Der Meisterdieb - Michael Finkel - E-Book

Der Meisterdieb E-Book

Michael Finkel

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Beschreibung

Der große New York Times-Bestseller über die wahre Geschichte des wohl erfolgreichsten Kunstdiebs, der jemals lebte

»Kunstdiebe sind in den seltensten Fällen auch Kunstliebhaber. Der Elsässer Stéphane Breitwieser ist eine seltene Ausnahme.« Die Zeit

Niemand konnte Kunst so gut stehlen wie Stéphane Breitwieser. Der Meisterdieb erbeutete in den 1990er-Jahren bis in die frühen 2000er Kunstwerke in einem Wert von über 1 Milliarde Euro. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Anne-Catherine Kleinklaus stahl er mehrere Hundert Kunstwerke von Albrecht Dürer, Lucas Cranach dem Jüngeren oder François Boucher aus beinahe 200 Museen und Galerien in Europa. Der »Gentleman-Gauner«, bei dessen Rauben, nie jemand zu Schaden kam, ist allerdings nicht auf das große Geld aus. Ganz dem Schönen verfallen, erweitert er seine beeindruckende private Sammlung im Dachboden des Hauses seiner Mutter, wo er mit seiner Partnerin lebt. Aber wie weit wird er gehen können, um seine Obsession zu stillen?

Michael Finkel zeichnet ein faszinierendes Porträt über Liebe, eine gefährliche Leidenschaft und menschliche Abgründe. Meisterhaft und mit psychologischer Tiefe erzählt er Stéphane Breitwiesers Geschichte und berichtet, was den Dieb aus Passion letztlich zu Fall brachte - und von der wahren Tragödie, die folgte. Mit farbigem Bildteil.

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Seitenzahl: 278

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Autor

Michael Finkel ist der Verfasser des internationalen Bestsellers Der Ruf der Stille: Die Geschichte eines Mannes, der siebenundzwanzig Jahre in den Wäldern verschwand sowie von True Story: Murder, Memoir, Mea Culpa, das 2015 für das Kino verfilmt wurde. Er hat unter anderem für National Geographic, GQ, Rolling Stone, Esquire, Vanity Fair, The Atlantic und das New York Times Magazine geschrieben. Finkel lebt mit seiner Familien im Norden von Utah, USA.

Michael Finkel

DerMeisterdieb

Eine wahre Geschichte von Kunst, Obsession und Zerstörung

Aus dem Englischen von Alexandra Titze-Grabec

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Art Thief: A True Story of Love, Crime, and a Dangerous Obsessionbei Alfred A. Knopf, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe April 2024

Copyright © 2023 der Originalausgabe: Michael Finkel

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © WALSH photography / Plainpicture

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

KF ∙ AnG

ISBN 978-3-641-31556-6V001

www.goldmann-verlag.de

Für meinen Vater,

Paul Alan Finkel

Ästhetik ist erhabener als Ethik.

OSCAR WILDE

1

Stéphane Breitwieser und seine Freundin Anne-Catherine Kleinklaus nähern sich Hand in Hand dem Museum, bereit für die Jagd. Sie schlendern gemeinsam zum Empfang und grüßen freundlich. Ein reizendes Paar. Dann kaufen sie zwei Eintrittskarten, bezahlen in bar und gehen hinein.

Es ist Mittagszeit, Diebstahlzeit, an einem geschäftigen Sonntag in Antwerpen, Belgien, im Februar 1997. Das Pärchen mischt sich unter die Touristen im Rubenshuis, deutet auf Skulpturen und Ölgemälde und nickt anerkennend. Anne-Catherine ist geschmackvoll gekleidet, in Chanel und Dior, Kleidung, die sie in Secondhandläden erstanden hat, über ihrer Schulter eine große Yves-Saint-Laurent-Tasche. Breitwieser trägt ein Button-down-Hemd, das er in den Bund einer modischen Hose gesteckt hat, darüber einen etwas zu weiten Mantel, in einer der Taschen ist ein Schweizer Taschenmesser verstaut.

Das Rubenshuis ist ein elegantes Museum im ehemaligen Wohnsitz von Peter Paul Rubens, dem großen flämischen Maler des 17. Jahrhunderts. Das Paar lässt sich durch Salon, Küche und Speisezimmer treiben, während Breitwieser sich die Seiteneingänge einprägt und die Aufseher im Auge behält. Verschiedene Fluchtrouten nehmen in seinem Kopf Gestalt an. Das Exponat, auf das sie es abgesehen haben, ist im hinteren Teil des Museums untergebracht, in einem Ausstellungsraum im Erdgeschoss mit Messingkronleuchter und hoch aufragenden Fenstern, deren Fensterläden jetzt zum Teil geschlossen sind, um die Kunstwerke vor der Mittagssonne zu schützen. Montiert auf einer reich verzierten Kommode steht hier eine Schauvitrine aus Plexiglas, die mit einem massiven Sockel verbunden ist. Im Inneren der Vitrine befindet sich eine Elfenbeinskulptur von Adam und Eva.

Im Zuge einer einige Wochen zuvor alleine unternommenen Erkundungstour war Breitwieser auf das Stück aufmerksam geworden und dessen Zauber augenblicklich verfallen – die vierhundert Jahre alte Schnitzarbeit strahlt immer noch dieses innere Leuchten aus, das Elfenbein auszeichnet und das ihm geradezu überirdisch erschien. Nach diesem Ausflug konnte er nicht mehr aufhören, an die Skulptur zu denken und von ihr zu träumen, also ist er nun gemeinsam mit Anne-Catherine ins Rubenshuis zurückgekehrt.

Jede Art der Sicherheitsvorkehrung hat irgendeine Schwäche. Die Schwachstelle der Plexiglasvitrine liegt darin, wie er bei seinem Erkundungsbesuch festgestellt hat, dass der obere Teil sich vom Sockel trennen lässt, indem man zwei Schrauben löst. Komplizierte Schrauben, zweifellos, schwer zu erreichen auf der Hinterseite der Box, aber nur zwei. Die Schwachstelle der Wachleute liegt darin, dass sie Menschen sind und Hunger bekommen. Die meiste Zeit des Tages, so hat Breitwieser beobachtet, befindet sich in jeder Galerie eine Aufsichtsperson, die von ihrem Stuhl aus alles im Blick hat. Außer zur Mittagszeit, wenn die Stühle leer sind, während die unterbesetzten Aufseher sich abwechseln, um essen zu gehen, und die Aufsichtspersonen, die Dienst haben, nicht mehr sitzen, sondern in vorhersehbarem Tempo patrouillieren und die einzelnen Räume abgehen.

Touristen sind die ärgerliche Variable. Selbst zu Mittag treiben sich zu viele von ihnen herum. Die beliebteren Räume im Museum zeigen Gemälde von Rubens selbst, doch diese Stücke sind zu groß, um sie sicher stehlen zu können, oder zu düster und religiös für Breitwiesers Geschmack. Im Saal mit Adam und Eva befinden sich Objekte, die Rubens zu Lebzeiten gesammelt hat, darunter Marmorbüsten römischer Philosophen, eine Terrakottaskulptur des Herkules und eine Sammlung niederländischer und italienischer Ölgemälde. Die Elfenbeingruppe des deutschen Schnitzers Georg Petel erhielt Rubens vermutlich als Geschenk.

Während die Touristen kreisen, stellt Breitwieser sich vor ein Ölgemälde und nimmt eine typische Kunstbetrachterpose ein. Die Hände auf den Hüften oder die Arme überkreuzt oder das Kinn in die Hand gestützt. Sein Repertoire umfasst mehr als ein Dutzend Posen, die alle gleichmütige Versunkenheit suggerieren sollen, selbst wenn sein Herz vor Aufregung und Angst wie verrückt schlägt. Anne-Catherine treibt sich vor dem Eingang zum Ausstellungsraum herum, manchmal stehend, manchmal auf einer Bank sitzend, doch stets mit dem Ausdruck beiläufiger Gleichgültigkeit. Sie stellt sicher, dass sie freie Sicht in den dahinter liegenden Korridor hat. In diesem Bereich gibt es keine Überwachungskameras. Im gesamten Museum findet sich nur eine Handvoll, und Breitwieser hat festgestellt, dass jede ein richtiges Kabel aufweist. In kleineren Museen sind die Kameras gelegentlich nur Attrappen.

Bald schon ist das Paar alleine im Raum. Die Verwandlung, wenn Breitwieser seine einstudierte Pose fallen lässt und über die Sicherheitsabsperrung zu der hölzernen Kommode hüpft, ist geradezu explosiv, als gösse man Öl ins Feuer. Er holt das Schweizer Messer aus der Tasche, klappt den Schraubenzieher aus und macht sich an der Plexiglasabdeckung zu schaffen.

Vier, vielleicht fünf Umdrehungen der Schraube. Die Schnitzarbeit ist in seinen Augen ein Meisterwerk, nur etwas mehr als fünfundzwanzig Zentimeter hoch, dennoch von umwerfender Detailtreue, die ersten Menschen blicken einander an, im Begriff, einander zu umarmen, hinter ihnen die um den Baum der Erkenntnis gewundene Schlange, dazu die verbotene Frucht, die sie zwar gepflückt, von der sie aber noch nicht gekostet haben: Die Menschheit am Abgrund zur Sünde. Er hört ein leises Husten – das ist Anne-Catherine – und springt behände und leichtfüßig, beinahe fließend, von der Kommode weg. Wieder nimmt er seine Kunstbetrachterpose ein, während die Aufseherin auftaucht. Das Schweizer Taschenmesser befindet sich wieder in seiner Tasche, der Schraubenzieher ist immer noch ausgeklappt.

Die Aufseherin betritt den Raum und bleibt stehen, dann überfliegt ihr Blick methodisch die Galerie. Breitwieser hält den Atem an. Sie wendet sich ab und ist kaum aus der Türe, als der Diebstahl auch schon wieder in vollem Gange ist. Breitwieser geht schrittweise vor, ein paar Umdrehungen mit dem Schraubenzieher, ein Huster, noch ein paar, dann die nächsten.

Um die erste Schraube zu lösen, bedarf es inmitten des ständigen Auftauchens von Touristen und Aufsichtspersonal zehn Minuten konzentrierter Anstrengung, auch weil der Spielraum für Fehler sehr gering ist. Breitwieser trägt keine Handschuhe, für mehr Gefühl und Fingerfertigkeit nimmt er die Fingerabdrücke in Kauf. Die zweite Schraube ist um nichts einfacher, und in dem Moment, als weitere Besucherinnen kommen, gibt sie schließlich nach, was ihn zwingt, sich wieder zurückzuziehen, die beiden Schrauben in der Tasche.

Anne-Catherine nimmt durch den Raum hinweg Augenkontakt mit ihm auf. Er tippt mit der Hand auf sein Herz, was bedeutet, dass er nun für den letzten Schritt bereit ist und ihre große Tasche nicht benötigen wird. Sie macht sich auf den Weg zum Ausgang des Museums. Die Aufseherin ist bereits dreimal aufgetaucht, und obwohl er und Anne-Catherine sich bei jeder Runde an unterschiedlichen Stellen positioniert haben, ist Breitwieser gestresst. Kurz nach seinem Schulabschluss hat er selbst einmal als Aufseher in einem Museum gearbeitet, und ihm ist bewusst, dass zwar kaum jemand ein so winziges Detail wie eine fehlende oder herausragende Schraube bemerken wird, aber dass jeder anständige Aufseher seine Aufmerksamkeit auf die Menschen richtet. Zwei aufeinander folgende Inspektionsrunden lang im selben Raum zu bleiben und dann einen Diebstahl zu begehen, ist nicht ratsam. Drei Runden grenzen schon an Leichtsinn. Eine vierte aber, die seiner Uhr zufolge in etwas weniger als einer Minute stattfinden wird, darf einfach nicht passieren. Er muss jetzt handeln oder es bleiben lassen. Das Problem ist die Gruppe anwesender Besucher. Er nimmt sie in Augenschein. Sie sind um ein Gemälde gedrängt und tragen alle Kopfhörer mit Audioguides. Breitwieser geht davon aus, dass sie ausreichend abgelenkt sind. Dies ist der kritische Moment – ein Blick von einem der Besucher und sein Leben wäre quasi zu Ende – und er zögert nicht. Es ist nicht das Handeln, so vermutet er, das einen Dieb für gewöhnlich ins Gefängnis bringt. Es ist das Zögern.

Breitwieser tritt an die Kommode, hebt die Plexiglasabdeckung vom Sockel und stellt sie vorsichtig zur Seite. Er greift sich die Elfenbeinskulptur, schlägt die Mantelschöße zurück und schiebt die Arbeit hinter seinem Rücken ein Stück weit in den Bund seiner Hose, dann bringt er den weiten Mantel wieder in Ordnung, sodass die Schnitzarbeit bedeckt ist. Ein kleiner Buckel ist zwar zu erkennen, aber man muss schon sehr genau hinsehen, um ihn zu bemerken.

Er lässt die Plexiglasabdeckung stehen – er will keine wertvollen Sekunden verschenken, indem er sie wieder zurück an ihren Platz stellt – und geht davon, er bewegt sich mit Kalkül, aber nicht mit erkennbarer Eile. Er weiß, dass ein so offensichtlicher Diebstahl rasch auffallen und einen Notfalleinsatz zur Folge haben wird. Die Polizei wird kommen. Das Museum könnte geschlossen, alle Besucher durchsucht werden.

Trotzdem rennt er nicht. Rennen ist etwas für Langfinger und Taschendiebe. Mit Bedacht verlässt er den Ausstellungsraum und schlüpft durch eine angrenzende Türe, die er zuvor entdeckt hat und die nur für Angestellte und Aufsichtspersonal vorgesehen ist. Sie ist weder verschlossen noch alarmgesichert und führt direkt in den zentralen Hof des Museums. Er gleitet über die hellen Steine und entlang einer von Kletterpflanzen überwucherten Mauer, während ihm die Skulptur gegen den Rücken schlägt, bis er schließlich eine weitere Türe erreicht, durch die er wieder im Museum, in der Nähe des Eingangs, landet. Er geht am Empfang vorbei und tritt hinaus auf die Straßen Antwerpens. Vermutlich ist die Polizei schon auf dem Weg, und er geht bewusst langsam, schlendert mit seinen glänzenden Halbschuhen dahin, bis er Anne-Catherine erspäht und sie gemeinsam in die ruhige Seitengasse spazieren, wo er das Auto abgestellt hat.

Er öffnet den Kofferraum des kleinen, mitternachtsblauen Opel Tigra und legt die Elfenbeinskulptur hinein. Beide unterdrücken die aufsteigende Euphorie, er setzt sich auf den Fahrersitz, und Anne-Catherine nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Am liebsten würde er den Motor starten und mit quietschenden Reifen davonbrausen, aber er weiß, dass er langsam fahren muss, und bleibt auf dem Weg aus der Stadt an allen Ampeln stehen. Erst als sie die Autobahn erreichen und er das Gaspedal durchtritt, lassen sie alle Vorsicht fahren. Da sind sie einfach nur noch zwei ausgelassene Fünfundzwanzigjährige, die die Geschwindigkeit genießen. Sie haben es geschafft.

2

Das Haus ist bescheiden, ein heller Quader aus Putzbeton, mit kleinen Fenstern versehen und von einem rot gedeckten Steildach bekrönt. Das Rasenstück hinter dem Haus wird von ein paar Kiefern beschattet. Das Haus steht an einer Straße mit ähnlichen Häusern, in einer Stadtrandsiedlung von Mulhouse, einer Stadt der Automobil- und Chemieproduktion im Industriegürtel von Frankreichs Osten, eine der am wenigsten schönen Ecken eines vor Schönheit nur so strotzenden Landes.

Der Großteil des Wohnbereiches befindet sich im Erdgeschoss, eine schmale Treppe führt hinauf zu zwei weiteren Zimmern, einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer mit niedriger Decke, die sich, recht beengt, unter die Dachsparren ducken. Die Türe zu diesen Zimmern bleibt stets versperrt, die Fensterläden sind immer geschlossen. In das Schlafzimmer wurde ein majestätisches Himmelbett mit Baldachin, roten Satinlaken und einem Berg von Kissen gezwängt. Die goldenen Samtvorhänge sind mit bordeauxroten Bändern zurückgebunden. Hier, inmitten dieser sonderbaren Opulenz, nächtigt das junge Paar.

Wenn Breitwieser die Augen öffnet, ist eines der ersten Dinge, die er sieht, Adam und Eva. Er hat die Elfenbeinskulptur auf seinen Nachttisch gestellt, damit er sie sofort im Blick hat. Bisweilen lässt er die Fingerspitzen über die Schnitzerei gleiten, dort, wo die Hände des Künstlers einst selbst tätig waren – über die kleinen Wellen im Haar der Eva, über die Schuppen der Schlange, den knorrigen Baumstamm hinauf. Sie gehört zu den wunderbarsten Arbeiten, die er je gesehen hat, und ist vielleicht mehr als doppelt so viel wert wie alle Häuser in seiner Straße zusammengenommen.

Auf seinem Nachttisch befindet sich auch noch eine zweite Elfenbeinarbeit, eine Figurine von Diana, der römischen Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit, den rechten Arm erhoben, die goldenen Pfeile umklammernd. Und gleich daneben eine dritte Figur, eine Statuette der Katharina von Alexandrien, einer frühchristlichen Heiligen. Und dann noch eine weitere, die eines lockenköpfigen Amors, dessen Fuß auf einem Totenschädel ruht – die Liebe überwindet den Tod. Kann man einen Tag noch besser beginnen als im ätherischen Glanz einer Elfenbeinsammlung?

Man kann in der Tat. Neben den Elfenbeinarbeiten befindet sich eine goldglänzende Tabaksdose mit leuchtend blauer Emaille, ein Auftrag von Napoleon selbst. Sie nur in der Hand zu halten, gleicht einer Zeitreise. Daneben steht eine geschwungene, in allen Farben des Regenbogens schimmernde Blumenvase von Émile Gallé, dem meisterhaften französischen Glaskünstler des späten 19. Jahrhunderts. Dann ein noch älteres Stück, ein großer, mit Girlanden und Schnörkeln verzierter Silberkelch – aus dem, wie sich Breitwieser gerne vorstellt, jahrhundertelang gekrönte Häupter im Rahmen von Festgelagen ihren Wein schwappen ließen. Noch mehr kleine runde Tabaksdosen, ganz reizend gestaltet, und ein Bereich mit Bronzen neben einer Porzellanfigurine und einem Nautiluspokal. Allein mit den Gegenständen auf seinem Nachttisch ließe sich eine ganze Museumsausstellung ausstatten.

Auch auf Anne-Catherines Seite des Bettes gibt es einen Nachttisch. Und einen großen Schrank mit Regalbrettern hinter Glastüren. Und einen Schreibtisch und einen Toilettentisch. Jede ebene Fläche im Schlafzimmer ist vollgestellt. Silberplatten, Silberschüsseln, Silbervasen, Silberbecher. Vergoldete Teeservice und Zinnminiaturen. Eine Armbrust, ein Säbel, eine Streitaxt, ein Streitkolben. Stücke aus Marmor und Kristall und Perlmutt. Eine goldene Taschenuhr, eine goldene Urne, ein goldenes Parfumfläschchen, eine goldene Brosche.

Im zweiten Raum ihres Verstecks findet sich noch mehr davon. Ein hölzernes Altarbild, eine Kupfertafel, eine Opferbüchse aus Eisen, ein Buntglasfenster. Apothekengefäße und antike Spielbretter. Noch eine Gruppe von Elfenbeinschnitzereien. Eine Violine, ein Jagdhorn, eine Flöte, eine Trompete.

Weitere Stücke sind auf Lehnsesseln gestapelt oder an Wände gelehnt, balancieren auf Fensterbrettern oder sind auf Bergen von Wäsche gelandet, unter das Bett gerutscht und in den Schrank gepfercht. Armbanduhren, Tapisserien, Bierkrüge, Steinschlosspistolen, handgebundene Bücher und noch mehr Elfenbein. Ein mittelalterlicher Ritterhelm, eine hölzerne Statue der Jungfrau Maria, eine juwelenbesetzte Tischuhr, ein illuminiertes Gebetsbuch aus dem Mittelalter.

All das ist der wahren Pracht nur untergeordnet. Denn die bei Weitem wertvollsten Objekte hängen an den Wänden: Ölgemälde, vor allem aus dem 16. und 17. Jahrhundert, von Meistern der Spätrenaissance und des Frühbarock, detailgetreu und farbenfroh, voll Bewegung und Leben. Porträts, Landschaften, Seestücke, Stillleben, Allegorien, Szenen aus dem bäuerlichen Leben, Hirtenstücke. Vom Boden bis unter die Decke gehängt, von links nach rechts, von Raum zu Raum. Thematisch oder geografisch oder nach Lust und Laune arrangiert.

Die Arbeiten umfassen Dutzende der Größen ihrer Zeit – Cranach, Brueghel, Boucher, Watteau, Goyen, Dürer – so viele, dass der Raum vor Farbe vibriert, verstärkt durch das Strahlen des Elfenbeins, dazu noch der Glanz des Silbers, multipliziert durch das Funkeln des Goldes. Alles in allem, so haben Kunstjournalisten geschätzt, ein Wert von bis zu zwei Milliarden Dollar, und das alles in die Dachkammer eines unscheinbaren Hauses am Rand einer ärmlichen Stadt gestopft. Das junge Paar hat sich hier eine Wirklichkeit geschaffen, die jeder Fantasie trotzt. Sie leben in einer Schatzkiste.

3

Stéphane Breitwieser ist eigentlich gar kein richtiger Kunstdieb. Das glaubt er zumindest, obwohl er der vielleicht erfolgreichste und produktivste Kunstdieb aller Zeiten ist. Er leugnet gar nicht, dass er die Stücke, die sich in seinen versteckten Zimmern befinden, gestohlen hat, die meisten davon mit der Hilfe von Anne-Catherine Kleinklaus. Er weiß genau, was er getan hat; er kann einige seiner Verbrechen bis zur genauen Anzahl der Schritte nacherzählen, die es brauchte, um ein Kunstwerk bis zum Ausgang des Museums zu schaffen.

Sein Problem sind die anderen Kunstdiebe. Sie widern ihn an – faktisch alle, selbst die fähigsten. Wie die beiden in Polizeiuniformen gekleideten Männer, die am Abend des Saint Patrick’s Day 1990 ins Isabella Stewart Gardner Museum in Boston eindrangen. Sie wurden von den beiden Nachtwächtern eingelassen, die rasch überwältigt – Augen und Mund mit Isolierband verklebt – und dann mit Handschellen an die Rohre im Keller gefesselt wurden.

Ein gewalttätiger nächtlicher Raubüberfall beleidigt Breitwiesers Überzeugung, dass der Diebstahl eines Kunstwerks bei Tageslicht stattfinden und von ausgesuchter Raffinesse sein sollte. Zudem sollte niemand auch nur den Hauch von Angst verspüren. Doch nicht deshalb findet er den Gardner-Raub so verachtenswert. Sondern wegen dem, was dann passierte. Die Diebe marschierten die Treppe hoch und rissen die herrlichste Arbeit im Museum von der Wand, ein Werk von Rembrandt, Christus im Sturm auf dem See Genezareth von 1633. Dann stach einer der Männer mit einem Messer in die Leinwand.

Breitwieser mag sich so etwas gar nicht vorstellen – wie die Klinge am Rand der Arbeit entlangschneidet, die abblätternde Farbe, die reißenden Leinwandfäden, die ganzen 580 Zentimeter Umfang, bis das Stück, von Keilrahmen und Rahmen befreit, unter noch mehr Splittern und Abplatzen von Farbe im Todeskampf aufgerollt wird. Dann gingen die Diebe zum nächsten Rembrandt weiter und wiederholten die Prozedur.

So arbeitet Breitwieser nicht. Egal wie verdorben und kriminell, ein Gemälde absichtlich aufzuschlitzen oder zu zerbrechen, ist in jedem Fall unmoralisch. Ein Bilderrahmen ist, das räumt Breitwieser ein, oft sehr unhandlich, wenn man ein Gemälde stehlen will; nachdem er ein Stück also von der Wand genommen hat, dreht er es um und bringt die Nägel oder Klammern auf der Rückseite dazu, den Rahmen fallen zu lassen, den er dann im Museum zurücklässt. Ist keine Zeit für solche Sorgfalt, lässt er die Sache überhaupt sein, ist jedoch genügend Zeit, gibt er acht, dass das Gemälde – nun verletzlich wie ein Neugeborenes – von Kratzern und Verwerfungen, von Flecken und Schmutz verschont bleibt.

Die Gardner-Diebe sind, Breitwiesers Standards nach, Barbaren – beschädigen sie doch ganz unnötigerweise Arbeiten von Rembrandt. Rembrandt. Virtuose menschlicher Emotion und göttlichen Lichts. Die Diebe sind weiterhin auf freiem Fuß, ebenso verschwunden wie die dreizehn gestohlenen Exponate im Wert von einer halben Milliarde Dollar. Doch selbst wenn die Bilder wieder auftauchen sollten, werden sie doch niemals wieder komplett sein. Wie den meisten Kunstdieben ging es den Gardner-Räubern eigentlich gar nicht um die Kunst. Alles, was sie wollten, war, die Welt ein bisschen hässlicher zu machen.

Breitwiesers einziger Beweggrund für einen Diebstahl, darauf beharrt er, ist es, sich selbst mit Schönheit zu umgeben, darin zu schwelgen. Nur sehr wenige Kunstdiebe führten jemals ästhetische Gründe als Ansporn an, Breitwieser tat dies jedoch wiederholt, in stundenlangen Medieninterviews, in denen er gar nicht versuchte, seine Schuld zu bestreiten, und seine Verbrechen und Gefühle stattdessen in unmittelbarer Gegenwartsform und mit scheinbar punktgenauer Präzision beschrieb. Manchmal ging er sogar noch weiter, um der Exaktheit Genüge zu tun. Gedrängt, Details zum Diebstahl von Adam und Eva zu verraten, legte Breitwieser rasch eine Verkleidung an – eine tief ins Gesicht gezogene Baseballkappe und eine falsche Brille – und kehrte zum Schauplatz des Verbrechens zurück, um jede Entscheidung, jede entfernte Schraube, jede Kunstbetrachtungspose zu rekapitulieren. Auch andere Diebstähle stellte er so oder so ähnlich nach. Hunderte Polizeiberichte bestätigen die allgemeinen Fakten seiner Erzählungen.

Er nimmt nur Arbeiten, die ihn emotional berühren, und raubt nur selten das wertvollste Stück einer Sammlung. Er hat keine Gewissensbisse, wenn er stiehlt, weil Museen, seiner verdrehten Weltsicht zufolge, eigentlich nur Gefängnisse für Kunst sind. Oft überfüllt und laut, mit beschränkten Eintrittszeiten und unbequemen Sitzmöglichkeiten, bieten sie keinen ruhigen Platz, um nachzusinnen oder sich zurückzulehnen. Geführte Gruppen, mit Selfiesticks bewaffnet, trampeln wie wilde Horden durch die Räume.

All das, was man in der Gegenwart eines fesselnden Exponats tun will, ist in einem Museum verboten, sagt Breitwieser. Was man zuerst tun sollte, so empfiehlt er, ist entspannen, zurückgelehnt auf einem Sofa oder in einem Lehnstuhl. An einem Drink nippen, wenn man möchte. Einen Happen zu sich nehmen. Das Werk liebkosen, wann immer einem danach ist. Dann wird man Kunst ganz anders betrachten.

Nehmen wir nur einmal Adam und Eva aus Elfenbein. Das Stück weist ein Übermaß an Symbolismus auf, der wiederum zu der bemerkenswerten Stimmigkeit in der Proportion und der fein ausbalancierten Pose beiträgt. So oder so ähnlich würde es ein Museumsführer wohl ausdrücken, jedes Wort ein weiteres Hindernis, um überhaupt irgendwelche intensiven Gefühle aufkommen zu lassen.

Jetzt folgen Sie Breitwiesers Empfehlung, stehlen Sie die Schnitzarbeit und schauen Sie noch einmal genau hin: Adams linker Arm ist um Evas Schulter gelegt, während er mit der anderen Hand ihren Körper berührt. Das erste, frisch von Gott geformte Paar scheint makellos – muskulös, schlank, gesund, großartiges Haar. Die Lippen sind voll, Evas Hals kokett geneigt. Sie sind nackt. Adams Penis ist gut zu erkennen; er scheint beschnitten zu sein. Starren Sie ruhig hin. Evas rechte Hand ruht auf Adams Rücken, sie zieht ihn näher zu sich, ihre linke Hand liegt zwischen ihren Beinen, die Finger nach innen gekrümmt.

So viele Kunstwerke sind sexuell erregend, dass man, wie Breitwieser sagt, auch ein Bett in der Nähe haben will, vielleicht ein Himmelbett, wenn der Partner oder die Partnerin zugegen ist und auch das Timing passt. Wenn Breitwieser nicht gerade im Bett liegt, dann scharwenzelt er wie ein Butler um die Arbeiten in seinem Zimmer herum, überprüft Temperatur und Luftfeuchtigkeit, Licht und Staub. Seine Exponate sind unter besseren Bedingungen untergebracht als in Museen. Ihn in einen Topf mit den Barbaren zu werfen, wäre nicht nur grausam, sondern auch unfair. Breitwieser möchte nicht als Kunstdieb, sondern viel lieber als Kunstsammler mit etwas unorthodoxer Erwerbspolitik betrachtet werden. Wenn man will, könnte man ihn auch gerne als Kunstbefreier bezeichnen.

Und Anne-Catherine? Ihre Gefühle sind schon schwieriger einzuordnen. Sie ist nicht bereit, mit der Presse zu sprechen. Einige Menschen, die Zeit mit ihr verbracht haben, hatten jedoch eine ganze Menge zu sagen, darunter Rechtsanwälte, persönliche Bekannte und Kriminalbeamte. Darüber hinaus wurden Abschnitte aus psychologischen Gutachten sowohl über sie als auch über Breitwieser, zusammen mit transkribierten Befragungen und Zeugenaussagen, veröffentlicht. Erhalten sind auch einige selbst gedrehte Videos des Paars und Auszüge persönlicher Briefe. Es gibt außerdem Überwachungsbilder aus Museen, Medienberichte und Aussagen von Polizeibeamten, Staatsanwälten und verschiedenen Personen aus der Kunstwelt.

Jedes Stück wurde genau studiert, um ein möglichst genaues Bild der Kunstdiebstähle zu gewinnen, obwohl die intimsten Details der Romanze des Paares und ihrer kriminellen Geschichte ausschließlich von Breitwieser stammen. Es wäre zwar aufschlussreich, Anne-Catherines eigene Version der Ereignisse zu hören, doch ihre Antworten auf viele Fragen würden wohl dazu führen, dass sie sich selbst belastet – was möglicherweise mit einer Strafe verbunden wäre –, oder sie würde unverhohlen lügen. Angesichts dieser Optionen scheint ihr Schweigen weise.

Auffällig ist jedoch, trotz Anne-Catherines weniger öffentlicher Bemerkungen, dass sie sich selbst nicht als Kunstbefreierin beschreiben würde. Auch würde sie keine andere moralisch verzerrte Rechtfertigung für die Verbrechen liefern. Sie ist die Pragmatischere und Rationalere der beiden. Sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden; er dagegen steckt mit dem Kopf in den Wolken. Breitwieser lieferte den Aufschwung, um sie zu Höhenflügen zu treiben, während Anne-Catherine für den Ballast zuständig war, der sie sicher zurück nach Hause brachte. Anne-Catherine, sagen die Menschen, denen sie sich anvertraut hat, betrachtet die gestohlenen Stücke mit skeptischem Vorbehalt – wunderschön, aber ebenso sicher auch verdorben. Breitwiesers Gewissen ist hingegen rein. Für ihn ist Schönheit die einzige Währung, die zählt; stets bereichernd, woher sie auch kommt. Die Person mit der größten Schönheit ist demzufolge auch die mit dem größten Reichtum. Er betrachtete sich selbst bisweilen als einen der wohlhabendsten lebenden Menschen.

Anne-Catherine hätte sich, aus gutem Grund, nicht als wohlhabend beschrieben, denn das Paar ist ständig pleite.

Breitwieser schwört, dass er nicht auf finanziellen Gewinn aus ist, und niemals mit dem Vorsatz stiehlt, etwas zu verkaufen, nicht ein einziges Stück. Auch das unterscheidet ihn von beinahe jedem anderen Kunstdieb. Breitwieser hat so wenig Geld, dass er es auf der Flucht sogar vermeidet, Autobahnmaut zu zahlen. Gelegentlich nimmt er einen Aushilfsjob an – Regale einräumen, Lkws entladen, kellnern in einer Pizzeria, in einem Café, dann in einem Bistro –, doch in erster Linie streicht er Sozialhilfe ein und lebt von Geschenken seiner Familie. Anne-Catherine arbeitet, wenn auch nicht sehr gut bezahlt, als Schwesternhelferin in einem Krankenhaus.

Deshalb befindet sich der geheime Ausstellungsraum des Paares an einem so seltsamen Ort. Breitwieser kann sich keine Miete leisten, also lebt er bei seiner Mutter und bezahlt gar nichts. Die Räume seiner Mutter befinden sich im Erdgeschoss, und sie respektiert seine Privatsphäre, auf der er besteht, und wagt sich nicht nach oben. Die Stücke, die er und Anne-Catherine nach Hause schleppen, so erzählt er seiner Mutter, seien Flohmarktschnäppchen oder Billigkopien, die seinen langweiligen Dachboden aufpeppen sollen.

Breitwieser ist ein arbeitsloser Schmarotzer, der sich im Haus seiner Mutter verkrochen hat. Das gesteht er ein. Das Arrangement ermöglicht ihm ein billiges Leben, erlaubt es ihm, all seine illegalen Kunstwerke zu behalten, ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen, ob er etwas von seiner Beute zu Geld machen soll. Kunst des Geldes wegen zu stehlen, ist erbärmlich, sagt er. Geld lässt sich mit weitaus geringerem Risiko machen. Doch das Befreien aus Liebe, das weiß er seit Langem, fühlt sich berauschend an.

4

Seine erste Liebe waren Keramikscherben, Fliesenfragmente und Pfeilspitzen. Er unternahm »Expeditionen«, wie er es nannte, zumindest waren sie das für ein Grundschulkind, das die Ruinen mittelalterlicher Festungen mit seinem Großvater erkundete, der mit der Spitze seines Gehstocks womöglich eine zwei Milliarden Dollar schwere Serie an Raubüberfällen ausgelöst hat.

Breitwiesers Großvater mütterlicherseits verfügte über das geschulte Auge eines Strandgutsammlers, und wenn er seinen Stock in die Erde rammte, wusste Breitwieser, wo er mit den Händen graben musste. Unterirdische Überbleibsel, wie glasierte Fliesen und Armbruststücke, fühlten sich für Breitwieser wie persönliche Botschaften an, die jahrhundertelang nur auf ihn gewartet hatten. Er spürte selbst damals schon, dass es möglicherweise nicht erlaubt war, diese zu behalten, aber sein Großvater meinte, das könne er wohl, also verstaute er sie in einer blauen Kunststoffkiste im Keller seines Zuhauses. In den Keller zu schleichen und die blaue Kiste zu öffnen, ließ ihn erzittern und trieb ihm Tränen in die Augen. »Gegenstände, die mein Herz berührten«, beschrieb Breitwieser seine geliebten Fundstücke.

Er wird 1971 in eine Familie geboren, die tief im Elsass verwurzelt war, einem Teil Frankreichs, der oft selbst als gestohlen gilt. Seine Eltern geben ihm den majestätischen Namen Stéphane Guillaume Frédéric Breitwieser. Er ist das einzige Kind von Roland Breitwieser, dem Geschäftsführer einer Warenhauskette, und Mireille Stengel, einer Kinderkrankenschwester.

Breitwieser wächst, zusammen mit drei Dackeln, in einem stattlichen Haus im Dorf Wittenheim, auf der französischen Seite des Dreiländerecks von Frankreich, Schweiz und Deutschland, auf. Seine Muttersprache ist Französisch, er spricht fließend Deutsch, passabel Englisch und etwas Elsässisch, den regionalen niederalemannischen Dialekt. In den vergangenen hundertfünfzig Jahren haben Frankreich und Deutschland das Gebiet einander fünfmal entrissen, und viele Einheimische, die auf die höheren Löhne und niedrigeren Preise auf der anderen Seite der Grenze neidisch sind, haben das Gefühl, Frankreich sei nun wieder an der Reihe, es zurückzugeben.

Das Haus der Breitwiesers war elegant eingerichtet – Empire-Kommoden aus dem 19. Jahrhundert, Louis XV-Lehnstühle aus dem 18. Jahrhundert – und mit antiken Waffen ausgestattet. Breitwieser erinnert sich, wie er mit den alten Waffen gespielt hat, wie er sie heimlich von ihrem Ständer nahm, wenn seine Eltern nicht hinsahen, und sich mit imaginären Feinden duellierte. Die Wände waren über und über mit Gemälden bedeckt, einige von dem renommierten Elsässer Künstler Robert Breitwieser, nach dem eine Straße in seiner Heimatstadt Mulhouse benannt ist. Der Maler war zwar kein nahes Familienmitglied – er war der Bruder von Stéphane Breitwiesers Urgroßvater –, doch er akzeptierte Besuche des gesamten Breitwieser-Clans. Kurz vor dem Tod des Malers, 1975, vollendete er ein Porträt von Stéphane als Kleinkind.

Jahrelang erzählte Breitwieser Bekannten, er sei Robert Breitwiesers Enkel. Die Lüge war gerechtfertigt, so fand Breitwieser, hatte sich der berühmte Maler von der väterlichen Seite seiner Familie doch die Mühe gemacht, ihn auf Leinwand zu bannen, während er zu den Großeltern väterlicherseits niemals eine enge Bindung aufgebaut hatte.

Breitwiesers Zuneigung zu seinen Großeltern mütterlicherseits, Aline Philippe und Joseph Stengel – der Großvater mit dem Stock und dem Blick eines Strandgutsammlers –, war jedoch unerschütterlich. Die besten Tage seiner Kindheit und Jugend, so Breitwieser, verbrachte er mit ihnen: Mittagessen am Wochenende in ihrem umgebauten Bauernhof auf dem Land, weihnachtliche Festessen, die bis zum Morgengrauen dauerten, und natürlich Expeditionen mit seinem Großvater in die Hügel über dem Rheintal, wo die Truppen Julius Cäsars im ersten Jahrhundert begonnen hatten, Kastelle zu errichten.

Als Breitwiesers Geschmack sich zu ändern begann und er sich neuen Leidenschaften zuwandte, von denen die meisten finanzieller Unterstützung bedurften, sprangen seine Großeltern mütterlicherseits stets ein. Breitwieser war ihr einziges Enkelkind, und sie verwöhnten ihn nach Strich und Faden, so sagt er. Von einem Besuch bei ihnen kam er für gewöhnlich mit einem kleinen weißen Briefumschlag nach Hause. Er entwickelte eine Liebe zu Münzen, Briefmarken und alten Postkarten und gab den Inhalt der Briefumschläge freudig auf Flohmärkten und Antiquitätenmessen aus. Er liebte Werkzeuge aus der Steinzeit, Bronzeminiaturen und antike Blumenvasen. Er liebte auch griechische, römische und ägyptische Exponate.

Breitwieser war launisch und neigte zu Angstzuständen, zudem war er sozial gehemmt, unbeholfen und ungelenk. Er abonnierte archäologische Zeitschriften und Kunstmagazine und las Bücher zu mittelalterlicher Töpferkunst, klassischer Architektur und hellenischer Geschichte. Als Freiwilliger arbeitete er bei lokalen archäologischen Ausgrabungen mit. »Ich suchte Zuflucht in der Vergangenheit«, sagt er. In jungen Jahren schon eine sehr alte Seele.

Kinder seines eigenen Alters verwirrten ihn. Ihre Interessen – Videospiele, Sport, Partys – erschienen ihm abstoßend. Als Erwachsener empfindet er das Gleiche für Handys, E-Mails und soziale Medien. Warum die Störung durch andere noch vereinfachen? Breitwiesers Eltern erwarteten von ihm, in der Schule zu brillieren und dann Anwalt zu werden, doch für ihn war das Klassenzimmer der schlimmste Ort, um zu lernen. Er war immer schon recht dünn und wurde in der Schule gehänselt. »Ich bin wie das Gegenteil von allen anderen«, sagt er. Depressive Episoden senkten sich auf ihn wie Vorhänge und blieben wochenlang so hängen. Seit seiner Teenagerzeit war er immer wieder einmal in therapeutischer Behandlung, vermutet jedoch, dass sein Problem unheilbar und existenziell ist: Er wurde einfach im falschen Jahrhundert geboren.

Sein Vater war, laut Breitwieser, autoritär und anspruchsvoll, konsterniert über die Schwäche, die er an seinem Sohn wahrnahm. Eines Sommers, als er bereits auf der weiterführenden Schule war, besorgte ihm seit Vater einen Job am Montageband von Peugeot – viele Stunden körperlicher Arbeit, die ihn abhärten sollten. Er hielt genau eine Woche durch. »Mein Vater war wohl der Ansicht, ich sei weniger als nichts wert«, sagt er. Seine Mutter war von unbeständigem Temperament, feurig wie ein Vulkan oder eiskalt und unzugänglich, wenn auch selten ihm gegenüber. Als wollte sie die familiären Spannungen zwischen Vater und Sohn ausgleichen, war sie ihrem Kind gegenüber vielleicht allzu tolerant und nachgiebig. Einmal brachte er ein Zeugnis mit einer schlechten Zensur in Mathematik nach Hause. Als seine Mutter das sah, warnte sie ihn vor der Wut seines Vaters. Mit schwarzem Füller fälschte Breitwieser daraufhin die Zensur, und seine Mutter bewahrte loyales Schweigen. Sie ließ ihn mit allem davonkommen, sagt er, oder vergab ihm recht rasch.

Wenn Breitwieser verstockt und mürrisch wirkte, setzten ihn seine Eltern, die wussten, dass ein Museumsbesuch sein Gleichgewicht stets wiederherstellte, ihn bei einem der etlichen kleinen Museen in der Nähe ab, wo er einen Nachmittag lang alleine herumstreifen durfte. Stets fand er eine geschützte Ecke, außerhalb der Sichtweite der Aufseherinnen und Aufseher ließ die Hände über Skulpturen und Gemälde gleiten, fühlte dabei die winzigen Unebenheiten, die es auf maschinell hergestellten Erzeugnissen nicht gibt. Sie belegen die Einzigartigkeit der menschlichen Schöpfung, denn keine zwei Pinselstriche oder Schläge mit dem Meißel sind jemals gleich. Wenn seine Eltern ihn wieder abholten, war er stets besser gelaunt.

Während einem dieser Besuche im Archäologischen Museum von Straßburg blieb er mit seinem Finger an einem losen Stück Metall an einem römischen Sarkophag hängen. Ein münzgroßes Stück Blei brach ab und lag nun in seiner Hand. Reflexartig stopfte er es in seine Tasche. Es war womöglich sein erster Museumsdiebstahl, doch als er darüber nachdachte, es gründlich durchdachte, sah er es eher als persönliches Geschenk der antiken Götter, so wie die Stücke, die er auf den Expeditionen mit seinem Großvater gefunden hatte. Zu Hause legte er dieses zweitausend Jahre alte Relikt in die blaue Kunststoffkiste, die er immer noch im Keller aufbewahrte und die nicht nur Gegenstände von seinen Expeditionen enthielt, sondern auch Käufe, die durch die kleinen weißen Briefumschläge ermöglicht worden waren – eine Kiste mit seinen liebsten Stücken auf der ganzen Welt.

In seiner Teenagerzeit verliebte er sich in Musikinstrumente, medizinische Gerätschaften und Zinnkrüge. Er liebte Steingutkrüge, dekorative Kästchen und Öllampen. Er liebte die Möbel, die Waffen und die Gemälde bei sich zu Hause, ebenso die Sammlung von Uhren und Elfenbeinfiguren seines Vaters. Er liebte Porzellanpuppen, antiquarische Bücher und Kaminbesteck.