Der Marburger Krimi-Cocktail I + II - Rainer Güllich - E-Book

Der Marburger Krimi-Cocktail I + II E-Book

Rainer Güllich

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Beschreibung

Der Marburger Krimi-Cocktail I + II Eine Frau tötet ihren Peiniger, ein Mörder mit Amnesie, ein Banküberfall mit überraschendem Ende, ein Kronzeuge mit Zweifeln, ein Alibi, das vielleicht keines ist und ein Toter auf dem Weihnachtsmarkt. Dies und mehr bieten die zwanzig geradlinig geschriebenen kriminellen Geschichten, die gekonnt zu einem Krimi-Cocktail vermischt sind, der noch lange angenehm nachschmeckt.

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Inhaltsverzeichnis

Der Marburger Krimi-Cocktail

Vergeltung

Das Alibi

Hass

Die Aussage

Tod auf dem Weihnachtsmarkt

Dumm gelaufen

Der zweite Marburger Krimi-Cocktail

Die Entführung

Schnellschuss

Freitag, der 13

Rosenmontag

Der Rollstuhlfahrer

Der Retter

Das Muttersöhnchen

Schwarze Sterne

Therapie

Unter Druck

Die Probefahrt

Nichtrauchen

Friedhofsstreife

Das Mettbrötchen

Der Marburger Krimi-Cocktail Kriminelle Kurzgeschichten

Inhalt

Vergeltung

Das Alibi

Hass

Die Aussage

Tod auf dem Weihnachtsmarkt

Dumm gelaufen

Der Autor

Vergeltung

Marianne Brunner saß in der Küche ihrer Wohnung und schaute sich gedankenverloren um. Ihr gegenüber stand der Küchenschrank, den sie vor kurzer Zeit gekauft hatte und dem ein starker Kiefernduft entströmte. Links daneben die Spüle, mit den aufgeklebten Kunststoffblumen. Rechts von ihr das Fenster, dessen Holzrahmen leicht verzogen war und deshalb so schlecht schloss.

Sie hatte eine Tasse Kaffee vor sich und rauchte eine Zigarette. Der Aschenbecher vor ihr auf dem Tisch quoll fast über. Auch eine Sache, die sie sich abgewöhnen sollte. Sie rauchte nun schon seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Sie hatte vor kurzer Zeit ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert.

Für fünfzig sah sie noch gut aus, das wusste sie. Sie hatte braunes Haar, das an einigen Stellen ins Graue ging und das sie schulterlang trug. Sie war schlank, hatte gleichmäßige Gesichtszüge, ihre grünen Augen gefielen ihr selbst am besten. Doch was nutzte das? Sie hatte ihren Geburtstag allein gefeiert. Was heißt gefeiert? Sie hatte sich ein paar Blumen gegönnt und eine Flasche Wein gekauft. Nachdem sie ein Glas Wein getrunken hatte, hatte sie den Rest der Flasche in den Ausguss ihrer Spüle gekippt. So sah das nämlich aus! Keine Lust zu feiern, keine Lust, diesen Tag durch irgendetwas hervorzuheben. Nach diesem Gedanken war der Blumenstrauß im Abfalleimer gelandet.

Es machte für sie keinen Sinn, diesen Tag besonders zu begehen. Wen scherte es, dass sie Geburtstag hatte? Sie hatte keine Angehörigen, keine Freunde. Vor einiger Zeit hatte sie erwogen, sich einen Hund anzuschaffen. Doch was sollte das für einen Sinn haben? Ihrer Überzeugung nach war ein Hund nur ein billiger Ersatz für fehlende soziale Kontakte. Außerdem hätte sie auch keine Zeit, mit dem Hund ins Freie zu gehen. So ein Tier brauchte Auslauf, brauchte Bewegung. Sie aber musste sich um ihren kleinen Laden kümmern, den sie allein betrieb.

„Mariannes Allerlei“ hatte sie ihren Laden getauft. Es war ein kleines Geschäft, aber es ernährte ihre Besitzerin. Sie verkaufte in erster Linie Tabakwaren, ein Sortiment an Spirituosen, Süßigkeiten, Zeitschriften, diverse Tageszeitungen und Heftromane. Auch die neuesten Taschenbücher konnte man bei ihr erstehen. Erstaunlicherweise hielt sich dieser Laden unter ihrer Führung schon seit fünfundzwanzig Jahren.

Sie hatte nach dem Beenden der Hauptschule in einem ansässigen Betrieb, der Kabel für Elektrogeräte herstellte, angefangen zu arbeiten. Ihr Schulzeugnis machte nicht viel her, außerdem fehlten ihr die Motivation und das Interesse, irgendeinen Beruf zu erlernen. Nicht etwa, dass sie wie einige ihrer Mitschülerinnen dachte, eines Tages zu heiraten und eine Ausbildung deshalb unnötig sei. Heiraten wäre soundso das Letzte, was sie sich für sich vorstellen konnte.

Sie wurde in dem Betrieb an einer Maschine angelernt, die Metallkabel mit Asbest umwickelte. Ihre Arbeit bestand darin, regelmäßig den Durchmesser des Kabels zu kontrollieren. Eine eintönige, langweilige Arbeit.

Doch passte sie zu ihrem sonstigen Leben. Nach der Arbeit kaufte sie die Lebensmittel ein, die sie für die Zubereitung ihres verspäteten Mittagessens benötigte. Sie kochte sich jeden Abend eine warme Mahlzeit. Aber nicht, weil sie es für nötig hielt, jeden Tag etwas Warmes zu sich zu nehmen, sondern weil sie dann beschäftigt war. So konnte sie ihre leere Zeit füllen. Sie kaufte immer in der Lebensmittelabteilung des Kaufhauses in der Universitätsstraße ein, das auf ihrem Nachhauseweg lag. Nachdem sie das schmutzige Geschirr gespült hatte, schaute sie noch etwas fern. Später las sie noch einige Seiten in ihrem jeweils aktuellen Roman, danach schlief sie ausgiebig und der nächste Tag begann nach dem gleichen Schema.

Das war ihr Alltag. Leben fand für sie in ihren Kriminalromanen statt, die sie schon seit frühester Jugend las. Angefangen hatte sie mit „Jerry Cotton“, doch bald waren ihr diese Heftromane zu banal, zu nichts sagend. Sie ging dann zu den Klassikern über, las Raymond Chandler, Agatha Christie und Dashiell Hammett.

Ihre Krimis holte sie sich in dem kleinen Lädchen in der Weidenhäuserstraße, das in der Nähe ihrer Wohnung lag. Dieser Laden gehörte einer netten, älteren Frau. Das war die einzige Person, mit der sie außerhalb ihrer Arbeit sprach. Ansonsten war sie zu scheu, ja, zu ängstlich, um mit anderen Kontakt aufzunehmen.

Als die Besitzerin des Ladens vor fünfundzwanzig Jahren ihren Laden aufgab, übernahm sie das Geschäft. Haus und Laden gehörten der Betreiberin. Sie bot es zum Verkauf an. Marianne, die ihr Leben lang kaum einen Pfennig, außer für ihre Krimis, ausgegeben hatte, war damit und natürlich mit einem Kredit ihrer Bank in der Lage, Haus und Geschäft zu erstehen.

Erstaunlicherweise gelang es Marianne gut, den Kontakt zu Stammkunden zu halten, diese Menschen bereiteten ihr zusätzlich Freude. Das war etwas ganz anderes als die Arbeit in der Fabrik. Marianne blühte auf. Sie war in der Lage, selbstständig ein Geschäft zu führen!

Sie veränderte nichts am Sortiment des Geschäftes. Alles lief so weiter wie bisher. Entscheidend war für sie, dass sie ein neues positives Lebensgefühl gefunden hatte. Sie sah das erste Mal hoffnungsfroh in die Zukunft, gewann mehr Selbstvertrauen. Sie überlegte sogar, ob sie in Urlaub fahren sollte. Ein Gedanke, der ihr in den Jahren vorher noch nie in den Sinn gekommen war. Und sie führte ihn auch aus. Die ersten Urlaube an der Nordsee, später dann auch im Ausland.

Sie entwickelte sich zu einer selbstbewussten Frau.

Was vorher diversen Gesprächstherapien nicht gelungen war, gelang nun einfach durch den Erwerb dieses Ladens. Sie war selbst sehr erstaunt darüber.

Sie hatte lange gebraucht, bis sie den Schritt zur ersten Gesprächstherapie gemacht hatte. Sie hatte eine sehr schwere depressive Phase durchlaufen. Ihr Hausarzt hatte ihr daher eine Therapie empfohlen. Sie hatte den Rat angenommen. Sie kannte diese depressiven Phasen, sie gehörten zu ihrem Leben dazu. Seit frühester Jugend schon ging es auf und ab mit ihren Gefühlen. Richtige Freude kannte sie überhaupt nicht.

Jedenfalls hatte keine der Gesprächstherapien ihr tatsächlich helfen können. Das Einzige, was ihr kurzfristig in ihren depressiven Phasen half, war ihre Hingabe an ihre Kriminalromane und Tagträume, selbst Heldin einer Kriminalgeschichte zu sein – wobei sie hierbei jedoch die Rolle der Rächerin innehatte, die es mit der Legalität ihrer Taten nicht so genau nahm. In ihren Tagträumen bestrafte sie Täter, denen es gelungen war, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Mal waren das Wirtschaftsverbrecher, Umweltsünder, aber auch Drogendealer und einfach nur brutale Kleinkriminelle. In letzter Zeit waren es immer Vergewaltiger, deren Verbrechen sie bestrafte. An diesen speziellen Träumen fand sie immer mehr Gefallen.

Es war ein regnerischer Tag, als sie sich endlich auf den Weg machte. Marianne Brunner hatte die Angelegenheit, wie sie es nannte, nun schon lange genug aufgeschoben.

Die Haustür knarrte noch immer fürchterlich, als sie versuchte, sie leise zu schließen. Der Hauswart hatte ihre Beschwerde über die knarrende Tür bisher erfolgreich ignoriert. Der korpulente Mann mit seinem lächerlich wirkenden Schnauzbart hatte sie nur gelangweilt angesehen, als sie ihre Beschwerde anbrachte. Er würde sich bei Gelegenheit darum kümmern, hatte er gesagt. Doch passiert war noch nichts. Nun gut, auch er würde irgendwann sein Fett dafür abbekommen. Dafür würde sie schon sorgen.

Sie fragte sich oft, ob es anderen alleinstehenden Frauen genauso erging wie ihr. Dass auch sie nicht respektiert, nicht für voll genommen wurden. Ob auch ihnen keine Achtung und Wertschätzung entgegenbracht wurde. Vielleicht war das aber nur ein persönliches Problem und hatte nichts mit ihrer Rolle als allein lebende fünfzigjährige Frau zu tun.

Vorne an der Ecke blieb sie an der Bushaltestelle stehen. Der Regen prasselte auf ihren Regenschirm, in den sich schnell bildenden Pfützen platzten große Wasserblasen. Hoffentlich würde der Bus heute mal pünktlich kommen. Zwei Jungen mit Schultaschen auf den Rücken sprangen in den Wasserlachen herum. Sie ging etwas zur Seite, um nicht von dem aufspritzenden Pfützenwasser getroffen zu werden. Sie unterließ es, die Heranwachsenden darauf hinzuweisen, dass sie mit ihrem Verhalten andere Passanten belästigen könnten. Sie würde damit sowieso keinen Erfolg haben. Außerdem wollte sie in keiner Weise Aufmerksamkeit erregen.

Der Bus kam die Universitätsstraße entlang, verlangsamte kurz vor der Bushaltestelle am Rudolphsplatz sein Tempo, hielt und der Fahrer öffnete die Türen. Marianne sah auf. Es war glücklicherweise ein Fahrer, den sie nicht kannte. Die Chance, dass er sich gegebenenfalls nicht an sie erinnern würde, war groß. Wenn doch ... egal, es ging nichts im Leben ohne Risiko.

Der Bus war nicht übermäßig besetzt. Sie setzte sich in eine der hinteren Reihen, so hatte sie alles im Blick, hatte alles unter Kontrolle. Die beiden Schuljungen sprangen unruhig im Bus herum, zogen so alle Aufmerksamkeit auf sich. Das war ihr nur recht. Je weniger sie auffiel, desto besser.

Sie schaute aus dem Fenster. Der Regen ließ nach, die dunklen Wolken wurden heller, sie würden bald verschwunden sein. Der Bus fuhr die nächste Haltestelle an. Einige Leute stiegen aus, andere dazu. Sie würde noch ein paar Haltestellen weiterfahren und dann aussteigen, eine Haltestelle vor ihrem Ziel. Dann noch wenige Minuten zu Fuß und sie wäre da, wo sie hinwollte. Vorher würde sie aber noch schnell in das Kaufhaus in der Bahnhofsstraße gehen und in der Haushaltsabteilung einen Föhn kaufen. Vor einer Woche hatte sie sich ihn schon ausgesucht. Sie war nicht sicher, aber vielleicht würde ihr dieser Kauf zu so etwas Ähnlichem wie einem Alibi verhelfen.

Da war ihre Haltestelle auch schon. Der Bus hielt, sie stieg aus, ließ aber erst noch die beiden Schuljungen an sich vorüber. Jetzt nur keine Verwicklungen!

Auf ihrer Straßenseite lag das Kaufhaus. Es waren schon viele Leute unterwegs, sie ließ sich mit dem Strom Richtung Warenhaus treiben.

Die Haushaltsabteilung im Erdgeschoss war schnell erreicht, den Föhn hatte sie schnell zur Hand. An der Kasse gab es dann eine Verzögerung. Eine Kundin hatte etwas umzutauschen, die Kassiererin war umständlich und langsam. Marianne spürte, wie ihre Nervosität anstieg. Nachdem sie ihren Einkauf bezahlt hatte, verstaute sie den Kassenbon sorgfältig in ihrem Portmonee. Sie verließ das Kaufhaus unverzüglich und machte sich auf ihren Weg in die Robert-Koch-Straße.

Sie erreichte ihr Ziel fünf Minuten später. Sie sah auf die Uhr, es war nun 9.32 Uhr. Sie war sehr schnell gegangen und außer Atem. Sie öffnete die Haustür, die unverschlossen war, verhielt kurze Zeit im Hausflur, um wieder zu Atem zu kommen. Im Flur roch es nach Bohnerwachs, der Geruch erinnerte sie an das Haus ihrer Großmutter. Dort hatte es immer so gerochen. Ein Geruch, den sie mit Geborgenheit verband.

Auf dem Weg zu seiner Wohnung, die ein Stockwerk höher lag, begegnete ihr glücklicherweise niemand. Darauf hatte sie einfach hoffen müssen. Würde sie jemand hier sehen, müsste sie ihr Vorhaben sofort abbrechen. Die Treppenstufen knackten unter ihren Schritten. Das Treppengeländer aus Holz, an dem ihre linke Hand entlang glitt, gab ihrem Inneren Halt. Vor der Wohnungstür zögerte sie kurz, drückte dann jedoch entschlossen den Klingelknopf.

Die Musik, die sie vorher leise durch die Tür hatte spielen hören, verstummte. Schritte wurden laut, die Tür wurde geöffnet und Harald Zimmer stand vor ihr.

Wie hatte sie ihn damals nur kennen gelernt? Er tauchte eines Morgens in ihrem Laden auf, kaufte eine Morgenzeitung und ein Päckchen Zigaretten. Von da an blieb er Stammkunde. Das war nun schon fünf Jahre her. Er war ein junger Mann von damals fünfundzwanzig Jahren, war zuvorkommend und nett. Er war von schlanker Gestalt, trug Jeans und eine schwarze halblange Lederjacke. Ohne diese Jacke hatte sie ihn auch später nie gesehen. Er hatte ein schmales Gesicht, auffallend eingekerbte Mundwinkel, dunkle Augen, schmale Lippen, eine große Nase. Auffallende Gesichtszüge. Infolge seiner netten Art kam sie schnell mit ihm ins Gespräch, die Ebene des rein Geschäftlichen ließ er ziemlich rasch außer Acht. Er erzählte ihr, dass er vor Kurzem hierher gezogen sei in der Hoffnung, hier Arbeit zu bekommen. Von Beruf war er Bürokaufmann, warum er seine Arbeitsstelle verloren hatte, sagte er nicht, und sie war zu höflich, um danach zu fragen. Da er zwanzig Jahre jünger war als sie, hatte sie keine Probleme, mit ihm in Kontakt zu sein. Es bestand so keine Gefahr, dass ihre Beziehung einen zu intimen Charakter annehmen könnte.

Deshalb war sie erstaunt, als er sie eines Tages zum Essen einlud. Sie war noch nie von einem Mann zum Essen eingeladen worden. Das lag aber einfach daran, dass sie Kontakte zu Männern schon immer gemieden hatte.

Den ersten Abend mit Harald Zimmer hatte sie in guter Erinnerung. Sie waren zum Essen in eine Pizzeria gegangen, die einen guten Ruf bis weit über den Landkreis Marburg hinaus hatte. Harald Zimmer war charmant und zuvorkommend. Sie unterhielten sich sehr angeregt über alle möglichen Themen, die Zeit verging wie im Flug. Ziemlich erstaunt war sie, dass Harald Zimmer, nachdem er sie nachhause begleitet hatte, tatsächlich noch auf einen Kaffee mit in ihre Wohnung wollte. Das hatte sie natürlich abgelehnt, obwohl sie nicht glaubte, dass er mehr wollte, als tatsächlich einen Kaffee zu trinken.

Sie konnte, nachdem sie zu Bett gegangen war, lange nicht schlafen, der Abend war für sie zu ungewohnt, zu aufregend ... ja, zu erregend gewesen. Sie hatte das anregende Gespräch genossen, das sie geführt hatten. Die Komplimente, die ihr Harald Zimmer gemacht hatte, waren für sie ungewohnte Worte, die sich wie Balsam auf ihre Seele legten.

Es folgten noch weitere solche Abende. Bis sich dann, nachdem sie sich vier Monate kannten, ihre Bekanntschaft auf dramatische Weise änderte.

Sie waren in einem Lokal, das sie schon des Öfteren besucht hatten, in einem sehr guten Restaurant am Markt, in dem man sehr zuvorkommend bedient wurde. Sie waren mittlerweile, das war schon vor Wochen geschehen, beim Du angelangt und diesmal schlug sie ihm den gewünschten Kaffee in ihrer Wohnung nicht ab.

Sie nahm ihn mit nach oben in ihre Wohnung, bat ihn, auf dem dunkelbraunen Sofa Platz zu nehmen, dass sie schon seit ewigen Zeiten besaß. Er setzte sich auf die linke Seite, an der die Stehlampe stand, die dem Raum warmes Licht spendete. Sie stellte die Kaffeemaschine an, bereitete den Tisch, holte den Zucker aus dem dunkel gebeizten Wohnzimmerschrank, stellte die Milch auf und legte Tassen und Löffel bereit.

Nachdem sie den Kaffee gebracht hatte, sprang er urplötzlich auf und umarmte sie. Sie erschrak bis ins Tiefste ihres Herzens und wollte ihn von sich stoßen. Gegen seine kräftigen Arme konnte sie jedoch nichts ausrichten.

„Marianne“, stöhnte er. „Lass es einfach zu. Ich begehre dich seit dem Tag, da ich dich das erste Mal gesehen habe. Ich will dich. Ich weiß, dass du bisher in mir nur einen Freund gesehen hast, aber ich will mehr. Und du willst es auch, auch wenn du das nie vor dir zugeben könntest.“

Sie spürte sein hart gewordenes Geschlecht an ihrem Körper. Sie fühlte sich wie gelähmt, spürte, dass sie sich nicht wehren konnte. Angst vor dem, was kommen würde, durchflutete sie.

Harald Zimmer öffnete seine Hose, zog Marianne gierig Rock und Slip herunter und warf sie auf die Couch. Sie konnte nichts anderes tun, als es willenlos über sich ergehen zu lassen. Er drang in sie ein und ergoss sich in wenigen Augenblicken in ihren Körper.

Danach erhob er sich, ordnete seine Kleidung, gab Marianne Brunner einen Kuss und sagte: „Bis zum nächsten Mal.“ Dann verschwand er, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, aus der Wohnung.

Es war eine Vergewaltigung gewesen.

Die Gefühle, denen sie danach ausgesetzt gewesen war, gingen von Hass über Selbstverachtung, Angst, Wut bis hin zu Schuld. Ja, das Gefühl, schuldig zu sein, überwog. Sie hatte Harald Zimmer durch ihre bloße Erscheinung, durch ihr bloßes Dasein, durch ihre Weiblichkeit in diese Situation gebracht.

Harald Zimmer war am nächsten Morgen wie immer in ihrem Laden erschienen. Locker und entspannt begrüßte er sie mit einem Kuss, den sie zuließ.

Sie musste erstaunt feststellen, dass sie ihm ohne ein Gefühl der Angst oder Wut gegenüberstand. Nein, sie mochte diesen Mann, obwohl er ihr den Abend zuvor Gewalt angetan hatte. Sie fühlte sich ihm nahe. Sie verstand die Welt nicht mehr. Eigentlich hätte sie ihn ablehnen müssen, ihn aus dem Laden weisen sollen. Doch sie verabredete sich gleich für den nächsten Abend mit ihm. Es begann eine Beziehung, die in erster Linie von leidenschaftlicher sexueller Begierde geprägt war.

Nie hätte sie sich träumen lassen, dass es einem Mann gelingen könnte, diese Leidenschaft in ihr zu wecken, nein ... sie wusste ja selbst nicht, dass diese Leidenschaft in ihr steckte.

Doch nach jedem sexuellen Erlebnis mit Harald tauchten diese Schuldgefühle wieder auf. War sie nicht abgrundtief schlecht? Nicht genug, dass sie diese Lust in einem Mann erweckte, sondern es gab nun auch noch ihre ganz eigene, animalische Lust!

Sie verdrängte diese Gedanken, traf sich nun seit fünf Jahren regelmäßig zweimal in der Woche mit Harald, um sich dieser Lust hinzugeben, ohne dass sich ihre Beziehung irgendwie veränderte. Ihre Schuldgefühle und depressiven Phasen, die irgendwann immer wieder auftauchten, vergingen. Es gelang ihr, ihre Gedanken an diese negativen Gefühle in den Hintergrund zu drängen.

Trotzdem gewann immer mehr das Gefühl der Abhängigkeit die Oberhand. Oft hatte sie schon versucht, die Beziehung zu beenden. Sie wusste, dass ihr diese Beziehung letztendlich nicht guttat. Ihr Selbstwertgefühl wurde immer geringer.

Sie wusste, dass Harald neben ihr noch andere Frauenbekanntschaften hatte, er machte wahrlich kein Hehl daraus ... nein, er ergötzte sich an ihrer Empörung und an ihrer Selbsterniedrigung. Er wusste, sie würde ihn nicht verlassen, er hatte alle Fäden in der Hand. Er nutzte sie aus, spielte mit ihr. Mit dieser masochistischen Beziehung musste nun langsam Schluss sein!

„So früh? Was willst du denn hier? Musst du nicht in deinen Laden? Na los, komm schon herein.“ Harald war erstaunt, es war noch nie vorgekommen, dass sie ihn zuhause besucht hatte. „Muss ja wichtig sein“.

Sie entgegnete nichts. Sie betrat den Flur, der in einem braunen Farbton gestrichen war und ihm ein düsteres Aussehen verlieh. Als Harald vor ihr den Flur entlangging, griff sie in ihre Handtasche, nahm das Messer heraus, nahm es fest in beide Hände und rammte es ihm bis zum Heft in den Rücken. Mit einem Aufstöhnen drehte er sich herum, bekam aber nur ihre Haare zu fassen und stürzte dann zu Boden.

Es war totenstill. Sie wartete eine Minute, dann trat sie an den Körper heran, befühlte vorsichtig die Halsschlagader: kein Pochen. Kein Zweifel, Harald war tot.

Tief einatmend setzte sie sich auf einen Hocker, der neben einem Schränkchen mit Telefon stand, und überlegte kurz. Wie hatte sie ihre nächsten Schritte geplant? Jetzt nur nicht durcheinander kommen.

Die Tatwaffe! Sie musste das Messer mitnehmen, das würde die Ermittlungen erschweren.

Widerwillig bückte sie sich nochmals über die Leiche, griff mit beiden Händen das Heft des Messers, setzte einen Fuß auf den reglosen Körper und zog das Messer mit einem kurzen Ruck aus dem Leib heraus. Sie steckte das Messer in den mitgebrachten Plastikbeutel, ging zur Tür, öffnete sie, schaute in das Treppenhaus. Niemand war zu sehen, also schlüpfte sie durch die Tür, schloss sie lautlos und verließ unbeobachtet den Tatort und das Haus.

Sie ging die Straße Richtung Hauptbahnhof hinunter, sie hatte keinen Blick für die Menschen, die ihr begegneten, sie sah nur den leblosen Körper von Harald Zimmer vor sich. Ihre Gefühle gingen durcheinander. Verzweiflung, Schrecken, Erleichterung, Euphorie und Angst lösten sich ab. Sie merkte jedoch immer mehr, dass ein Gefühl langsam die Oberhand gewann: Euphorie! Sie hatte es getan! Sie hatte es ihm gezeigt! Sie hatte sich von ihm trennen können! Das Band der Abhängigkeit war durchtrennt.

Sie überquerte die Brücke über die Lahn. Sie blieb kurz stehen, sah sich um und warf das Messer in hohem Bogen in den Fluss.

Sie musste nun nur möglichst schnell ihren Laden erreichen, um ihn pünktlich öffnen zu können. Ihr Tagesablauf musste so sein wie immer. Montags öffnete sie immer erst um zehn Uhr. Es war aber unmöglich, bis zehn Uhr in ihrem Laden zu sein. Es war jetzt zehn Minuten vor zehn.

Nun gut, sie würde später im Laden ankommen, das war kein Beinbruch. Sie hatte sowieso kein perfektes Alibi eingeplant. Bei einer Befragung durch die Polizei würde sie wahrheitsgemäß schildern, was sie an diesem Vormittag gemacht hatte, den Mord natürlich ausgenommen.

Ein Taxi vor dem Bahnhof war schnell gefunden. Sie ließ sich aber nur bis zum Rudolphsplatz fahren, von da ab ging sie zu Fuß. Mit dem Taxi vor ihrem Laden zu erscheinen, war zu auffallend. Ein Kunde stand schon wartend vor der Ladentür. „Na, verschlafen? Oder einfach keine Lust gehabt?“

„Nein, bin beim Einkaufen aufgehalten worden. Ich will nur schnell meinen Mantel ablegen, dann bediene ich Sie.“

Der Kunde nahm seine gewünschte Morgenzeitung in Empfang und ein ganz normaler Arbeitstag nahm seinen Anfang, abgesehen davon, dass ihr Stammkunde Harald Zimmer nicht erschien.

Kriminalkommissar Herbert Gruber lehnte sich entspannt in seinem Bürostuhl zurück. Er trug wie immer einen seiner altmodischen Anzüge, die Hose spannte etwas um den Bauch herum. Er hatte eine Neigung zur Fettleibigkeit, die jedoch durch seine Größe, er war an die 1,90 Meter groß, kaschiert wurde. Er drehte den Stuhl in Richtung seines Assistenten Karl Kroner, kurz KK genannt, der ihm einen Becher Kaffee entgegenhielt. Sie befanden sich in ihrer Dienststelle der Polizeistation Marburg. Ihr Dienst hatte gerade begonnen. Grubers graue Augen blickten seinen Untergebenen an.

„KK, liegt irgendetwas an oder gelingt es uns, etwas entspannter in den Tag zu kommen. In letzter Zeit war uns das ja nicht gerade möglich. Die letzten Fälle sind nun alle vom Tisch, eine kleine schöpferische Pause hätten wir uns schon verdient.“

Karl Kroner stellte die Tasse auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten, strich sich durch seinen blonden Kinnbart, den er seit Kurzem trug, und kniff seine Lippen zusammen, bevor er antwortete.

„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Kurz bevor Sie kamen, ist uns ein Toter gemeldet worden. In der Robert-Koch-Straße. Man hat ihn in seiner Wohnung gefunden. Wie es aussieht, ist er erstochen worden, von der Tatwaffe gibt es jedoch keine Spur.“

„Nun gut, Pech gehabt. Nicht nur wir, auch der Tote. Lassen Sie einen Dienstwagen bereitstellen, wir fahren gleich los.“

Eine halbe Stunde später standen beide vor der offenen Tür zur Wohnung von Harald Zimmer. Die Spurensicherung war schon vor Ort, der Polizeifotograf hatte seine Bilder geschossen, der Gerichtsmediziner schien gerade seine Arbeit beendet zu haben. Süßlicher Leichengeruch hing in der Luft.

„Hallo Doktor, wie sieht es aus? Todeszeitpunkt, Tatwaffe, irgendwelche Besonderheiten?“

"Immer langsam mit den jungen Pferden, Herr Gruber. Sie wissen, dass alles, was ich Ihnen jetzt sage, nur erste Mutmaßungen sind. Der vollständige Bericht erfolgt erst nach der Obduktion.“

„Weiß ich, weiß ich Herr Doktor. Doch was liegt an?“