Der letzte Titan - Maximilian Wagner - E-Book

Der letzte Titan E-Book

Maximilian Wagner

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Äonen vor unserer Zeit verwüstete der Krieg zwischen Göttern und Titanen die gesamte Erde. In einer letzten epochalen Schlacht wurden die mächtigen Titanen schließlich besiegt und im Tartaros eingesperrt. Seitdem brennen sie darauf auszubrechen und den Kampf wieder aufzunehmen. Dies würde unsere Welt in ein neues, alles verheerendes Chaos stürzen. Ein einziges Tor steht zwischen unserer Existenz und ihrem Untergang, verschlossen durch acht uralte Siegel. Die größten Krieger ihrer Epochen, von der Antike bis zur Neuzeit, wurden als deren Hüter und gleichfalls Wächter auserkoren, ohne ihre wahre Bedeutung zu kennen. Doch sie werden von finsteren Mächten ohne Unterlass gejagt und über die Jahrhunderte hinweg verblieb nur ein letztes Exemplar in unserer Welt. Lena, einer jungen Lehrerin, fällt dieses letzte Siegel in die Hände. Bevor sie überhaupt ihre neue Rolle als Wächterin erahnt, wird auch sie entführt und findet sich in den postapokalyptischen, von grauenvollen Kreaturen besetzten Ruinen einer Stadt wieder. Am Rand der Unterwelt ist für sie allein das Überleben eine beinahe unmögliche Herausforderung. Damit nicht genug steht auch das Schicksal unserer Welt auf dem Spiel. Glücklicherweise haben andere, kampferprobte Wächter aus vergangenen Zeitaltern den Bedrohungen in der Stadt bisher standgehalten. Doch um zu entkommen, müssen sie sich der letzten Schlacht um die Siegel stellen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maximilian Wagner

Der letzte Titan

Gefangen am Rand der Unterwelt

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Kapitel 1

Flucht

1

Chicago, eine Stadt mit vielen Namen. An diesem sonnigen Junimorgen dachte man wohl am ehesten an 'the windy city'. Wie der Wind strömten auch Millionen Menschen auf den Straßen zwischen den Häuserschluchten entlang. Unter ihnen, zwischen all diesen Hochhäusern, ging auch William Eagle seiner Wege.

Für jene, die ihn kannten, ein liebenswürdiger alter Mann oder gar ein guter Freund. Für alle anderen ein unbedeutender Buchhändler. Doch es war egal, für was ihn die Menschen hielten – sie wussten es nicht besser. Auf seinen Schultern lastete mehr Verantwortung, als die gesamte Stadt je hätte tragen können. Er war ein Wächter.

Wie jeden Tag ging jener William Eagle die letzten zwei Kilometer zu Fuß zur Arbeit. Er wohnte in einem der vielen Vororte und der gesamte Weg wäre zu lang gewesen, deswegen fuhr er den Großteil mit dem Bus.

Ein beunruhigendes Gefühl begleitete ihn. Ähnlich dem, wenn man nach einem Horrorfilm alleine im Dunkeln durch das Haus geht. Es störte ihn aber nicht, denn er hatte dieses Gefühl seit einigen Wochen. Er hätte sich vielleicht des Öfteren umgesehen oder umgedreht, wäre es neu für ihn gewesen. Doch so ließ er sich nichts anmerken. Unter den vielen Leuten auf der Straße fiel er nicht auf, auch wenn er der Einzige war, der bei diesem warmen Wetter einen Mantel trug. In diesem Großstadtgetümmel war der Einzelne nicht wichtig.

Ein Augenpaar beobachtete ihn dennoch. Es folgte ihm. William hätte den Besitzer sehen können, hätte er nur einmal nach hinten geblickt.

Dieser Verfolger war aber auch nicht der Auslöser für sein mulmiges Gefühl. Etwas anderes warf einen viel größeren Schatten auf William. Größer und dunkler, als es die höchsten Gebäude in Chicago gekonnt hätten. Vielleicht waren es die Wesen – William nannte sie einfach nur Dämonen – die ihn vor langer Zeit zur Flucht aus Deutschland veranlasst hatten. Die Geschehnisse von damals – bei denen er fast alles verloren hatte – wollte er eigentlich vergessen, schob sie in die hinterste Ecke seines Kopfes. Doch nun holten sie ihn scheinbar ein.

Egal was jetzt hinter ihm her war, es war nicht ungefährlicher und es kam näher. Seine Träume verrieten es ihm. In ihnen lief er davon. Auch wenn er sich dort niemals umdrehte, er wusste, jemand oder etwas verfolgte ihn. Am ehesten waren diese Träume vergleichbar mit denen von Kindern, die darin vom Teufel gejagt werden. Doch die Träume von William waren realer, gefährlicher. Die Angst verschwand auch nicht kurz nach dem Aufwachen. Sie blieb den gesamten Tag über erhalten und beschaffte ihm dieses beunruhigende Gefühl.

Als die Träume begannen, sah er in jedem Schatten einen Verfolger. Alle paar Schritte sah er sich in der Gegend um. Wenn ihn jemand ansprach, auch nur zur Begrüßung, schrak er zusammen. Er war so vertieft in dem Gedanken, jemand würde ihn jagen, dass er nicht selten die Straßenseite wechselte, ohne auf den dichten Verkehr zu achten. Einmal wachte er wie aus einer Trance auf. Er stand mitten auf der Straße und zu seiner Linken blickte er in den Kühlergrill eines Trucks. Das dauerhafte Dröhnen der Hupe hatte ihn geweckt – an die lautstarke Bremsung zuvor, erinnerte er sich nicht mehr.

Nach diesem Vorfall versuchte er sich mehr zu konzentrieren und es gelang ihm, die Angst allmählich unter Kontrolle zu bringen. So überlebte er wenigstens die täglichen Spaziergänge, ohne überfahren zu werden.

2

William hatte sein Geschäft erreicht. Er war jedoch auf der anderen Straßenseite, denn bevor er es öffnen würde, ging er wie jeden anderen Tag in das gegenüberliegende Restaurant Madelaine. Mit dem Schritt durch die Tür unter der Neonreklame ließ er die Angst hinter sich.

Der Innenraum des Lokals war einem typisch amerikanischem Diner aus den fünfziger Jahren nachempfunden. Große Fenster mit abgerundeten Ecken an der Straßenseite. An der gegenüberliegenden Wand zahlreiche Spiegel und Blechschilder mit Werbung. Dazwischen lange Reihen aneinandergeschraubter Bänke, mit Ledersitzen und Tischen, ähnlich einem Zugabteil.

Wie so oft, wenn William eintrat, war es fast leer. Die meisten Gäste waren schon auf der Arbeit oder würden erst noch zum Brunch kommen. Nur Jack Harsen – einige meinten, er sollte seinen Nachnamen in Daniel umändern – saß in der hintersten Ecke und trank seinen Kaffee. Vielmehr, sein Kopf lag auf dem Tisch und die Tasse stand daneben. Die Sucht begann als er arbeitslos wurde, vor etwa einem Jahrzehnt. Seitdem war er jeden Morgen Dauergast und genoss Hits aus den Siebzigern und Achtzigern, die das Radio ausspuckte. Eine bessere Zeit, zumindest für ihn.

„Hey Jack.“

Keine Reaktion. William wollte ihn nicht stören, beachtete ihn daher nicht weiter und näherte sich stattdessen der Theke. Diese war so breit wie der Raum selbst, mit einem Durchgang, etwa in der Mitte. Davor Edelstahlhocker, natürlich auch mit Ledersitzen. Dahinter erneut der Schriftzug „Madelaine’s“ als Neonreklame, weitere Spiegel und Schilder und natürlich die Speisekarte. Dazwischen auch die Tür zur Küche. Das Interessanteste für William stand jedoch direkt hinter der Theke. Dieses Lächeln, welches ihn seit zwanzig Jahren begrüßte, ließ beinahe alle Sorgen verfliegen.

„Da ist ja mein Lieblingsbuchhändler. Guten Morgen William.“

„Guten Morgen Linda, meine Lieblingsbedienung, die selbst in dieser Schürze noch gut aussieht.“

Dafür brauchte William nicht zu lügen. Im Gegensatz zu ihm zierten erst wenige, kaum sichtbare Falten ihr Gesicht. An ihrer glänzenden brünetten Mähne sah man kein einziges graues Haar. Letztes Jahr hatte zwar eine Fünf die Vier an erster Stelle ihres Alters ersetzt, doch ihrem Aussehen nach, hätte es auch noch eine Drei sein können. Dafür sprachen auch die Avancen von Männern in diesem Alter, die nicht selten waren. Jogging und Yoga neben guter Ernährung waren dafür verantwortlich.

William nahm seinen Hut ab. Er war nicht ungepflegt, doch sein schütteres Haar war so durcheinander wie sein Kopf. An seinem gewohnten Stammplatz am Fenster in erster Reihe ließ er sich nieder. Sein Rücken knackte.

„Ah, meine Knochen werden auch nicht mehr jünger.“

„Ach komm, du scheinst mir noch immer so fit, wie du das erste Mal in mein Restaurant gekommen bist.“

„Schön wär's.“ Ihm war bewusst, dass er nicht mehr der Jüngste war und das Alter ihm langsam seinen Tribut abverlangte. Die Einladungen von Linda, mit ihr zu trainieren, schlug er immer wieder aus. Er hatte es probiert, doch nach dem ersten Kilometer zu schnaufen, wie ein Läufer nach einem Marathon, hielt er nicht für besonders vielversprechend. Auch ihre Aussagen, dass es von Mal zu Mal besser werden würde, halfen nicht ihn zu überreden weiterzumachen.

„Ist so, auch wenn die Ringe unter deinen Augen für zu wenig Schlaf sprechen. Irgendetwas nicht in Ordnung? Die hast du nun schon seit, hm … gut zwei Wochen?“

Das war das Einzige, was er nicht vor ihr verbergen konnte. In ihrer Nähe fühlte er sich gut. Die Müdigkeit verflog jedes Mal, sobald er sie sah, so wie die Angst vor ihrer Tür blieb.

„Doch, alles in Ordnung. Ich lese nur etwas zu viel und bleib daher oft zu lange wach.“ Er belog sie nicht gerne, aber er wollte sie auch nicht beunruhigen. Die Träume und was damit zusammenhing, waren sein eigenes Problem.

„Okay“, sagte sie. Doch es war nicht wirklich okay. Auch wenn sie ihn sehr mochte, oder gerade deswegen, glaubte sie ihm diese Aussage nicht. Neben den müden Augen hatte er zudem einen Vollbart bekommen, was vorher gar nicht sein Stil war. Ihr war auch nicht entgangen, dass er in den letzten Wochen einiges an Gewicht verloren hatte. Er war schon immer schlank, doch nun wirkte er hager, beinahe abgemagert. Seine Wangenknochen traten zunehmend hervor und an den Händen konnte man jeden einzelnen Knochen sehen.

Aber sie wollte, dass er von alleine mit ihr redet, sie wollte ihn nicht dazu zwingen. Stattdessen ließ sie dieses Thema beiseite. Irgendwann würde er mit der Sprache rausrücken, bestimmt.

„Was darf ich dir denn heute bringen?“

„Dasselbe wie jeden Morgen“, antwortete er.

„Ok, dasselbe wie jeden Morgen, Kaffee und Ei mit Schinken. Kommt sofort.“

Linda Smith wanderte schon als kleines Kind mit ihrer Familie in die USA ein. Nach der Schule arbeitete sie einige Jahre als Kellnerin, bevor sie mithilfe ihrer Eltern ihr eigenes Restaurant eröffnete. Benannt hatte sie es nach ihrer Großmutter, die wenige Wochen zuvor verstarb. William war bei Weitem nicht ihr einziger, aber ihr erster Stammgast. Von Beginn an kam er gerne hier her, nicht nur wegen des guten Essens.

Das hättest du eventuell auch haben können, alter Knabe,dachte William, als er durchs Fenster sah. Auf dem Gehsteig betrachtete er eine junge Frau mit einem deutlich älteren Herren an der Seite, Arm in Arm.Hätte er etwas mehr über seine Schulter gesehen, hätte er eventuell auch den Mann bemerkt, der ihm gefolgt war und nun vor dem Restaurant auf ihn wartete. Doch die verschwommene Gestalt in seinem Augenwinkel interessierte ihn nicht weiter.Zu sehr war er in seinen Gedanken versunken. Gedanken über sich und Linda, die ihm öfter durch den Kopf gingen, wenn er, wie jetzt, in ihrem Restaurant saß und auf die Lincoln-Avenue hinaussah.

Zehn Jahre trennten die beiden. Doch es war nicht der einzige Grund, dass er es nie bei ihr versucht hatte. Er kam nur sechs Monate vor der Eröffnung ihres Geschäfts und ihrem ersten Aufeinandertreffen in Chicago an. Die Last der Vergangenheit und der Gegenwart ließen ihn damals wenig an Sachen wie eine neue Liebe denken. Zeitweise war sie auch vergeben. Mittlerweile hielt er es für zu spät. Immerhin verband sie eine gute Freundschaft.

„So bitte, Kaffee und Ei mit Schinken. Wohl bekomms der junge Herr.“

Noch immer eine Schönheit.Er sah sie wie ein verliebter Teenager an - nur nicht ganz so albern, sein Mund war geschlossen.

„Iss lieber, bevor es kalt wird, statt mich anzustarren.“

Er fing sich im Leuchten ihrer grünen Augen, die ihm zuzwinkerten. Ihre Lippen waren erneut zu einem Lächeln geformt. Diesen Mund hätte er gerne öfter geküsst, als ein einziges Mal zu Weihnachten, vor gut neun Jahren, unter einem Mistelzweig. Auch wenn er kein Kind von Traurigkeit war, die meisten Nächte der vergangenen zwei Jahrzehnte verbrachte er alleine.

3

„Danke, dein Frühstück allein wäre ein Grund dich zu heiraten“, sagte William, als er fertig mit Essen war und Linda sein Geschirr abholte.

„Nur das Beste für dich. Ich räum' das mal schnell weg.“

Darauf verschwand sie und kam mit zwei Tassen Kaffee aus ihrer kleinen Küche zurück. Sie setzte sich nun zu William und schob ihm eine davon hinüber.

„Nun erzähl mal, was macht ein vielbeschäftigter Mann wie du am vierten Juli?“

„Bis dahin ist es doch noch über eine Woche. Wenn ich das jetzt schon geplant hätte, hätte ich es bis dahin sicher wieder vergessen.“

Das Schmunzeln in seinem Gesicht war nicht zu übersehen, und auch wenn sie dadurch kurz abgelenkt war und selbst grinste, kam sie auf ihre Frage zurück.

„Noch gar keine Pläne für den Tag?“

Er überlegte kurz.

„Naja, wenn ich spontan antworten muss. Ich dachte mir, ich könnte mit einer hübschen Frau wie dir ein Picknick im Park unternehmen und abends noch in irgendeinen Film gehen. Natürlich nicht in die Spätvorstellung, ein alter Mann wie ich braucht seinen Schlaf.“

„Hm, die Idee gefällt mir, abgemacht. Hol mich hier um elf Uhr ab.“

„Okay, mit Vergnügen.“

Dass es so einfach war, verwunderte ihn. Aber er war erfreut, dass sie sein Angebot angenommen hatte, auch wenn er es eigentlich nur als Scherz meinte. Seine erste Verabredung seit einer halben Ewigkeit. Dass er verfolgt wurde, war ihm in diesem Moment entfallen.

„William?“, fragte plötzlich ein Mann in Schwarz neben ihm und holte ihn in die Realität zurück. Dem Anschein nach in etwa so alt wie er selbst. An seinem Hemdkragen trug er ein Kollar, einen weißen Klerikerkragen. Seine Stimme war rau und ernst. Keiner der Beiden am Tisch hatte sein Erscheinen im Café bemerkt und Jack bekam sowieso nichts mit.

„Ihr?“ William klang überrascht und genervt zugleich. Linda war so erstaunt, dass sie nur zusah, statt zu versuchen ihn zu bewirtschaften.

„Ja, ich bin es William. Wir müssen reden, ihr könnt euch denken, worum es geht.“

Selbstverständlich konnte er sich das denken. Nun hatte er auch wieder dieses unbehagliche Gefühl. Es war mit dem Mann durch die Eingangstür gekommen. Ihm wurde flau im Magen. Und obwohl es draußen schon über zwanzig Grad waren – im Restaurant war es noch wärmer – fröstelte es ihn und er bekam Gänsehaut im Nacken und auf den Armen. Er versteckte seine Hände unterm Tisch, damit Linda nicht sein leichtes Zittern bemerkte.

„In Ordnung“, sagte er. „Lasst mich nur kurz meinen Kaffee austrinken. Wir sprechen in meinem Laden, da drüben auf der anderen Straßenseite.“Du lästiger Parasit,fügte William in Gedanken hinzu. Am liebsten hätte er ihn sofort wieder in die Wüste geschickt, zusammen mit dem Unwohlsein, welches nun für den Rest des Tages nicht mehr weichen sollte. Doch er wollte vor Linda keine Diskussion mit ihm anfangen.

„Ich warte dort auf euch, lasst euch nicht zu viel Zeit Priester.“

Der Mann verließ das Restaurant und begab sich vor Williams Geschäft. Linda sah ihm nach, konzentrierte sich dann jedoch wieder auf ihren alten Freund, der ihr mit nachdenklichem Blick gegenübersaß.

„Herr William Eagle! Seit wir uns kennen, frage ich dich immer wieder über deine Vergangenheit. Und das Erste was ich erfahre kommt von irgendeinem dahergelaufenen Geistlichen.“

Sie stand vor ihm, die Hände in die Seiten gestemmt. Um ihrem Gesagten Nachdruck zu verleihen, stampfte sie mit dem rechten Fuß einmal auf – so kräftig, wie es einer zierlichen Person wie ihr möglich war. Wie eine erboste Frau die ihren Gatten zur Rede stellen will, weil er wieder Unfug getrieben hat. Vom Gehweg aus konnte man sie durch das dünne Glas hören, doch in einer Stadt wie Chicago interessierte so was niemanden. Jack schnarchte derweilen leise vor sich hin.

„Tut mir leid Linda. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich es dir erklären.“

„Ach, und innerhalb von zwanzig Jahren gab es die nicht?“

Er stand auf und trank seinen letzten Schluck Kaffee. Sein Griff war schwach, zittrig und er ließ die Tasse beinahe aus der Hand fallen.

„Entschuldige, aber ich muss nun rüber.“

„Warum … Warum so eilig? Was ist denn los William, hast du Probleme?“

„Keine die sich nicht lösen lassen.“ Sie atmete hörbar aus, beinahe resignierend, doch nur beinahe. „Sehr aussagekräftig. Wer ist das überhaupt?“

„Ein alter Bekannter.“

„Woher bekannt William? Warst du mal Priester, wie er meinte, oder bist du es sogar noch?“

„Das ist alles lange Zeit her. Wir müssen nur etwas klären.“

„Nach 'nur etwas klären' hörte sich das aber nicht an.“

Eigentlich hatte er es nicht eilig mit dem Geistlichen zu reden. Doch je schneller er ging, desto weniger musste er Linda erklären.

„Ich muss nun los. Tut mir wie gesagt leid Lin‘. Heute Mittag werde ich wohl nicht vorbeischauen können. Wir sehen uns in den nächsten Tagen“, sagte er und sah sie dabei nicht einmal mehr an.

„In den nächsten Tagen?“ Sie riss die Augen weit auf. Ihre Stimme klang nicht nur überrascht, sondern auch traurig. „Seit fast zwanzig Jahren besuchst du mein Lokal morgens und mittags, fast ohne Ausnahme. Und kaum kommt so eine seltsame Gestalt vorbei, kannst du tagelang nicht kommen? Was bedeutet das William?“

Er ahnte, dass er keine Zeit mehr haben würde. Und auch wenn er sich nicht sicher war, ging er lieber vom Schlimmsten aus. Das würde bedeuten, dass er endlich Vorbereitungen treffen müsste. Sie hingegen sah sich nun bestätigt in ihren Vermutungen. Irgendetwas Wichtiges verbarg er vor ihr. Etwas das ihn bedrückte und dies seit Wochen. Ihre größte Angst dabei war, dass er in Schwierigkeiten stecken könnte, die gefährlich für ihn waren.

„Später Linda, nun muss ich aber wirklich in meinen Laden, er wartet.“

„Später … und was wird aus dem Picknick?“

„Das machen wir, versprochen. Danke noch mal für das Frühstück.“

Er verschluckte sich fast bei der Antwort, auch wenn er es wirklich glaubte. Allerdings war dies das erste und letzte Versprechen, ihr gegenüber, was er nicht einhalten würde.

„William, du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du Probleme hast.“

„Ja, das weiß ich, danke.“

Er legte das Geld für sein Frühstück auf den Tisch und begab sich zur Tür. Den Kopf hielt er gesenkt. Er wollte sie nicht mehr ansehen, er konnte nicht mehr. Vor allem konnte er ihr nicht ins Gesicht sehen. Er befürchtete, er würde dann mehr als die eine Träne vergießen, die ihm nun schon im Auge saß.

„Pass auf dich auf William Eagle!“ Am liebsten hätte sie ihn gar nicht gehen lassen. Sie war kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und ihn festzuhalten. Aber sie vertraute seinen Worten.

„Einem alten Fuchs wie mir passiert nichts, nur keine Sorgen, wir sehen uns. Mach's gut.“

Doch die machte sie sich, Große sogar. Auch ihr kullerte eine Träne die Wangen hinunter. Es fehlte nicht mehr viel und die Dämme wären bei ihr gebrochen. Es fühlte sich für sie an, als ob dies ein Abschied für immer wäre. Ihr war zumute wie am Sterbebett ihrer Großmutter. So viele Versprechen, was sie noch hätten unternehmen wollen. Und doch raffte sie der Krebs am nächsten Tag endgültig dahin.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, schloss sich die Tür hinter William. Linda beobachtete, wie er auf der anderen Straßenseite, zusammen mit dem vermeintlich Geistlichen, seinen Laden betrat.

Sein Geschäft würde sie den ganzen Vormittag im Blick behalten. Sollte er es verlassen, würde sie zu ihm rüber stürmen und ihn zur Rede stellen. Das nahm sie sich zumindest in diesem Moment vor.

4

Das Klirren eines Windspiels erklang, als die beiden Männer den Buchladen betraten.

„Was für ein hübsches kleines Geschäft William. Läuft es gut?“

„Gut genug, dass man über die Runden kommt. Lasst uns in mein Büro gehen.“ Nichts lag William ferner als Smalltalk. Er wollte ihn außerdem schnellstmöglich wieder loswerden, bevor er sich bei ihm noch wohl fühlt und öfter vorbeikommt.

„Geht nur vor, ich folge.“

In dem kleinen Zimmer, im hinteren Teil des Ladens, befanden sich ebenfalls unzählige Bücher in den Regalen. Wie hätte es auch anders sein können? In der Mitte stand ein alter Schreibtisch, der wohl nicht viel weniger zu erzählen hätte, als eines dieser Bücher.

Sie setzten sich. Aus der Schublade holte William ein kleines Kästchen heraus. Er entnahm ihm eine Zigarre und zündete sie an, danach hielt er es seinem Gegenüber hin – aus Höflichkeit, nicht aus Freundschaft.

„Auch eine?“ Die Frage klang fast so kühl, wie er es empfand, in diesem Raum zu sitzen. Er fühlte sich in seinem Laden besser als auf der Straße, etwas sicherer. Bei Weitem jedoch nicht so wohl wie in Lindas Restaurant. „Nein danke, und ihr solltet auch nicht, vor allem nicht in eurem Alter William.“

„Als ob ihr euch Sorgen um mein Alter machen würdet.“ William lehnte sich in seinen Sessel. „Also, warum seid ihr zu mir gekommen?“

„Wirklich nette Büchersammlung, einige Werke sind älter als wir beide zusammen.“ Auch wenn er damit abschweifte, er hatte recht. Die eine oder andere Bibliothek wäre neidisch gewesen. Nicht nur von einigen neueren Büchern standen Erstausgaben in den Regalen. Manche waren aus dem 18. Jahrhundert oder sogar noch älter und hatten einen Wert von mehreren Hundert, wenn nicht Tausend Dollar.

„Hört auf damit, was wollt ihr Edward?“

„Nun … oh, 'Der grüne Heinrich', ein Original?“

„Lasst den Unsinn endlich und sagt mir lieber, warum ihr hier seid.“ Ihm riss allmählich der Geduldsfaden.

„William, warum so feindselig zu einem alten Freund?“

„Freund? Ihr ward es nie und werdet es auch nicht mehr sein. Jetzt sagt, was ihr wollt.“ William wollte diese Farce nicht länger ertragen, als es notwendig war. Seit etlichen Jahren kam Edward ab und zu bei ihm vorbei. Es handelte sich immer um dasselbe Thema.

„Ihr verletzt mich, aber gut. Es überrascht mich auch, dass ihr euch nicht denken könnt, warum ich zu euch komme. Ich vermute jedoch, ihr wisst bereits, dass 'sie' ebenfalls auf dem Weg zu euch sind.“

Scheiße,natürlich wusste er es. Spätestens ab jetzt konnte er es nicht einfach mehr als irgendein dummes ‚Gefühl‘ abtun. Wenn es schon andere außer ihm wussten, war es mehr als ernst und er musste handeln.

„Ja, ich befürchtete es schon. Doch was habt ihr damit zu tun?“

„Das Siegel William. Seid ihr in Gefahr, ist es dies auch. Wir könnten es schützen und euch ebenfalls.“

Selbstverständlich ging es um das Siegel. Dieses verflixte Ding, womit alles begonnen hatte. Welches sein Leben zerstört hatte und weswegen er verfolgt wurde. Dennoch durfte er es nicht einfach weggeben, er war ein Wächter und er hatte die Verantwortung dafür zu tragen. Soviel hatte er in seiner Zeit in Amerika herausgefunden. Und auch wenn er nicht wusste, welchen Zweck das Siegel erfüllte, widerstand er wiederholt dem Drang, es in die nächste Mülltonne zu werfen oder es Edward zu überlassen. In seinen Augen wäre das auf dasselbe hinausgelaufen.

William verschluckte sich am Rauch seiner Zigarre als er zu Lachen begann. Edward sah ihn dabei mit entsetzten Augen an. Eine Zornesfalte machte sich auf seinem Gesicht breit. „Was ist daran so lustig?“

„Ihr wollt mich 'und' das Siegel schützen?“

„Ja, so ist es.“

„Macht euch nicht lächerlich. Wenn ihr wüsstet, wo es ist, hättet ihr es längst gestohlen. Mein Leben schert euch einen Dreck. Wenn ich mit dem Siegel zu euch komme, wären 'sie' nicht mehr die größte Bedrohung für mich, sondern ihr.“

„Erneut verletzt ihr mich William. Ihr habt einmal zu uns gehört, warum sollten wir uns nicht um euch sorgen?“

„Nichts dergleichen habe ich. Ich war einmal Priester in Deutschland, ja. Aber mit euch habe ich nichts zu tun. Ich diente lediglich Gott und meiner Gemeinde. Und auch damit war es vorbei, als ich flüchten musste und mir dabei niemand geholfen hat.“

„Unsere Brüder in Europa wussten nichts von eurem Schicksal, wie hätten sie euch helfen sollen?“

„Wussten nichts? Ich bin mir sicher, sie haben mich beobachtet, seit dem mir mein Großvater das Siegel anvertraute, genau wie ihn davor.“

„Das sind alles haltlose Unterstellungen.“

„Redet was ihr wollt, von mir bekommt ihr es jedenfalls nicht.“

William zerdrückte seine Zigarre im Aschenbecher. Der Stuhl fiel beinahe um, als er ihn zurückschob. Er ging zur Tür und öffnete sie.

„Ihr könnt nun gehen, bei mir gibt es für euresgleichen nichts zu holen.“

Edward trat aufrecht vor William. Dieser würdigte ihn keines Blickes.

„Seid nicht so dumm Priester, ihr allein könnt es nicht beschützen. Dieses Siegel ist das letzte bekannte, die restlichen haben 'Sie' höchstwahrscheinlich schon. Wenn es in ihre Hände fällt, wird die Apokalypse Wirklichkeit.“

„Mein Blut schützt es schon lange Zeit und das erfolgreich. Ich, mein Großvater und dessen Ahnen vor ihm. Und wir werden weiterhin darauf aufpassen. Euch brauchen und wollen wir dafür nicht. Jetzt geht!“

Er streckte den Arm aus und zeigte auf seine Ladentür. Edward folgte seiner Aufforderung und schritt hinaus. Als er die Tür öffnete und den ersten Fuß schon auf den Gehsteig setzte, drehte er sich noch einmal um.

„Ihr macht einen Fehler William. Ein alter Mann wie ihr kann es nicht mit 'ihnen' aufnehmen. Wenn die Welt zugrunde geht, seid ihr schuld!“

„Ich habe genug Last auf meinem Rücken zu tragen, das bisschen geht dann auch noch. Jetzt kümmert euch um euch selbst!“

Alter dummer Narr.Edward knurrte in sich hinein. Er schlug die Tür hinter sich zu und verschwand aus Williams Augen. Alleine war er dennoch nicht, das spürte er.

5

Seitdem Edward vor wenigen Minuten seinen Laden verlassen hatte, war William noch unruhiger als zuvor. Er war hektisch. Auf der Suche nach seinem alten Notizbuch zerwühlte er seine eigenen Regale. Er warf die Hälfte der Bücher auf den Boden. Dabei lag es wie immer in seiner Schublade am Schreibtisch.

Ich muss hier weg … ich muss raus aus der Stadt.

Dieser Gedanke verfolgte und drängte ihn. Zusammen mit seinem Notizbuch und dem Zigarrenkästchen stürmte er zur Tür.

Du brauchst noch was zum Schreiben.

Er hastete zurück und nahm Block und Kugelschreiber mit, bevor er wieder nach vorne ging.

An die Ladentür hängte er ein Schild ‚Im Urlaub‘ und schloss sie ab. Er selbst setzte sich in seine kleine Leseecke und machte sich in dem Sessel so klein wie möglich. Ein Schauer lief ihm jedes Mal über den Rücken, wenn jemand durch das Fenster hinein sah und er dachte, es wären seine Verfolger. Doch sie zeigten sich nicht, noch nicht.

Im Madelaine’s sah er Linda. Sie kümmerte sich gerade um ein paar Gäste. Ihm war so, als würde auch sie ab und an zu ihm hinüber sehen. In den Sessel gedrückt konnte sie ihn aber freilich nicht erkennen. Er fragte sich, ob und wann er sie wieder sehen würde, ohne eine Straße zwischen Ihnen. Wie zwanzig Jahre zuvor drohte sich alles um ihn herum zu verändern. Verdammt, sein Leben selbst stand auf dem Spiel und drohte jeden Augenblick zu enden.

Fortwährend schaute er auf die Uhr. Er war nervös und er hatte Angst. Vor einer Tür auf seine mündliche Abschlussprüfung zu warten war ein Witz dagegen.

Am ganzen Körper schlotterte er - wie Schüttelfrost, doch war dieser getrieben durch die Furcht. Seine Stirn glänzte vom Schweiß. Seine Hände krallten sich in die Armlehnen. Die Spuren seiner Fingernägel würde man wohl für immer im Leder sehen können.

Ich muss hier weg … ich muss raus aus der Stadt.

Andere hätten seine Angst vielleicht belächelt, doch nur bis sie erahnt hätten, welche Mächte hinter ihm her waren. Er konnte nur davonlaufen, sich verstecken und hoffen, dass sie lange Zeit wieder nach ihm suchen müssten. In Deutschland kannte er keinen Weg sie auszuschalten und nun würde es wahrscheinlich nicht einfacher werden.

Es waren nur gut vier Minuten vergangen, doch ihm kamen sie wie vier Stunden vor. Er sprang aus seinem Sessel, schnappte sich seinen Beutel und rannte zur Hintertür hinaus.

Ein eisiger Hauch erfasste ihn. Bei minus zehn Grad im T-Shirt nach draußen zu gehen, hätte sich nicht kälter anfühlen können.

Sie waren sehr nah, zu nah. Noch bevor er den ersten Schritt getan hatte, fasste William etwas am Arm oder zumindest bildete er sich das ein. Er wollte gar nicht wissen, was es war, er wollte nur weg. Der alte Mann zeigte, dass noch etwas Fitness in ihm steckte und spurtete los.

Es war nicht leicht für ihn, sich auf den ramponierten Pflastersteinen auf den Beinen zu halten und er stolperte mehrfach. Jedoch konnte er sich immer wieder abfangen, ohne auf den Knien zu landen. Langsamer werden durfte er nicht, er wusste, sie waren ihm dicht auf den Fersen, wie in seinen Träumen. Er war selbst überrascht wie schnell er noch laufen konnte, Linda wäre stolz auf ihn gewesen. Doch er spürte, dass sie ihn langsam einholten. Viel länger konnte er das nicht mehr durchstehen.

Er sah den Ausgang der Gasse und die Straße vor sich. Das Licht am Ende des Tunnels, er hatte es beinahe erreicht. Doch kurz bevor er es schaffte, ging er zu Boden. Er hatte die herumliegenden leeren Bierflaschen nicht gesehen, über die er stolperte.

Beide Handflächen schürfte er sich auf. Sein Kinn konnte er vorm Aufschlag bewahren. Ein gebrochener Kiefer war das Letzte, was ihm fehlte. Er versuchte auf den Gehweg zu robben. Die vorbeiziehenden Passanten beachteten ihn nicht einmal. Sie sahen ihn nicht, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Oft genug hatten sie irgendwelche Trunkenbolde oder Obdachlose aus den Gassen kriechen sehen.

William probierte wieder aufzustehen, als ihn etwas am Bein festhielt. Noch immer drehte er sich nicht herum. Er wollte nur den Gehweg erreichen. Doch sie zerrten an ihm. Sie hätten ihm die Hose ausgezogen, hätte er den Gürtel etwas weniger eng geschnallt. In Williams Lage war das eher ein Unglücksfall. Die spottenden Blicke wären ihm lieber gewesen, als von seinen Feinden gefasst zu werden.

Er kämpfte um jeden Zentimeter. Seine Hände hatten die Schatten der Häuser bereits verlassen und er spürte die Wärme. Nur noch ein kleines Stück, bis er in Sicherheit gewesen wäre, so glaubte er zumindest. Aber sie ließen nicht locker und rissen weiterhin an ihm. Er spürte ihre kalten Klauen nun auch an der Hüfte und am Rücken. Er wehrte sich mit aller Kraft, doch sie waren zu stark für ihn. Schließlich verloren seine Knie den Halt, er rutschte weg und landete auf dem Bauch. Ein kurzer Schmerzensschrei presste sich aus seiner Lunge. Er sah zur Straße, doch niemand reagierte. Konnten diese Leute wirklich so ignorant sein? Offensichtlich ja.

William versuchte, sich an der Bordsteinkante des Gehwegs festzukrallen. Doch außer blutigen Fingerkuppen erreichte er nichts. Ein weiterer Schrei vor Schmerzen blieb ihm im Hals stecken. Gleich drei seiner Fingernägel brachen zur Hälfte ab, als sie über den harten Steinboden kratzten.

„William, wir haben dich.“ Sie klangen amüsiert, während sie ihn langsam in die Gasse zurückzogen. William erkannte sofort diese kratzige, beinahe flüsternde Stimme wieder. Dabei war er sich nicht sicher, ob sie wirklich mit ihm redeten oder er sie nur in seinem Kopf hörte.

Die Erinnerungen an seinen letzten Tag in Deutschland schossen an seinen Augen vorbei. Dann wurde es plötzlich hell. Der Bus, den er nehmen wollte, war vorgefahren. Es musste ein Ersatzfahrzeug sein, denn das Ding sah aus, als hätte man es den Achtzigern gestohlen – eine glänzende, silberne Lackierung. Sie reflektierte die Sonne. Sie blendete ihn. Das war ihm allerdings in diesem Moment auch egal. Seine Feinde hatten ihn und schon bald würde er keine Probleme mehr haben. Doch dann merkte er, dass sich ihr Griff gelöst hatte. Auch sie mussten von der grellen Reflektion erfasst worden sein.

Egal was, William nutzte den Augenblick. So schwer es ihm auch fiel, es gelang ihm, sich aufzurichten und zum Gehweg zu sprinten.

Diesmal nicht,war sein erster Gedanke, als er schließlich die Fullerton-Avenue erreichte und ihm die Sonne ins Gesicht lachte. Er spürte, sie hatten sich vorerst zurückgezogen. Seine blutigen Hände wischte er an seinem Taschentuch ab. Diese und ein Paar schmerzende Knie hatte der Angriff hinterlassen. Es hätte weitaus schlimmer enden können.

Wenigstens bist du pünktlich,dachte er und stieg in den Bus ein. Auch den Fahrer kümmerte Williams abgehetztes Erscheinungsbild nicht. Nur ein weiterer Kunde, der den Bus fast verpasst hätte.

Die Türen schlossen sich und William konnte zumindest für den Moment einmal durchatmen. Er hoffte, er könnte nun noch ein paar Gefallen einlösen und dann die Stadt verlassen. Ihm war jedoch bewusst, sie könnten ihm jederzeit erneut auflauern.

6

Die Mittagszeit war angebrochen und das Madelaine's war voll. Die Gäste wechselten wie in einer Straßenbahn. Nur einer blieb immer noch an Ort und Stelle, Jack „Daniel“ Harsen. Mittlerweile lag wenigstens sein Kopf nicht mehr auf dem Tisch. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren verblasst und sein Blick klar.

Er las Zeitung – jemand hatte sie auf einem der Nachbartische liegen lassen – und ab und zu nahm er einen Bissen von seinem Sandwich. Alles in allem, sah er nicht mehr so versoffen aus, wie zwei Stunden zuvor. Um diese Zeit hätte er es sich auch nicht mehr gewagt, auf oder gar unter dem Tisch zu liegen. Schließlich mochte er Linda und wollte ihr keinesfalls die Leute verscheuchen.

Lindas Gäste, vor allem die Stammgäste, waren für sie mehr als Einnahmequellen. Dazu gehörte natürlich auch Jack, der schon vor seinem 'Abstieg' fast täglich im Restaurant sein Mittagessen bestellte. Niemals hätte sie ihn rausgeworfen. Einmal bot sie ihm sogar die Couch in ihrem kleinen Büro an, als er eines Morgens volltrunken durch die Eingangstür fiel. Auch wenn Jack nicht mehr viel mitbekam, er wusste, dass Linda ihn immer gut behandelt hat.

Die Inhaberin des Madelaine's stand gerade hinter dem Tresen, während ihre zwei Bedienungen sich um die Tische kümmerten. Die Eingangstür öffnete sich ein weiteres Mal. Von draußen hörte man, neben dem Verkehr und dem Gerede der Leute, die fernen Mittagsglocken der St. Clement Church. Etwas überrascht sah Linda den neuen Gast eintreten. Der Mann, wegen dem William sie vorhin so eilig verlassen hatte. Statt sich einen Tisch zu nehmen, ging er geradewegs auf sie zu.

Was will der denn jetzt wieder hier?

Sie mochte fast alle Menschen, doch dieser Herr war ihr von Anfang an suspekt. Dennoch legte sie ihr bezauberndes Guten-Tag-Lächeln auf und streifte ihre Schürze zurecht. In ihrem Restaurant wurde immerhin jeder wie ein Gast behandelt.

„Hallo, was kann ich für sie tun Mister?“

„Wissen sie, wo ich William finde?“

Seine Stimme war immer noch rau, nur kam jetzt dazu, dass sie ebenfalls ruppig klang. Zudem sprach er so laut, dass er die meisten Gespräche, bis in die hinteren Sitzreihen, übertönte. Damit erregte er das Interesse einiger Gäste, die nun zu den beiden hinübersahen.

„Nein, ich habe ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Ich dachte er hätte sich mit ihnen getroffen.“ Ein Nachfragen, ob er wusste, wo William sich aufhielt, schien offensichtlich sinnlos. Dabei dachte sie fortwährend nur an ihn. Ihr Plan, ihn auf der Straße abzufangen, war von William vereitelt worden, da er die Hintertür genutzt hatte.

„Ja, wir trafen uns, aber ich brauche noch etwas von ihm. Können sie ihn erreichen und fragen, wo er ist?“

„Nein, tut mir leid. Kann ich ihnen sonst irgendwie helfen?“

Das war nicht ganz die Wahrheit. Sie hätte bei ihm zu Hause anrufen können, zum etwa zehnten Mal – sie hatte nicht mitgezählt, wie oft sie es schon versucht hatte. Ein Handy besaß er nach ihrem Wissensstand nicht, sonst würde dies auch dauernd klingeln. Diesem Fremden – der, wie sie meinte, eine unheilige Aura ausstrahlte – hätte sie aber dennoch nichts gesagt. Schließlich ist William wegen ihm verschwunden.

Sein Blick fiel auf das große Notizbuch neben der Kasse.

„Sie haben doch sicher seine Nummer, rufen sie ihn an und fragen.“

Dieser Befehlston gegenüber Linda brachte ihm weitere, nun verärgerte Blicke ein.

„Es tut mir leid, aber ich habe seine Nummer nicht.“

Das reichte Edward, er hatte keine Zeit für sinnloses Gerede – er war sich sicher, dass sie log. Er langte über den Tresen und nahm sich das Buch, bevor Linda reagieren konnte.

„Was soll das? Geben sie es zurück!“

Auch für Linda war es nun zu viel. Sie schnappte nach ihm. Da Edward jedoch einen Schritt rückwärts machte, erreichte sie ihn nicht. Sie musste um die Theke herum, während er die Seiten mit den Telefonnummern durchsah. Als sie neben ihm stand, flog ihre flache Hand gegen sein Gesicht. Die Ohrfeige war ihm egal, er zuckte nur leicht mit dem Kopf – man könnte meinen, das war bei Weitem nicht seine Erste. Als Linda nach dem Buch greifen wollte, packte er grob ihren Arm und warf es offen auf den Tresen. Ein Schmerzensschrei hallte durch den Raum. Sie versuchte, ohne Erfolg, seine Hand zu lösen. Entsetzen machte sich breit. Für einen Moment schien es, als wäre die Zeit im Restaurant stehen geblieben. Beinahe alles still, nur im Radio schmetterte Bonnie Tyler einen ihrer Hits.

“I need a hero,

I’m holding out for a hero ‘til the end of the night”

„Lassen sie sie sofort los“, brüllte George aus mittlerer Entfernung und brach damit das Schweigen. Andere stimmten ihm unweigerlich zu. Edward interessierten diese Rufe jedoch nicht, er war nur mit Linda beschäftigt.

„Da ist seine Nummer, rufen sie ihn an und fragen ihn, wo er ist!“

„Das werde ich nicht tun und nun hauen sie ab!“

Ihr liefen Schweißperlen über die Stirn und sie versuchte weiterhin sich loszureißen, doch Edward packte noch fester zu.

“Somewhere just beyond my reach

there’s someone reaching back for me“

Als Edward ein weiteres Mal seinen Befehl wiederholen wollte, zog ihn jemand an der Schulter herum. Eine schwache Alkoholfahne blies in seine Richtung, gefolgt von einer Faust, die auf sein Gesicht zuraste. Für wenige Sekunden wurde sein Blick schwarz. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen. Es strömte aus seiner gebrochenen Nase.

„Das reicht jetzt! Verpiss dich, bevor ich dir noch ein paar verpasse!“

“I need a hero

I’m holding out for a hero ‘til the end of the night

He’s gotta be strong and he’s gotta be fast

And he’s gotta be fresh from the fight“

Vor ihm stand Jack, immer noch mit geballten Fäusten. Edward holte selbst aus. Für Jack, der schon einige wirkliche Schlägereien hinter sich hatte, war er jedoch kein Gegner. Er duckte sich unter der anfliegen Hand weg und verteilte selbst einen weiteren Hieb in den Magen. Gekrümmt stolperte der Geistliche an ihm vorbei. Harsen trat ihm gegen seinen Hintern, auf das er vorn überfiel. Bevor seine Nase auch den harten Boden küsste, konnte sich Edward gerade so mit den Händen abfangen.

„Zieh ab, du christlicher Abschaum. Sonst wird es erst richtig ungemütlich für dich.“

Selbst Jack war der Klerikerkragen nicht entgangen. Edward rappelte sich auf und ging auf schnellstem Weg zur Tür. Ihm folgte eine Blutspur. Bevor er das Restaurant verließ, murmelte er noch etwas wie: „Das werdet ihr alle noch bereuen.“ Ernst nahm ihn allerdings niemand.

Als er hinaus war, veränderte sich augenblicklich die angespannte Lage in Jubel.

„Jacks nächstes Essen geht auf mich!“, rief Jonathan McCaine, ein weiterer langjähriger Stammgast. „Und das Nächste auf mich!“, kam aus den hinteren Reihen. Es folgten so viele weitere dieser Rufe, dass Jack gut einen halben Monat kein Essen mehr zahlen musste. Überraschenderweise hielten sich sogar alle daran. Doch im Moment kümmerte sich Jack um Linda. Er fasste sie sachte am Arm.

„Geht's unserer Lin gut?“

'Unserer Lin', so dachten fast alle. Ihre Gedanken waren jedoch bei William. Sie schaute zu seinem Buchladen hinüber, als ob sie ihn dort sehen würde.William, wer ist der Mann? Was will er von dir, bist du wegen ihm in Gefahr?, schallte ihr immer wieder durch den Kopf.

“I need a hero,

I’m holding out for a hero ‘til the morning light

He’s gotta be sure and it’s gotta be soon

And he’s gotta be larger than life”

Der Refrain lief ein letztes Mal und sie wünschte sich in dem Moment nichts mehr, als einen Helden für William. Es wurde immer wahrscheinlicher für sie, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.

„Linda? Wie geht’s dir?“, fragte Jack erneut. Alle Augen im Restaurant waren auf sie gerichtet. Sie kehrte wieder ins Hier und Jetzt zurück.

„Was? … Gut, danke Jack. Kaffee? Dieser Tag geht für dich aufs Haus.“

Sie war noch immer leicht benommen. An ihrem Arm sah man die roten Abdrücke durch den festen Griff. Als ihr jemand vom Tisch neben ihr einen Stuhl hinschob, lehnte sie ab.

„Schon in Ordnung. Mir geht’s gut. Esst in Ruhe weiter, mir fehlt nichts.“

Als die Gäste merkten, dass sie es auch so meinte, zumindest körperlich, wandten sie sich wieder ihrem Essen und Tischnachbarn zu. Die Gespräche drehten sich im ganzen Restaurant nur um den Vorfall.

„Ich bring dir gleich einen Kaffee Jack, muss nur kurz telefonieren.“

Daraufhin verschwand sie durch die Küche in ihr Büro. Liz, eine ihrer Kellnerinnen, folgte ihr, um nach ihr zu sehen. Jack kehrte zu seinem Tisch zurück. Auf dem Weg dorthin klopften ihm nicht wenige auf die Schulter und lobten seinen Einsatz.

7

Zwischenzeitlich hatte William einen Freund besucht und ihn erfolgreich um einen Gefallen gebeten. Er hatte einige Freunde, die ihm etwas schuldig waren. Doch das war nicht seine Denkweise. Er würde niemals einen Gefallen 'einfordern'. Vielleicht lag es an seiner Zeit als Geistlicher oder er war einfach sehr naiv, dass er an das Gute in den Menschen glaubte.

Seine Verfolger hatte er noch nicht abgeschüttelt. Obwohl er die unterschiedlichsten Bus- und Straßenbahnlinien benutzt hatte und durch Halb-Chicago gefahren ist, konnten sie ihn jederzeit erneut finden. Immer wieder drehte er sich nach allen Seiten um. Und auch wenn er nie jemanden sah, außer harmlose Passanten, lief er jedes Mal ein Stück schneller.

Er war in einem Viertel unterwegs, welches man Gold Coast nannte. Die meisten Türen – einige abgeschottet durch hohe Eisenzäune oder Steinmauern – wären ihm wohl verschlossen geblieben, selbst wenn er seinen Besitzern in der Vergangenheit den einen oder anderen Gefallen erwiesen hätte. Doch er musste nicht zu irgendjemandem. Er wollte nur zu Henry, einem guten Freund. Dieser würde ihm sicherlich öffnen und auch helfen.

Das Gebiet erinnerte ihn stark an seine alte Heimat. So viele deutsche Autos wie dort hatte er lange nicht gesehen – vor allem nicht so viele der gehobenen Klasse. Weniger Angst verspürte er deswegen dennoch nicht, eher noch mehr. Er hielt es für Ironie, sollten sie ihm in diesem Teil der Stadt auflauern und ihn überwältigen.

William verließ den Gehweg und passierte den kleinen Vorgarten einer Villa – so groß, dass gleich mehrere Familien darin hätten wohnen können.

Auf sein Klingeln öffnete ihm ein Mann im Anzug die Tür. Der Butler. Längst über das Alter hinaus, in dem er in den Ruhestand hätte treten können. Gebrechlich wirkte er allerdings nicht.

„Guten Tag, Sir. Wie kann ich ihnen behilflich sein?“ Den englischen Akzent hörte man heraus.

„Guten Tag. Mein Name ist William Eagle, ich wollte zu Henry.“

„Tut mir leid Sir, Mister Morrison befindet sich derzeit nicht im Haus. Er …“

In diesem Moment öffnete sich hinter dem Mann eine Tür und William sah eine Frau über seine Schulter hinweg.

„Peter, wer ist da? Wenn es wieder irgendwelche Bittsteller sind, schicke sie weg.“

Auch sie sah William und erkannte sogleich, dass er definitiv niemand war, von dem sie etwas gewollt hätte. Ihr Blick wandte sich von ihm ab. Man konnte nicht genau sagen wohin, sie wollte nur ihr Desinteresse ausdrücken.

„Was ist nun Peter, die Tür steht ja immer noch offen.“

„Verzeihen sie Sir.“ Der Butler drehte sich zu ihr um. „Nein Madam, kein Bittsteller. Mister Eagle, er möchte zu Mister Morrison.“

„Ok Peter, lassen sie den Herrn hinein.“

Er trat beiseite.

„Sir, wenn ich bitten dürfte.“

Der Butler schloss hinter ihm die Tür. Die Frau des Hauses (sie trug einen Hosenanzug) musterte William erneut und ging dann einen Schritt auf ihn zu. Der starke Geruch (man sollte schon eher Gestank meinen) ihres Parfums ließ ihn fast zurückweichen. Er musste Husten, täuschte es aber als Frosch-im-Hals-Räuspern.

„Guten Tag Mrs. Morrison, freut …“

„Mrs. Bennett, ich zog es vor, meinen Mädchennamen zu behalten.“

„Entschuldigen sie, Mrs. Bennett, ich wollte eigentlich …“

„Zu meinem Mann? Er ist nicht im Haus, Geschäftsreise, sie wissen schon … oder?“

Das war der Moment, in dem William erkannte, dass es schwierig werden würde. Doch er brauchte ein gutes Versteck, zumindest für eine Weile und Henry Morrison war der einzige der ihm einfiel, zu dem er deswegen gehen konnte.

„Vielleicht könnten sie …“

„Soll ich ihm etwas ausrichten? Von wem? Sie sehen mir ehrlich gesagt nicht wie jemand von Henry's Geschäftspartner aus.“

„Nein Mrs. Bennett, ich bin ein Freund ihres Mannes, ich arbeite …“

„Henry hat Freunde? Davon wusste ich bisher gar nichts. Hören sie, meine Zeit ist kostbar. Sagen sie mir ihren Namen und ich richte meinem Mann aus, dass sie hier waren.“

„Wann wird …“

„Oh, frühestens in zwei Wochen.“Ich hoffe das ist lang genug, dass sie nicht anfangen zu nerven und vergessen, dass sie etwas von Henry wollen.Wenigstens hatte sie noch den Anstand, den letzten Satz nicht laut auszusprechen.

„Vielleicht könnten sie mir …“

„Helfen? Nein, tut mir leid, ich bin eine vielbeschäftigte Frau. Da müssen sie sich schon gedulden bis Henry wieder zu Hause ist.“

„Hören sie, ihr Mann und ich sind seit langer Zeit befreundet. Jetzt habe ich ein dringendes Problem und …“

„Jetzt hören sie mir zu! Ihre Probleme sind nicht die meines Mannes und schon gar nicht die meinen. Wenn sie Hilfe wollen, wenden sie sich an jemand anderen. Jetzt möchte ich, dass sie mein Haus verlassen und mich nicht weiter belästigen.“ Sie wandte ihren Blick zur Tür und wies ihm den Weg mit der offenen Hand.

„Peter, begleiten sie Mr. … den Mann bis zur Straße.“

„William Eagle, schönen Tag ihnen noch.“

William wusste, dass es keinen Sinn machte, mit dieser Frau zu diskutieren. Gleichfalls fragte er sich, wie es sein Freund mit so jemanden an seiner Seite aushielt. Hätte sie ihre Nase noch etwas höher getragen, hätte sie an der Stirn geklebt.

Peter öffnete die Tür und ließ Mr. Eagle vorangehen. Innerlich schämte er sich für das Verhalten seiner Arbeitgeberin, besser gesagt der Frau seines Arbeitgebers. Doch ein gut ausgebildeter Butler wahrte die Neutralität und folgte den Befehlen, die man ihm gab.

8

Das Wichtigste von Williams Anliegen schien gescheitert. Er brauchte dringendst einen Unterschlupf, ein Versteck. Seine Jäger würden nicht aufhören nach ihm suchen, bis sie ihm das Siegel entrissen hätten. Wahrscheinlich würde er selbst nicht überleben.

Henry war reich und ein guter Freund. Er hätte ihm sicher geholfen. Leider kam William dessen Frau in die Quere und er musste sich etwas Neues überlegen. Vielleicht sollte er doch die Kirche um Schutz bitten, seine allerletzte Möglichkeit.

Die beiden Männer kamen an der Straße an und Peter schloss das kleine Gartentor hinter William.

„Mr. Eagle?“

Peter war nicht entgangen, dass Mrs. Bennett sich schon wieder anderen Dingen widmete oder zumindest den beiden Herren keine Beachtung mehr schenkte. William drehte sich um, in seinem Gesicht sah man viele Sorgenfalten, tief wie der Grand Canyon.

„Ja?“ Seine Stimme demotiviert zu nennen, war weit untertrieben.

„Meines Wissens nach, wird Mr. Morrison …“

„Geschichtenonkel!“, rief eine Mädchenstimme dazwischen. Peter stockte kurz, beendete dann aber seinen Satz: „… bald wieder hier sein.“

Sie hatten nicht bemerkt, wie ein Auto fast neben ihnen eingeparkt hatte, ein silberner Kombi. Ein Mädchen lief bereits auf sie zu. William erkannte sie sofort, Luci Morrison. Auf der Fahrerseite stieg auch schon ihr Vater aus, Henry. William fiel ein Stein – oder auch ein ganzer Berg - vom Herzen. Nie war er so froh, das Mädchen zu sehen, welches ihm schon des Öfteren stundenlang in seinem Laden Gesellschaft geleistet hatte. Ihr Vater brachte sie meist vorbei, wenn er selbst Geschäfte erledigen musste und sie dabei nicht mitnehmen konnte. Ganze Geschichtsbänder hatte er der Kleinen schon vorgelesen. Nun bückte er sich, um sie aus vollem Lauf aufzufangen. Er packte sie unter den Armen, hob sie leicht an und drehte sich einmal um die eigene Achse, ehe er sie wieder absetzte. Schwerstarbeit für einen alten Mann wie ihn, immerhin war sie schon zehn. Doch sie lachte und das ließ den leichten Schmerz in seinem Rücken gar nicht erst aufkommen. Es vertrieb sogar für einen Moment seine anderen Sorgen. Peter sah erfreut zu. Auch für ihn war das Erscheinen des Hausherren eine Erleichterung.

„Geschichtenonkel, bist du hier, um mir ein Märchen zu erzählen?“

„Nein, tut mir leid Luci, ich habe meine Lesebrille nicht dabei.“

„Das ist aber schade, dann bin ich ganz traurig.“

Obwohl sie auf ihre Schuhe hinuntersah, konnte William ihre vorgeschobene Unterlippe erkennen. Er kramte kurz in seinem Beutel und holte schließlich ein Buch heraus. Das kleine Gespenst.

„Nicht doch, sieh, was ich da habe. Eine neue Geschichte für dich, jemand anderes wird sie dir sicher vorlesen, vielleicht dein Papa.“

Plötzlich wieder glücklich, sah sie auf.

„Oh, danke Geschichtenonkel!“

Sie drückte ihm einen Schmatz auf die Wange und nahm das Buch mit beiden Händen entgegen. Er hatte natürlich an sie gedacht. Dabei war es gar nicht so einfach, eine Kindergeschichte zu finden, die er ihr noch nicht vorgelesen hatte.

„William, Hallo! Welche Freude dich mal bei mir zu sehen. Was verschafft mir die Ehre, dass du mich besuchst?“

William erhob sich und schüttelte die Hand, die ihm Henry reichte.

„Hallo Henry. Ich … ich habe ein Problem und wollte fragen, ob du mir helfen kannst.“

„Ein Freund von mir hat ein Problem? Klar helfe ich, aber lass uns das drinnen besprechen. Wir waren am Lake Michigan wandern und meine Beine sind etwas schwer.“

„Ok, danke.“ Vielleicht musste er nun doch nicht zur Kirche und vielleicht würde er noch ein paar weitere Tage erleben.

„Daddy, liest du mir nachher die Geschichte vor?“ Sie zupfte an seiner Hose.

„Natürlich mein Schatz, aber erst einmal müssen wir uns um Williams Problem kümmern.“

„Ok Daddy“, antworte sie, nicht ganz ohne zu schmollen, obwohl er ihr über den Kopf streichelte.

„Peter, gehst du bitte vor und machst uns einen Tee?“

„Natürlich Sir und willkommen zu Hause.“

Peter öffnete gerade das Gartentor als Luci an ihm vorbeilief, das Buch immer noch mit beiden Händen fest umklammert.

„Ich geh schon rein und zeig Tante Susan meine neue Geschichte Daddy.“

„Mach das Schatz“, rief ihr Vater hinterher. William sah Henry fragend an und dieser verstand sofort.

„Sie akzeptiert meine neue Frau nicht als Mutter, aber immerhin als Erziehungsberechtigte. Das genügt mir schon.“

„Ich verstehe.“

Seine erste Frau starb bei einem Autounfall vor vier Jahren. Der andere Fahrer stand unter starkem Drogeneinfluss, Heroin und anderes Zeug. Er schwankte auf der Fahrbahn hin und her, bis er schließlich frontal auf Mrs. Morrisons Wagen traf. William erinnerte sich noch recht gut an die Zeit, als er Henry und seine Tochter des Öfteren in seinem Laden trösten musste. Zum Glück war das lange her.

Peter folgte Luci ins Haus. Als die beiden drin waren, legte Henry seinem Freund einen Arm um die Schulter und führte auch ihn durch den Vorgarten. Er ahnte nicht, welche beruhigende Wirkung dies auf William hatte.

„Wie geht es dir? Läuft das Geschäft gut?“

„Ja, man kann nicht klagen. Und bei dir?“

„Meine Manager meinen gut. Dem Geld auf meinem Konto nach zu urteilen, haben sie damit wohl auch recht.“

Sie gingen ins Wohnzimmer. Die Inneneinrichtung war natürlich vom Feinsten. Alles Holzmöbel und die Multimediaanlage hatte mindestens den Wert eines Mittelklassewagens. Die ersten Blicke zog jedoch jedes Mal der riesige Kamin auf sich. Davor standen zwei Ledersessel. Henry bot zuerst William einen an, bevor er sich selbst in den anderen fallen ließ.

„Hach ist das schön, endlich daheim und die Beine ausruhen.“

In dem Moment kam auch schon seine Frau ins Zimmer. „Henry, Herzblatt, schon wieder da?“

„Ja Darling, wir haben nicht den ganzen See umrundet.“

„Wie ich sehe, hast du deinen Freund noch angetroffen. Wie hießen sie noch gleich?“

„Eagle Mrs. Bennet, William Eagle.“

Sie schlenderte um die beiden herum auf Henrys Seite. Ein kurzer Kuss, dann war sie auch schon wieder auf dem Weg aus dem Zimmer hinaus.

„Ich geh noch mal in die Stadt Schatz, bis später.“ „Wo ist Luci Darling?“

„Sie ist nach oben gerannt, hatte irgendein Buch dabei. Sie will 'versuchen' es selbst zu lesen.“

„Ok, dann bis später Susan.“

„Auf Wiedersehen Mr. … Eagle.“

„Auf Wiedersehen Mrs. Benett.“

William zog es vor, nicht zu plaudern und Henry nicht von seiner angeblichen Geschäftsreise zu erzählen. Die Tür schloss sich hinter ihr und auf der anderen Seite des Zimmers ging eine andere auf. Peter kam mit einem silbernen Tablett hinein. Er servierte den beiden Herren ihren Tee auf dem kleinen Abstelltisch zwischen ihnen.

„Sonst noch etwas Mr. Morrison?“

„Nein danke Peter. Wenn sie möchten, können sie meiner Tochter beim Lesen helfen, sie ist wohl oben.“

„Sehr gerne Sir. Doch ich hoffe meine Fähigkeiten als Zuhörer reichen aus, sie wird sicher keine Hilfe benötigen.“

„Ja, da haben sie wohl recht Peter.“

Beiden kam ein Lächeln über die Lippen. William spürte, dass das etwas mehr als eine Hausherr-Butler-Beziehung war, eher so etwas wie Freundschaft.

„Wenn sie noch etwas wünschen, ich bin dann oben bei ihrer Tochter. Mr. Eagle, sehr erfreut.“

Er verbeugte sich kurz aber höflich.

„Freut mich ebenfalls Peter.“

Er ließ die beiden vor dem Kamin allein.

„Nun erzähl William, was plagt dich?“

William nahm zuerst einen Schluck Tee, bevor er zu reden begann.

„Ich denke, ich werde verfolgt und muss für ein paar Tage aus der Stadt.“

„Du wirst verfolgt? Von wem?“

Henry hatte keinen Grund an Williams Worten zu zweifeln. Er hielt ihn für einen sehr intelligenten Mann und keineswegs für senil oder gestört. Zudem kam William das erste Mal zu ihm, um ihn um etwas zu bitten.

„Das kann ich nicht genau sagen. Ich kenne ihre Namen nicht. Ich weiß nur, dass sie hinter mir her sind, weil ich etwas habe, was sie wollen.“

„Und das wäre?“

„Ein altes Siegel.“

„Was ist das für ein Siegel, dass dich dafür jemand verfolgt?“

„Es ist alt, soviel weiß ich. Mein Großvater vermachte es mir und meinte damals schon, ich müsse darauf aufpassen, als ob mein Leben davon abhängt.“