnahme der Bauern, der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit – vor dem Gesetz gleich sein sollten. Im selben Jahr erhielten die Gemeinden größere Befugnisse zur Abwicklung ihrer Angelegenheiten, hauptsächlich im Bereich der öffentlichen Erziehung, des Gesundheitswesens und des Straßenbaus. Dazu wurden Semstwos geschaffen, das heißt gewählte, von der Zentralregierung getrennte Selbstverwaltungsorgane. Alexander II., der »Zar-Befreier«, hatte einen Plan gebilligt, zusammen mit einer kleinen Zahl von Gesellschaftsvertretern weitere Reformen (die sogenannte Loris-Melikow’sche-Verfassung) zu erwägen, als ihn Mitglieder der Untergrundorganisation Narodnaja Wolja (Volkswille) am 1. März 1881 mit einer Bombe in die Luft jagten.

Nach seiner Thronbesteigung zerriss Alexander III. die Loris-Melikow’sche-Verfassung und gab ein kaiserliches Manifest heraus, in dem er die unverfälschte und absolute Selbstherrschaft bekräftigte. Innenminister Graf Dmitri Tolstoi beschrieb das neue Regierungsprogramm knapp mit einem einzigen Wort: »Ordnung.«[34] Gegenmaßnahmen wurden eingeleitet, um die Reformen der 1860er Jahre aufzuheben oder einzuschränken. Im Sommer 1881 erließ die Regierung neue Provisorische Verordnungen, die dazu dienen sollten, den Frieden aufrechtzuerhalten und die öffentliche Ordnung zu schützen. Dadurch wurde die Regierung mit noch größerer Macht ausgestattet, ihre Untertanen zu beaufsichtigen, zu verhaften und zu verbannen. Sie erhielt sogar die Befugnis, Stadträten und Semstwos das Versammlungsrecht zu verweigern und jeden, der als politisch unzuverlässig galt, aus solchen Gremien zu entfernen. Die Provisorischen Verordnungen, die nur drei Jahre lang hätten in Kraft sein sollen, wurden von Alexander III. und später von Nikolaus II. wiederholt erneuert, so dass eine Art Kriegsrechtsituation entstand.[35]

Alexander III. setzte neuerliche Repressionen in Gang und kaum etwas anderes. Obwohl manche in ihm den wiedererstandenen Geist Peters des Großen mit dessen Stock erkennen konnten, sahen andere nichts als den Knüppel.[36] Er benötigte die Gesellschaft nicht, nicht einmal deren konservativste, autokratischste Mitglieder. Im März 1881 gründete eine Gruppe adliger Konservativer die Heilige Druschina, um das Leben des neuen Zaren zu schützen und um den Revolutionären zu Leibe zu rücken. Als ihre Mitglieder, darunter Graf Sergej Scheremetjew, zu bemerken wagten, dass repressive Maßnahmen allein vielleicht nicht ausreichten, um die Feinde des Regimes zu besiegen, und dass man Änderungen des Regierungswesens ins Auge fassen solle, prangerten die Minister des Zaren die Heilige Druschina an und zwangen sie, sich aufzulösen. Laut Minister Dmitri Tolstoi war sie mit »verderblichem Liberalismus« infiziert.[37]  

Nikolaus, der Sohn und Erbe Alexanders III., hielt sich in Liwadija auf der Krim auf, als man ihm im Oktober 1894 mitteilte, dass sein Vater gestorben sei. Nach der Schilderung seines Schwagers, des Großfürsten Alexander Michailowitsch, nahm der benommene Nikolaus ihn beim Arm und sagte: »Sandro, was soll ich tun? Was wird mit uns geschehen, mit mir, mit dir und Xenia, mit Alix und Mutter, mit ganz Russland? Ich bin nicht vorbereitet darauf, Zar zu sein. Ich habe nie einer werden wollen. Ich verstehe nichts von Regierungsgeschäften. Ich habe nicht einmal eine Idee davon, wie ich zu den Ministern sprechen soll. Willst du mir helfen, Sandro?« Der Großfürst – und die Geschichte – sollten die Wahrheit von Nikolaus’ Worten bestätigen. Alexander Michailowitsch schrieb, dass Nikolaus’ »persönliche Eigenschaften für einen einfachen Bürger lobenswert, jedoch für einen Zaren verhängnisvoll gewesen seien«.[38] Schwach, unschlüssig, von den Pflichten der Herrschaft überwältigt und dem »Schicksal« unbeirrbar ergeben, sollte Nikolaus unheilvoll für sich selbst, für seine Familie und für Russland handeln.

Von Beginn seiner Herrschaft an gelobte Nikolaus, im Geist seines verstorbenen Vaters zu regieren. Er hielt die straffe Pressezensur aufrecht, beschränkte den Einfluss der Semstwos und erneuerte die Provisorischen Verordnungen. Als ihm eine Delegation von Semstwo-Vertretern im Januar 1895 eine lange und erfolgreiche Herrschaft wünschte und zu erwähnen wagte, dass die Semstwos die Regierung mit den Hoffnungen des Volkes vertraut machen wollten, unterbrach Nikolaus sie und bezeichnete ihr Ansinnen als »absurden Traum«. »Jeder soll wissen«, erklärte er, »dass ich all meine Kräfte dem Wohl des Volkes widmen und dabei die Prinzipien der Autokratie so energisch und unerschütterlich hochhalten werde wie mein verstorbener, unvergesslicher Vater.«[39]

Aber er konnte weder das eine noch das andere. Während der Vater gewusst hatte, was er wollte, war sich sein Sohn nie sicher; während der Vater entschlossen gehandelt hatte, fiel es dem Sohn schwer, an seinen Entscheidungen festzuhalten. Da Nikolaus unbedingt zeigen wollte, dass er das Staatsruder fest in der Hand hielt, beharrte er darauf, fast jedes für die Verwaltung eines großen Reiches erforderliche Detail zu überwachen. Es dauerte nicht lange, bis der überforderte Monarch von seiner Unschlüssigkeit wie gelähmt war. Konfrontiert mit schwierigen Problemen erbleichte er zumeist, zündete sich eine Zigarette an und verfiel in Schweigen.[40] Salonwitzbolde scherzten, dass »Russland keine Verfassung braucht, um die Monarchie zu beschränken, da es schon einen beschränkten Monarchen hat«. Ein Klima der Verwirrung, des Stillstandes und des ziellosen Dahintreibens ging vom Zarenthron aus und infizierte die Regierung.[41]

Allerdings gab es einen Aspekt der russischen politischen Kultur, der die Herrschaft Alexanders III. überlebte. Die Russen sprechen von proiswol, »reiner Willkür«. Proiswol haftete den Operationen der Ochrana an, der Geheimpolizei, die Terroristen bekämpfen sollte, doch jeden, sogar die loyalen Untertanen des Zaren, der Staatsgefährdung zu verdächtigen schien. Proiswol war an den umfassenden Befugnissen vieler Provinzgouverneure zu erkennen, die oftmals als korrupte Satrapen über riesige Gebiete des Reiches herrschten. Die gebildeten Schichten, besonders die Männer in den Semstwos, deren Arbeit die Gouverneure behinderten und deren Zuständigkeit sie zu durchkreuzen suchten, verübelten ihnen ihre Macht am heftigsten. Die Einmischung des Staates in die Funktionen der Semstwos sollte weitreichende Konsequenzen haben, denn um 1900 wurden die Semstwos vom Adel dominiert und dadurch, dass die Regierung gegen sie einschritt, machte sie sich ihren wichtigsten Verbündeten zum Feind.[42]

 

 

Ende des 19. Jahrhunderts umfasste der Adel nahezu 1,9 Millionen Menschen, rund 1,5 Prozent der gesamten Bevölkerung des Russischen Reiches. Es war eine vielfältige Gruppe, durch Nationalität (Russen, Polen, Georgier, Baltendeutsche), Religion (Russisch-Orthodoxe, Katholiken, Lutheraner), Bildung und Vermögen (von hochqualifiziert und reich bis zu ungebildet und arm) und politische Einstellungen (von reaktionär bis hin zu revolutionär) in sich gespalten. Es gab Erbadlige, deren Privilegien auf ihre Nachkommen übergingen, und auf Lebenszeit ernannte Adlige, deren Sonderstatus nicht vererbt wurde. Die Vielfalt unter dem Adel des Reiches war so groß, dass Historiker immer noch uneins darüber sind, ob man ihn überhaupt als eigenständige Gesellschaftsschicht betrachten sollte.[43] Wenn es etwas gab, das alle Angehörigen dieser Gruppe kennzeichnete, so war es, wie ein Kommentator 1895 in Die Aufgaben des Adels schrieb, ein gewisses Gefühl, »zu den Erwählten zu gehören, privilegiert zu sein, sich von allen anderen zu unterscheiden«.[44] Der russische Adel war jedoch nie eine Schicht reicher Müßiggänger. Vielmehr handelte es sich stets um einen Dienstadel, der zunächst seine Privilegien und dann zunehmend seine eigene Identität aus der Ausübung von Ämtern für die Großfürsten des Moskauer Reiches und später für die Zaren des imperialen Russland – sei es am Hof, im Militär oder in der Verwaltung – herleitete.

An der Spitze des Adels stand die aristokratische Elite: ungefähr hundert Familien mit einem gewaltigen Grundbesitz, der mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückdatierte. Diese Personen bekleideten häufig hohe Stellungen am Hof und in der Regierung.[45] Die Aristokratie hatte typischerweise alte Wurzeln, war blaublütig und reich. Ihre Angehörigen heirateten untereinander und empfanden sich als besondere Gruppe. Aristokraten besuchten die gleichen Clubs und Salons, und die jungen Männer dienten in Eliteregimentern wie der Chevaliergarde, der Pferdegarde und der Kaiserlichen Husaren-Leibgarde. Ein Teil der Aristokratie (darunter die Golizyns, Gagarins, Dolgorukis und Wolkonskis) stammte von den alten Fürstendynastien Rjuriks und Gedymins ab; andere kamen aus Bojarenfamilien des Moskauer Hofes, vornehmlich die Naryschkins und die Scheremetjews, von denen ein Zweig unter Peter dem Großen den Grafentitel erwarb; oder aus anderen alten Adelsfamilien, die, wie die Schuwalows, Woronzows und Orlows, in den Kavallerieeinheiten gedient hatten.[46]

Prinzessin Sofia (Sophy) Dolgorukaja, im letzten Jahrzehnt des zaristischen Reiches geboren, erinnerte sich, dass »in den alten Tagen jede normale Sterbliche, die nicht von Haus aus Teil der privilegierten Kaste war, als ›nicht geboren‹ angesehen wurde. ›Elle n’est pas née‹ war eine Wendung, an die sich meine jungen Ohren durchaus gewöhnt hatten, denn so bezeichnete meine Großmutter Frauen, die in den exklusiven Club der europäischen Aristokratie eingeheiratet hatten und keinen eigenen Titel für sich beanspruchen konnten.« (Allerdings bewahrte ihre Großmutter, wie Sophy in ihren Erinnerungen hervorhebt, Stillschweigen über die Tatsache, dass ihre Urgroßmutter auf einem Sklavenmarkt in Konstantinopel von einem österreichischen Prinzen gekauft und dann als Gewinn in einem Kartenspiel an den polnischen Grafen Potocki weitergereicht worden war.) Während die Mitglieder dieser winzigen Elite unterschiedliche Interessen und Standpunkte hatten, schätzten sie laut Sophy alle eine hohe Bildung, besaßen unvorstellbaren Reichtum (was allerdings nie erwähnt wurde, weil es einen völligen Mangel an Lebensart verraten hätte) und schwelgten in »einem Luxus, der ein natürlicher Teil ihrer Existenz war«.

»So wurden zum Beispiel Laken und Kissenbezüge täglich gewechselt. Alle bestanden aus feinem, kühlem Leinen mit auf jedes Stück gesticktem persönlichem Initial und einer Krone (zur Kennzeichnung des Titels). Unterwäsche wurde natürlich nie zweimal getragen, und man ersetzte Handtücher sofort nach dem Gebrauch. Die Tischtücher auf den langen Tafeln und die an jedem Platz kompliziert gefalteten Servietten wiesen sogar ein in die Mitte gewebtes Familienwappen auf. Selbstverständlich hatte jedes große Haus eine eigene Wäscherei, dazu eine Überfülle von Bediensteten, die mit ihren Angehörigen nach feudaler Art an zwei Seiten des Gebäudes um den Hof, über den Ställen und Garagen wohnten. Im Rückblick auf den Haushalt der Dolgorukis ist es unglaublich, dass so viele Personen benötigt wurden, um für das körperliche Wohlbefinden einer einzigen Familie zu sorgen.

In dem großen, mit Marmor ausgelegten Foyer saß der swetzar, dessen Aufgabe nur darin bestand, die Tür zu öffnen und den roten Teppichstreifen zum Auto oder zur Kutsche auszurollen, damit die Schuhe der Eintreffenden oder Abfahrenden nicht durch Berührung mit dem Pflaster beschmutzt wurden. Im Foyer leisteten ihm die beiden livrierten Lakaien, die am jeweiligen Tag Dienst hatten, oder – wenn mein Onkel anwesend war – zwei Kosaken in voller Uniform Gesellschaft.«[47]

Unterhalb des Hochadels befand sich die große Masse der Adligen, welche die Ränge des Offizierskorps und der Zivilverwaltung füllten oder als Anwälte, Ärzte, Lehrer und Naturwissenschaftler sogenannte freie Berufe ausübten. Um die Jahrhundertwende war etwa die Hälfte aller städtischen Adligen entweder im Staatsdienst oder in den erwähnten Berufen tätig; die zweitgrößte Kategorie setzte sich aus Rentiers zusammen.[48] Traditionsgemäß stellte der Adel die Grundeigentümer, woran sich bis 1917 nichts änderte. Vor 1861 hatten die Landbesitzer von der Arbeit vieler Millionen Leibeigener gelebt und teils märchenhafte Reichtümer angesammelt. Wenn es ein Bild des vorrevolutionären Landadels gibt, das sich der allgemeinen Vorstellung eingeprägt hat, so ist es das der Ranewskis in Anton Tschechows Kirschgarten. Unbemittelt, von der Tradition gefesselt, durch die Kräfte der Moderne zum Untergang verurteilt kann Ljubow Ranewskaja es nicht über sich bringen, den Kirschgarten abholzen und das Land an Sommerurlauber vermieten zu lassen (»Sommerfrischler und Sommerhäuser – verzeihen Sie, aber das ist so gewöhnlich«, sagt sie mit einem Seufzen), worauf sie ihr Gut und alles, was ihr teuer ist, verliert.[49]

Es ist verlockend, Tschechows Stück soziologisch zu interpretieren und in der Geschichte der Ranewskis die Misere des gesamten russischen Adels widergespiegelt zu sehen, das heißt einer alten Gesellschaftsschicht, die sich unaufhaltsam dem Aussterben entgegenbewegt. Aber die Realität war nie ganz so düster. Der niedere Landadel wurde tatsächlich immer ärmer, und viele Familien mussten ihre Grundstücke verkaufen; zwischen 1861 und 1905 verlor der Landadel im Jahr entweder durch Verkauf oder Zwangsvollstreckung durchschnittlich ein Prozent seines Grundbesitzes. Trotzdem gehörten dem Adel noch 1915 mehr Ländereien als jeder anderen Gruppe.[50] Zudem war der Landverkauf für vermögendere Adlige keine Notwendigkeit, sondern ein geschickter ökonomischer Schachzug. Überall in Europa machte man sich damals den steilen Anstieg der Bodenpreise zunutze, um Grundstücke mit hohem Gewinn zu veräußern und den Erlös in Wertpapiere zu investieren. Um 1910 lebte fast die Hälfte der Adligen in St. Petersburg von solchen Kapitalerträgen. Graf Sergej Scheremetjew und sein Halbbruder Alexander besaßen über 46 Gewerbeimmobilien in St. Petersburg und Moskau, die ihnen solide Erträge einbrachten. Graf Alexander verkaufte zudem Land, um in Banken und Aktiengesellschaften zu investieren, was sich als recht profitabel erwies. Im Jahr 1914 baute Graf Sergej Scheremetjew eines der ersten Einkaufszentren von St. Petersburg, die sogenannte Scheremetjew-Passage. Und im Jahr 1910 hielt er es – ganz im Gegensatz zu Tschechows Madame Ranewskaja – durchaus nicht für vulgär, ein Gutteil des Landes auf seinem Familiensitz Kuskowo an Moskauer, die Sommerhausgrundstücke suchten, zu verpachten.[51]

 

 

Jahrhundertelang hatten sich die russischen Zaren darauf verlassen, dass der Adel die Ordnung in den Landgebieten aufrechterhielt. Auch nach der Befreiung der Leibeigenen im Jahr 1861 dienten die Adligen infolge des Mangels an staatlichen Verwaltern auf lokaler Ebene bis 1917 unverändert als faktische Machthaber des ländlichen Russland.[52] Die rund 30000 Adelsfamilien, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf ihren Gütern verweilten, repräsentierten kleine, isolierte Inseln der Privilegien und der Autorität in einem weiten bäuerlichen Meer der Armut und der Verbitterung, denn noch vierzig Jahre nach der Befreiung lastete das Vermächtnis der Leibeigenschaft schwer.[53] Die Bauern waren immer noch ergrimmt, da sie mit der Freiheit nicht auch das Land erhalten hatten, das sie, da sie es bestellten, als ihr Eigentum ansahen. Vielmehr hatte man sie, um den Adel zu entschädigen, dazu gezwungen, Grund und Boden durch Tilgungszahlungen an den Staat zu kaufen. Der Landbesitz war zunehmend zu einer Quelle des Ärgers geworden, denn durch die explosionsartige Zunahme der Agrarbevölkerung hatte sich eine erhebliche Verknappung der Grundstücke ergeben. Bauern mussten, oftmals zu hohen Preisen, Land von Adligen pachten, wodurch ihre schwere Arbeit am Jahresende kaum einen Ertrag erbrachte. Die Bauernschaft versank immer tiefer in Armut, weshalb die Latifundien des Adels immer stärkere Begierden auslösten. Die meisten Bauern in den russischen Schwarzerdeprovinzen ernährten sich von Brot, Sauerkraut und Zwiebeln. So mühselig war ihr Leben, dass mehr als drei Viertel der 1891 einberufenen Bauernsöhne wegen ihrer schlechten Gesundheit für dienstuntauglich erklärt wurden.[54]

Auch nach der Erlangung ihrer Freiheit lebten die russischen Bauern in einem Zustand der Abhängigkeit und in einer von der ihrer früheren Herren und anderer privilegierter Gesellschaftsgruppen separaten Welt. Als Einzige waren sie an die herkömmlichen Dorfgesetze gebunden; sie hatten nicht das Recht, ihr Land ungehindert zu verkaufen; ihre Steuern waren proportional höher als die der Adligen; und bis 1889 mussten sie sich, um ihr Dorf verlassen zu können, einen Pass ausstellen lassen, der ihnen nur dann bewilligt wurde, wenn sie all ihre Tilgungs- und Steuerzahlungen geleistet und ihre Schulden bei der Kommune beglichen hatten.[55] Adlige und Bauern waren nicht nur durch wirtschaftliche Schranken, sondern auch durch noch höhere kulturelle Barrieren voneinander getrennt. Die Adligen, Kinder der Reformen Peters des Großen, waren überwiegend europäisiert. Die Bauern dagegen lebten in einer kulturellen und geistigen Welt der Traditionen, der Bräuche und des religiösen Glaubens, die sich seit den Tagen des frühen Moskauer Reiches kaum geändert hatte und in der man die Adligen resigniert als gestrauchelte Christen oder gar als Kräfte des Bösen einstufte.[56]

Adlige und Bauern verhielten sich lange nach 1861 weiterhin so, als wären sie Gebieter und Untertanen. Noch im Jahr 1910 fielen Bäuerinnen auf die Knie, als Prinzessin Barbara Dolgorukaja in der Umgebung ihres Familienguts ausritt. Die Prinzessin empfand die uralte Geste als anstößig und verbot den Frauen strikt, sie in Zukunft zu wiederholen. Fortan blieben die Bäuerinnen stehen, denn die einfache Landbevölkerung war es gewohnt, den Adligen zu gehorchen (jedenfalls in deren Anwesenheit).[57]

Alexander Dawydow, 1881 als Kind eines prominenten Adelsgeschlechts geboren, war verblüfft über das, was er vorfand, als er 1905