Der Mensch Rudolf Steiner - Josef F. Justen - E-Book

Der Mensch Rudolf Steiner E-Book

Josef F. Justen

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Beschreibung

Jeder, der heute das gewaltige Lebenswerk Rudolf Steiners, den der Dichter Albert Steffen »Gottesfreund und Menschheitsführer« nannte, auch nur einigermaßen zu überschauen vermag, muss sich zwangsläufig eine Frage stellen: Wie konnte es möglich sein, dass ein einziger Mensch ein solch unfassbares Arbeitspensum bewältigen konnte? Wenn man allein an seine rastlose, mit vielen Reisen verbundene Vortragstätigkeit denkt, so wäre schon dies etwas, was ein Durchschnittsmensch kaum zu leisten imstande wäre. Nun drängt sich die Frage auf: Wie war eine so überragende Persönlichkeit, ein solches Genie als Mensch? Hatte er überhaupt noch Zeit und Muße für alltägliche und zum Teil banale Dinge? Wie war sein Umgang mit seinen Mitmenschen? Konnte er sich in die Probleme und Nöte der Menschen hineinversetzen, die er um Längen überragte? Damit sind wir beim zentralen Thema dieses Buches. Für alle, die sich mehrere Generationen nach Rudolf Steiner inkarniert haben, wäre es doch wünschenswert, Näheres darüber zu erfahren, wie seine Weggefährten, seine Mitarbeiter und Schüler, ihn als Mensch wahrgenommen und erlebt haben. Dankenswerterweise haben Dutzende von ihnen Jahre nach seinem Tod ihre - zum Teil sehr persönlichen - Erinnerungen an ihren Lehrer zu Papier gebracht und veröffentlicht. Diese individuellen und bisweilen sehr bewegenden Reminiszenzen mögen nur Mosaiksteine sein, in ihrer Gesamtheit ergeben sie aber ein absolut einheitliches Bild dieses unvergleichlichen Menschen. Viele schildern, dass sich ihr Leben durch die Begegnung mit Rudolf Steiner von Grund auf geändert habe und dass sie durch ihn an ihre im Vorgeburtlichen gefasste Lebensaufgabe herangeführt worden seien. Etliche dieser Erinnerungsbücher sind heute noch im Buchhandel zu erwerben. Einige sind vergriffen und werden wohl auch nicht mehr neu aufgelegt; manche sind nur noch im Antiquariat zu bekommen; diese sind zudem oftmals noch unverhältnismäßig teuer. Daher haben wir uns entschlossen, das vorliegende Buch herauszubringen, in dem wir besonders aussagekräftige Erinnerungen zahlreicher Wegbegleiter, Mitarbeiter und Schüler Rudolf Steiners - nach thematischen Schwerpunkten geordnet - zitieren. Auf diese Weise kann jeder Leser erahnen, welch außergewöhnlicher und unvergleichbarer Mensch Rudolf Steiner war.

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Seitenzahl: 749

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Buch wendet sich an Leser, denen die Anthroposophie schon recht vertraut ist und die sich ihr sowie ihrem Begründer, dem großen Eingeweihten und Geisteslehrer Dr. Rudolf Steiner, verbunden fühlen.

Wenn man von Steiner spricht, ist man in seltsamer Lage. Man schwankt zwischen der Freude, Allergrößtes den Menschen erzählen zu dürfen, und der Furcht, zunächst nur abenteuerlich zu wirken.

Man hat die Wahl, entweder unglaubwürdig zu scheinen, weil man das Unwahrscheinliche berichtet, oder unwahrhaftig zu sein, weil man das Unglaubliche verschweigt.

Friedrich Rittelmeyer[1]

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Der Weg zu Rudolf Steiner und erste Begegnung mit ihm

2 Wie die Zuhörer Rudolf Steiners Vorträge erlebten

2.1 Allgemeine Wahrnehmungen und Empfindungen – Das äußere Erscheinungsbild, Gang, Stimme und Gestik Rudolf Steiners

2.2 Die Wandlungsfähigkeit Rudolf Steiners während des Vortragens

2.3 Rudolf Steiners geistiges Schauen während des Vortragens

2.4 Ausrichtung des Vortragsthemas auf bestimmte Zuhörer

2.5 Fragenbeantwortung nach Vorträgen

2.6 Vorträge unter schwierigen Bedingungen und tumultuarische Versammlungen

3 Charakteristische Wesenszüge und Eigenschaften Rudolf Steiners

3.1 Rudolf Steiner ruhte in sich selbst

3.2 Begrüßung der Menschen

3.3 Gleichbehandlung aller Menschen

3.4 Bescheidenheit, Einfühlsamkeit und Menschlichkeit

3.5 Verantwortungsbewusstsein und Disziplin

3.6 Dankbarkeit

3.7 Kritik und Tadel, wenn es notwendig war

3.8 Humor

4 Rudolf Steiner, der unermüdliche Ratgeber, Helfer und Heiler

4.1 Rudolf Steiner, der Ratgeber und Helfer

4.1.1 Rat bei esoterischen Fragen

4.1.2 Meditationen und Seelenübungen

4.1.3 Rat zur Studien- oder Berufswahl

4.1.4 Rat für werdende und junge Mütter

4.1.5 Rat, Hilfe und Trost in weiteren Angelegenheiten

4.2 Rudolf Steiner, der Heiler

4.3 Rudolf Steiner bei Trauerfeiern und Totengedenken

5 Rudolf Steiner und die Künstler

5.1 Rudolf Steiner und die Eurythmisten

5.2 Rudolf Steiner und die Schauspieler

5.3 Der Bau des ersten Goetheanum

6 Rudolf Steiner und die Kinder

6.1 Die Kinder liebten den »Onkel Doktor«

6.2 Rudolf Steiner zu Besuch in der Waldorfschule

6.3 Rudolf Steiner zu Besuch in der heilpädagogischen Einrichtung »Lauenstein« bei Jena

7 Mit Rudolf Steiner unterwegs

7.1 Mit Rudolf Steiner auf Reisen

7.2 Rudolf Steiner zu Besuch bei Freunden

7.3 Mit Rudolf Steiner zu Tisch

7.4 Mit Rudolf Steiner im Theater

8 Der Brand des ersten Goetheanum

8.1 Vorahnungen und Vorzeichen, die nichts Gutes verhießen

8.2 Die düsteren Vorahnungen bestätigten sich – Das Goetheanum brannte

8.3 Wie einige Persönlichkeiten, die an diesem Tag nicht in Dornach weilten, von dem Brand erfuhren

8.4 Trotz der Katastrophe fanden alle geplanten Veranstaltungen statt

8.5 Fragen nach den Ursachen und Folgen des Brandes

8.6 In Memoriam erstes Goetheanum

9 Die Erkrankung Rudolf Steiners

9.1 Die physischen Kräfte Rudolf Steiners schwinden zusehends

9.2 Gewaltiges Arbeitspensum trotz stetig schwindender Kräfte

9.3 Rudolf Steiners Wandlung während der Vorträge

9.4 Der letzte Vortrag am 28. September 1924

9.5 Rudolf Steiner auf dem Krankenlager

9.6 Geistige Angriffe auf Rudolf Steiner

9.7 Briefe Rudolf Steiners vom Krankenlager an seine Frau Marie

10 Rudolf Steiners Tod

10.1 Die letzten Stunden im Leben Rudolf Steiners

10.2 Der Schwellenübergang

10.3 Die Todesnachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer

10.4 Abschied am Sterbelager

10.5 Die Trauerfeierlichkeiten in der Schreinerei

10.6 Die Kremation

11 Anekdoten und Episoden rund um Rudolf Steiner

12 In Memoriam Rudolf Steiner

12.1 Erinnerungen an letzte Begegnungen mit Rudolf Steiner

12.2 Die Bedeutung des Lebens und Wirkens des Geisteslehrers

Anhang: Ein ganz besonderes Foto des Geistessehers

Personenregister

Quellennachweis

Literaturverzeichnis

Buchempfehlung

Vorwort

Jeder, der heute das gewaltige Lebenswerk Rudolf Steiners, den der Dichter Albert Steffen »Gottesfreund und Menschheitsführer« nannte, auch nur einigermaßen zu überschauen vermag, muss sich zwangsläufig eine Frage stellen: Wie konnte es möglich sein, dass ein einziger Mensch ein solch unfassbares Arbeitspensum bewältigen konnte?

Wenn man allein an seine rastlose, mit vielen Reisen verbundene Vortragstätigkeit denkt, so wäre schon dies etwas, was ein Durchschnittsmensch kaum zu leisten imstande wäre.

Um sich auch nur eine kleine Vorstellung von dem unglaublichen Arbeitspensum sowie der Schaffenskraft Rudolf Steiners, die insbesondere in den Jahren von 1919 bis 1924 zu beobachten waren, bilden zu können, wollen wir zitieren, was der Waldorflehrer Herbert Hahn aus seiner Erinnerung über einen ganz bestimmten Tag schreibt:

Einmal – es war in der Winterzeit – erfuhren wir in der Lehrerschaft der Freien Waldorfschule durch einen Telefonanruf, Rudolf Steiner sei in Dornach abgefahren, um noch am Abend des gleichen Tages eine Konferenz mit uns abzuhalten. Man kannte die Route, die er auf seinen Autofahrten nach Stuttgart einzuschlagen pflegte, ziemlich genau. Sie führte immer über den Schwarzwald, wobei ein kurzer Zwischenaufenthalt in Freudenstadt vorgesehen war. So konnten wir annehmen, dass er gegen neun Uhr abends in Stuttgart eintreffen werde. Die Lehrerschaft hatte sich schon geraume Zeit vorher versammelt, um gleich empfangsbereit zu sein. Rudolf Steiner traf auch wirklich zur vorgeschriebenen Zeit ein und begab sich, ohne von der immerhin strapaziösen Fahrt auch nur ein Weilchen auszuruhen, sogleich an die Arbeit mit uns. So etwa bis 11 oder ½ 12 Uhr am Spätabend ging diese Konferenz, in der er mit großer Freude eine ganze Reihe aktueller Schulfragen mit uns behandelte.

Schon eine halbe Stunde bevor unsere Konferenz zu Ende ging, begannen sich im Nebensaal die Mitglieder eines anderen Beratungskreises zu versammeln. Es waren vorwiegend Herren, die zu den verschiedensten Zweigen der anthroposophischen Aktivität in Stuttgart gehörten, u. a. Ärzte, naturwissenschaftliche Forscher, Leiter von Wirtschaftsunternehmen, Finanzleute. Alle diese waren auf 11 Uhr abends bestellt worden.

Als die Konferenz des Waldorflehrerkollegiums zu Ende war, kamen mehrere Mitglieder unserer Lehrerschaft, darunter auch einige weibliche Mitarbeiter, zu dem neuen Beratungskreis dazu. Es waren Menschen, die regelmäßig an den Gesprächen und Beratungen dieses anderen Kreises teilnahmen und von Rudolf Steiner selbst zu ihm berufen worden waren. […]

Es ging also schon auf Mitternacht, als die neuen Besprechungen begannen. Für sich selbst hatte Rudolf Steiner nicht die geringste Pause eingeschaltet. Er hörte nun mit großer Aufmerksamkeit und Geduld die oft recht langatmigen Berichte der Vertreter der einzelnen Arbeitsgebiete an. Hie und da fügte er eine Bemerkung hinzu. Aber dann begann er von sich aus, ernste Fragen zu stellen, die auf den Kern der Arbeit gingen. Nur selten war er von den Antworten befriedigt, die wir zu geben in der Lage waren. So hatte er Anlass, seinerseits neue und grundlegende Ausführungen zu den einzelnen Problemen zu machen. Nicht nur Goldkörner, sondern gleichsam ganze Goldbarren waren es, die da zu später Tageszeit noch geschenkt wurden. Stunden und Stunden gingen so vorüber. Nicht alle Teilnehmer waren begreiflicherweise den Strapazen einer solchen geistigen Nachtarbeit gewachsen. Wurden hier und dort die Augenlider bleischwer oder wurde der Ausdruck mancher Augen seltsam starr und wenig verständnisvoll, dann streute Rudolf Steiner plötzlich eine Anekdote ein. Alles lachte, man war erfrischt. […]

Als es etwa vier Uhr morgens geworden war, riet Rudolf Steiner einem der älteren Mitglieder des Kreises mit freundlicher und nachsichtiger Stimme an, doch ruhig nach Hause zu gehen. Die Beratungen gingen aber bis nach sechs Uhr morgens weiter. Dann erfolgte allmählich der Aufbruch. Dabei ließ sich Rudolf Steiner noch viel Zeit und wechselte mit dem einen oder anderen ein paar Worte. In dieser Situation sah ich, wie der Herausgeber einer unserer Zeitschriften an ihn herantrat und fragte, ob er wohl an den ihm zugesagten Artikel erinnern dürfe. Die neue Nummer des Blattes sei ganz auf diesen Beitrag abgestellt und könne ohne ihn nicht erscheinen. Man wäre sehr dankbar, wenn Herr Dr. Steiner den Artikel in den nächsten Tagen zur Verfügung stellen könnte. »Kommen Sie doch, bitte, um ½ 8 Uhr wieder hierher«, sagte Rudolf Steiner freundlich, »ich werde ihn gleich anschließend schreiben.«

Um ½ 8 Uhr durfte der Redakteur tatsächlich den Artikel abholen.

Um 8 Uhr stand Rudolf Steiner schon auf dem Hof der Waldorfschule, um sich dann in die einzelnen Klassen zu begeben und dort dem Unterricht beizuwohnen. Wie sonst auch ließ er den Unterricht ruhig ablaufen. Doch in manchen Klassen griff er auch selbst in den Unterricht ein, gab eines seiner so überraschenden und fruchtbaren Aperçus oder entwarf als Illustration zu dem in der Stunde Behandelten an der Tafel eine seiner wunderbaren farbigen Kreidezeichnungen. Lehrer und Schüler kamen ins Staunen, und es entstand im Klassenraum eine ebenso heitere wie andachtsvolle Stimmung. […]

Von der Schule aus fuhr Rudolf Steiner um die Mittagszeit zu einer Klinik, die von anthroposophisch orientierten Ärzten geleitet wurde. Dort hatte man sich sorgfältig auf seinen Besuch vorbereitet und führte ihm einige der schwierigsten Fälle vor. Mit wenigen Worten und zugleich mit ungewöhnlicher Konkretheit gab er – in konsultativer Art – seine Anregungen und Hinweise.

So wurde es Nachmittag. Zu dieser Zeit hatten sich unten in der Stadt die Mitarbeiter des Wirtschaftsunternehmens »Der Kommende Tag« bereits versammelt. Wieder, ohne eine Pause einzuschalten, kam Rudolf Steiner zu diesen Freunden und sprach äußerst komplizierte finanzielle Fragen mit ihnen durch.

Auch das ging stundenlang, und der Abend kam.

Rudolf Steiner fuhr nur eben zu seiner Stuttgarter Wohnung in der Landhausstraße, um kurze Zeit nachher das Podium im großen Vortragssaal des Gustav-Siegle-Hauses zu besteigen. Dort waren nicht nur alle Sitzplätze längst vergeben, sondern die Zuhörer standen aneinandergedrängt an den Wänden, vor dem Podium dicht unter dem Rednerpult. Mit der Frische und Elastizität eines Jünglings hielt nun der damals bald sechzigjährige Rudolf Steiner einen anderthalb Stunden dauernden öffentlichen Vortrag, in dem die schwierigsten geistigen Fragen mit all der Kraft, mit all dem Feuer und mit all der Menschlichkeit dargestellt wurden, von denen ich an anderer Stelle schon gesprochen habe.

Wie viele der Anwesenden ahnten wohl, dass eine mehr als vierundzwanzigstündige pausenlose schwere Arbeitszeit auf ganz anderen Gebieten diesem völlig freigestalteten Vortrag voranging? Wie viele hätten es auch nur geglaubt, wenn man es ihnen erzählt hätte?[2]

Zumindest den Ansatz einer Antwort können wir finden, wenn wir einen Aufsatz, den Julie Klíma, die zu den eifrigsten Schülerinnen des Geisteslehrers in Prag gehörte, in der Erinnerung an ihre Begegnungen mit Rudolf Steiner geschrieben hat, heranziehen. In diesem Aufsatz schreibt sie über ein kurzes Gespräch, dass sie mit Rudolf Steiners Gattin, Marie Steiner, führte:

Ich fragte Frau Doktor, wie es möglich sei, dass Herr Doktor so Enormes leistet, dass er Tausende von Menschen führt – wie sich das mit der Zeit vereinbare? Darauf antwortete mir Frau Doktor, dass die geistige Zeit dehnbar ist, und wenn Herr Doktor eingehe in die geistige Welt, dann leiste er in fünf Minuten, was in der physischen Welt nicht in fünf Wochen geleistet werden kann; ferner, dass Herr Doktor meist nur eine Stunde in der Nacht schlafe.[3]

Nun drängt sich die Frage auf: Wie war eine so überragende Persönlichkeit, ein solches Genie als Mensch? Hatte er überhaupt noch Zeit und Muße für alltägliche und zum Teil banale Dinge? Wie war sein Umgang mit seinen Mitmenschen? Konnte er sich in die Probleme und Nöte der Menschen hineinversetzen, die er alle um Längen überragte?

Damit sind wir beim zentralen Thema dieses Buches.

Für alle, die sich mehrere Generationen nach Rudolf Steiner inkarniert haben, wäre es doch wünschenswert, Näheres darüber zu erfahren, wie seine Weggefährten, seine Mitarbeiter und Schüler, ihn als Mensch wahrgenommen und erlebt haben. Dankenswerterweise haben Dutzende von ihnen Jahre nach seinem Tod ihre – zum Teil sehr persönlichen – Erinnerungen an ihren Lehrer zu Papier gebracht und veröffentlicht. Diese individuellen und bisweilen sehr bewegenden Reminiszenzen mögen nur Mosaiksteine sein, in ihrer Gesamtheit ergeben sie aber ein absolut einheitliches Bild dieses unvergleichlichen Menschen. Viele schildern, dass sich ihr Leben durch die Begegnung mit Rudolf Steiner von Grund auf geändert habe und dass sie durch ihn an ihre im Vorgeburtlichen gefasste Lebensaufgabe herangeführt worden seien.

Etliche dieser Erinnerungsbücher sind heute noch im Buchhandel zu erwerben. Einige sind vergriffen und werden wohl auch nicht mehr neu aufgelegt; manche sind nur noch im Antiquariat zu bekommen; diese sind zudem oftmals noch unverhältnismäßig teuer.

Daher haben wir uns entschlossen, das vorliegende Buch herauszubringen, in dem wir besonders aussagekräftige Erinnerungen zahlreicher Wegbegleiter, Mitarbeiter und Schüler Rudolf Steiners – nach thematischen Schwerpunkten geordnet – zitieren. Auf diese Weise kann jeder Leser wenigstens erahnen, welch außergewöhnlicher und unvergleichbarer Mensch Rudolf Steiner war.

Im Kapitel »Personenregister« ( S. →.) werden die Biografien aller Persönlichkeiten, deren Zitate wir verwendet haben, kurz skizziert.

Wir müssen diesen Persönlichkeiten unendlich dankbar sein, dass sie uns mit ihren Aufzeichnungen an ihren Erlebnissen mit Rudolf Steiner teilhaben lassen.

8. Juli 2025

Josef F. Justen

(100 Jahre und 100 Tage

nach Rudolf Steiners Tod)

Anmerkungen:

Innerhalb der Zitate sind die Aussagen Rudolf Steiners kursiv gedruckt. Da die jeweiligen Autoren diese aus ihrer Erinnerung bzw. aus den Notizen in ihren Tagebüchern aufgeschrieben haben, sind sie meistens nicht wortwörtlich zu verstehen. [Anmerkungen des Herausgebers stehen in eckigen Klammern].

Alle Zitate haben wir an die heute gültige Rechtschreibung angepasst. Hervorhebungen wie etwa kursiv, gesperrt oder fett gedruckte oder unterstrichene Worte und Anführungszeichen sind übernommen worden.

1 Der Weg zu Rudolf Steiner und erste Begegnung mit ihm

Wir wollen in diesem einleitenden Kapitel schildern, wie einige der späteren Weggefährten Rudolf Steiners zu ihm fanden und wie sie ihn bei ihrer ersten Begegnung – sei es bei einem Vortrag oder einem ersten persönlichen Gespräch – wahrnahmen und erlebten.

Wenn man diese Erinnerungen liest, fällt auf, dass manche auf sehr ›sonderbaren‹ Wegen zu ihm geführt wurden. Landläufig würde man von einem ›Zufall‹ sprechen. Selbstverständlich lag es in ihrem Karma begründet, zur Anthroposophie, für die sie später Wichtiges leisten durften, zu finden. Des Weiteren wird offensichtlich, dass Rudolf Steiner schon bei der ersten – bisweilen nur flüchtigen – Begegnung mit den betreffenden Persönlichkeiten sofort erkannte, um welche Individualität es sich handelte, welche Fragen in ihnen lebten, worin die Gründe für ihre Probleme bestanden, was ihr Karma und ihre Aufgaben waren.

Für fast alle dieser Persönlichkeiten war die erste Begegnung von ausschlaggebender Bedeutung für ihr gesamtes folgendes Leben.

1903

Nach Marie von Sivers, der späteren Gattin Rudolf Steiners, die bereits im November 1900 dem Geisteslehrer erstmals begegnete, war Elisabeth Vreede eine der ersten aus dem Kreis der späteren führenden Anthroposophen, die Rudolf Steiner kennenlernte. Im Jahre 1900 wurde die junge Niederländerin Mitglied der Theosophischen Gesellschaft in Holland, in der sie sich allerdings nicht wohl fühlte. Im Juli 1903 begegnete die zu diesem Zeitpunkt 23-jährige Studentin der Mathematik, Astronomie und Physik erstmals Rudolf Steiner auf dem Theosophischen Kongress in London. Sie war weniger von seinen Ausführungen als von seiner Persönlichkeit beeindruckt. In ihren Aufzeichnungen schreibt sie:

In die Theosophische Gesellschaft trat ich im Jahre 1900 ein, fast genau zur selben Zeit, als Rudolf Steiner seine erste Berührung mit dieser Gesellschaft als solcher hatte, indem er zu Vorträgen innerhalb der »Theosophischen Bibliothek« in Berlin eingeladen wurde. […]

Ich war im Grunde nur widerwillig in die Theosophische Gesellschaft eingetreten, nicht in Deutschland, sondern in meinem Heimatlande Holland. Etwas in mir rebellierte dagegen umso heftiger, als ich das Gefühl hatte: Es hilft dir auch die heftigste Abneigung nichts, es wirkt eine Kraft, die stärker ist als du in deinem gewöhnlichen Bewusstsein, die schickt dich da hinein. Ich kannte solche Kräfte in meinem Leben, aber ich war nicht gewohnt, dass sie mich in etwas gleichsam Undurchschaubares hineinstellten. Wozu war ich in dieser mir im Grunde nicht sympathischen Gesellschaft? Warum war ich eingetreten, trotzdem ich es eigentlich nicht wünschte? Das »wurmte« mich in meinem Unterbewusstsein. Und doch: Wie hätte ich ohne diese Beziehung einzugehen, in diesem Leben so frühzeitig die Bekanntschaft mit Rudolf Steiner machen können?

Ich pflegte dann während einiger Jahre im Sommer zu den Generalversammlungen der »Europäischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft«, wie sie damals noch hieß, nach London zu gehen. Und dort war es im Juli 1903, dass ich Rudolf Steiner zum ersten Mal sah. Er war kurz vorher, eben aufgrund seiner Vortragstätigkeit zum Generalsekretär der neugebildeten deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft gewählt worden. Es kann – ohne den Vergleich selbstverständlich irgendwie weiter ziehen zu wollen – gesagt werden, dass Rudolf Steiner das Verhältnis zur Theosophischen Gesellschaft im Grunde ebenso wenig sympathisch war als mir der Eintritt in diese. Aber er akzeptierte als Okkultist und als Kenner des Karma die Tatsache, dass bis dahin nur von dort her ihm Verständnis und Aufnahmebereitschaft für sein geistiges Wissen und Wollen entgegengebracht worden war. Überall sonst hatte er eigentlich nur Ablehnung oder stillschweigende Verneinung seines spirituellen Strebens gefunden. […]

Nie werde ich den Eindruck vergessen, den Rudolf Steiners erste Begegnung auf mich machte. Es sollte eben eine Versammlung beginnen, als in den Saal ein Mann trat: dunkel, schlank, aufrecht, hager, im langen, fast priesterlichen schwarzen Rock – ein Antlitz voll inneren Feuers, voll gespanntester Aufmerksamkeit, voll beherrschten Willens – so tritt das Bild aus der Erinnerung hervor. Ich war so beeindruckt, dass ich meinen Nachbarn anstieß: Schau, wer kommt da herein?! In der Wucht dieses Eindrucks lag schon all dasjenige keimhaft verborgen, was dann zu dem weiteren Lebensschicksal führen sollte.

Meine Unwissenheit in Bezug auf die Identität dieser eindrucksvollen Persönlichkeit sollte bald behoben werden. Im Laufe der Versammlung stellte Colonel Olcott, der Präsident und Gründer der Theosophischen Gesellschaft, ihn in der Gesellschaft als den General-Sekretär der vor kurzem begründeten deutschen Sektion vor. Dr. Steiner begab sich auf das Podium und gab in deutscher Sprache eine Begrüßung. Auch die Worte gruben sich tief in meine Erinnerung ein. Nicht aber, weil ich sie damals so sehr bejahte! Im Gegenteil, der ganze Duktus der Rede gefiel mir nicht. Dr. Steiner sprach in diesen frühen Jahren mit einer außerordentlichen Wucht, mit einer Temperaments-Gewalt, die noch weit über dasjenige hinausging, was man auch später als feurige Kraft an ihm erleben konnte. So als ob er in jedem Satz die ganze Kraft und Bedeutung seiner Mission der Welt mitteilen wollte, – von den um seinen schmalen Kopf herumfliegenden schwarzen Haaren an bis zu dem außerordentlich lebhaften Gebärdenspiel seiner Arme und Hände, mit dem ungeheuer kraftbetonten Sprechen seiner Worte schien er sich selbst zur leibhaftigen Verkörperung desjenigen zu machen, was er zu sagen hatte. In späteren Jahren hat Rudolf Steiner diese gewaltige Redekraft, die er gleichsam seine ganze im Grunde zart gebaute Gestalt ergreifen ließ, immer mehr und mehr zu einem wie von innen heraus lodernden Überzeugungsfeuer gebändigt. Das war aber immer das Kennzeichen seines Vortragens: diese Überzeugungskraft, die nicht suggerierte, die Hörer nicht innerlich attackierte, und doch in der Seele ein vielleicht unbewusst lebendes Gefühl hervorrief, dass da aus den Tiefen des Geistes heraus gesprochen würde.

Auch der Inhalt dessen, was er sagte, erregte nicht meinen jugendlichen Beifall. Rudolf Steiner hat später selber erzählt: »In diesen ersten Jahren des Wirkens in der Theosophischen Gesellschaft habe ich eigentlich immer wieder dasselbe gesagt, aber die einen haben es eigentlich nicht verstanden und die andern hat es verschnupft!« Er sprach davon, dass es nicht eine einheitliche abstrakte Theosophie geben könne, sondern dass jedes Volk diese nach seiner Art entwickeln müsse und dass besonders in Deutschland an die großen Geister der Geschichte: Goethe, Schiller, Herder usw. anzuknüpfen sei. Mit diesen Worten schilderte Rudolf Steiner seinen eigenen Weg, der mit den in der Theosophischen Gesellschaft üblichen Traditionen und Dogmen nichts zu tun hatte. Er entwickelte gleichsam das Programm, nach dem er die deutsche Sektion leiten wolle. Mir kam das einfach »nationalistisch« vor, und ich war »verschnupft«, weil ich nicht »verstand«!

So blieb nur der außerordentlich starke Eindruck dieser ersten »Begegnung«. Das Schicksal, das mit solcher Sicherheit den Menschen lenkt, führte aber weitere Begegnungen herbei.[1]

Ein Jahr später traf sie Rudolf Steiner wieder, als dieser am 21. Juni 1904 in Amsterdam einen Vortrag über das Thema »Mathematik und Okkultismus« hielt. Elisabeth Vreede erinnert sich:

Gerade über den Gegenstand meines Studiums sprach er bei diesem ersten Besuch in meinem Heimatland. Aber auch dieser Vortrag verhallte. Ich konnte nichts mit ihm anfangen. Weder aus den materialistischen Denkgewohnheiten meiner Jugend-Umgebung, noch aus dem Universitätsstudium, noch aus der Denkungsart, mit der ich innerhalb der Theosophischen Gesellschaft bekannt geworden war, konnte ich die Möglichkeit finden, in seinen Worten den geistigen Sinn zu erleben, es blieben eben Worte für mich.

Es ist eine oft bemerkte Tatsache, dass Menschen den Zugang zu der spirituellen Erkenntnis am schwierigsten auf ihrem eigenen Gebiet finden. Viel mehr als durch den Vortrag oder die Ansprachen Rudolf Steiners wurde er mir in dieser Zeit nahe gebracht durch die Artikelserie »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«, die damals in seiner Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« erschien und die ich zunächst in einer Übersetzung in einer theosophischen Zeitschrift kennenlernte. Was hier über das Eindringen in die geistige Welt gesagt wurde, die tief-innerliche Art, den Menschen zur geistigen Erkenntnis zu führen, das sprach unmittelbar zu der Seele, da war kein Ablehnen oder Missverstehen; die Seele schwamm gleichsam in einem ihr vertrauten und doch so lange gesuchten Elemente. Sie fand das, was sie unbewusst, da eine Verbindung mit der Religion für mich zunächst gar nicht bestanden hatte, bisher auf den Gelehrten-Schulen gesucht hatte in dem Glauben, man würde dort über die tieferen Wahrheiten der Welt etwas lernen können. – Vollends verstärkte sich der Eindruck, endlich auf wahre Werte gestoßen zu sein, als die späteren »Rosenkreuzer-Vorträge« an mich herankamen. Durch diese war auch das Unbefriedigende, das ich immer in den theosophischen Lehren erlebt hatte, völlig überwunden. Da wurde dasjenige geboten, was man wissenschaftlich verstehen, akzeptieren konnte; die Sehnsucht nach dem Geistigen bekam ihre Erfüllung durch geistige Erkenntnis.

Und doch war es ein langer, schmerzlicher Weg, bis es dazu kommen konnte, das Wissenschaftliche mit der geistigen Erkenntnis in fruchtbarer Art zu verbinden.[1a]

In den folgenden Jahren hörte Elisabeth Vreede viele weitere Vorträge Rudolf Steiners, verband sich mehr und mehr mit der Anthroposophie und wurde zu Steiners Schülerin und Mitarbeiterin. Von 1910 an stellte sie ihre ganze Arbeitskraft zur Verfügung. 1914 zog sie nach Dornach, um beim Bau mitzuhelfen. Während vieler Jahre konnte man sie dort beim Schnitzen antreffen. Dort war sie auch beim Aufbau des Archivs am Goetheanum in entscheidender Rolle tätig. Später wurde sie in den Gründungsvorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft berufen. Zudem war sie Leiterin der Mathematisch-Astronomischen Sektion am Goetheanum, wo sie junge Mitarbeiter förderte.

1904

Bereits als 17-jähriger Schüler war Ludwig Kleeberg von den asiatischen Weisheitsgütern fasziniert. Durch seinen Freund, Hans Bunge, wurde er auf die Theosophische Gesellschaft aufmerksam gemacht. Nach einer längeren Korrespondenz mit Marie von Sivers, der späteren Ehefrau Rudolf Steiners, fand seine erste persönliche Begegnung mit Rudolf Steiner am 21. November 1904 in München statt. Ludwig Kleeberg war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 19 Jahre alt.

Mein Freund hatte Dr. Steiner schon gesprochen und berichtete mir, wie sein Äußeres sei.

Gleich darauf trat Rudolf Steiner in den Saal. Man vergisst ihn nie, diesen Anblick und diesen Blick. Ich stellte ihn mir vor wie einen Brahmanen mit großem, dunklem Barte und mit langem, weißem Mantel, so, wie sich auch die Mahatmas repräsentierten, von denen ich einmal Bilder sah. Stattdessen ein Mann, der eher einem Humanisten wie Erasmus von Rotterdam glich. Was ihn mir persönlich – laut meinem Tagebuch – sogleich bei seinem Erscheinen im Saal sympathisch machte, war eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem von mir sehr geliebten Taufpaten, einem Bruder meiner Mutter, der freilich – nur – Bauer und Bürgermeister in einem hessischen Dorfe war.

Rudolf Steiner hatte Mittelgröße, schien aber groß zu sein. Sein Gesicht war bartlos, mit charakteristischer, den Denker auszeichnenden Bildung, mit scharf geschnittener, etwas gebogener Nase – im Ganzen edel. Das glänzendschwarze Haar war lang nach hinten gekämmt, eine Strähne hatte immer das Bestreben, auf der linken Stirnseite abzugleiten. Unter dem Kragen trug er einen wallenden Schlips. So stand er jetzt im Saal, überschaute mit seinem Blicke die überaus zahlreiche Zuhörerschaft und bestieg die Rednerbühne.

Er begann seinen Vortrag. Der Blick, zuerst nach außen gewendet, schien mitunter nach innen gekehrt. Er sprach aus einer inneren Anschauung heraus. Die Sätze formten sich unter dem Sprechen. Es war Kraft in seinen Worten. Seinen Worten wohnte die Macht inne, die schlummernde Gleichstimmung der Herzen zu erwecken. Die Herzen empfanden etwas von der Kraft, aus der diese Worte geformt waren, und fühlten jenes Band erstarken, das sie, ohne dass sie bisher davon klar wussten, mit jener Wirklichkeit einer größeren, weiteren und reicheren Welt verknüpfte, aus der er sprach. Seine Rede ging zu Herzen, weil sie aus dem Herzen kam, das viel Wissen und Liebe in sich trug. Eine unverkennbare österreichische Färbung der Sprache gab dieser etwas Ursprüngliches, Urkräftiges, Erdgewachsenes und sogar Liebenswürdiges.

Gegen den Schluss, wogegen der Anfang langsam, fast zögernd war, als spreche er wie aus einem Traum, steigerte sich seine Rede zu symphonischer Macht, bis er die Krönung in einer siegreichen Schlusskadenz fand; wohl nach dem Worte Goethes:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,

Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

Dieses Wort, von ihm gesprochen, erklang tatsächlich wie ein Ruf aller guten Mächte an die ringende und kämpfende Menschenseele.[1b]

Nach dem Vortrag hatte Ludwig Kleeberg die Freude, Rudolf Steiner zum ersten Male persönlich zu begrüßen, was für ihn – wie er schreibt – eine Bestimmung für sein ganzes Leben war. Schon am nächsten Tag kam es zu einer weiteren Begegnung. Sein Freund Hans Bunge hatte einen »Aufruf« an die Studentenschaft vorbereitet, den sie an der Universität aushängen wollten, um weitere Studenten auf Vorträge Rudolf Steiners aufmerksam zu machen und sie vielleicht sogar für eine theosophische Studentenarbeit zu gewinnen.

Am folgenden Tage trafen wir uns – mein Freund und ich – erwartungsvoll bei S. Stinde. Rudolf Steiner kam und sprach uns Anerkennung aus für unseren Plan, Theosophie in die Welt der Studenten zu tragen, und sagte seine Unterstützung zu. Hier muss ich schon eine Bemerkung des Bedauerns darüber einflechten, dass ich nicht über diese erste Unterredung genauere Aufzeichnungen gemacht habe.

Nachher erschien Herr Thomassin, ein ehemaliger katholischer Theologe, der mit Rudolf Steiner bei Tisch die Unterhaltung führte. Von dieser verstand und behielt ich wenig. Nur ein Satzbruchstück ist in der Erinnerung haften geblieben, gesprochen von Dr. Thomassin zu Rudolf Steiner: »… als Sie noch Hegelianer waren …«

Sodann fragte ich ganz bescheidentlich nach einem bedeutenden Mystiker, den er mir empfehlen könne; Rudolf Steiner nannte den »Cherubinischen Wandersmann« von Angelus Silesius – ein mir völlig unbekannter Name – und fügte zu den anderen gewandt hinzu, dass er dieses Buch deutscher Mystik gern einmal herausgeben möchte.

Rudolf Steiner ruhte dann eine Weile, während wir anderen blieben. Mein Freund schrieb den »Aufruf« [an die Studentenschaft] ab und gab ihn abends vor dem Vortrage Rudolf Steiner.

Dr. Steiner sprach [an diesem Abend] über Theosophie und Wissenschaft. Anschließend las er den »Aufruf« vor und hob eingangs hervor, wie erfreulich es sei, dass die theosophische Bewegung Platz greife in der akademischen Jugend.[2]

Ludwig Kleeberg traf alle organisatorischen Vorbereitungen, damit Rudolf Steiner im Jahre 1905 seine ersten Vorträge in Kassel halten konnte. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied in der Münchener Loge der Theosophischen Gesellschaft. Er studierte in Marburg und München klassische Philologie und ging anschließend in den Schuldienst. Im Jahre 1911 ließ er sich in die katholische Kirche aufnehmen. Kurz zuvor war er aus der Theosophischen Gesellschaft ausgetreten, was für ihn keinen Bruch mit Rudolf Steiner bedeutete. 1918 trat er wieder in die nunmehr Anthroposophische Gesellschaft ein.

1906

Der um die Jahrhundertwende schon sehr bekannte französische Schriftsteller und Philosoph Édouard Schuré wurde im Jahre 1902 durch einen Brief von Marie von Sivers auf Rudolf Steiner aufmerksam gemacht.

An seine erste Begegnung mit Rudolf Steiner, die er 1906 im Alter von bereits 65 Jahren in Paris hatte, erinnert er sich wie folgt:

Im Jahre 1902 hatte mir Marie von Sivers zum ersten Male von Rudolf Steiner geschrieben, von jener Persönlichkeit, deren Erkenntnisse alles überragten, was bis jetzt von Menschen aus dem esoterischen Schatz gehoben worden sei. Im Jahre 1906 kam Rudolf Steiner mit Marie von Sivers nach Paris, um Vorträge zu halten. […]

Ich hatte zwar einen Menschen erwartet, der nach allem, was ich durch Marie von Sivers gehört und auch anderweitig gelesen hatte, ein Weggenosse nach meinem Ziele sein könne, aber eigentlich war ich noch etwas gleichgültig (die Zeitverhältnisse hatten das mit sich gebracht), als Rudolf Steiner zu mir kam.

Als er dann in der Tür stand, und mich ansah mit den Augen, die ein Wissen von unendlichen Tiefen und Höhen der Entwicklung verrieten, mit seinem fast asketischen Gesicht, das zugleich Güte und unbegrenztes Vertrauen ausdrückte und einflößte, da machte er mir einen erschütternden Eindruck, wie ich ihn nur zweimal noch in meinem Leben, und teilweise weniger stark, empfunden hatte (bei Richard Wagner und bei Margherita Albana Mignaty). Zwei Dinge waren mir da auf einmal sehr klar, bevor Rudolf Steiner nur gesprochen hatte:

Zum allerersten Mal war ich gewiss, einen Eingeweihten vor mir zu haben. Lange hatte ich im Geiste mit den Eingeweihten des Altertums gelebt, deren Geschichte und Entwicklung ich habe aufzeichnen dürfen. Und hier stand nun endlich einer vor mir auf dem physischen Plan.

Und noch ein Zweites war mir klar in diesem kurzen Augenblick, da wir gegenseitig alles um uns herum vergaßen, und nur in uns hineinschauten: Ich war gewiss, dass dieser Mensch, der da vor mir stand, eine große Rolle in meinem Leben spielen würde.[3]

In den folgenden Jahren brachten Rudolf Steiner und Marie von Sivers die esoterischen Dramen Schurés auf die Bühne. Oftmals waren die beiden zu Gast in seinem Landhaus im Elsass.

1908

Angeregt durch seinen Vater hörte der zu dieser Zeit 39-jährige österreichische Offizier Graf Ludwig von Polzer-Hoditz am 23. November 1908 erstmals einen Vortrag Rudolf Steiners in Wien. Das Thema lautete: »Was ist Seelenerkenntnis«. Seinen Vater und ihn bewegten, ja quälten schon seit Jahren Fragen nach dem Sinn des menschlichen Daseins.

Über seine Begegnung mit dem Geisteslehrer, durch die sich sein Leben völlig wandelte und endlich einen Sinn bekam, schreibt er:

Als ich dann Rudolf Steiner begegnete, trat immer mehr eine völlige Veränderung ein, ich begann erst für die Erdenwirklichkeit zu erwachen.

Die Lebensschicksale wurden schwerer, aber Hilfe und Trost waren auch gefunden. Die quälenden Fragen beantworteten sich, aus ihrer Beantwortung entstanden neue, aber unaufhörlich floss geistige Erkenntnis durch sein Wort nach.

Es war im November 1908, dass ich Dr. Rudolf Steiner in Wien das erste Mal hörte. Mein lieber Vater, der auch ein Suchender war, sich auch nicht zufrieden gab mit den Antworten der Wissenschaft und Kirche, also auch ein Ketzer war wie ich, machte mich auf ihn aufmerksam. Damals fühlte ich gleich, wie dieses Ereignis von ungeheurer Bedeutung für mich sein würde, und tatsächlich war es das ausschlaggebendste meines Lebens. Ich erwachte durch Rudolf Steiner als geistig-seelischer Mensch.

Er sprach damals im Saale des Ingenieur- und Architektenvereins über »Das Wesen des Menschen als Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt«. Raffaels Bild, die Sixtinische Madonna, stellte er einleitend vor die Seelen der Zuhörer, es sollte dem Vortrag als bildlicher Hintergrund dienen, der vom Menschen- und Weltenrätsel handelt. Die Engel in den Wolken, die auf dem Bilde wie die Genossen des Kindes in den Armen der Mutter sind – Weltenrätsel; das Kind der Mutter beigegeben – Menschenrätsel. Im Menschen wirkt alles zusammen, was draußen in der Welt getrennt ist, im Menschen bildet sich ein Mikrokosmos aus dem Makrokosmos heraus. Der Mensch, der aus dem Weltenschoße herausgeboren ist, fühlt sich dann selbst als Gebärer neuer Welten, wenn das hellseherische Bewusstsein erwacht, und die Welt bevölkert sich ihm mit geistigen Wesenheiten, die an einer Zukunfts-Umwelt arbeiten.

Nach einer skizzenhaften Weltenentwicklungs-Betrachtung, in welcher er auch das Werden der menschlichen Wesensglieder (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich) schilderte, kam er zum Schlusse wieder zu Raffaels Bild zurück, zeigend, wie dieser Künstler, zum Teil auch aus der alten Tradition heraus, in sein geheimnisvolles Bild das Menschen- und Welträtsel künstlerisch lösend hineinmalte. […]

Mein Vater saß neben mir, wir waren beide ergriffen und begeistert. Ich jubelte innerlich, dass ich nicht umsonst auf ihn gewartet hatte, wurde dann bald mit ihm persönlich bekannt und dann auch sein Schüler.

Wenn ich heute zurückblicke auf die herrlichen Erlebnisse, die mir dadurch zukamen, dass ich fortab so viel als möglich dahin ging, wo er wirkte, glaube ich nicht nur 17 Jahre, sondern viele lange Lebensläufe durchlebt zu haben, die Fülle des geistig Empfangenen ist unermesslich, kann in einem Leben nicht verarbeitet werden. Anderen Menschen, die dieses nicht erlebten, kann man sich dann darüber oft nur schwer verständlich machen. Bald nach der ersten Zeit hatte ich das Erlebnis, welches sich seelisch ungefähr vergleichen lässt mit der Empfindung eines Menschen, der aus einem Labyrinth endlich heraustritt ins Freie. – Für mich war damit das Suchen glücklicherweise zu Ende, jede Aufforderung, weiterzusuchen, empfand ich immer als Einladung, wieder zurückzukehren in dieses düstere Labyrinth, aus welchem mich Rudolf Steiner ans Licht herausführte.[4]

Graf von Polzer-Hoditz wurde bald zu einem der esoterischen Schüler, engsten Vertrauten und eifrigsten Mitarbeiter Rudolf Steiners. Hunderte von Vorträgen hörte er in den folgenden Jahren und unzählige Gespräche durfte er mit ihm führen. Er war einer der ersten, mit dem der Geisteslehrer die Idee der »Dreigliederung des sozialen Organismus« besprochen hat. Zudem war er einer der wenigen und der einzige Deutschsprachige, der von Rudolf Steiner beauftragt wurde, die esoterischen Stunden der »Ersten Klasse« in eigener Verantwortung zu halten.

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Der Breslauer Lehrer Moritz Bartsch war wie so viele seiner Zeitgenossen schon seit Jahren auf der Suche, den Weg aus der vorherrschenden materialistischen Weltanschauung zu finden.

Im Jahre 1908 erhielt er eine gedruckte Einladung zu einem Vortrage von Dr. Steiner, der am 1. Dezember in Breslau über das Thema »Wo und wie findet man den Geist?« sprechen wollte. Da den 39-Jährigen das Thema interessierte, mischte er sich mit einem Bekannten unter die 50 bis 60 Zuhörer, die den kleinen Saal im Hotel »Vier Jahreszeiten« füllten.

Da trat zwischen die Pfosten der offenstehenden Saaltür ein Mann im schwarzen Gehrock mit einer schwarzen, genial gebundenen Künstlerkrawatte. Aus einem durchgeistigten ausdrucksvollen Gesicht schauten ein paar glänzende dunkle Augen über die Versammlung hin. Der Blick verweilte über meinem Haupte. Mein befreundeter Nachbar sagte zu mir: »Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich glauben, der Mann in der Tür sieht was in Ihnen.« Wir lachten über den Einfall. Nach einiger Zeit konnten wir feststellen, dass dieser Mann Dr. Rudolf Steiner war. Er stieg aufs Podium und hielt den angekündigten Vortrag, der mich sehr interessierte und zu dem ich schriftlich einige Fragen stellte, die so tiefgründig beantwortet wurden, dass ich nicht alles verstand.[5]

Für den nächsten Abend wurde Moritz Bartsch in die Wohnung von Marie Ritter, mit der er seit Jahren befreundet war, eingeladen. Dort sprach Rudolf Steiner vor etwa 20 Zuhörern, die das Zimmer bis zum letzten Platz füllten, über die Erlebnisse der Menschenseele nach dem Tod. Nach Beendigung des Vortrages meldete sich Herr Bartsch zu Wort:

»Die Darlegungen des Vortragenden waren außerordentlich interessant. Nur will es mir nicht in den Sinn, dass das Leben der Seelen in der geistigen Welt so geschildert wurde, als ob die Formen unseres menschlichen Anschauens und Denkens auch für sie maßgebend seien: Raum und Zeit und Kausalität. Seit Kant wissen wir doch, dass Raum und Zeit Anschauungsformen a priori und Kausalität ein Begriff a priori ist. Dasselbe wollen uralte Weisheitsstimmen der Menschheit sagen, wenn die Inder z. B. behaupten, das Brahman sei nicht zersplissen in Zeit und Raum und frei von aller Veränderung, d.h. raum-, zeit- und kausalitätslos. – Wenn wir Durchschnittsmenschen im Vorhofe des Tempels der Menschheit verweilen müssen, scheint es dem Hellseher gestattet zu sein, ins Heilige eintreten zu dürfen; der Eintritt ins Allerheiligste scheint auch ihm verwehrt zu sein.«

Nach meiner Rede erhob sich ein Theosoph, um Dr. Steiner zu verteidigen. Ich weiß nicht mehr, was er sagte; der kurze Sinn seiner Ausführungen war: »Der Bartsch hat nichts verstanden.«

Da ich das Vereins- und Versammlungswesen als Vorsitzender verschiedener Vereine genügend kennengelernt hatte, sagte ich mir: Hier bist du erledigt; Dr. Steiner wird seinem Anhänger Recht geben und sein Urteil unterstreichen.

Zu meiner Verwunderung geschah das nicht. Im Gegenteil: Dr. Steiner ließ seinen Befürworter vollständig fallen, indem er sagte: »O nein, so hat Herr Bartsch das nicht gemeint.« Und dann ging er in feinsinniger und tiefschöpfender Weise auf meine Bemerkungen ein. Eine solche Objektivität und die damit verbundene geisteswissenschaftliche Darlegung erweckten in mir Gefühle des Staunens und der Hochachtung. Ich sagte mir: Dieser Geist verdient, studiert zu werden.

Ein Theosoph besaß ein Exemplar der Philosophie der Freiheit; die kaufte ich ihm ab und fing an, sie zu studieren.[6]

Moritz Bartsch blieb sein Leben lang der Anthroposophie treu. Er hielt später – zum Teil auf ausdrücklichen Wunsch Rudolf Steiners – viele Vorträge. Zudem war er über viele Jahre im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland tätig.

1909

Eine Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und eine nur halb bewusst werdende Opposition gegen die Verhältnisse der Zeit trieb den jungen Studenten Herbert Hahn in die Kreise von Lebensreformern. In einem dieser Kreise hörte er zum ersten Mal den Namen »Rudolf Steiner«. Eines Tages sagte ihm jemand, dass dieser Mann demnächst nach Heidelberg kommen werde, um einen Vortrag zu halten, den er unbedingt besuchen sollte.

So entschloss sich der 18-jährige Herbert Hahn, den Vortrag, der am 20. Januar 1909 stattfand und das Thema »Goethes geheime Offenbarung« trug, zu besuchen, zumal er sich schon selbst viel mit Goethe beschäftigt hatte. An diesen Abend erinnert er sich wie folgt:

Von den Veranstaltern des Vortrages war nicht etwa der große Saal der Stadthalle gemietet worden, sondern nur einer der kleinsten Nebenräume. Man erwartete offenbar nicht viele Besucher. Nun erwies sich aber, dass mehr Interessierte erschienen waren, als der kleine Raum fassen konnte. Ein mittlerer Saal konnte so rasch nicht gemietet werden. Was blieb anderes übrig: Jeder der erschienenen Besucher ergriff einen Stuhl, und man »wanderte aus« in die etwas geräumigere Vorhalle.

Der Zug all dieser ihre Stühle tragenden Menschen ging an einem Manne vorüber, der, in einen langen dunklen Anzug gekleidet, etwas abseits stand und den ganzen Vorgang mit Lächeln betrachtete. Dieses feine, geistige Lächeln stand im Gegensatz zu der unnennbaren Tiefe des Ausdruckes jener dunklen Augen, die uns aufmerksam, leise abtastend und doch so wohltuend freilassend betrachteten. Nie zuvor im Leben war ich solchen Augen begegnet. Und es bedurfte keiner weiteren Einführung: Ich wusste unmittelbar, jener Mann, der dort stand, müsse Rudolf Steiner sein.

Es liegt etwas Weisendes in dem inneren, nur geistig vernehmbaren Grundakkord, der unsere ersten Begegnungen begleitete. (Wie oft und wo immer ich später Rudolf Steiner begegnet bin, immer wiederholte sich dieser Eindruck: Da ist jemand, der viel tiefer als alle anderen Menschen in seine Umgebung untertaucht, und der doch zugleich viel höher als alle anderen über sie hinausragt.)[7]

Anschließend beschreibt Herbert Hahn noch Näheres über Art und Inhalt des Vortrages, der ihn sehr beeindruckt hatte. Darüber werden wir an späterer Stelle schreiben (Kapitel 2, S. →.). Dann fährt er fort:

Ich ging allein nach Hause. Wiewohl einige von meinen Bekannten mit in dem Vortrag gewesen waren, vermied ich es, meine Gedanken mit ihnen auszutauschen. Hätte ich das überhaupt gekonnt? Ich glaube nicht. Ich fühlte, dass ich einem außerordentlichen Menschen begegnet war, und dass etwas Außerordentliches in meinem Leben geschehen war, dass mich veranlasste, auf meinem Wege stehen zu bleiben und geistig tief Atem zu holen. Der Mann, der da gesprochen hatte, er hatte Fragen berührt, die mich seit der frühesten Jugend beschäftigten, und auch solche, die mich in jüngster Zeit beunruhigten. Er war zweifellos ein Ganzer und sprach aus einem Ganzen. Gegenüber dem Zerstückelnden, Widerspruchsvollen, Ausschließlichen, wie ich es im Beginn des Studiums erfahren hatte, war dies etwas geistig tief Befriedigendes, Befreiendes. Es veranlagte eine junge Hoffnung.[8]

Zehn Jahre später wurde Herbert Hahn einer der ersten Lehrer an der neubegründeten Waldorfschule in Stuttgart. Dort wurde er von Rudolf Steiner beauftragt, den freichristlichen Religionsunterricht aufzubauen und zu erteilen. Im Jahre 1920 hielt er dort die erste »Sonntagshandlung«. Auch in der Anthroposophischen Gesellschaft war er in verantwortlicher Stellung tätig.

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Die in Prag geborene und dort lebende Julie Klíma befand sich im Beginn des 20. Jahrhunderts in einem furchtbaren Seelenzustand. In ihr entstand ein Chaos, das sie schließlich zum Atheismus führte. Diese Zeit war die unglücklichste ihres Lebens.

Ihr Ehemann, Dr. Jaroslav Klíma, war ein hochrangiger tschechoslowakischer Staatsbeamter, der aus dienstlichen Gründen an Versammlungen und Vorträgen, welche religiösen oder geisteswissenschaftlichen Inhalts waren, teilnehmen musste. So lernte er um das Jahr 1908 auch Rudolf Steiner kennen. Etwas später ging Julie Klíma zu den Vorträgen mit – einerseits, weil diese sie interessierten, andererseits, weil sie die für ihren Gatten, der damals der deutschen Sprache noch nicht hinreichend mächtig war, die Zusammenfassungen schrieb. (Deutsch war in dieser Zeit die Amtssprache.)

Im Jahre 1909 kam ein Verwandter ihres Mannes zu Besuch, der begeistert über Rudolf Steiner und sein Wirken erzählte. Sie ahnte sofort, dass nur dies sie aus ihrem schlimmen Seelenchaos befreien könnte. Dann borgte sie sich Schriften Dr. Steiners, die sie las, aber nicht verstand.

Kurze Zeit später kam Rudolf Steiner nach Prag, um einen Vortrag zu halten. Vermutlich handelte es sich hierbei um den öffentlichen Vortrag vom 14. Dezember 1909 mit dem Thema »Buddha und Christus«. Julie Klíma war damals 38 Jahre alt. Über diesen Vortrag und ihre erste persönliche Begegnung mit Rudolf Steiner schrieb sie im Jahre 1928 das Folgende:

Mein Gatte hatte die Inspektion, und ich ging mit.

Ich hatte damals keine Ahnung von der Größe seiner Persönlichkeit; ich dachte, man könne mit ihm sprechen wie mit anderen Vortragsgrößen, und aus Neugierde ließ ich mich ihm von meinem Mann vorstellen. Es war in einem Nebenzimmer des Vortragssaales. Mein Mann wurde abgerufen, und ich stand ganz allein dem Meister gegenüber.

Streng und ernst glitt sein großer Blick langsam, ganz langsam vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück über mich hin. Ich wusste damals noch nichts von Hellsichtigkeit. In einem Moment aber, da wusste ich, dass er alles wisse, was in mir vorgeht. Eine tiefe Scham überkam mich. Kein Wort brachte ich über meine Lippen, ich hatte nur das eine Gefühl, in den Boden versinken zu wollen. Ich floh von dannen wie eine Geächtete.

Dann war der Vortrag. Ich verstand nur wenig. Das Wort »Nirvana« tönte oft hindurch. Wie Sturmwind brauste die tönende Stimme mit dem Klang wie Erz über mich hin, und in mir rief es: Das muss anders werden!

Und nun fing ich an, täglich konsequent zu studieren und an mir zu arbeiten.[9]

Über ihre zweite Begegnung mit Rudolf Steiner lesen wir:

Nach Jahresfrist ungefähr kam der Meister wieder nach Prag, vierzehn Tage vorher erfuhr ich davon.

Da stieg in mir der sehnliche Wunsch auf, der Meister möge mir nur mit einem Blick, mit einem Wort oder einer Geste zeigen, ob ich mich in diesem Jahr geändert habe. Dann verwarf ich diesen Gedanken wieder, indem ich meinte, er könne mich nicht in der Erinnerung behalten haben. Doch kam der Wunsch immer wieder aus den Tiefen meiner Seele herauf.

Und nun kam der Tag, da ich wieder vor ihm stand. Und wieder ganz derselbe Blick, langsam meine Gestalt hinunter und zurück streifend. Aber diesmal hielt ich den Blick bereits aus. Ich blieb stehen, und der Meister fragte mich: »Wie geht es Ihnen?« Ich sprach, statt zu antworten: »Ach, Herr Doktor, ich habe mich so auf Ihren Vortrag gefreut.« Da fragte er in strengem, erhöhtem Ton nochmals: »Wie geht es Ihnen?« Beschämt flüsterte ich: »Danke, gut.« Und ganz vernichtet schlich ich auf meinen Platz.

Es folgte der Vortrag. Während desselben hatte ich ein wunderbares okkultes Erlebnis, das lange währte. Ich sah die Aura des Meisters. Und seinen Blick sah ich auf mich gerichtet.

Nach dem Vortrage stand der Meister in lebhaftem Gespräch mit einem Herrn – ich musste an ihm vorbeigehen. Da wandte er sich mit einer raschen Bewegung nach mir um, reichte mir die Hand, hielt die meine mit festem Druck und sagte mit seinem liebenswürdigen Lächeln: »Es hat mich sehr gefreut!«[10]

Julie Klíma, deren Schicksal sie zur Anthroposophie führte, wie das bei so vielen anderen Zeitgenossen auch der Fall war, wurde im Anschluss zu einer der eifrigsten Schülerinnen des Geisteslehrers in Prag. Sie wohnte nicht nur zahlreichen seiner Vorträge bei, sondern sie hatte auch das Glück, ihn und seine Gattin, Marie Steiner, geb. von Sivers mehrmals persönlich zu treffen und sie sogar einige Male in ihrem Haus bewirten zu dürfen.

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Der in Wien geborene Philologe Rudolf Treichler wurde durch Oskar Grosheintz, einem Freund seiner Frau, auf das Wirken Rudolf Steiners aufmerksam gemacht. Nachdem Herr Grosheintz ihm schon viel über die Theosophie erzählt hatte, fragte er ihn eines Tages, ob er nicht zu dem im November 1909 in Basel stattfindenden Zyklus über das Lukas-Evangelium mitkommen möchte. Der 26-jährige Rudolf Treichler sagte sofort zu.

Am Abend nach einem öffentlichen Vortrag stellte Oskar Grosheintz ihn Rudolf vor. Darüber schreibt Rudolf Treichler:

Eine schlanke, mittelgroße Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, mit blassen, geistvollen Zügen und gütigen braunen Augen, sah mich lächelnd an und sagte: »Das ist schön, dass Sie zu uns kommen.« Dann wurde für den nächsten Nachmittag eine Zeit bestimmt.

Ich war pünktlich dort (in einem befreundeten Hause in einem Vorort gelegen) und wurde nach kurzem Warten in sein Zimmer gebeten. Mit Herzklopfen trat ich ein, denn ich fühlte, dass ich vor einer ernsten inneren Entscheidung stand – ob ich ihr gewachsen war? Blitzschnell zog mein bisheriges, plan- und zielloses, unstetes Leben innerlich an mir vorüber … Was brachte ich mit an irgendwelcher Leistung, die vor diesem Manne, dessen Größe ich ahnte, bestehen konnte? Denn man musste bestehen vor ihm, der nun seine ersten Worte sprach: »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Der Eindruck auf mich war fast übermächtig; ein Mensch solcher Art war mir noch nicht begegnet, und ich fand für mich nur den völlig unzulänglichen Vergleich mit – Goethe, den ich mir bisher so vorgestellt hatte in seiner selbstverständlichen Würde und Größe. Sie wurde aber von diesem Manne weit überleuchtet: Durch seine reine Güte und Teilnahme aus einer hohen Weisheit und Erkenntnis heraus, mit der er mich – wie ich wohl fühlte – durchschaute bis in den Grund meiner Seele. So konnte ich zunächst wenig sagen, stammelte etwas von meinem Studium und seinem unbefriedigenden Abschluss mit dem Doktorat – worauf er mich sofort mit »Herr Doktor« anredete. Er meinte, als ich erzählte, ich sei schließlich von Wien »geflohen«: »Ja, in Wien muss man ein Gigerl (Geck) sein, um was zu gelten.« […]

Auch nach dem Zustand meines Herzens fragte ich, das mir öfters Beschwerden bereitete und das von einem halben Dutzend Ärzte schon völlig gegenteilig begutachtet worden war, Herzfehler oder nicht? Da sah er konzentriert auf die Herzgegend hin und sagte beruhigend: »Ich glaube nicht, dass Sie einen Herzfehler haben« – was sich in weiterer Zukunft auch bewahrheitete. Dabei sprach er von einem gedrungenen Körperbau (vom Vater her), der mich oft bedrängte und behinderte, und fügte den Rat hinzu, oft zu liegen und liegend zu denken, »weil man bei gelockertem Ich selbstloser und hingebender denken kann«.

Nach etwa einer Viertelstunde erhob ich mich. Ich wollte ihn nicht länger beanspruchen […] So erhob ich mich, wurde freundlich verabschiedet und verließ – etwas benommen und nicht ganz zufrieden mit mir selbst – das Haus.

Ich setzte mich bald auf eine nahe Bank und resümierte für mich den Verlauf dieser ersten Begegnung mit Rudolf Steiner. Mitten in meinem Sinnen und Grübeln überkam mich ein leiser warmer Strom, wie mir nachgesandt von der Stätte, die ich eben verlassen hatte. Ich empfand stärker und klarer denn je jenen Frieden, wie ich ihn so noch kaum erlebt hatte, und fühlte mich wie »angenommen«.[11]

Rudolf Treichler, der sich sehr eng mit der Anthroposophie verband, hatte in den folgenden Jahren noch mehrere Male die Gelegenheit, Rudolf Steiner persönlich zu begegnen, mit ihm zu sprechen und sich von ihm Rat zu holen. Er gehörte später zu dem von Rudolf Steiner berufenen Urkollegium der ersten Waldorfschule in Stuttgart.

1910

Bereits am 28. Februar 1907 hörte der damals 22-jährige Dichter Albert Steffen in Berlin zum ersten Mal einen Vortrag Rudolf Steiners, auf den er durch Karl Stockmeyer aufmerksam gemacht wurde. Anschließend wandte er sich in den folgenden Jahren intensiv dem Studium der Schriften Steiners zu und widmete sich verstärkt der schon früher begonnenen meditativen Schulung.

Schon als junger Mann erlebte er, sich in verschiedenen Formen und Bildern wiederholend, die Möglichkeit des imaginativen Schauens. Das Treiben, das er in der Großstadt wahrnahm, führte ihm das überall wirkende Böse sowie die Notwendigkeit seiner Verwandlung in aller Krassheit vor Augen und stellte ihm damit eine Lebensaufgabe.

Zu seiner ersten persönlichen Begegnung mit Rudolf Steiner kam es knapp vier Jahre später, am 10. Dezember 1910 in München.

Um das Recht, mit Rudolf Steiner zu sprechen, vor mir selber zu begründen, beschloss ich, ihm einen Fall vorzulegen, bei dem ich nicht ein und aus wusste. Ich hatte einen Bekannten […], der sich eine Kugel in den Kopf geschossen hatte, aber am Leben geblieben war. Die Hoffnungslosigkeit, die ihn zu der Tat getrieben hatte, war geblieben. Er wollte keinen Rat, nicht einmal einen Trost annehmen. Ich gestehe, dass sich deshalb oftmals Unmut in mir regte. Dies mochte ich in dem Berichte, den ich Dr. Steiner gab, auch gezeigt haben.

Er erwiderte nichts als mit dem ernstesten Blick: »Mehr Liebe.«

Jetzt kam ich auch auf mich selbst zu sprechen und erzählte von jenem Großstadterlebnis, das mir das Über- und Untersinnliche der fallenden Menschheit (was ich später zum »Viergetier« gestaltete) so hilfeheischend offenbarte, und das sich seither, in mannigfachster Form, immer wiederholt hatte. Ich musste von nun an den Tod in jedem Dinge sehen. Mir war es zuweilen, als stünde ein Gerippe neben mir. Damals begann ich, Hans Holbein den Jüngeren zu verstehen.

Noch heute sehe ich den aufmerksamen Blick, den Rudolf Steiner auf mich richtete. Er neigte sich ein bisschen vor und begann nach Einzelheiten zu fragen. Was ich nicht sagen konnte, dass ich gekommen war zu fragen, wie ich der Menschheit besser dienen dürfte, spürte Rudolf Steiner sogleich. Er gab mir Anweisungen, wie ich mich standhaft und sicher dem Ansturm auch der finstersten Gewalten entgegenstellen sollte.

Von jenem Augenblicke an fühlte ich mich jedem Geschehen und jedem Menschen gegenüber gewachsen. Ich hatte die Möglichkeit erlangt, in mir selber zu ruhen.[12]

Von nun an studierte Albert Steffen Steiners Schriften Tag für Tag und hörte dessen Vorträge, wann immer es sich einrichten ließ. Da er dem so überaus beschäftigten Geistesslehrer die ohnehin knappe Zeit nicht rauben wollte, kam es in den folgenden sieben Jahren zu keinem weiteren Gespräch mit Rudolf Steiner.

Später wurde er zu einem seiner engsten Mitarbeiter. Auf der Weihnachtstagung 1923/24 ernannte Rudolf Steiner ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Zudem berief er ihn zum Leiter der auf Steffens Persönlichkeit und Können zugeschnittenen Sektion für »Schöne Wissenschaften«.

1911

Der evangelische Pfarrer Dr. Friedrich Rittelmeyer hatte sich insbesondere als Prediger einen großen Namen gemacht und war weit über die Grenze seiner Nürnberger Gemeinde bekannt. Durch seinen Freund Michael Bauer wurde er auf Rudolf Steiner aufmerksam gemacht. Am 28. August 1911 – an Goethes Geburtstag – sah der zu diesem Zeitpunkt bereits 39-jährige Theologe Rudolf Steiner zum ersten Mal. Er ist einer der eher wenigen späteren Weggefährten Rudolf Steiners, bei denen es eine Zeit lang dauerte, bis er die wahre Größe und Bedeutung des Geisteslehrers und der Anthroposophie erkannte. Er schreibt darüber:

Ich hatte mir eine kleine Reise so eingerichtet, dass ich sonntags an der theosophischen Sommertagung in München teilnehmen konnte. Ein halbes Jahr hatte ich nun in meiner freien Zeit fast ausschließlich Schriften Steiners gelesen. Aber noch lag es mir ganz fern, der Anthroposophischen Gesellschaft mich zu verbinden. Man gab mir trotzdem die Freiheit, ohne Verpflichtung an allem Anteil zu nehmen.

Als ich in den Saal trat, überraschte mich die Stimmung. Die Menschen empfand ich großenteils als recht fremd. Ein gewisser Typus von passiver, genusssüchtiger Geistigkeit machte mir sehr zu schaffen. […]

Was mir sympathisch auffiel, war eine gewisse festliche Andacht. Unschwer konnte man fühlen, dass hier ein Fest des Menschen gefeiert wurde. Diese Männer und Frauen lebten alle in der Freude, dass ein Mensch unter ihnen war, den sie als ganz außerordentlich empfanden, als einen Menschheitsführer, den sie tief verehren konnten und der doch ganz menschlich nah unter ihnen umherging. Obwohl ich mich außerhalb fühlte und an manchem Anstoß nahm, erweckte es doch meine Teilnahme, wie unromantisch, wie echt und stark hier ein Mensch als Menschheitsereignis empfunden wurde. Alles atmete im Adel des Menschentums, da ein Großer des Menschengeschlechts unter ihnen gefühlt wurde. Man muss so etwas erlebt haben, um zu wissen, wie ein Mensch unausgesprochen in der Mitte der anderen wirken kann.

In den künstlerischen Darbietungen kam es besonders zum Ausdruck. Die Mitwirkenden führten ihre Kunst vor, nicht wie Menschen, die auf Presse und Publikum sehen, sondern wie Menschen, die sich von einem höheren Menschen durchschaut fühlen und die darum ohne Eitelkeit vor einer offenen göttlichen Welt ihr Opfer darzubringen sich bemühen. Eine ganz neue Ahnung von Kunst ging in mir auf.

Steiner hielt zwischendurch eine kurze Ansprache. Dass sie einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hätte, kann ich nicht sagen. Für das, was bedeutend daran gewesen sein mochte, waren wohl die Ohren noch nicht offen. Das Umständliche und Weitschweifige, das Steiner oft in seiner Satzbildung hatte, erklärte sich, wie ich einem späteren Gespräch entnahm, das er selbst begann, aus der Rücksicht auf die Beschaffenheit seiner Hörer.

Ich saß in meiner Saalferne, entschlossen, unter keinen Umständen mich in eine Massensuggestion hineinreißen zu lassen, aber ebenso auch völlig frei für jeden Eindruck zu sein, und fragte mich immer wieder: Für was würdest du den Mann wohl halten, wenn du ihm auf der Straße begegnetest? Am ehesten noch für einen katholischen Geistlichen, sagte ich mir. Aber da hatte ich nur den schwarzen Rock gesehen, gegen den ich als Pfarrer eine besondere Abneigung hatte, und noch nicht das Gesicht. Froh war ich unter dem Schutz einer völligen Fremdheit recht ungestört prüfen zu können. Auch für die Frage, ob sich bei dem Vielverehrten menschliche Schwächen zeigen, die auf seine Verkündigung ihre Schatten werfen, hatte ich als einer, der viel unter Predigtberühmtheiten gelebt und gelitten hat, ein besonders scharfes Auge. Mit aller Sicherheit sage ich, dass die Vorwürfe, die Rudolf Steiner solche Alltagsschwächen wie Eitelkeit oder Effekthascherei andichten, völlig in die Irre gehen. Sie beruhen auf flüchtigen, ungeprüften Ersteindrücken und sanken in der wirklichen Nähe seiner Persönlichkeit völlig wesenlos zu Boden. Wenn es ein gerades Gegenteil von persönlicher Eitelkeit gibt, so war es Rudolf Steiner. Und für Effekthascherei war er nicht nur viel zu gewissenhaft, sondern schon zu klug.

Der erste Eindruck war also der, dass alle Möglichkeiten offenblieben. Nach dem Vortrag sah ich nicht ohne Lächeln, wie der gefeierte Mann kernbildend wirkte für einen Verehrerkreis. Er konnte kaum vorwärtskommen, ohne einen seiner Anhänger totzutreten. Auch dieses wurde in späteren Jahren besser, als man mehr wusste, was man ihm schuldig war.[13]

Auch wenn Friedrich Rittelmeyers anfängliche Skepsis nicht gleich schwand, hatte er den Wunsch, Rudolf Steiner persönlich zu begegnen. Darüber schreibt er:

Einem Wink meines Freundes Michael Bauer folgend, dankte ich dafür, dass man mich als Gast zugelassen hatte, und fragte, ob ich abends noch einmal kommen dürfe.

Nur für einen ganz flüchtigen Augenblick sah mich Rudolf Steiner an. Dann schlug er den Blick zu Boden. Das schien mir ein Verfahren, um rasch das geistige Wesen eines Menschen vor sich zu haben. Dann sagte er trocken: »Wenn Sie schon heute Vormittag da waren, können Sie auch heute Abend kommen«, und ging weiter. Das war mein erstes Gespräch mit ihm.[14]

Ein Vierteljahr später – Anfang Dezember 1911 – besuchte Friedrich Rittelmeyer zusammen mit einigen Freunden Rudolf Steiners Vortrag über das Thema »Von Jesus zu Christus« in Nürnberg. Er wollte vorurteilsfrei hören, ob der Vortragende mehr über das Thema wisse als er selbst. Nach dem Vortrag fragte Friedrich Rittelmeyer, ob er Rudolf Steiner einmal sprechen könne. Darüber schreibt er:

Als ich nun vor der Tatsache stand, Rudolf Steiner ganz persönlich gegenüberzustehen, sagte ich zu meinem Freund Michael Bauer: »Es ist mir doch etwas unbehaglich zumute. Wenn der Mann wirklich die Aura sieht?« Fein und vergnügt lächelte Michael Bauer: »Der liebe Gott weiß es ja doch«, sagte er. Da bäumte sich das Selbstgefühl auf: »Es ist mir überhaupt ganz einerlei was der sieht. Der kann sehen, was er will.«

Vor dem Hotel Maximilian, wo Steiner damals wohnte, ging es mir noch durch den Sinn: Nun ja, heute hast du eine große Gemeinde und dieser Mann eine kleine; wenn er recht hat, dann wird in zwanzig Jahren er eine große Gemeinde haben, und du eine kleine; aber er hat Anspruch darauf, Menschen zu begegnen, die danach nicht fragen.

Oben in der halbgeöffneten Tür stand Rudolf Steiner, der eben einen anderen Gast entlassen hatte, und schaute mir höchst aufmerksam zu, wie ich langsam die Treppe heraufstieg. Ich habe nie einen Menschen so aufmerksam beobachten sehen, wie er es konnte. Es war, als ob er – ganz unbeweglich, aber selbstlos hingegeben – den anderen sich selbst gleichsam noch einmal erschaffen ließe, in einem feinen Element der eigenen Seele, das er ihm zu diesem Zwecke darbot. Es war kein Nachdenken über den anderen, sondern mehr ein inneres geistiges Nachbilden, in dem das ganze Werden des anderen offenbar werden konnte. Erst viel später bekam ich die Erklärung für diesen beobachtenden Blick, als Rudolf Steiner sagte, dass man aus dem Gang eines Menschen viel über sein Wesen in vergangenen Verkörperungen erfahren könne.

Meine erste Anrede an Steiner kann für ihn nicht recht erfreulich gewesen sein: »Ihre okkulten Erkenntnisse«, sagte ich, »interessieren mich wenig. Ich habe im Religiösen meine Erlebnisse und sehe da unendliche Aufgaben vor mir. Auch habe ich auf dem okkulten Gebiet keine Begabung und fürchte ohnedies für meine Nerven. Aber ich möchte Sie gern über einiges fragen, was sich auf die Weiterentwicklung des Menschen bezieht.« Rudolf Steiner hörte sich das geduldig an und schien vor allem ruhig zu beobachten. In dem kleinen Zimmer, in dem schon der Reisekoffer einen großen Raum wegnahm, saß er im Licht mir gegenüber, so dass ich sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte. Nichts bewegte sich an ihm. Nur das obere der beiden übereinandergeschlagenen Beine redete von seiner geistigen Lebendigkeit. »Ihre Erkenntnisse leuchten mir nicht ein«, fuhr ich fort. »Sie sagen immer, dass sie dem gesunden Menschenverstand einleuchten müssten. Daraus ziehe ich den Schluss, dass sie eben Ihnen einleuchten. Wenn sie aber Ihnen einleuchten und anderen nicht, so könnten sie doch vielleicht unbewusst aus dem Denken selbst gekommen sein und nur scheinbar durch Hellsehen gefunden.«

Rudolf Steiner erwiderte, abwehrend, aber ohne jeden Eifer: »Ich kann nur sagen, dass ich durch bloßes Denken niemals auf das gekommen wäre, was sich mir ergeben hat; im Gegenteil, es widersprach sogar vielfach dem, was ich gedacht hatte; erst nachträglich hat es sich dann auch dem Denken als richtige erwiesen.« Das leuchtete mir aber wieder gar nicht ein. Warum kann der Mensch nicht unbewusst ein doppeltes Denken in sich tragen, eines, das zu denken denkt, und eines, das wirklich denkt? Mir kommt heute noch dieser allererste Einwurf gegen Rudolf Steiner gescheiter vor als das meiste, was ich bei Gegnern gelesen habe. Aber es war merkwürdig, dass Rudolf Steiner ihn gar nicht ernst nahm. Er wusste, dass die Schlacht auf einem anderen Gebiet geschlagen wird.

Wir kamen auf die Wiederverkörperungslehre zu sprechen. Ich sagte, es sei mir gar kein Zweifel, dass der Mensch nach dem Tode weiterleben und sich weiterentwickle, aber ob er dazu auf die Erde kommen müsse, sei mir mindestens recht fraglich. Auch finde sich in der Bibel jedenfalls nichts davon. »Nein«, sagte Rudolf Steiner, »eine Lehre des Christentums ist die Wiederverkörperung nicht. Sie ist eine Tatsache, die sich eben der okkulten Forschung ergibt. Das muss man hinnehmen, wie es ist.« Wieder dieselbe lässige Abwehr. Plötzlich fing er an: »Warum sagen Sie eigentlich, dass Sie für okkulte Dinge nicht begabt seien; ich wollte es vorhin schon sagen. Sie sind ganz gut dafür begabt.«

Und nun kamen gleich vier Ratschläge für okkulte Übungen, als Antwort auf meine Frage nach der Weiterentwicklung des Menschen, Ratschläge, die mir allerdings sonderbar genug vorkamen. »Das ist Ihnen fremd. Aber es ist schon richtig.«

Als ich wieder auf der Straße stand, fragte ich mich: Was will eigentlich dieser Mann? Hat er einen Versuch gemacht, dich zum Anhänger zu gewinnen? Ich überdachte alles und musste mir sagen: Nein, nicht den geringsten. Aber die Übungen? Trittst du damit nicht in eine undurchschaubare Welt? Begibst du dich nicht in Abhängigkeit von einem anderen? Gibt es nicht Suggestion? Magie? Vielleicht ist dies gerade der gefährlichste Versuch, dich in Gefolgschaft zu bringen!