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Eines der erschütterndsten Anti-Kriegsbücher. Verstörend, aufrüttelnd. Ein Bericht, der einem den Atem nimmt... Dorniger lauschte angestrengt, mit geschlossenen Augen, alle Aufmerksamkeit sammelnd in den Ohren. Zunächst hörte er nur das Schnarchen der Soldaten, ihr Gestöhne, ihre Bewegungen, die Schritte der Wachen -- aber über diesen Geräuschen erhob sich, diese Laute durchtönte leises, dunkles gleichmäßiges Rollen. Ein nahendes Gewitter? Aber was hatte ein Gewitter mit ihrem Marschziel zu tun? Und so ohne Unterlaß, so gleichartig, so gleich im Tone rollte kein Donner. Das war etwas anderes. Das war . . . Dorniger begann zu verstehen, und als sein Kamerad ihn fragte: "Na, hast du's gehört?" -- da antwortete er nur mit einem gepreßten "Ja!" und vergrub sich in eine quälerische Grübelei. Morgen schon an die Front? So war man also dicht vor dem Ziele? Diesem fernen, dumpfen Rollen wird man entgegen marschieren, und je näher man kommt, um so stärker, gewaltiger, drohender wird es werden, und wenn man ganz nahe ist, wenn man an dem Ursprung dieses Donners ist, o mein Gott, dann marschiert man in ihn hinein und wird von ihm zermalmt! Als großes blutiges Maul sah sein überhitztes Gehirn die Front, als einen gigantischen Rachen, in den die armen Soldaten hineinmarschierten.
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2019
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DER MARSCH INS CHAOS
von
Josef Hofbauer
______
Erstmals erschienen im:
Dr. Hans Epstein- und Phaidon Verlag,
Wien, 1930
_______
Vollständig überarbeitete Ausgabe.
Ungekürzte Fassung.
© 2018 Klarwelt-Verlag
ISBN: 978-3-96559-171-4
© Alle Rechte vorbehalten.
www.klarweltverlag.de
Inhaltsverzeichnis
Titel
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
Epilog. Zehn Jahre später
un stand man, nach Frühstück und Brotfassung, seit Stunden schon vor den Baracken und wartete auf den Marschbefehl. Vor den Drahtzäunen und auf der Straße, vor dem Eingang zum Barackenlager, drängten sich hunderte, tausende Angehörige der Soldaten. Polizei war aufmarschiert und hielt in Gemeinschaft mit der verstärkten Lagerwache die unruhige Menge fern.
Transferierung! Ganz unvermutet, am späten Abend erst, war der Befehl gekommen. Die Landstürmer, die in Wien daheim waren, konnten noch einmal nachhause zu jähem, überraschendem, durch die Plötzlichkeit das Quälende dieser letzten Stunden peinvoll steigerndem Abschied. Die Deutschböhmen und die Mährer und die Tschechen, die keine Verwandten in Wien hatten, waren nach schmerzlichem Herumwälzen auf den schmutzigen, zerlegenen Strohsäcken in traumvollen Schlaf gesunken, knapp ehe der Weckruf durchs Lager gellte. Sie hatten in stummer Zwiesprach noch einmal Abschied genommen von Weib und Kindern, die sie vor vier Wochen verlassen, um ¬¬— Taugliche der dritten Nachmusterung — nach dem fernen Wien zu fahren. Denn Wiener waren auch sie, wenn sie auch der Stadt, aus der in längst vergessenen Zeiten ihre Ahnen ausgewandert, nicht innerlich verbunden waren. Die Väter oder sie selber hatten versäumt, das Heimatsrecht zu erwerben an den Orten, in die sie auf der Suche nach Erwerb geraten waren . . .
Die ersten Abteilungen sind auf der Straße. Ein wirrer Schrei begrüßt sie. Tausend Hände heben sich, winken, recken sich grüßend den Männern in den schleißigen, zerflickten Uniformen entgegen, den Männern, die kleine abgewetzte Kofferchen tragen oder auch nur schnurumwickelte Pakete. Sturzfluten von Zurufen überschütten sie. Kein Wort wird verständlich. Der Einzelruf wird verschlungen vom wildaufbrausenden Meer der Schreie der Liebe, des Schmerzes, des Bangens, der Freude über das letzte Wiedersehen, der Qual des letzten Abschiedes. Noch ist die Masse geschlossen, noch gilt ihr Ruf der Gesamtheit der Marschierenden — aber nun, da sich diese in langen Kolonnen auf der Straße vorwärts zu schieben beginnen, löst sich die Menge auf. Männer, Weiber, Kinder laufen neben den Marschierenden, laufen vor und zurück, Namen rufend, nach einem lieben Angesicht spähend.
Landsturmrekrut Dorniger stöhnt unter der Last seines Koffers. Ihm hilft niemand beim Tragen. Und er hatte nie so schwere Last geschleppt. Wie wäre ein Buchhalter dazu gekommen? Gab es etwas zu tragen, so nahm man sich einen Dienstmann. Er wechselt den Koffer von einer Schulter auf die andere, trägt ihn dann wieder ein Weilchen mit der rechten, mit der linken Hand — findet keine Art des Tragens, die weniger peinvoll ist. Warum man nicht mit der Straßenbahn fahren durfte? Welch ein Unsinn, zu so weitem, beschwerdevollem Marsch zu zwingen, zu einem Marsch mit den Koffern! So hatte er sich den Anfang nicht vorgestellt, so nicht!
Gegen das Marschieren hatte er nichts. Ein deutscher Turner ist das Marschieren gewöhnt. Aber mit einem so unbequemen Gepäck! Ganz schöne Strecken Marsches hatte es manchmal gegeben, wenn der Verein ausgerückt war. Aber da war man leichtbeschwingt marschiert, unbelastet, na ja, und keinem so ungewissen Ziel entgegen. Kein Mensch hatte ja eine Ahnung, wohin man getrieben wurde. Man stellt sich das Soldatenleben doch ein wenig anders vor, solang man es nicht kennt. War ich wirklich einmal so blöd, dass ich mich schämte, nicht dabei zu sein? Gar nicht so lang ist’s her. Wie die großen Siegesmeldungen aus Ostpreußen gekommen waren und wir einen Umzug gemacht haben, mit der Turnvereinsfahne voran, da war ich noch denen neidig, die beim großen Russentreiben mit dabei sein konnten. Na ja, ich hab mich ja dann abgefunden, und dann, wie die ersten Verwundeten heimgekommen, da war ich schon froh — aber zu sagen hab ich mich’s nicht getraut. Wär eine schöne Schande gewesen! Ein deutscher Turner, der den Krieg lieber nicht mitmacht! Und jetzt muss ich doch . . . jetzt marschier ich doch mit . . .
Schwerer wurde die Last. Tiefe rote Furchen schon hatte der eiserne Griff des Soldatenkoffers in seine Hände geritzt. Wund schon waren die Schultern. Dorniger wankte, sah sich vergebens nach Hilfe um — ach, es war ja jeder mit sich beschäftigt, mit seiner Last, mit seiner Qual, mit seinem Leid!
Aber nicht er allein war matt geworden. Waren ja alle „Scheißer“, die Landstürmer. Verdorben durch Berufs- und Familienleben — ja, und wenn sie etwas wert wären, dann hätte man sie doch nicht erst bei der dritten Nachmusterung genommen. Verächtlich schauten die Offiziere nach dem „Sauhaufen“. Nichts zu machen mit diesen Leuten, man musste ihnen eine Rast gönnen. Auf ihre Koffer ließen sich die müden Soldaten nieder, ihre Frauen, ihre Kinder kauerten neben ihnen.
Keuchend, die schmerzenden Hände auf den Oberschenkeln, hockte Dorniger auf seiner Last.
„Sö! — ja. Sö mit die Augengläser!“
Dorniger sprang auf, pflanzte sich salutierend vor dem Gefreiten auf, der nachdenklich in der Nase bohrte.
„Sö san g’wiss a intelligenter Mensch! Springen S’ durt umi zum Greisler und holen S’ mir a Flascherl Bier! Abtreten!“
Dorniger, ein Dutzend Flüche verschluckend, sprang über die Straße, kaufte eine Flasche Bier, wollte sie dann einfach dem Gefreiten geben.
„A, so g’müatlich mochen wir dos net! Wann S’ vor mir steh’n, da müassen S’ stramm stehn! Und dann melden: Herr Gefreiter, melde gehorsamst, do is dos Bier! . . . So, guat is! So is recht! Hochdeutsch brauchen S’ mit mir net z’ reden, aber a Haltung will i haben, a Haltung! So – abtreten!“
An die Bezahlung des Bieres dachte der Herr Gefreite nicht und Dorniger wagte ihn nicht daran zu erinnern. Seufzend ließ er sich auf seinem Koffer nieder.
„Mi brauch me dos nit!“
„Was brauchen wir nicht?“
Erstaunt fragte Dorniger den neben ihm kauernden Mann, der an einer erloschenen Pfeife saugte, die zwischen zusammengekniffenen Lippen hing.
„Das Marschieren. Und iberhaupt das Militär. Und ganze Krieg!“
„Natürlich brauchen wir den Krieg nicht. Aber jetzt ist er einmal da und da kann man nichts mehr machen. Jetzt muss man seine Pflicht erfüllen!“
„Stimmte! Kann me jetzt nix machen gegen Krieg. Aber Pflicht? Meine Pflicht ise, an Hobelbank stehen und arbeiten für Frau und Kindel. Und alles andere — mi brauch me dos nit!“
„Prochaska, du bist eben ein Böhm, du verstehst das nicht so! Ihr Böhm’ denkt halt über den Krieg anders . . .“
„Wenn’s die Zeitungen schreiben, dass das eine deitsche Krieg is — was gehte dann mich an? Aber du weißt, dass ich kein Behm bin, sondern Wiener, Tscheche, aber Wiener. Da bist doch eher du ein Behm, weil du wohnst in Behmen . . .“ „Weil ich fünf Jahre in Komotau als Beamter leb’, bin ich noch lang kein Böhm. Du weißt doch, dass man unter einem Böhm nicht einen Menschen aus Böhmen versteht, sondern einen Tschechen! Das wär noch schöner, wenn wir uns mit euch verwechseln lassen sollten! Wir Deutschen wissen wenigstens noch, was Treue ist . . .!“ „Wenn ein Deutschböhm und ein Böhm zusammenkommen, müssen sie streiten!“ Zornig mengte sich ein anderer ins Gespräch. „Und dabei bist du doch nur ein gelernter Deutschböhm, Dorniger – bist doch erst ein paar Jahre fort von Wien! Und was hast du denn dem Prochaska oder den anderen Tschechen vorzuwerfen? Bist du vielleicht voller Begeisterung eingerückt? Wer hat denn noch vor ein paar Tagen bei der Präsentierung gehofft, dass er loskommt, weil er im vorigen Jahr Gelenksrheumatismus gehabt hat? Der Dorniger! Aber mein Lieber, fürs Gehabte gibt der Jud nichts — du kennst doch noch den alten Wiener Spruch? — und für eine gehabte Krankheit gibt der Regimentsarzt nichts. Nicht einmal für eine wirkliche Krankheit! Das gibt’s nicht, dass sich einer drückt und im Bett stirbt! jetzt gilt nur der Heldentod!“
„Antreten!“
*
Nicht genügend ausgeruht, durch das Gespräch mit den Kameraden auch keineswegs aufgemuntert, keucht Dorniger unter dem drückenden Koffer dahin. Keucht und stöhnt, glaubt zusammenbrechen zu müssen und hält doch aus, marschiert doch weiter, stürzt doch nicht zusammen, hält sich doch aufrecht, kommt doch, mit tausend anderen, die keuchen und stöhnen und fluchen, zum Bahnhof.
Ein großes hölzernes Gittertor, bewacht von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Auch Polizei ist aufmarschiert. Nun sollen die Angehörigen sich losreißen von ihren Freunden, sollen sie losgerissen werden von ihnen. Aber vergebens stürmen die Polizisten gegen die schreienden und kreischenden Weiber, wider die heulenden Kinder. Die Männer lassen nicht von ihren Frauen, schließen die Arme um sie und marschieren so durchs Tor. Ein starker Bursche hebt lachend sein altes Mutterl hoch und trägt es triumphierend mit sich. Und die Kinder — die Kinder finden immer wieder Lücken, durch die sie in den Rangierbahnhof eindringen können. Achselzuckend geben schließlich die Polizisten ihre Bemühungen auf und nun wälzt sich, triumphierend aufschreiend, der Wirbelnde Strom der bunten Menge, in der neben den grauen und blauen Soldatenblusen die Farben der Frauenkleider brennend leuchten, durch das Tor.
Lange Lastzüge. Viehwagen, deren Schiebetüren weit offen stehen. Die Rekruten schaudern: Da sollen wir hinein! In ihre Ohren bohrt sich das Gejammer der Weiber: Ich lass dich nicht fort! Ich lass dich nicht!
Kommandorufe dröhnen. Aber die Menge entwirrt sich nicht. Offiziere reden begütigend und scheltend auf die Soldaten und ihre Begleiter ein. Vergebens. Aber nun kommt eine Abteilung Soldaten in geschlossener Formation, im Gleichschritt. Bosniaken! Wutgeschrei der Weiber und Mädchen stürzt ihnen entgegen. Bosniaken! Mit denen kann man nicht reden — die verstehen nicht, was man ihnen zuruft. Sie marschieren wie Maschinen gegen die Menge. Nun müssen die Frauen ihre Männer loslassen. Nun müssen die Väter ihre Kinder auf den Boden stellen, sie den Müttern zuführen. Nun muss man nach letztem Kuss sich trennen.
Vor den Wagen sammeln sich die Abteilungen. Die Frauen, die Kinder, die alten Männer, die lauter zu schreien, wilder zu jammern beginnen, werden langsam zurückgedrängt, in der Richtung zum Tore. Und während die Rekruten in die Wagen klettern, die vorsorglich schon in Friedenstagen mit der Aufschrift versehen worden sind: vierzig Mann oder acht Pferde — schieben die bosnischen Soldaten die tumultuierende Menge zum Tor hinaus, das nun eilig geschlossen wird.
Kommandorııfe, das Pfeifen der Lokomotiven und das verzweifelte Schluchzen und Stöhnen und das wütende Heulen der vor dem Bahnhof sich stauenden Angehörigen stürzen ineinander, steigen gemeinsam als chaotisches, erschütterndes Getöse zum Himmel auf.
Durch schmale, winkelige Gässchen, in denen alte, behäbige Bürgerhäuser träumen, noch manches alte Handwerkszeichen und kunstvolle Schild den Vorübergehenden freundlich grüßt, war Dorniger geschlendert. In diesen verlorenen Gassen gab es weniger Offiziere, da musste man nicht so oft salutieren. Und sie waren so anheimelnd, so vertraut, diese Gasseln, in denen der Schritt Widerhall gab, weil sie so stillegefüllt waren — Wege einer den Sonntagnachmittag verträumenden Stadt. — Nun durchwanderte er den Stadtpark.
Hier war es nicht mehr so still wie in der alten Stadt. Kinder lachten und schrien — sie tummelten sich auf den breiten Wegen, freuten sich der vielen schwarzbraunen Eichhörnchen, die von Baum zu Baum huschten, wie Schatten über die Wege glitten, verfolgt von glänzenden Kinderaugen. Alte Damen und Herren fütterten die Vögel, die sie schwirrend umdrängten. Auf den Banken saßen Soldaten mit ihren Mädchen. Würdige Weißbärte erörterten, wie Dorniger aufgeschnappten Gesprächsbrocken entnahm, die Kriegslage.
Rascher schritt Dorniger aus, den Weg zum Schlossberg hinan. Oben wimmelte es von Soldaten. Den ersten freien Sonntagnachmittag nützten hunderte Wiener zu einem Besuch des Schlossberges. Dort hatte man nicht nur einen bezaubernden Rundblick auf Graz — dort gab es auch ein Kaffeehaus, in dem man köstlichen Kaffee bekam und Gugelhupf —, Gottseidank, Mehlspeisen erhielt man noch ohne Brotkarten!
Überfüllt war der Kaffeehausgarten. An allen Tischen drängten sich lachende, schwatzende Soldaten. Willkommensrufe begrüßten Dorniger. Der Kirschenbauer, Prochaska, Molitor, Doleschal, der Strasser, der Heinzelmeier — alle waren sie da.
Dorniger schlürfte den Kaffee. Das war doch etwas anderes als die schwarze Brühe, mit der zweimal täglich in den Baracken die Bäuche gefüllt wurden! Er erzählte den fragenden Kameraden bereitwillig von seiner Wanderung durch die Grazer Gassen. Darauf berichtete Kirschenbauer:
„Ich war drüben am Lend — das ist der Stadtteil grad uns gegenüber — und dort bin ich im Volksgarten gewesen. Dort hab ich was Symbolisches entdeckt. Im Volksgarten hat der Dichter Morre ein Denkmal. Hast von dem schon was g’hört?“
„Nein.“
„Ich weiß von ihm auch nicht mehr, als dass er ein Volksstück geschrieben hat, das früher oft gespielt worden ist. „‘s Nuller!“ heißt’s. Da kommt ein alter Einleger vor, verstehst? Und der singt ein Lied, das könnt jeder von uns singen, so gut passt es auf uns — wenigstens der Refrain: A Nullerl, a Nullerl, a Nullerl bin i!“
„Verfluchter Kerl! Du musst einem jede Stimmung versauen!“
„Aber recht hat er“, meinte Prochaska, „mi sein me wirkli alle arme Nullerl, nix wie arme Nullerl!“
„Aber muss man denn immer davon reden! Wird’s denn dadurch anders?“
„Na, so reden wir halt von was anderem“, meinte begütigend Kirschenbauer, der Setzer. „Hast d’ schon deine Latrinenscheu überwunden?“
Wieder wurde Dorniger verlegen. Da hatte er geglaubt, seine Schwäche sei den Kameraden verborgen geblieben — und nun lachten und spotteten sie darüber! Aber tapfer verteidigte er sich:
„Das ist nicht so zu verwundern! Wenn man daheim sein Wasserklosett hat . . . ich hab’ einen schrecklichen Ekel vor der Latrine gehabt. Ich hab’ jedes Mal gemeint, ich muss mich erbrechen. Das hab’ ich nicht verstehen können, dass das möglich ist – zu Dutzenden auf der Stange zu sitzen, dabei gemütlich miteinander zu plaudern, gar zu rauchen, Witze zu machen, zu schweinigeln, zu lachen, wenn einer recht geräuschvoll ist, als wär das ein wunderbarer Scherz — dann fragt wieder einer den andern, ob er Papier hat — nein, das war mir zu grauslich! Da hab’ ich mich halt bezwungen, hab’ immer bis mittags gewartet, dann bin ich in ein Kaffeehaus gegangen. Aber jetzt — von den Andritzer Baracken bis in die Stadt ist’s zu weit, man kann gar nicht an jedem Abend hinein — da hab’ ich mich halt auch dran gewöhnen müssen.“
„So wie man sich halt an alles gewöhnt. Daran, dass man sich nicht baden kann, dass man die Wäsche nicht mehr so oft wechseln kann wie früher — dass man auf einem dreckigen Strohsack schläft mit hundert Fremden zusammengesperrt — dass man sich von einem blöden Zugsführer schikanieren lassen, jeden Trottel grüßen muss, wenn er ein paar Sterndeln aufgenäht hat — ach ja, man gewöhnt sich schon an den Krieg und ans Soldatsein!“
„Und dabei wissen wir noch gar nichts vom Krieg!“
Leise und stockend sagte es Dorniger. „An was werden wir uns noch gewöhnen müssen?“
„An was Besseres gewiss nicht!“
Nachdenklich sogen die Männer an ihren Pfeifen und an den billigen Sonntagszigarren. Das Gespräch zerbröckelte. Jeder hing seinen Gedanken nach, die der gespenstischen Zukunft entgegeneilten.
„Geh’n ma, geh’n ma! ‘s ist Zeit! Mir haben no an weiten Weg bis Andritz!“
Die Soldaten zahlten und erhoben sich. Dorniger und Kirschenbauer traten nochmals an die Brüstung der Mauer, die das Schlossbergplateau umsäumt, ließen nochmals die Blicke hinweggleiten über die liebe, schöne Stadt. Kupferne Kirchenkuppeln und Türme leuchteten, von der scheidenden Sonne umschmeichelt, triumphierend auf. Rotgoldenes Licht lag auf der Mur. Tausend kleine Fenster glühten.
„Ich glaub’, nirgends kann der Herbst so schön sein wie in der Steiermark!“
Kirschenbauer sagte die Worte leise, andächtig vor sich hin, und sie klangen wie Worte eines Gebetes. Seine Hände ruhten auf dem Mauerrand, sein Oberkörper war weit darüber vorgebeugt, seine Blicke streiften hinaus in das farbenprunkende Land.
Und Dorniger sagte:
„Wie schön müsst sich’s in Graz leben lassen, wenn kein Krieg wär!“
„Wenn kein Krieg wär!“
*
„Hob i kan Regenschirm mit,
Dann scheint ganz g’wiss ka Sunn!
Setz i in d’ Lotterie,
Da kumman d’ Numm’ra g’fehlt —
I hob holt gor ka Glück
Auf dera Welt!“
Der Chorgesang der Soldaten widerhallte von den Wänden der „Schwechater Bierhalle“. Wer nicht grad sang, der soff, und war eine Strophe beendet, tranken auch die Sänger. Wenn das Trinken nichts kostete! Freundliche Bürger saßen in der großen Gaststube, stolz darauf, den tapferen Soldaten zahlen zu können.
„Trinkt’s! Trinkt’s! Wer waß, wann ‘s wieder so saufen könnt’s! Vur an so an Weg muaß ma si stärk’n! — Aber singa müaßt’s a. Dos is soviel scheen, wann die Soldaten singan!“
Und die Soldaten sangen und tranken, tranken und sangen — und fühlten ihre Bedeutung wachsen, weideten sich an der tragischen Größe ihres Schicksals — waren stolz darauf, nicht solche dicke Wasteln zu sein, wie die weinseligen und zahlungsfreudigen Bürgersleute, die keine andere Kriegshilfe mehr leisten konnten als die, abmarschbereite Frontsoldaten zu bewirten. Und so stiegen die Wogen der Stimmung, schmolzen die Herzen vor Rührung und Stolz, je mehr die Bäuche sich füllten mit Wein und Bier.
Dorniger, in dessen Kopf es rumorte und wirbelte, wollte sich immer wieder von Kirschenbauer losreißen, der ihn mühsam zurückhielt.
„Lass mich! Ich muss dem Kerl meine Meinung sagen! Wenn er schon nicht mit hinausgeht, dann soll er wenigstens nicht hierherkonımen. Das ist eine Provokation! Wem verdankt’s denn der Müller, dass er ein Kanzleifuchs geworden ist? Wem denn? Der Frau vom Dienstführenden! Man weiß nicht, hat er sie aufgegabelt oder hat sie sich ihn aufgezwickt . . . und weil der Herr Dienstführende unter ihrem Kommando steht, hat er den Müller in die Kanzlei abgeschoben . . . Bei ihr liegt er im Bett und ihm zahlt er . . . und deswegen braucht er nicht an die Front zu gehen! Ist das eine Gerechtigkeit?“
„Eine Gerechtigkeit ist’s nicht . . . aber die darfst d’ doch auch nicht beim Militär suchen . . . Aber machen kannst nichts. Geh’, sei g’scheit! Verdirb dir nicht den letzten Abend! Sing lieber mit! Hast doch einen so schönen Bariton!“
„Da hast d’ recht! Ich hab’ auch immer bei uns mitgesungen bei der Liedertafel . . . und weißt, wir haben eine Vereinigung gegründet gehabt, bei uns in Komotau, die hat in den Spitälern gesungen, damit die armen Soldaten eine Freud haben. Ja, und bei Soldatenbegräbnissen haben wir auch gesungen. Freilich, später nicht mehr — da sind zu viele Begräbnisse gewesen . . . Und jetzt weiß ich nicht . . . weiß ich nicht . . . wer einmal bei meinem Begräbnis singen wird . . . “
Dorniger kam jetzt in eine weinerliche Stimmung, in der er am liebsten aufgeheult hätte.
„Trink einen Schwarzen, dann wird dir gleich besser werden!“ Und Kirschenbauer rief nach der Kellnerin.
Toller, übermütiger, wilder wurden die Soldaten. Zotiger wurden ihre Gesänge, derber ihre Scherze, herausfordernder ihre Gebärden. Mit Faustschlägen, die wuchtig auf die Tische niedersausten, und mit taktmäßigen Schlägen der Bajonette begleiteten sie ihre Lieder. Ein paar hatten sich taumelnd erhoben und versuchten miteinander zu tanzen. Die Kellnerin flüchtete. Kopfschüttelnd stand der Wirt in der Türe und sah dem wüsten, wirbligen Treiben, dem hemmungslosen Toben zu. Die Bürger bekamen Angst, zahlten und verschwanden. Ein Rausch war etwas ganz Schönes — aber die Soldaten trieben es doch gar zu bunt. Da war es besser, nun, da man doch schon genug hatte, heimzugehen und ins Bett zu kriechen.
Aber der turbulente Ausbruch weinerzeugter und angstgeborener Lust war nur Höhepunkt eines Sturmes, dem rasches Abflauen folgte. Nach dem Aufbruch der Bürger standen auch einige Soldaten auf, die nicht so besoffen waren wie die anderen, und mahnten ans Heimgehen. Heimgehen! Das war ein Heimgehen, um fortzugehen! Fast alle begriffen. Die paar Übervollen wurden von den anderen mit aufgerissen und hinausgezerrt ins Freie. Wer nicht allein gehen konnte, wurde von den Kameraden untergefasst und mitgeschleift.
Dorniger, der nicht mehr fest auf den Beinen war, klammerte sich an den fast nüchternen Kirschenbauer. Und er schwatzte, glücklich lallend, auf den Kameraden ein:
„So ein schöner Rausch! So ein schöner Rausch! Ich hab doch manche gute Turnerkneipe mitgemacht — aber so ein schöner Rausch — so ein schöner Rausch . . .!“
Kirschenbauer nahm die Kappe ab und ließ seine Stirne von der kühlen Nachtluft erfrischen. Wie gerne hätte er sich jetzt der Stille hingegeben! Aber wenn schon Dorniger einmal aufhörte, seinen Rausch zu preisen, dann hörte man einen andern singen, immer dieselben Worte, immer die gleiche Melodie: „Do geh’n ma holt zum Maschkeraball, zum Maschkeraball!“ So kam Kirschenbauer zu keinem klaren Denken, zerbrachen alle Versuche zu geordnetem Überlegen an dem trunkenen Lärm der Kameraden, und er war froh, als der Trupp endlich, nach stundenlangem Herumtorkeln, bei den Baracken ankam.
Lachend empfing sie die Lagerwache:
„Ui jö! Ös habt’s schwer g’laden! Ös seid’s von der Marschkompagnie? Na, da seid’s froh, dass ‘s euch no amol habt’s ansaufen können! Schaut’s nur, dass ‘s eini kummts! Lang wird’ts eh nimmer schlafen können!“
Kirschenbauer schleppte seinen Gefährten in die Baracke und warf ihn auf den Strohsack. Jetzt aber wurde dem Dorniger übel. Über schreckliches Kopfweh begann er zu jammern. Die anderen, die schlafen wollten, fluchten und schimpften, so dass Dorniger nichts mehr zu sagen wagte. Wimmernd barg er das Gesicht auf der Decke. Plötzlich stieg ein Würgen in seinem Halse hoch — es war ihm, als drängten alle Eingeweide sich im Körper nach oben – mit letzter Anstrengung riss er den Strohsack beiseite — und in gurgelndem Strome entleerte er seinen Mageninhalt auf die Bretter . . .
*
Der übliche Morgenruf des Korporals vom Tage brachte heute die Soldaten nicht wie sonst auf die Beine. Und unterstrich er seine Worte durch Püffe und Stöße, so antwortete nur unwilliges Gebrumm. Packte er einen der Schnarcher und schüttelte ihn, so kräftig, wie er auf dem Kirchweihfest einen Nebenbuhler gebeutelt, so stöhnte der nur ein wenig auf und wälzte sich auf die andere Seite, ohne seinen Schlaf zu unterbrechen. Da wusste sich der Arme keinen anderen Rat, als den Feldwebel Kleinmichel gehorsamst davon zu verständigen, dass die Leute nicht wachzukriegen, dass sie dalägen wie Baumklötze.
Kleinmichel flog in die Baracke, Schaum vor dem Munde, den Kopf gerötet, zitternd vor Wut. In einer Stunde sollte die Mannschaft gestellt sein! Und noch waren die Schweine nicht auf! Das könnt’ ihnen so passen, die ganze Militärzeit und den ganzen Krieg auf den Strohsäcken zu verfaulenzen! Aber schon wurde der Einfall verjagt von boshafter Freude: Wartet nur, ihr Saukerle! Heut’ habt ihr das letzte Mal auf einem Strohsack geschlafen! Denen gönn’ ich’s, den Tachinierern, die einen noch am letzten Tag so ärgern! Aber mit jeder „Marsch“ hat man den gleichen Ärger. Gottseidank, ich hab schon manche Marschkompagnie zusammengestellt und abmarschieren gesehen — ich hab das Meine geleistet — aber die Saubeuteln werden immer disziplinloser, immer widerborstiger. So was hätt’s während der aktiven Dienstzeit nicht gegeben – da hätt’ man die Leut’ einfach reihenweise angebunden! — Aber in einer Stund soll doch die „Marsch“ gestellt sein! Herrgottnocheinmal . . .
Seine Entrüstung hatte den Feldwebel nicht gehindert, gleich beim Eintritt in die Baracke nach einem Verständigungsmittel zu schauen. Am liebsten hätte er die verschlafene Bande mit einem Bajonett wachgekitzelt. Das war nun freilich nicht möglich — bei aller Strenge vergaß er nie, dass gewisse Methoden nicht anwendbar waren. Aber ein Gewehr riss er an sich und boxte mit dem Kolben die wie im Starrkrampf liegenden Schläfer, und jeden Stoß begleitete ein wütend ausgespucktes Schimpfwort — und da mussten die noch immer Rauschbefangenen doch erwachen — und wenn erst ihr Blick auf den tobenden Feldwebel gefallen, schüttelten sie rasch den Schlaf ab, wankten sie hinaus zu den Wasserhähnen und ließen kalte Ströme über die schmerzenden Schädel laufen . . .
Um sieben Uhr war die Marschkompagnie gestellt. Neben ihr waren auf dem weiten Platze, den die Baracken umsäumten, noch andere Abteilungen aufmarschiert. Wie viele — wer, der im Glied stand, hätte es feststellen können? Man sah nur, soweit man die Blicke wandern ließ, graue Mauern, und hob man sie, dann glitten sie über einen Wald blaugrauer Mützen hinweg. Tausende mochten hier versammelt sein, zum Abmarsch bereit. Bereit gemacht zum Abmarsch. Denn wär es auf die innere Bereitschaft angekommen, dann wäre der Platz wohl leer geblieben, läge jeder Krieger noch schnarchend auf seinem Strohsack und würde morgen und die folgenden Tage zur selben Stunde noch ebenso vergnügt darauf liegen.
Habt Acht! Richt’ euch!
Leises scharrendes Rücken. Vor — zurück – ein wenig seitwärts — wieder vor . . . es dauerte lange, bis der Feldwebel zufrieden war. Aber endlich sah er, von welchem Mann aus er auch spähte, nur lange, unbewegliche Säulen. Da kommandierte er „Ruht!“ und nun durchschritt Zugsführer Lemmerl die Reihen seines Zuges, blieb bei jedem Mann stehen, rückte an jedem herum — schob am Rucksack, am Überschwung, am Brotsack — und so wie er, bemühte sich bei jedem Zuge ein Unteroffizier um die letzte, äußerste militärische Schönheit. Nach den Zugsführern kam der Feldwebel, nochmals mit noch strengerem Auge prüfend — später noch ein Leutnant — und dann endlich war die Truppe abmarschfertig.
Von sieben bis neun!
Jeder hatte genügend Zeit, im Geiste den Inhalt seines Rucksackes, seines Brotsackes, seiner Blusen- und Manteltaschen zu überzählen. Jeder glaubte, jedes Ausrüstungsstück besonders zu spüren. Wie schwer die Rucksäcke waren! Von Minute zu Minute wurden sie gewichtiger. Und wie die gefüllten Patronentaschen niederzogen! Und wie die Schultern schmerzten unter der Last des Gewehres! Und wie schwer die Herzen wurden! Denn wenn auch in den Köpfen der Leute noch immer Hämmer dröhnten und Nadeln bohrten, und wenn auch ihre Augen brannten, Schlafsucht jeden bedrängte und Sammeln der Gedanken vereitelte, so hing doch über ihnen die dunkle Wolke eines schrecklich ungewissen Geschicks, fühlten sie das Grauen des bevorstehenden Marsches in eine gefahrvolle Zukunft, schien ihnen schon dieses Warten im Hofe des Barackenlagers nichts anderes denn Warten auf das nahe Ende . . .
Von sieben bis neun!
Zwei Stunden des Wartens in voller Feldausrüstung genügen, um kräftige Männer zu ermatten, müde und verdrossen zu machen, sie körperlich zu erschöpfen, seelisch zu zermürben. Sie genügten, um in den Landsturmleuten eine lähmende Stimmung der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit zu erzeugen, sie so stumpf zu machen, dass sie nur noch wie eine Schar seelenloser Automaten standen . . .
Habt Acht! Rechts schaut!
Ein Major kam, beritten, stolze Kriegergestalt, farbige und glitzernde Streifen an der Brust, zufriedenen Blickes von seiner Höhe die regungslosen Quadrate und Linien musternd. Soweit es an ihm lag, hatte er die Mannschaft diszipliniert. Kein aktiver Truppenkörper konnte ein schöneres Bild völliger Erstarrung unter dem Willen des Kommandeurs bieten. Und das war erreicht worden in ein paar Wochen! Keine Kunst, eine Truppe kriegsfertig zu machen, wenn man ein paar Jahre Zeit hatte. Und wenn es junge Leute waren, die noch nicht verdorben waren durch Berufs- und Familienleben! Aber das sollte ihm einer nachmachen — ein solches Ausbildungsziel in so kurzer Zeit zu erreichen! Ha, nicht umsonst hatte er einen so guten Ruf als vorbildlicher Ausbildungsoffizier!
„Ruht!“
Der Major selber gab das Kommando.
Ein kräftiges Räuspern. Er rüstete zu einer Ansprache. Darauf tat er sich auch was zugute, dass er es verstand, mit den Leuten zu reden. Markig, kernig. Nach Soldatenart. Und als Soldatenvater.
„Kameraden!“
Wütend dachte Dorniger: Jetzt sagt er Kameraden zu uns — und die ganze Zeit über haben wir ihn kaum gesehen — Kameraden! Ob der Kamerad Major mit uns an die Front geht?
Den Soldaten war es verflucht gleichgültig, was der Major sprach. Sie behielten zwar die eherne Starre ihrer Gesichter bei, aber ihre Gedanken sprangen weit weg vom Major und von der Barackenstadt und nur hier und da bohrte sich ein besonders schneidig hinausgeschleudertes Wort des Redners in ihre Ohren, kam ihnen ein Satz wegen seiner Absonderlichkeit zum Bewusstsein
„Treubruch Italiens . . . tückischer Verrat . . . Rache, Vergeltung . . . Für den Kaiser den eidbrüchigen Bundesbruder bestrafen . . . Mit Gott! . . . Bis zum letzten Atemzug . . . Und ist das Bajonett zerbrochen, ist der Kolben zerschmettert und habt ihr keine Messer mehr, dann springt ihnen mit den Zähnen an die Gurgel . . .“
„Du, der hält uns für Wilde!“ flüsterte Kirschenbauer dem Dorniger zu. Aber weiter floss die Rede des Majors — sofern man den Vergleich des Fließens anwenden konnte, wenn jeder Satz für sich hinausgestoßen wurde.
Mit jener Ahnungslosigkeit vom Fühlen und Denken des Soldaten, die den höheren Offizier auszeichnet, fest überzeugt von der aufwühlenden Wirkung seiner Ansprache, führte nun der Major seine Rede dem Höhepunkt und dem Ende entgegen:
„Wie gerne ginge ich mit euch, Kinder! Aber noch hält mich meine Pflicht zurück! Ich komme euch nach . . .!“
„Den Schmäh (Schwindel) da zählt er jed’smal, wenn er so eine Abschiedsred’ halt“, flüsterte der Kadlec. „I hör’s jetzt scho zum zweiten Mal. —
Wia i ‘s erstemal do g’stand’n bin, hot er’s a g’sogt — und seitdem bin i schon wieder verwundet z’ruckkumma und geh schon wieder aussi — und der Kerl kummt no immer net mit!“
Habt Acht! Marsch!
Während er den Erklärungen des Kadlec lauschte, hatte Dorniger gar nicht wahrgenommen, dass der Major mit einem Hoch auf den obersten Kriegsherrn geschlossen hatte. Jetzt ließ der Kommandant sein Pferd voran tänzeln, gleich hinter der Musikkapelle, die mit einem kräftigen Marsch einsetzte. Kolonne auf Kolonne löste sich los vom Platze, setzte sich in Bewegung, schloss sich den Voranmarschierenden an.
Marsch nach Graz. Marsch durch die Leonhardgasse, vorbei an der Reiterkaserne, am Kadergebäude, von dessen Fenstern aus fette Feldwebel — unentbehrliche Kanzleimenschen — vergnügt auf die Vorbeiziehenden herabschauten, wohlig das Bewusstsein des Daheimbleibenkönnens genießend — Marsch über die Glacisstraße, durch die Herrengasse, über den Hauptplatz, über die Murbrücke, durch die Annenstraße . . .
Fahnen wallten von den Häusern nieder. An allen Fenstern blitzten Mädchenaugen, dichte Menschenmassen säumten den Weg. Tücher wehten, Hände winkten, Blumen sanken, von verzückten Mädchen und berauschten Frauen geschleudert, auf die Marschierenden nieder. Heil!-Rufe umbrausten den Zug. Kinder umjauchzten ihn. Begeisterung begleitete ihn.
Die Offiziere, leicht und flott ausschreitend, blitzende Säbel in behandschuhten Fäusten, schienen beglückt wie unter Triumphpforten zu gehen. Die Soldaten aber schritten wie durch einen Nebel. Stumpf und gleichgültig. Die Zurufe waren ihnen zuwider. Dargereichte Zigaretten nahmen sie in Empfang wie einen selbstverständlichen Tribut. An nichts anderes dachten sie als an die Lasten, die sie schleppten, nichts anderes ersehnten sie, als die verdammten Rucksäcke und die Gewehre abwerfen zu können. Hie und da schwankte einer der Schwächeren. Saftige Flüche und aufmunternde Püffe der Chargen gaben ihm wieder Haltung.
Schweigend, in dumpfer Resignation, schritt Dorniger dahin, gedankenlos fast, ächzend unter dem Drucke des Rucksackes, schwer atmend, voll dunkler Hassgefühle. Die Schultern schmerzten, der Rücken schmerzte, der Hals brannte, der Mund war trocken, über die Stirne und den Nacken rannen Schweißbäche. Die Lippen presste er zusammen, um die aufquellenden Flüche zurückzuhalten und wie eine Erlösung empfand er es, als plötzlich aller Zwang der Wohlerzogenheit und der Gesittung von ihm abfiel und er nur noch einen Gedanken denken konnte: Ihr könnt’s mich alle! Alle könnt’s ihr mich! — und er in diesen Wunsch den Krieg, die Italiener, die schreienden Zuschauer, die Offiziere und Unteroffiziere, die ganze Welt einschloss. Das war wie ein Abschluss einer Lebensepoche, wie ein Schlusspunkt, wie Bekräftigung der Erkenntnis einer Wandlung.
„Jetzt sind wir in der richtigen Stimmung“, stellte sachlich der neben ihm schreitende Kirschenbauer fest, „in der Leckmiamarsch-Stimmung . . . !“ Endlich am Bahnhof. Wieder Paradeaufstellung. Wieder prüfendes Durchschreiten der Reihen durch die Unteroffiziere. Irgendwo, weiter vorne, musste eine Feldmesse zelebriert werden. Dorniger sah nichts davon, aber es musste wohl so sein, denn es gab das Kommando: „Zum Gebet!“ und die Kapelle spielte „Vater ich rufe Dich!“ Dann folgte das „Gott erhalte!“ — wieder „Habt acht!“ – Marschbefehl – Defilierung . . .
Feldwebel Kleinmichel und Zugsführer Lemmerl traten beiseite, zu anderen Unteroffizieren, die nicht mitmarschierten. Die Soldaten schenkten den freundlich Salutierenden keinen Blick. ]a, sie konnten auch gar nicht — jetzt mussten sie doch die Hälse wenden und die Augen verdrehen — jetzt, da sie vorbeimarschierten, mit letzter Kraftanstrengung, von einer rätselhaften Gewalt dazu gezwungen, stramm sich reckten und die Beine streckten und warfen im Parademarsch. Generäle standen dort, starr, ununterbrochen salutierend, kühlen Blickes die Soldaten musternd. Und daneben die Kapelle, die kräftig spielte.
Blechinstrumente sah Dorniger glitzern, den Mann behielt er in Erinnerung, der wuchtig auf die große Trommel schlug, und den, der den Arm mit dem Taktstock hob und senkte . . . und alle Musik, alle Bewegung, aller Takt der Schritte — alles schrie, schrie Marsch! Marsch! Und er selber sagte es mit, in seinem Schädel brummte es mit: Marsch! Marsch!
Eine willenlose Puppe, ein automatisierter Mensch, eine Maschine aus Knochen und Fleisch und disziplinierten Nervenfasern — so marschierte er, marschierte Zug um Zug, marschierte die Kompagnie hinein in den Rangierbahnhof, hinein in die Viehwagen.
Aus den Kastenwägen, in denen sie steifgefroren waren und sich müde gelegen hatten, tasteten die Soldaten stolpernd hinaus in die Nacht. Den Abhang des Bahndammes trippelten, stelzten, glitten, rollten sie hinab, Nachbarn und Vordermänner, die vorn Dunkel verschluckt waren, stoßend und tretend. Am Fuße des Dammes sammelten sich nach verwirrtem Suchen, denn man erkannte einander nur an der Stimme, die schwarzen Haufen der Züge. Große Glühwürmer krochen den Damm entlang — Offiziere suchten, mit elektrischen Taschenlampen das Gelände ableuchtend, nach ihren Abteilungen, schimpften über die Schlappheit der Kerle, die stehend einschliefen, weckten sie mit ihrem Geschelte, gaben Marschbefehle und führten die Truppen auf eine Wiese oder ein Feld, riefen die Unteroffiziere zu sich, gaben ihnen allerlei Anweisungen und verschwanden im Dunkeln.
„Pyramiden! — Dann könnt ihr bis zum Morgen rasten!“
Richtige Gewehrpyramiden zu stellen, das ist selbst auf den Kasernenhöfen noch selten so gelungen, dass prüfende Vorgesetzte völlig zufrieden waren. Aber es ist eine verflucht schwere Aufgabe, sie in finsterer, frostiger Nacht mit erstarrten Händen zu bauen. Gewehre stürzen, Köpfe prallen aneinander, Körper stoßen auf Körper, Fluch antwortet auf Fluch, Freund beschimpft den Freund, hundertmal geübtes Tun will nicht glücken, es vergeht schrecklich viel Zeit, bis die Gewehre so ineinander, aneinander gelehnt sind, dass sie sich gegenseitig am Fallen hindern.
Man ist dabei ins Schwitzen gekommen und friert doch, es ist ein das Kältegefühl steigerndes Schwitzen — man sehnt sich nach einem heißen Schluck, nach einem trockenen Plätzchen, sich auszustrecken, denkt an die Strohsäcke in den Baracken wie an ein fernes, verlorenes Glück, kauert ratlos auf den Rucksäcken, kältedurchschauert bis ins Innerste. Endlich erlösendes Beispiel der Unteroffiziere, die Decken und Zeltblätter aus den Rucksäcken ziehen, sich sorgfältig einwickeln in diese Hüllen und zum Schlafen hinlegen. Einer sagt es dem andern: Die Decken und die Zeltblätter sollen wir uns nehmen! – Hastiges Suchen an den Rucksackschnüren, Tasten der Hände, wütendes Zerren. Irgendwie findet doch jeder eine Hülle, mummt sich ein, streckt sich lang, bettet den Kopf auf den Rucksack, versucht zu schlafen.
„Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht schlafen!“ raunt Dorniger dem dicht neben ihm kauernden Kirschenbauer zu. „Mir wird immer kälter. Aus der Erde steigt immer mehr Kälte auf. Pass auf, da krieg ich wieder meinen Rheumatismus!“
„Dann sei froh, da kommst d’ ins Spital. Aber bild dir nicht zu früh was ein! Ich sag dir nur so viel: Wenn du nicht steif wirst wie ein Holzklotz, giltst du nicht als krank!“
„Und die Offiziere“, grollt Dorniger, „die Offiziere, die stecken sicher schon irgendwo in den Federn. Und unsereiner kann sich da den Tod holen!
„Ob da oder wo anders — das ist doch Wurst! Aber ich glaub nicht, dass wir da ewig liegen bleiben. In der Früh werden wir schon dorthin marschieren müssen!“
„Dorthin? Was meinst d’ mit dem Dorthin?“
„Sei einmal ganz still und horch! Dann wirst du’s hören, wohin wir marschieren werden!“
Dorniger lauschte angestrengt, mit geschlossenen Augen, alle Aufmerksamkeit sammelnd in den Ohren. Zunächst hörte er nur das Schnarchen der Soldaten, ihr Gestöhne, ihre Bewegungen, die Schritte der Wachen — aber über diesen Geräuschen erhob sich, diese Laute durchtönte leises, dunkles gleichmäßiges Rollen. Ein nahendes Gewitter? Aber was hatte ein Gewitter mit ihrem Marschziel zu tun? Und so ohne Unterlass, so gleichartig, so gleich im Tone rollte kein Donner. Das war etwas anderes. Das war . . . Dorniger begann zu verstehen, und als sein Kamerad ihn fragte: „Na, hast du’s gehört?“ — da antwortete er nur mit einem gepressten „Ja!“ und vergrub sich in eine quälerische Grübelei. Morgen schon an die Front? So war man also dicht vor dem Ziele? Diesem fernen, dumpfen Rollen wird man entgegen marschieren, und je näher man kommt, umso stärker, gewaltiger, drohender wird es werden, und wenn man ganz nahe ist, wenn man an dem Ursprung dieses Donners ist, o mein Gott, dann marschiert man in ihn hinein und wird von ihm zermalmt! Als großes blutiges Maul sah sein überhitztes Gehirn die Front, als einen gigantischen Rachen, in den die armen Soldaten hineinmarschierten.
Doch mit diesen gräulichen Bildern, die sie durch seinen Schädel jagte, löschte seine Phantasie auch das Bewusstsein aus, schenkte sie ihm schon die ersten Traumerscheinungen, und war der Traum auch schreckensbunt und martervoll, so War er doch Begleiter des Schlafes, der den Müden überwältigt hatte.
Kälte weckte im grauenden Morgen den Erstarrten, andere hatte sie schon früher aufgetrieben. Fröstelnd krochen die Leute aus ihren Decken.
Zitternd stampften sie auf und ab. Verdrossen begannen sie ihre Rucksäcke zu packen. Dorniger sah nach seiner Uhr. Erst sechs! Und doch war an kein Schlafen mehr zu denken. Kameraden, die bereits auf Erkundigungen ausgezogen waren, kamen über die Wiese hergewandert.
„Nur zehn Minuten von da ist ein Dorf, ein paar dreckige Hütten nur, aber ein Wirtshäusel gibt’s auch!“
Da trotteten auch Dorniger, Kirschenbauer und noch einige andere nach dem Gasthaus. Die niedere Stube war überfüllt. Soldaten, Soldaten! Sie drängten, schrien, verlangten Kaffee oder Tee.
„Nix Kava! Nix Tschai!“ rief ihnen die Wirtin zu. „Vino!“
„Na, so geben S’ uns an’ Wein!“
Lachend hob Kirschenbauer das Glas:
„Dorniger, du kennst doch das Oktoberlied von Storm! Der vierundzwanzigste Oktober ist heut, und ein trüber Tag, und er bleibt’s, wenn vielleicht auch später die Sonne scheinen sollt’. Da kann man das brauchen: Schenk ein den Wein, den holden! Wir wollen uns den grauen Tag vergolden, ja vergolden!“
„Aber nicht mit einem solchen Krätzer!“ antwortete Dorniger, der schon den Wein gekostet hatte und sich schüttelte vor Entsetzen. „So ein saurer Dreck!“
„Meiner Seel”“, bestätigte Federl. „Net amol in meine Schuah mag i so was, viel weniger in ‘n Magen!“
„Na siehst d’, Federl, du kannst dir nicht einmal mehr einen Schwips antrinken vor dem Marsch an die Front!“
„Wer red’t denn was von der Front? I hab’ mi schon erkundigt. Den Kadetten hab’ i g’fragt, der jetzt unser Zugskommandant ist. I kann ma’s schon erlauben, weili ‘n ja immer rasier — der hat ma g’sagt, dass ma no a Weil in da Etappe bleiben.“
Da zuckte Dorniger zusammen. Noch nicht an die
Front! Ein paar Wochen in der Etappe! Wer weiß, was in den paar Wochen alles geschah! Vieles konnte sich ändern. Und vielleicht — vielleicht kam man überhaupt nicht mehr an die Front. Vielleicht wollte man die Landsturmleute schonen. Vielleicht – aber tröstende Hoffnung umwob dieses „Vielleicht“ mit dem trügenden Schein der Gewissheit. Freudige Erregung packte die Soldaten. Die Angst verkroch sich, sogar die Ermüdung, die sie noch vor wenigen Minuten niedergebeugt, wurde nicht mehr gefühlt. Sorgloser lachten, munterer plauderten sie. Zeitgewinn! Daran klammerten sie sich. Zeitgewinn — das war vielleicht — wahrscheinlich — o nein, ganz gewiss Lebensgewinn!
Sie murrten nicht, als schimpfende Unteroffiziere sie holten. Sie marschierten ja nicht an die Front! Wohin sie sonst zu gehen hatten, War gleichgültig. Was sonst geschehen mochte, belanglos. Voll guter Laune waren sie beim Antreten, frohgemut marschierten sie, und als sie nach wenigen Minuten vor einem offenen Schuppen hielten, der ihnen als Quartier angewiesen Wurde, machten sie Witze über den „Palast“, scherzten sie über die „luxuriösen Betten“ — zertretene und zerlegene Strohschütten, auf die sie sich, eilig Gewehr und Rucksack abwerfend, lachend hinsinken ließen.
Das war ja, für die meisten wenigstens, so etwas wie ein Abenteuer, das Lagern im Stroh. In kindlicher Lust stürzten sie sich hinein, wirbelten es herum, verkrochen sich darin, so dass nur noch die grinsenden Gesichter herauslugten. Übermütig kitzelten sie einander mit den Ähren, langten sie durch die Haufen, um den Nebenmann zu puffen, und ragten irgendwo Füße heraus, so wurde an ihnen gezerrt, bis die Beine und schließlich der ganze kreischende, sich vergebens mit den Händen an die abwehrenden Kameraden klammernde Mann dem Halmgewirr entrissen war. — Die Gesichter röteten sich, wohlige Wärme durchflutete die Körper, vergessen war die peinvolle Bahnfahrt, das Frieren auf der kahlen Wiese, die Angst, die noch vor wenig mehr als einer Stunde alle geschüttelt hatte. So hemmungslos, als wären sie wieder zu sorglosen Buben geworden, gaben sie sich der Lust des Augenblicks hin, und so selbstvergessen trieben sie allerlei Schabernack, dass sie, als der Befehl zum Antreten sie traf, erstaunt auffuhren, einander verwundert anschauten, ein wenig verlegen über dieses Spiel gereifter Männer, langsam sich zurücktastend zur Wirklichkeit, der sie für ein Weilchen entschlüpft waren. Rasch schüttelten sie den Staub ab, streiften sie die Ähren und Halme von den Kleidern, packten die Gewehre, machten sie sich fertig zur „Beschäftigung“.
*
Slavina hieß das Dorf, in dem sie untergebracht waren. Ein kleines slovenisches Dorf in der Nähe Adelsbergs. In welchem Lande und in welcher Gegend des Landes sie steckten, hatten die Soldaten nun doch schon erfahren.
Der Zug, dem Dorniger, Kirschenbauer und ihre nächsten Kameraden angehörten, wohnte auf einem Heuboden. Angenehm warm lag man auf dem Stroh, und unter Decke und Zeltblatt schlief sich’s ganz wohlig. Breitete man die zusammengelegte Bluse über den Rucksack, dann hatte man auch eine feine Unterlage für den Kopf, wenn der Rucksack nicht zu ungeschickt gepackt war. Und für die nötige Müdheit, für die Bereitschaft des Körpers zum Schlafen sorgte die täglich härter und anstrengender werdende „Beschäftigung“.
Am ersten Sonntag wurden Dorniger, Kirschenbauer und ein paar andere, die auf die Teilnahme am Kirchgang verzichtet hatten, zu einer andern Andacht kommandiert. Anstatt, wie sie gehofft hatten, den Vormittag auf dem Stroh verfaulenzen zu können, mussten sie den Hof des Bauern, bei dem sie einquartiert waren, aufräumen und fegen. Man sah es nicht gern, dass Soldaten sich vom Kirchenbesuch drückten . . .
Aber der Nachmittag blieb frei. Nur ein paar Übereifrige, die dafür von den anderen mit grimmigem Hohn überschüttet wurden, putzten an ihren Gewehren herum. Ein paar Kameraden schrieben Briefe. Die meisten Soldaten suchten nach einem Plätzchen in der Hostilna, dem primitiven Gasthaus, in dem es nichts anderes gab als schlechten Wein. Aber so sauer er war — er feuchtete doch die Zungen und Kehlen der ihr Kartenspiel mit lauten Ausrufen begleitenden Männer, der aufgeregt ins Spiel sich einmengenden Kibitze, der unermüdlichen Debattierer. Dorniger und Kirschenbauer schlenderten vor das Dorf hinaus zu einer der Mauern, mit denen die Felder umsäumt waren, krochen hinauf und träumten ins Land.
Herbes, frostiges Land. In der Nähe nur Hügel, kahl und steinig. All überall Steine. Mauern, aus aufgeschichteten Steinen gebildet, umgürteten jedes Feld, jede magere Wiese. Wie mühsam musste hier die Bodenbearbeitung sein! So fern Dorniger der Landwirtschaft war, das begriff er doch, dass die Steinwälle, die oft in seltsam zackigen Linien die Äcker umgrenzten, die kostbare Erde schützten vor der stürmenden Bora. Schulerinnerungen stiegen in ihm auf, langsam kehrte ins Gedächtnis zurück, was er früher einmal gelernt, in seinen Bubentagen gelesen hatte vom Karst, von seiner Eigenart. Aber das war wohl nur Vorland des Karstes. Ja, dort im Hintergründe der waldlose Höhenzug, das war der Karst. Und dort — dort war die Front!
Von dort her kam auch das Rollen, an das man sich nun schon so gewöhnt hatte, dass man es nicht beachtete, eher erstaunt war, wenn es einmal verstummte. Aber die Front war doch’ noch etwas Fernes, räumlich und zeitlich Fernes — wozu an sie denken?
Dorniger ließ sich sinken in wehes Dämmern und Träumen. In die kahle, karge Landschaft träumte er die Komotauer Umgebung hinein, den Alaunsee, die sanften dunklen Höhen des böhmischen Erzgebirges, deren Wälder er so oft durchwandert hatte. Nicht die herbstlichen Wälder sah er — so erlebte er sie, wie er sie in den letzten Sommerwochen gesehen — ja, damals gab es am Alaunsee noch viele Badende, war es noch recht bunt und lustig, sprang das unbekümmerte Lachen junger Menschen über das Wasser. Freilich, es waren mehr Mädchen als Burschen, der Krieg hatte doch schon die meisten der jungen Männer fortgeholt. Es hatte im Turnverein auch schon Trauerkneipen gegeben, ein paar Freunde waren schon gefallen . . .
„Nein, du kommst nicht los vom Krieg! Du, musst an ihn denken, ob du willst oder nicht!“
„Aber Kirschenbauer! Red’ mir doch nicht ein, dass du meine Gedanken erraten kannst!“
„Na, das ist doch kein Kunststückel! Das sieht man doch jetzt leicht einem Menschen am Gesicht an, was er denkt! Wenn einer so ein starres Gesicht macht und so traurige Augen hat, dann grämt er sich über den Krieg. Ist kein Wunder. Ich kenn keinen, der begeistert ist.“
„Hast recht. Begeistert ist keiner. Aber ich glaub’, das erwartet man auch gar nicht. Von Familienvätern kann man doch keine Begeisterung verlangen!“
„So? Man verlangt sie nicht? Der alte Tepp, der uns in Graz die Abschiedsrede gehalten hat, ist sogar davon überzeugt, dass wir begeistert sind! Was weiß denn der von uns? Was wissen denn die Herren mit den silbernen und goldenen Krägen überhaupt von uns? Die sind doch in Offiziersschulen aufgezogen worden, die haben immer nur mit Offizieren und anderen Berufspatrioten verkehrt, die haben das so gelernt und haben das immer so gehört, dass die Untertanen freudig Gut und Blut für ihren Kaiser hergeben. Warum sollten sie dann nicht glauben, dass wir begeistert sind? Die wissen doch überhaupt nichts davon, dass wir unsere eigenen Gedanken haben und unseren eigenen Willen. Für die sind wir doch nur so etwas irgendwie Menschenähnliches . . .“
„Na, wenn einer von denen dich hören könnt’ — da kriegten sie doch eine Ahnung. Aber die andern reden doch nicht so wie du . . .“
„Weil sie überhaupt nicht viel reden von dem, woran sie immer denken. Reden lieber von ihrem Beruf, von ihren Weibern und Kindern, von der Heimat — und dann, sie können nicht die rechten Worte finden für das, was in ihnen vorgeht. Wenn man bei der Musterung das Wort „tauglich“ hört — das ist für die meisten, wie wenn sie einen Hieb über den Schädel kriegten. Da gehen sie dann herum wie blöd. Sie haben alle einen Knacks. Und wenn sie nicht grad bei einer Übung wie die angezogenen Affen herumhüpfen müssen oder nicht Karten spielen oder saufen — dann grübeln sie herum und grübeln und kommen zu keinem Ende. Und dann sagen sie sich: das ganze Nachdenken nützt nichts! ‘s ist gescheiter, wenn man sich ansauft. Dann vergisst man wenigstens.“
„Aber du — du bist mit deinem Nachdenken zu einem Ende gekommen?“
„Nein, zu einem Ende noch nicht. Aber ich hab’ über den Krieg schon nachgedacht, noch ehe er da war!“
*
„Schultert! — In die Hands! — Bei Fuß!“
Klapp, klapp! — Klapp, klapp! — Klapp, klapp!
Gleichmäßiges rhythmisches Klatschen der die Gewehrschäfte packenden Hände begleitete die Kommandos. Die Gewehre hoben sich, flogen über die Schultern, rutschten in die Hände, sausten wuchtig auf den Boden.
„Schultert!“ — Klapp, klapp! — „In die Hands!“ Klapp, klapp! — „Bei Fuß!“ — Wupp!
„Du schau, do kommt der Alte! Wia blöd dass a daherstagelt!“
Oberleutnant Stümmerl stelzte hastig über das Feld, der Truppe zu, die eben mit ihrer Nachmittagsbeschäftigung begonnen hatte und sich der Unterbrechung innig freute.
Der Oberleutnant, dem die Zugskommandanten diensteifrig entgegenstürzten, blieb nachdenklich vor der Truppe stehen, nahm die Kappe ab und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Den Klemmer rückte er zurecht und sah prüfend über die Soldaten hin.
„Ruht! — Und jetzt aufgepasst! Ich brauch fünfzig Mann, aber intelligente, tüchtige Leute, für eine sehr heikle Aufgabe. Wer meldet sich freiwillig?“
Der ganze Zug meldete sich. Man wollte beisammen bleiben. Weil man Abtransport der Fünfzig an die Front befürchtete, wollte man sich nicht von vertrauten Kameraden trennen. „Also probier’n wir’s mit dem ganzen Zug!“ seufzte der Oberleutnant. „Hoffentlich läuft alles gut ab! Kinder, in einer Viertelstunde müsst ihr marschbereit sein!“
Zwanzig Minuten später marschierte der Trupp auf der Straße nach Adelsberg. Vor dem Orte ließ Stümmerl halten und musterte nochmals seine Leute. Sein Blick blieb auf Dorniger und Kirschenbauer haften.