Der Menschenheiler - Koen Peeters - E-Book

Der Menschenheiler E-Book

Koen Peeters

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Beschreibung

Remi wächst als Sohn eines Bauern in der flämischen Westhoek auf, inmitten von wortkargen Menschen und Legenden über den Ersten Weltkrieg, der das Land in den großen Flandernschlachten verwüstet und dessen Menschen geprägt hat. Sein Onkel erzählt ihm immer wieder von einem schwarzen Soldaten aus dem Kongo und Remi übernimmt diese Faszination für das Fremde und den Glauben an die Kraft von Geschichten. Aus Wissensdurst und um dem Leben auf dem Bauernhof zu entkommen, tritt er in ein Kloster ein. Die Jesuiten entsenden den jungen Mann in den Kongo, wo er allerdings nicht missioniert, sondern selbst die Mythen der Bevölkerung erforscht und zum Lernenden wird. Auch lebt er beim Stamm des ehemaligen Soldaten, der in der Westhoek gefallen ist, wird im gewissen Sinne als dessen Wiedergänger bei den Yaka aufgenommen. Remi verlässt danach die Jesuiten, kehrt nach Belgien zurück und wird Ethnologe, später Psychoanalytiker. Erzählt wird von Remi selbst und aus der Perspektive eines seiner früheren Studenten, der in den Kongo reisen möchte, um eine ethnologische Arbeit fertig zu schreiben. "Der Menschenheiler" ist ein Roman über die Sehnsucht nach Erkenntnis und Verständnis, zu denen man durch den Kontakt mit der anderen Kultur, den eigenen Träumen und verschütteten Mythen gelangen kann.

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Koen Peeters

Der Menschenheiler

Koen Peeters

DERMENSCHENHEILER

Roman

Aus dem Niederländischen von

Stefan Wieczorek

Titel der niederländischen Originalausgabe:

De mensengenezer

De Bezige Bij Amsterdam 2017

© 2017 Koen Peeters

This book was published with the support of Flanders Literature.

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Erste Auflage 2021

© Osburg Verlag Hamburg 2021

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Clemens Brunn, Hirschberg

Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

ISBN 978-3-95510-241-8eISBN 978-3-95510-247-0

Inhalt

Teil 1

Die Westhoek

Teil 2

Drongen – Heverlee

Teil 3

Im Kongo

Teil 4

Kwango

Teil 5

Zurück in der Westhoek

Carabouya, carabouya.

Jedermann soll leben,

Weiß und Schwarz, carabouya!

Teil 1

Die Westhoek

1

Das Wesen dieser Landschaft, vielleicht gibt es das ja tatsächlich, ein solches Wesen. Möglicherweise ist es ein Geist, ein Daimon, ein Genius – etwas, das körperlich nicht existiert, das aber hier herumspukt und Westflandern, die Westhoek, beherrscht. Immer wieder aufs Neue erscheint dieser Geist: in den Häusern, den Dörfern, auf den Straßen. Als würde er die ganze Zeit abwechselnd aufsteigen und dann wieder auf die flache Landschaft niedergehen. Fast grazil. Vielleicht lösen die Sonnenstrahlen diese Bewegung aus, oder die Drosseln und Lerchen, vielleicht gibt es einen unsichtbaren Katalysator, einen unbekannten Kreislauf oder Stoffwechsel. Man kann sein Keuchen hören, zwischen den Worten der Leute, in den wiederkehrenden Sätzen und Geschichten, die man einander erzählt.

Wenn dieser Geist eine Erscheinungsform hat, dann vermutlich diejenige der Geschichten.

Es gibt Menschen, die den Geist im dicken Nebel, der über der Westhoek hängt, sehen können. Ein Nebel wie eine Aschendecke. Wie zerrissene alte Gardinen. In den Nebelschleiern unter dem Herbstmond, der die Äcker erhellt.

Der Geist.

Dieser Geist, der Genius, der Daimon – oder wie sollen wir ihn nennen?

Was ist eigentlich ein Daimon? Wie nennt man diese Kraft, die jemanden ruhelos umhertreibt, aus der Bahn wirft, über Generationen, Kontinente und sogar Zivilisationen hinweg?

In allem, was in der Westhoek gesagt wird, hallt sie wider. Ein kleines, surrendes Trommeln, nur der empfängliche Beobachter nimmt es überhaupt wahr. Vielleicht geben die Fährten der Hasen den Rhythmus, die Resonanz in die Erde weiter. Hasenabdrücke.

Das wäre ein schönes Bild, dass Vergangenes über Hasenpfoten aufsteigt, niedergeht in allem, was wächst. Vielfältig, unausrottbar, jedes Jahr neu. Diese Geschichten verlieren sich in Blütenblättern. Zarten, blutroten Blütenblättern, im Klatschmohn.

In Flanders fields the poppies blow

Between the crosses, row on row,

That mark our place; and in the sky

The larks, still bravely singing, fly

Scarce heard amid the guns below.

»Oder in Kornblumen, das wäre auch möglich«, sagte Onkel Marcel schlecht gelaunt, während er sich mit einer Hand über die Stirn rieb; die zitternden Augen geschlossen. »Larks, was waren das noch mal, Junge?«

»Das sind Lerchen, Onkel.«

»Und amid, was bedeutet das, Remi?«, fragte Onkel Marcel.

»Zwischen, Onkel. Das Gedicht besagt: Die Lerchen singen tapfer, sie fliegen, aber niemand kann sie zwischen dem Lärm der Waffen hören. In der Schule haben wir das Gedicht auswendig gelernt.«

»Auswendig?«

»Ja, eigentlich haben wir noch gar kein Englisch in der Schule.«

»Also davon handelt das Gedicht«, sagte Onkel Marcel und wischte sich die verschwitzte Stirn mit einem Taschentuch ab. »Darum dreht sich immer alles. Überall gibt es Geheimnisse und Aufträge, traurige Erinnerungsspuren. Sie gehören niemandem, deshalb bleiben sie zwischen den Menschen hängen. Weißt du, warum?«

Das wusste ich nicht.

»In unserer Gegend ist zu viel passiert.«

Er zeigte auf drei Hügel, die sich in der Ferne aneinanderreihten: den Kemmelberg, den Rodeberg und den Zwarteberg. Die übrige Landschaft war flach. Wie ein straff gespanntes Betttuch. Manchmal schienen die Scheunen über den Getreidefeldern zu schweben, schon bei geringer Hitze flimmerte die Luft. Stromleitungen stolzierten auf Stelzen zu den Höfen und überall waren die Bauern bei der Arbeit, auch im strömenden Regen oder wenn ein peitschender Wind vom Meer her wehte.

Onkel Marcel sagte: »Diese Gegend ist verflucht. Der Geist infiziert jeden Einzelnen von uns mit einer Art Milzbrand.«

»Was für ein Geist Onkel? Und was ist Milzbrand? Wieso verflucht?«

»Der Geist selbst ist unsichtbar, aber er besteht aus den Überresten von toten Körpern. Der Geist schaut uns aus seinem weggeschossenen Gesicht an. Seine Geschichten rattern wie eine Elster, zwitschern. Sie pfeifen wie eine abgefeuerte Granate.«

Ich schwieg.

»Remi?«

»Ja, Onkel Marcel?«

»Milzbrand ist der Name einer Soldatenkrankheit.«

Ich blickte zu meinem Onkel hinüber, dafür musste ich in die Sonne schauen. Wovon redete er da, warum zogen sich dabei tiefe Falten über seine Stirn?

»Da kann man nichts machen.« Er schnäuzte sich, faltete langsam das Taschentuch zusammen. »Remi, da kann man nichts machen«, wiederholte mein Onkel beschwörend. »Wir geben es aneinander weiter, weil wir eine Familie sind«, sagte er, dann zählte er die Namen von Frauen und Männern auf. Böse spie er diese in mein Gesicht.

Durch ihn spricht jetzt wieder der Geist, dachte ich.

Es waren die Namen von Familienmitgliedern. Manche von ihnen lagen auf dem Friedhof, andere waren noch am Leben. Mein Onkel Marcel streckte den Brustkorb vor, richtete den abwesenden Blick nach oben. Er trug einen kleinen, eleganten Schnurrbart. Dann rieb er sich lange die Hände. »Wenn wir Bauern das Land bearbeiten, nimmt der Geist von uns Besitz. Er ist ein unsichtbarer Riese, der uns aussaugt. Wenn wir schwitzen, stinkt unser Schweiß nach ihm.«

»Ein Geist in unserem Schweiß? Wie soll das gehen?«, fragte ich.

»Der Geist schenkt uns sowohl Herzklopfen als auch Magenleiden. Wenn ich an Krebs sterbe, dann seinetwegen.«

Ein Geist? Ein Riese? Das ist alles unmöglich, dachte ich.

Onkel Marcel sollte übrigens nicht an Krebs sterben, sondern an einer Lungenentzündung.

Eins

Ein Geist, ein Genius, ein Daimon? Was der alte Professor damit bloß meinte? Diese Aufzählung hätte auch eine Zeile eines Dichters sein können, ein Vers aus einem klassischen Gedicht, eine poetische Anrufung dreier mythischer Wesen.

Der Professor nickte mir ermutigend zu.

Der Geist, der Genius, der Daimon – ich konnte sie durchaus mit dem Gefühl in Verbindung bringen, das auch mich jedes Mal in der Westhoek überfiel. Der Professor, der mich gleich bat, ihn mit seinem Vornamen, Remi, anzusprechen und ihn zu duzen, erzählte gelegentlich von einem Riesen, der sich im Nebel verbarg, einem Monster, das aus den Körperteilen gefallener Soldaten bestand.

Noch einmal nickte Remi mir zu, als hätte ich gerade etwas gesagt, dabei schwieg ich. Er berichtete von den Gesprächen, die er als Zehnjähriger mit seinem Onkel geführt hatte.

Ich brauchte eine Weile, bis ich verstand.

Der alte Professor schaute mich mit einem überlegenen Blick an. Meine wöchentlichen Besuche bei ihm machten mich nervös. Wenn ich etwas über bestimmte, schwierige Phasen in seinem Leben erfahren wollte, bekam ich Antworten zu hören wie: »Es war eintönig, aber nicht unbedingt langweilig.«

Oder: »Das war so normal, dass ich es nicht als erniedrigend empfand.«

2

Immer wenn mein Onkel mir von dem Geist erzählte, konnte ich danach nicht einschlafen. Mein Zimmer war in das warme, graue Licht des Vollmonds getaucht. Ein Hund in der Ferne bellte dreimal heiser. Neben dem Haus glomm noch die Glut des Kartoffelkrauts; ich konnte den schweren, erdigen Geruch bis ins Bett riechen.

Draußen flatterten die Betttücher im Wind der Nacht. Der Geist. In der Wäsche flüstert der Geist, dachte ich.

Den Atem der toten Soldaten, so hatte Onkel Marcel das genannt.

Vielleicht hatte mein Onkel ja recht. Vielleicht gab es so etwas tatsächlich. Es war ein merkwürdiger Nebel. Wenn man am Abend an den Feldern vorbeiging, tanzten einem plötzlich turmhoch die Mücken über dem Kopf. Gewitterfliegen, die aus dem Nichts angriffen. Starenschwärme und sich überschlagende Kiebitze zeichneten aufgeregt Bilder in den Himmel.

Was sagen die Zeichen?

Wie nennt man Zeichen, die so schemenhaft und unzugänglich bleiben? Gespenster?

Vielleicht spricht der Geist auch aus den leisen Totenglocken?

Wenn die Brombeeren reif wurden, waren sie bis zum Platzen mit schwarzem Blut gefüllt, das glaubte ich wirklich. Schon deswegen traute ich mich nicht mehr, davon zu essen. Auch wenn der Wind über die Felder pfiff, immer aus dem Westen, musste ich an den Geist denken.

Ängstlich fuhr ich auf dem Fahrrad an den schützenden Weißdornhecken entlang.

Unser Hof lag abgelegen, im Weiler Den Abeele. Vierhundert Meter von der Straße entfernt.

Die nächsten Nachbarn lebten einen halben Kilometer entfernt. Nur zweihundert Meter hinter dem Hof lag die Grenze zu Frankreich. Man konnte ihren Verlauf an den Farben der Dächer erkennen: Die blaugrauen Dachziegel waren französisch, die roten belgisch. Es war ein einsamer Landstrich, auch wenn über die Feldwege im Grenzgebiet fleißig geschmuggelt wurde. Schmuggeln war bei uns ein Sport, ein ehrbarer Nebenerwerb für die Knechte auf den Höfen.

»Schmuggler? Ich kann über die Leute nichts Schlechtes sagen«, pflegte mein Vater das Thema zu kommentieren.

Alle hier nahmen es damit nicht so genau, wie er wusste. Unauffällig beschützten Bauern wie er die Gelegenheitsschmuggler. Die Zöllner soffen sich fast zu Tode an ihrem Anteil und den Schmiergeldern.

Die Schmuggler trugen weite blaue Jacken, in die große Innentaschen eingenäht worden waren; sie stopften diese mit weißen Bohnen, Tabak und Flaschen voll. Jedes Mal fuhr mir der Schreck in die Glieder, wenn die Schmuggler mit ihren Flachssäcken auf Bauch und Rücken in der Dämmerung auftauchten. Manchmal kamen sie zu viert oder fünft auf unser Gehöft. Schweigend verschwanden sie in der Scheune; sie versteckten sich dann im Stroh und warteten.

»Es ist heute merkwürdig still«, sagte ich zu meinem Vater.

Vater entgegnete nichts.

»Was hat das zu bedeuten?«, wollte ich wissen.

»Gar nichts. Wenn es still ist, bedeutet das gar nichts.«

»Aber manchmal höre ich doch etwas.«

»Ein brütendes Huhn. Oder eine Ratte sucht ihren Schatz.«

Bei Sturm wimmerte der Dachstuhl der Scheune wie ein Mensch.

Dicht an der Grenze bewirtschafteten mein Vater und meine Mutter, Omer und Bertha, den Hof. Sie bestellten die Felder und hielten auch Vieh. Wir waren drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen: Agnes, Joris und ich, der Jüngste. Onkel Marcel war der ältere Bruder meines Vaters Omer, er war unverheiratet und half auf dem Hof als fester Knecht. Außerdem war er mein Patenonkel.

Morgens betrachtete sich mein Vater im Spiegel, mit erhobenem Kopf. »Guten Morgen«, begrüßte er laut sein eigenes rundes Gesicht. Blaue Augen, kurzes, dunkles Haar. Er lachte sich zu. Wenig später hockte er unter den Kühen und melkte sie. Im Stall hielten wir vierundzwanzig Stück Milchvieh, alle hörten sie auf katholische Frauennamen. Außerdem besaßen wir einen Stier, einen richtigen Champion, der aber abgetrennt von den Kühen stand. Der beste Deckstier in der ganzen Gegend. Tausend Kilo Lebendgewicht, er hatte den ersten Preis in Westflandern gemacht.

An den Augen der Tiere konnte mein Vater erkennen, ob ihnen etwas fehlte oder ob sie brünstig waren. Nachts unterstützte er den Tierarzt, wenn zügig ein Kaiserschnitt durchgeführt werden musste, weil die Fruchtblase schon geplatzt war, denn die muskelbepackten Doppellender-Kälber sind viel zu groß für eine normale Geburt. Sie mussten das Kalb buchstäblich aus der Kuh heraussägen, dabei floss das Blut in Strömen. Mein Vater liebte die harte, produktive Arbeit und sein störrisches Vieh.

Ich half ihm, wenn er den Stier aus dem Stall trieb. Das reizbare Tier schnaubte: Eine Kuh wurde im Hof vorgeführt. Vater hielt den Bullen mit einer Eisenstange im Zaum, die mit dem Nasenring verbunden war. Dadurch gehorchte ihm das erregte, gefährliche Ungetüm. Pflichtbewusst, aber nicht ohne Hingabe, bestieg der Stier die Kuh, die mit den Hinterbeinen in einer flachen Senke stand. Ich beobachtete die Erschütterung und das Beben, das den massigen Leib durchfuhr. Etwas Merkwürdiges war an diesen Krämpfen. Breitbeinig stand ich neben meinem Vater, der selbst hundert Kilo wog und groß gewachsen war. Geübt lenkte er den Stier, kontrollierte dessen Geilheit. Kurz sah ich, wie Vater die Flecken und Spritzer auf seinen Kleidern betrachtete. Sah er die Kuhscheiße überhaupt?

Zwei

Der Professor hatte über den Nebel in der Westhoek erzählt, wie dieser ihren Bauernhof buchstäblich verschluckte und von der Welt abriegelte. Ich kannte dieses Wetterphänomen vom Autofahren nur zu gut, denn ich bin selbst einige Male blind wie ein Maulwurf in der Westhoek unterwegs gewesen. Aber für mich war der Nebel auch ein Bild für den Geist. Das alles hatte mit vergessenen Geschichten zu tun, über denen ein Mantel des Schweigens lag.

»Du wirst das nie ganz verstehen können«, flüsterte er mir zu, während er erzählte.

Trotzdem – manchmal, so bildete ich mir ein, erschien der Geist auch mir, wenn ich in den Dörfern der Westhoek war. Ich sah, wie er in die Häuser kroch, in die Menschen. Er lebte in ihnen, zehrte sie aus und wurde selbst nur noch stärker dadurch. Als würden sie unter einem Joch schwitzen. Gleichzeitig löste sich das Bild, das sie von sich selbst hatten, immer mehr auf. Der Geist machte auch vor den Kleinsten keinen Halt, befiel auch Kinderschuhe. Wie einen Jäger stellte ich mir ihn vor, einen alten finsteren König. Seine Untertanen mussten diese Last tragen, waren für immer von ihm besessen. Der Geist war aber nicht böse, eher ungeschlacht. Er starrte ins Dunkel. Vor allem, wenn Nebel aufzog, starrte er auch mich an.

(Ich ertappte mich dabei, schon so zu denken und zu reden wie dieser Onkel Marcel.)

3

»Hast du das Gatter zur Weide richtig zugemacht?«, fragte meine Mutter. Ich saß schon auf dem Rad. »Ist das Gatter zu?«

»Doppelt verschlossen mit der Kette«, rief ich. Unser Hund Mirza lief neben mir her zum Feld, in Richtung der französischen Grenze. Ich schaute mich kurz um. Wenn meine Mutter patrouillierende Zöllner entdeckte, wedelte sie auffällig mit einem Lappen oder Putzlumpen am oberen Fenster, um die Schmuggler zu warnen. Wenn der Weg über die Grenze frei war, sperrte sie die Fensterläden weit auf. Jeder wusste das, auch die Zöllner.

Ich fuhr über den Gemeneweg, den man auch Chemin Mitoyen nannte. Diese Straße mit den zwei Namen verlief genau auf der Grenze, gehörte weder zu Belgien noch zu Frankreich. Mit dem Fahrrad schlingerte ich von links nach rechts und wieder zurück. Von zu Hause ins Ausland und wieder zurück. Ich stellte mir vor, ich könnte damit den Grenzverlauf bestimmen und verschieben, wie eine Regenfront, die über den Acker wandert. Von links nach rechts und wieder zurück.

Hundert Meter von mir weg spielte ein Hase das gleiche Spiel. Er hatte große Läufe, die aus einem Meccano-Metallbaukasten zu stammen schienen. Auch er lief von links nach rechts und wieder zurück. Kurz wartete er auf mich und raste dann weiter, von links nach rechts und wieder zurück.

Ich wurde langsamer. Der Hase blieb ebenfalls stehen.

Ich fuhr weiter, über die Grenze. Jetzt sauste der Hase panisch über das Feld. Darauf hatte Mirza nur gewartet; jaulend schoss er in vollem Tempo dem Hasen hinterher. Der schlug Haken, um seinen Verfolger in die Irre zu führen, aber Mirza hielt geradewegs auf seine Beute zu. Als würde der Hund schon wissen, für welche Richtung sich sein Opfer entscheiden würde. Mirza packte den Hasen im Genick und biss zu. Er rührte sich nicht mehr. Ich warf mein Fahrrad an den Wegrand und lief keuchend auf den Hund zu. Ich schüttelte Mirza am Nackenfell, bis er losließ.

Ich spürte das verängstigte Herz, das noch im kleinen Körper des Hasen schlug. In meinen Fingerspitzen pulsierte die dunkelrote Panik des Hasenbluts. Dann machte ich Folgendes: Ich gab dem Hasen einen kleinen Schubs, als würde ich damit die Hasenmechanik wieder in Gang setzen, und das Tier rannte tatsächlich weg. Ich hinderte Mirza daran, ihm hinterherzuhetzen.

Morgens, beim Frühstück erzählte ich das alles. Was ich erlebt hatte, gab ich wie einen Traum wieder, in diesem Traum hatte ich den Herzschlag des Hasen gespürt. Mit dem Zeigefinger klopfte ich den Rhythmus auf den Tisch, to tom to tom to tom.

»Was für ein schöner Traum«, sagte meine Mutter.

»Und ich habe schon davon geträumt, dass es morgen Hasenbraten gibt«, brummelte mein Vater.

»Achte gar nicht auf ihn«, sagte Mutter.

Die Knechte nannten sie la dame Bertha. Als kleines Mädchen brachte man sie vor dem Krieg in Sicherheit und sie lebte drei Jahre lang in Frankreich. Ihre Zerbrechlichkeit hatte mit der Unterernährung in dieser Zeit zu tun. Aber sie sprach fantastisch Französisch. Meine Mutter, Bertha Mabesoone, hatte mehr von der Welt gesehen, als Bauern das normalerweise tun. Gelegentlich schrieb sie etwas in ihr Tagebuch, das niemand lesen durfte. Wenn es auf Vaters Seite ein Familientreffen gab, hörte man ein Raunen: »Wer ist denn diese Frau?«

»Bertha ist aus Frankreich rübergekommen«, sagte man dann.

Meine Mutter hörte gerne den Experten zu, wenn diese über die Modernisierung des Landbaus sprachen. Wenn jemand den Hof besuchte, lebte sie auf: Sie wollte dann alle Nachrichten und Neuigkeiten aus der Zeitung mit dem Besuch diskutieren. Auf dem Hof kümmerte sie sich um die Kühe. Sie berührte die Tiere vorsichtig und aufmerksam, fast schon freundschaftlich, sogar einfühlsam. Wenn sie melkte, beruhigte sie nervöse Tiere, indem sie mit ihnen sprach. Sonntags ging sie mit uns Kindern zur Frühmesse. Sie sang zur Heiligen Jungfrau Maria, zu Unserer lieben Frau von Flandern: »Liebe gab dir tausend Namen«, und ging danach nach Hause, um das Mittagessen vorzubereiten.

Währenddessen saßen die Männer in der Kneipe, auch mein Vater. Nach dem sechsten oder siebten Bier schoben sie ihre Filzhüte zurück, um die schwitzenden Stirnen zu kühlen. Untereinander stachelten sich die Bauern gegenseitig auf. Jeder wollte die anderen übertrumpfen. Sie schafften immer größere Landmaschinen an und kauften das Land der kleinen Bauern auf. Bewundernd sprachen sie über ihre ausgewanderten Vettern in Frankreich, Kanada oder Australien.

Rund zwölf kam Vater mit roten Backen nach Hause. Auf den Rand des Tisches legte er dann immer zwei Schokoladenriegel von Côte d’Or. Mutter war schon mit dem Kochen fertig, aber meinen Vater übermannte vor seinem Teller der Schlaf. Er sagte: »Es sieht vielleicht so aus, als würde ich schlafen, aber das ist nicht so. Und wenn es doch so sein sollte, liegt es daran, dass ich müde bin.«

Er streckte sich auf dem Sofa aus und erledigte seinen Mittagsschlaf.

»Das ist die einzige Freiheit, die sich Papa nimmt«, sagte Mutter sanftmütig.

Später am Mittag schaute Tante Maria vorbei, die Schwester meiner Mutter. Während sie Socken stopften oder Gardinen nähten, ging Maria auf das neueste Getratsche aus dem Dorf ein. Sie scheute auch nicht davor zurück, das Trinken meines Vaters zu kritisieren. Um vier gab es Kaffee und Weißbrot mit Ochsenwurst, Johannisbeermarmelade und Käse.

Drei

Ich muss noch erklären, wie es dieser alte Professor geschafft hat, mich um den Finger zu wickeln. Das alles kommt erst nach und nach zur Sprache, wie bei einem Psychiater. Zu Beginn schien alles recht klar: Ich wollte mein früheres Studium an der Universität wieder aufgreifen, da gab es noch eine Abschlussarbeit, die nie zu Ende geschrieben worden war. Stattdessen bin ich in einer Geschichte gelandet, die hundert Jahre umspannt und zwei Kontinente. Diese Geschichte beschreibt eine Welt, die schon lange verschwunden ist: ein bäuerliches Leben, das es so nicht mehr gibt, und eine Kolonialzeit, die man kaum noch begreifen kann. Dieses vergangene Jahrhundert möchte ich zum Leben erwecken; zwischendurch werde ich erzählen, was passiert, wenn jemand stirbt, was man unter Geistern versteht und auch wie Aberglauben und bestimmte Objekte und Formeln funktionieren, wie sie uns lenken können.

Wie können wir manche Dinge erklären? Wo wir doch davon ausgehen, dass wir rationale Wesen sind?

Wie etwa das, was heute Nacht geschah. Ich hätte erwartet, das Haus würde nachts endlich abkühlen, aber ich spürte, wie es von innen von einem wärmenden Licht erhellt wurde. Ich hatte einen Albtraum, in dem ich tot in einem Zimmer aufgebahrt lag. Ich richtete mich auf und betrachtete meinen Schatten an der Wand. Ich konnte ihn einfach abzeichnen. Im Mondlicht wurde ich mir selbst fremd, ein blaues Licht umspielte meinen Kopf, ich zeichnete eine schwarze Fassung von mir selbst.

Mehr als vierzig Jahre nach dem Studium hatte ich meinen Professor angerufen, ich erkannte seine Stimme sofort. Ein wenig heiser, mit winzigen westflämischen Nuancen im Tonfall. Ich bat darum, ihn besuchen zu dürfen.

»Ja, mach das, aber sage Remi zu mir«, antwortete er. »Komm vorbei.«

Seit Kurzem war er emeritiert und praktizierte nun als Psychiater.

Remis Gesicht war so gut wie nicht gealtert. Er lachte, merkte an, dass er mittlerweile auf einen Schnurrbart verzichten würde – einen Schnurrbart, den ich offensichtlich vergessen hatte. Wir tauschten kurz ein paar Erinnerungen aus. Er hatte meinen Werdegang verfolgt, da ich ihm jedes meiner Bücher geschickt hatte. Mittlerweile waren es schon zwölf, und im Gegenzug hatte er mir jedes Mal seine wissenschaftlichen Beiträge zukommen lassen.

»Warum schreibst du eigentlich?«, fragte Remi ohne Umschweife. »Was bedeutet dir die Kunst des Schreibens?«

Ich konnte ihm keine klare Antwort geben. Er sagte, er bewundere meine Leichtigkeit, fast schon Schalkhaftigkeit. Er benutzte damals schon dieses Wort, das mir noch unbekannt war, und das ich immer noch nicht richtig erklären kann: malice.

Meine früheren Begegnungen mit Remi waren durch das typische Verhältnis eines Studenten zu seinem Professor bestimmt gewesen. Mir schien er damals an der Universität, in seinen Seminaren, eher distanziert. Er sprach gleichmäßig, ohne in lange Monologe zu verfallen, und wir Studenten hingen an seinen Lippen. Ich traute mich kaum, ihn etwas zu fragen oder ihn überhaupt anzusprechen; und das ging nicht nur mir so. Sein Fachgebiet war die Anthropologie, in einer praxeologischen Ausrichtung, aufbauend oder inspiriert von Lévi-Strauss, Merleau-Ponty, Bourdieu – um nur die Wichtigsten zu nennen.

Seine Theorie war anspruchsvoll, hoch spezialisiert. Seine Ausführungen gelehrt und überwältigend. Er benutzte Wörter, die ich nie zuvor gehört hatte: umbilical cord, orifice, menarche, weaning. Dieses körperbezogene Vokabular vermischte er mit einer ausgeklügelten freudianischen Perspektive. Nichts war, was es schien, alles hatte oder bekam in seiner Welt eine tiefere Bedeutung. Ich ließ mich von seinen rätselhaften Texten mitreißen, ich verschlang sie geradezu. Sein anthropologischer Jargon, die Geschichten über Rituale und Mythen, die Objekte fremder Kulturen faszinierten mich. Seine Analysen waren ebenso tiefgehend wie undurchdringlich, rannen wie Sand durch die Finger. Ich brachte es kaum fertig, seine Theorie anderen zu erklären.

Aber er berichtete von den großen, tapferen Anthropologen, die sich an einem fernen Ort niederließen, in einer anderen Sprache lebten, um über diesen Umweg die eigenen Rätsel zu ergründen.

Ist das nicht das, was wir alle wollen?

4

Ich war zwölf. Onkel Marcel sagte zu mir: »Wir machen das jetzt einmal anders, ganz lässig. Mit malice.«

»Was bedeutet malice, Onkel?«

Onkel Marcel konnte meine Frage nur indirekt beantworten. Gelassenheit, Geduld, aber auch Schlitzohrigkeit, spielten eine wichtige Rolle. Mein Onkel wartete immer erst ab, beobachtete genau, wenn sein Bruder Omer, also mein Vater, schon längst laut und böse geflucht und mit seinem Holzschuh zugetreten hätte.

Dieses Gewitzte, Listige, Gerissene: das war malice. Es bedeutete, die passenden Werkzeuge richtig zu handhaben, die Kräfte zum eigenen Vorteil einzusetzen.

»Nimm die Kurve einmal so«, sagte Onkel Marcel, als er mir beibrachte, wie man pflügt. »Schau nach hinten, was siehst du dann?«

»Eine Linie«, sagte ich, das große Lenkrad des Traktors in den Händen.

»Ist die Linie gerade?«, fragte Marcel kritisch.

»Sie könnte gerader sein«, gab ich zur Antwort.

»Du koppelst zu schnell aus. Ich zeige dir, wie es geht.«

Ich schaute auf Marcels sehnige Oberarme. Er war aufgeschossener als mein Vater, aber Vater war stärker, waghalsiger, aber auch unbesonnener. Und gedankenloser.

Während Marcel ganz exakt pflügte, spielte ich mit einem lockeren Zahn. Plötzlich hatte ich den Zahn zwischen den Fingern und zeigte ihn voller Stolz meinem Onkel.

Marcel hielt den Traktor an. Feierlich stieg er mit mir vom Bock herunter und machte ein Kreuzzeichen, den Zahn in der Hand. Er warf ihn hinter sich und deklamierte: »Lieber Herrgott, schenk mir doch ein Knöchelchen, kriegst du von mir ein Kieselchen.«

»Konzentriere dich«, sagte Onkel Marcel. »Was spürst du?«

Sofort merkte ich, wie in meinem Mund ein neuer Zahn zu wachsen anfing.

»Na, siehst du«, sagte Marcel.

An den Sommerabenden fuhren wir zusammen nach Lampernisse, einem Dorf in der Nähe. Wir besaßen dort fette Weiden mit einjährigen Stieren und jungen Färsen. Die Tiere blieben dort von April bis November. Der Traktor schien auf der langen, höhergelegenen Straße zwischen den Wasserläufen zu schweben. An einem Graben, der mit rauschendem Schilf bewachsen war, hielten wir an und setzen uns.

»Jetzt müssen wir ganz still sein, Junge«, befahl Marcel.

»Ich sitze ganz still, Onkel.«

»Nein, du wackelst herum«, sagte Marcel.

Wir schauten vor uns hin. Auf einem Halm schaukelte eine Goldammer.

»Hör genau hin«, sagte mein Onkel.

»Was soll ich denn hören?«

»Den Lärm, den der Wind macht, Junge. Schau auf den Schilfsaum, die Rohrkolben, die Pechnelken. Im Sommer umschmeichelt der Wind dich mit einer wunderbaren Wärme, oder? Manchmal heult er auch. Und manchmal schlägt er uns wie eine Flagge gegen die Stirn.«

»Und klatscht uns feste ins Gesicht?«

»Eher wie ein weiches Tuch. Das ist der Geist, mein Junge.«

»Der Geist?«

»Hör genau hin, wie der Geist den Wind entfacht«, sagte Marcel.

»Das klingt fast wie Buschtrommeln.«

»Ja, wie in Afrika.«

Wir schwiegen. Ein Schwarm Kiebitze warf einen schwachen, flüchtigen Schatten auf uns.

»Schau, wie die Bäume durch den Westwind schief gewachsen sind«, sagte Marcel. »Eines Tages werden sie umstürzen.«

»Nein«, entgegnete ich lachend.

»Du hast recht, das passiert nicht so schnell, Junge«, sagte Marcel und lächelte mir zu. Und dann sagte er: »Ich bin selbst auch so ein schiefer Baum.«

Als Marcel vier war, bekam er Kinderlähmung und sein linkes Bein wuchs nicht mehr richtig. Es blieb kürzer als das andere und der Fuß war krumm, eingerollt, weshalb er hinkte und immer etwas wacklig stand. Er trug einen orthopädischen Schuh, in dem er seinen eingewickelten Klumpfuß versteckte. Wegen seiner Behinderung bezog er eine magere staatliche Unterstützung. Er pflegte über seinen Fuß zu sagen: »Darüber rede ich nicht und sogar das ist schon zu viel gesagt.«

Wenn ich zu Hause unbedacht auf die Behinderung zu sprechen kam, wies mein Vater mich direkt zurecht: »Du darfst dich nicht über das Unglück meines Bruders lustig machen.«

»Ich wollte mich nicht lustig machen«, sagte ich.

»Du darfst auch nicht darüber sprechen. Er will das nicht.«

Das stimmte. Marcel konnte es nicht ertragen. Übrigens, obwohl er hinkte, lief Marcel immer voran, denn er kannte alle Abkürzungen. Er erledige die Dinge eben mit malice, grummelte er. Niemand war so geschickt wie er. Auf dem Hof war er für alle Maurerarbeiten zuständig, für alles Elektrische und die Weidezäune. Er arbeitete genau und hatte ein gutes Auge. Im September nahm Marcel das Jagdgewehr mit auf den Bock des Traktors und erlegte Hasen und Rebhühner. Aber auf dem Hof kam er nicht in die Nähe der Kühe und Schweine, da ein Rempler ihn komplett aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Er konnte den Sturz dann oft nicht mehr mit einem Ausfallschritt abfangen.

Marcel war nicht verheiratet. Er wohnte ein Dorf weiter, in einem kleinen Haus in Kallebeke, zwischen Dahlien und Sträuchern mit verschiedenen Beeren. Auf dem Grundstück stand auch ein Gewächshaus mit Trauben. Er hielt Bienen und baute sogar Tabak an. Sechs Tage die Woche arbeitete Marcel bei meinem Vater. Am Samstagabend rechnete Mutter seine Arbeitsstunden auf einem Zettel zusammen. Sie ging zum Kaminsims, auf dessen rotem Marmor die ein- und ausgehenden Rechnungen lagen. Sein Lohn wurde mit dem Ertrag aus dem Verkauf von Butter und Eiern bezahlt.

Schweigend nahm Marcel das Geld in Empfang. Er verschob die Kupferbüchse auf dem Sims ein wenig nach rechts, dann wieder nach links. Langsam faltete er die Scheine zusammen und schob sie in die Hosentasche.

»Du hast doch was«, forschte meine Mutter nach.

Marcel zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht einfach, für den eigenen Bruder zu arbeiten.«

Als er das Zimmer verließ, ging Bertha ihm nach.

»Lassen wir es dabei«, sagte Marcel. »Und du darfst mir so auch nicht hinterherlaufen.«

Vier

Wie er den Zahn weggeworfen hat, das Gebet. Und wie sie dem Wind zugehört haben. Und diese Kupferbüchse. Das Schweigen. Kann ein Gegenstand eine Art Medium sein, ein Kanal, ein Fenster zu einer anderen Welt? Gibt es Menschen, die für diese Gegenstände empfänglich sind, von diesen sogar tief im Inneren verändert werden? Darüber grübelte ich nach.

Der alte Professor, jetzt Remi für mich, nahm eine kleine Figur vom Bücherregal. »Das hier, das ist der Gott der Yaka, Ndzaambi. Er ist eine große sphärische Macht – und hat nicht das Entfernteste mit dem zu tun, was die Katholiken unter Gott verstehen.«

5

Am Montagmorgen fuhr Onkel Marcel um halb zehn auf dem Fahrrad bei uns auf den Hof, er hatte seine blaugraue Stoffjacke an. Mein Vater runzelte die Stirn. Er selbst war schon seit Viertel nach sechs auf den Beinen und arbeitete im Stall. Marcel stampfte mit seinem Klumpfuß einen Rhythmus und pfiff unbeschwert eine Melodie. Er pfriemelte seine Ärmel zurecht. Gestern war er bei einem Hahnenkampf gewesen, im französischen Oost-Cappel. Er hatte einen toten Hahn mit nach Hause gebracht.

»Einer muss halt dran glauben«, sagte Marcel dann immer ohne Mitleid. Für meiner Mutter hatte er einen Lilienstrauß aus seinem Garten dabei, für mich einen Topf mit Honig. Sein unverheirateter Cousin Urbain, ein Imker, hatte ihm beigebracht, wie man Bienen hielt. Von ihm wusste er auch, wie man Trauben anbaute. Marcel liebte das Stutzen und Ausdünnen der Weinstöcke. Immer mit dem letzten Austrieb weiterarbeiten. Die anderen werden radikal abgeschnitten. Schnapp. Als wären sie die unverheirateten, kinderlosen Männer in der Verwandtschaft, die auch irgendwie weggeschnittene Seitentriebe waren. Schnapp.

»Heute müssen wir pflügen«, sagte Vater.

»Ach ja, das machen wir schon noch«, sagte Marcel. »Aber nicht, wenn es regnet.«

»Heute muss gepflügt werden«, betonte Vater.

»Ach ja«, sagte Marcel nur. Minutenlang starrte er in den Himmel. In der Werkstatt montierte er erst einen neuen Stiel an einen Spaten. Er pfiff schon wieder dieses Liedchen, das einen wahnsinnig machte. Er hatte es gestern in Frankreich aufgeschnappt, und es klang wie der Gesang einer hysterischen Nachtigall. Fast flüsternd stimmte er die Melodie an. Er schien die einzelnen Töne auszukosten, zeigte ein breites Lächeln. Dann spitzte er die Lippen und zerschnitt mit seinem grellen Pfeifen den Morgen. Er schaute noch einmal zum Himmel. Dort war nur eine verirrte Möwe zu sehen.

Erst dann war er bereit, den Traktor zu besteigen.

»Marcel ist heute ein wahrer Sonnenschein«, sagte Mutter. »Er lässt mal wieder niemanden an sich ran.«

»Na dann«, antwortete Marcel nur.

»Also, allez«, sagte er, und das war es dann für den Rest der Woche. Nur mit den Tieren sprach er noch: »Auf geht’s, vorwärts.«

Nur wenn es keinen anderen Ausweg gab, bequemte er sich noch zu einem »Was willst du?« oder einem »Ach so«.

Aber mit mir schwatzte er gerne, unbefangen, vielleicht weil ich mich auch so gerne mit ihm unterhielt. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, nahm mich Marcel auf dem Traktor mit. Wir fuhren aufs Feld und mitten auf dem Acker stellte Marcel den Motor aus.

»Hör mal«, sagte Onkel Marcel. »Hör genau hin, was ich heute hier entdeckt habe.«

Ich spitzte die Ohren.

»Hast du was gehört?«, fragte Marcel.

»Ich dachte kurz, dass ich etwas höre«, sagte ich. »Was war es denn?«

Marcel schwieg.

»Ja, jetzt habe ich es gehört«, bestätigte ich. Ein dumpfes Schlagen. Aber auch eine Art Brummen. Als wäre tief in der Erde eine Maschine in Betrieb.

Marcel sagte: »Als würde sich eine Glasscheibe in der Fensternut bewegen. Wenn im Krieg ein Flugzeug über uns hinwegflog, hörte sich das so an. Wir schauten dann auf die vibrierende Fensterscheibe und mussten automatisch mitzittern. Das ging bis ins Mark und erst danach kam alles wieder zur Ruhe.«

»Das ist ein merkwürdiges Gefühl«, sagte ich.

»Es sind die Schläge der Trommel.«

Jetzt hörte ich sie auch: die Trommel.

»Hörst du es?«, fragte Marcel.

»Ja, ein weit entferntes Trommeln.«

»Du wirst noch alles Mögliche hören. Aber zum Glück hast du ein starkes Kreuz«, und vorsichtig zog er meine zarten Kinderschultern nach hinten.

»Wir versuchen es genauso noch einmal, oder?« Marcel zeigte auf die Furche hinter uns. Einwandfrei und kerzengerade, als ob sie mit einem Lineal gezogen worden wäre. So brachte mir Marcel bei, perfekt mit dem Pflug umzugehen.

Während ich lenkte, erzählte er von früher: Als Baby litt ich immer wieder unter Nasenbluten, und Marcel hatte vorgeschlagen, mich zu den Patern in Westvleteren mitzunehmen. Die Pater wüssten sicher, wie man das Nasenbluten mit einem Gebet vertreiben könnte.

»Das kommt nicht in Frage«, hatte meine Mutter abgelehnt. »Das Kind ist noch zu klein für so eine weite Fahrt.«

Marcel brach dann mit einigen Kleidungsstücken von mir auf. Unterwegs begegnete er einer Frau, die beschwörend auf ihn einredete und ihm Angst machte: »Pass auf, dass du dort auch ankommst.«

»Wie meinst du das?«, fragte Marcel sie.

»Nun, Westvleteren ist noch weit weg«, antwortete die Frau, plötzlich im normalen Tonfall.

Seit dieser Begegnung wog die Kinderkleidung wie Blei. Marcel kam auf dem Fahrrad kaum noch voran. Viel später als geplant und erschöpft traf er in Westvleteren ein, wo ein Pater die Kleidung segnete. Auf dem Nachhauseweg traf er wieder auf die Frau.

»Hast du dein Ziel doch noch erreicht?« Dabei stieß sie Marcel heimtückisch an die Schulter, wodurch sein Fahrrad mit viel Lärm umkippte. Marcel verlor das Gleichgewicht und stürzte so unglücklich, dass er sich die Schulter brach. Aber seitdem hatte ich, der kleine Remi, nie wieder Nasenbluten. Das hat mir Marcel so erzählt. Mich beeindruckte die Geschichte sehr, vor allem das Segnen, eine Art Beschwören meiner Kinderkleidung.

Am Abend erzählte ich alles meinem Vater. Er schaute mich schweigend an. Er drehte sich eine Zigarette aus Semois-Tabak und leckte nachdenklich am Papier. »Soweit ich weiß«, sagte er, »hat sich Marcel niemals die Schulter gebrochen.«

Meine Mutter hatte die Szene beobachtet. »Komm mal zu mir, Junge.« Sie wollte wissen, ob ich gerne bei Onkel Marcel wäre.

»Er bringt mir bei, wie man pflügt.«

Mutter schaute zu Vater. Der zuckte nur mit den Schultern und war eigentlich schon unterwegs zum Stall, in dem eine Kuh störrisch muhte. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Bist du auch gerne mit deinem Vater unterwegs?«, fragte sie.

»Natürlich, das auch«, sagte ich schnell.

»Morgen darfst du mit ihm nach Brügge.«

Dreimal im Jahr fuhr mein Vater nach Brügge und bezahlte dort die Pacht an einen alten Chorherrn in der Baron Ruzettelaan. Wir betraten das Haus über den Dienstboteneingang, durch eine Kellertür. Oben wartete der Chorherr auf uns. Mit zittriger Stimme nannte er meinen Vater »mon cher ami Omer« und beglückwünschte ihn zu seinem gut geratenen Sohn. Auf dem Nachhauseweg erzählte mein Vater, dass der alte Herr immer Französisch mit ihm sprach, aber mit seinem Dienstmädchen unterhielt er sich auf Flämisch.

Wir kamen an den Soldatenfriedhöfen vorbei. »Da liegen gefallene englische Soldaten«, sagte Vater.

Als wir den Hof erreichten, standen Marcel und Mutter draußen und beobachteten eine junge schwarze Promenadenmischung. Vermutlich hatte der Hund sich verlaufen oder war von einem Hof auf der französischen Seite fortgejagt worden. Er hatte einen dünnen Leib und ein freches schmales Hinterteil. Geschmeidig und gut gelaunt erkundete er alles auf großen, langen Pfoten. Allerdings attackierte Mirza, unser eigener Hund, ihn heftig.

Vater versuchte den Streuner zu verscheuchen, aber der kam immer wieder zurück. Verspielt kniff der Eindringling in die Hände von Marcel, dabei wedelte er fröhlich mit dem Schwanz. In der Nacht suchte er bei uns etwas zu fressen. Erst blaffte Mirza den ungebetenen Gast noch an, biss sogar zu, aber der junge Hund versuchte trotzdem, mit ihm zu spielen und nach zwei Tagen hatte er es tatsächlich geschafft, sich in Mirzas Hütte zu zwängen.

»Jetzt besteht kein Zweifel mehr, der schwarze Hund muss hierbleiben«, beschloss Marcel.

»Warum denn?«, fragte mein Vater schlecht gelaunt.

Onkel Marcel schwieg. Neugierig beobachtete er das Tier. Es schien einfach so zu sein, sagte Marcel, dass der Hund seine Wahl getroffen habe.

Wenig später wurde Mirza von Wilderen vergiftet. Wahrscheinlich war er an Kaninchenfallen gegangen, denn ich fand ein angefressenes Brot, das mit einer giftigen blauen Paste bestrichen war. Zwei Tage lang lag Mirza in der Ecke und winselte, bevor er starb. Danach durfte der Streuner bei uns bleiben und Vater gab ihm einen Namen: Baron.

»Weshalb Baron?«, fragte Mutter.

»Weil er so hochnäsig gucken kann.« Vater mischte Futter zusammen. Für die Schweine machte er das selbst, er nahm dafür Bruchmais, Kleie, Knochenschrot und Fischöl. Manchmal gab er noch gemahlene Fischgräten hinzu, Leinsamen, Kalk und eine geheime Zutat von einem Agronomen aus Nieuwpoort. Es stank zum Himmel.

Meine Eltern arbeiteten hart und machten gutes Geld. Der landwirtschaftliche Betrieb wuchs stetig. Sie investierten in moderne Melkmaschinen und fließendes Wasser im Stall. Sie bauten Weizen, Flachs und Kartoffeln an, außerdem Zucker- und Futterrüben. Marcel war vor allem für die Feldarbeit zuständig.

Wenn meine Geschwister und ich lernten, schaute uns Mutter über die Schulter und las in den Schulbüchern. Der schwarze Hund, Baron, lag dann zu meinen Füßen. Als meine Mutter einmal die Todesanzeigen in der Zeitung studierte, schaute sie mich plötzlich an. »Soll ich dir erzählen, warum wir dich Remi genannt haben?«

Ich nickte neugierig.

»Ich hatte einen Bruder mit diesem Namen«, sagte sie. »Er war mein Lieblingsbruder. Ihm gehörte ein prächtiges Gehöft in der Normandie, aber als er uns besuchte, stürzte er plötzlich bei einem Fahrradausflug auf dem Deich. Ein Jahr später ist er an einem Tumor gestorben, er war gerade mal zweiunddreißig.«

»Dann habe ich den Namen eines Toten?«, fragte ich beunruhigt.

»Ja, aber ja doch«, flüsterte sie schnell. »In unserer Familie geben wir die Vornamen seit jeher an die Kinder weiter.«

Ich fand diesen Gedanken schrecklich.

Sie sagte: »Das gilt auch für mich. Vor mir gab es schon ein Kind, das Bertha hieß. Es hat nur ein Jahr gelebt.«

Mir war, als hätte ich plötzlich einen toten Zwillingsbruder bekommen. Ich sagte ihr, dass mir das Angst machen würde.

»Nein, das muss es nicht«, versuchte Mutter mich zu beruhigen.

Ich ging zu meinem Vater und fragte ihn: »Warum benutzen wir die Vornamen in unserer Familie immer wieder?«

»Weil Vornamen unverwüstlich sind, Remi.«

Was Mutter mir aber vor allem sagen wollte: Sie vermisste ihre Verwandten, die weit weg in der Normandie lebten. Vielleicht dachte sie auch: Wir geben die Namen weiter, damit die Toten leichter aus unserem Leben treten können.

»Schau mal hier«, sagte Mutter und redete über etwas anderes, das sie gelesen hatte. »Stijn Streuvels steht in der Zeitung. Sie sagen, er sei der bedeutendste Schriftsteller unseres Volkes. Man hat ihm wieder einen Staatspreis verliehen, weil er so schön schreiben kann.«

»Weil er über die Bauern schreibt«, ergänzte Vater.

Meine große Schwester und mein Bruder schoben ihre Hausaufgaben zur Seite und fingen mit einem Damespiel an. Ich schaute durchs Fenster hinaus, auf die flache, leere Welt, in der wir lebten. Nirgendwo konnte man einen anderen Bauernhof entdecken. Überall Weiden und Felder, säuselndes Schilf, radikal gekappte Kopfweiden. Im nassen Herbst verwandelte sich das Gelände in eine Schlammgrube, man kam dann nur noch mit Holzschuhen voran.

Ich ging nach draußen. Wedelnd begleitete mich Baron, mit weit aufgesperrtem Maul. Auf seinem ulkigen Hundekopf zeigte sich erstes graues, sprödes Haar, auch unter seiner Schnauze und über den Augen. Er sah dadurch ein wenig teuflisch aus. Wenn er gähnte, dann brummte oder winselte er beschwerlich. Dann schien er fast wie ein Mensch zu sprechen. Er klemmte vorsichtig meine Hand in seinem großen Maul ein und kniff mich behutsam.

Genau wie der Hund musste ich in der Abendluft schnaufen. Gemeinsam atmeten wir langsam ein und aus.

Wir spürten den kalten, feuchten Herbst. Das war unser Land, all die sumpfigen Felder, die verrottenden Blätter, der dampfende Mist. Im Stall sog sich das Stroh mit der Gülle voll. Ich blickte dem Hund ins schwarze Gesicht. Ungeschickt, aber freundschaftlich, sprang Baron an mir hoch, die langen Pfoten waren ihm immer im Weg. Mit offenem Maul hechelte er in alle Richtungen, zitternd und hungrig.

Fünf

Kurz nachdem ich meine Bekanntschaft mit dem Professor aufgefrischt hatte, besuchte ich in Brüssel eine Lesung des englisch-nigerianischen Autors Ben Okri. Ich musste an Remis Seminare denken: Beide hatten beim Reden keine Angst vor großen Ideen. Ben Okri hatte große Papierbogen dabei, voll mit handschriftlichen, wilden Überlegungen und fast fiebriger Poesie. In einem undurchdringlichen, literarisch hoch geladenen Wortstrom sprach der Autor über die kreative Kraft des Universums. Die Künstler seien darin die Priester der Nation, die Meisterträumer ihrer Zeit. Er redete über Mystik, die Götter, Weltbürgerschaft und vor allem darüber, Kind zu sein.

Okri nahm ein anderes Blatt in die Hand und führte aus: Im Kind sei noch präsent, was beinah vergessen worden sei, denn nichts in ihm gehe verloren. Das Kind sei ein Versprechen und erst viel später würden wir wissen, ob dieses Versprechen gehalten würde. Währenddessen nahm Okri das nächste Blatt und verkündete sehr bestimmt, dass das Kind ist, was es ist, aber es würde zu dem werden, was es sein könnte.

Denn das Kind sei immer ein Bild von Zeit und Ort.

Das Kind sei immer die Quelle.

Das Leben würde über uns ein Urteil fällen, wenn wir auf uns selbst als Kind zurückschauten, beendete er seinen Wortund Gedankenstrom nach zwei Stunden.

In Okris Buch A time for new dreams las ich mehr darüber. Das Kind als Geheimnis und als der Embryo der Menschheit, als Rätsel zwischen Unbeflecktheit und Vorbestimmung. Ben Okri zitierte Hemingway: Reiche Männer und Frauen weinten nachts auf ihren Jachten, weil sie nicht mehr so rein schlafen könnten wie in ihrer Kinderzeit.

»Childhood is the inheritor of concentrated fictions invisible«, hat Okri geschrieben.

Wer wir letztendlich sind, bezeichnet Okri als Glücksspiel, darum ist das Kind »the luck of the draw, an unsuspected gamble, an obscure mathematics of destiny or karma; an unspecified punishment or an unnamed blessing – for deserving the parents you have, the family you’re stuck with, or the life you were born into«.

6

Vom Buttergeld aus der Kupferbüchse zahlte Mutter Marcel den Wochenlohn aus. Überall in den Wohnzimmern in der Westhoek, ja überall in Westflandern, standen ähnliche Gegenstände, aus gelbem oder rotem Kupfer. Man hatte sie aus den Granaten des Ersten Weltkriegs getrieben. Eifrig wurden sie poliert, damit das Kupfer wie Gold funkelte. Vermutlich war diese Fleißarbeit auch eine Methode, die vielen Toten des Krieges und das große Unrecht, das damit verbunden war, zu bannen.

Als Vater und Marcel die alte Scheune abrissen, fuhren sie das meterhoch geschichtete Stroh mit der Schubkarre hinaus und verbrannten es. Auf der untersten Lage Stroh hätten noch englische und belgische Soldaten geschlafen, sagte Onkel Marcel. In der Scheune hatten sie sich ausgeruht, gewartet, Karten gespielt, Briefe nach Hause geschrieben. Marcel war damals noch ein kleiner Junge; er war vor allem darauf aus, von den Soldaten Zigaretten und Schokolade geschenkt zu bekommen. Wie er sich erinnerte, waren einige der Soldaten schrecklich entstellt.

Das Feuer loderte hoch auf. Das Stroh war voller Rattenkot, aber es befanden sich auch noch Schießpulver und alte Munition darin, die mit einem Knall explodierten. Auf den Feldern ringsum flogen die Tauben auf.

Am Abend fuhren Marcel und ich nach Lampernisse, um eine kranke Färse abzuholen. Unterwegs hielten wir an.

»Hör, wie der Wind heult«, sagte Onkel Marcel.

»Ich kann nichts hören«, sagte ich.

»Dann hör genau hin«, sagte Marcel, und ich hörte den Wind.

»Ja, du hast recht.«

»Im ersten Kriegsjahr«, fing Marcel an, »traf eine deutsche Granate die Dorfkirche von Lampernisse. Fünfundvierzig Soldaten, die sich dort versteckten, starben. Ein Jahr später wurde die Kirche von den Belgiern vollständig in die Luft gejagt. Man baute an ihrer Stelle Baracken, mit einem behelfsmäßigen Lazarett für Notoperationen.«

Marcel war damals in meinem Alter. Aus Lettenburg wurden Verletzte von der Front herangebracht. Mit flachen Booten transportierte man sie über das Wasser, durch Wiesen, um jedes Rütteln zu vermeiden. Marcel hat die Boote nie mit eigenen Augen gesehen, aber er hat das Weinen und Winseln von den Wiesen her gehört.

»War Vater dann bei dir?«, fragte ich.

»Nein, Remi, denn er ist ja um einiges jünger als ich«, sagte Onkel Marcel. »Nach dem Krieg lagen alle Bauernhöfe in Schutt und Asche, die Felder waren verwüstet. Noch heute machen wir Bauern im Grunde nichts anderes, als diese Schäden zu reparieren. Was noch nicht erledigt ist, muss erledigt werden.«

»Wann wird die Arbeit fertig sein, Onkel?«

»Das wissen wir erst, wenn wir fertig sind«, sagte Marcel. Wir fuhren weiter. Auch an den folgenden Tagen, während die Scheune Stein für Stein abgerissen wurde, erzählte Marcel vom Krieg. Unser Hof lag damals hinter der Frontlinie und Soldaten aus Vladslo und Reningelst ruhten sich hier aus. Die Soldaten sprachen ohne Scheu von den Leichen, den Ratten, ihren Offizieren, von denen sie angeschnauzt wurden.

»Einer der Soldaten stotterte«, sagte Marcel. »Wenn er etwas erzählten wollte, fing er an zu stammeln, bloß beim Singen nicht. Wenn ich mich vor ihn hinstellte und so tat, als würde ich an einem unsichtbaren Knopf drehen, stotterte er wieder. Das war natürlich gemein von mir.«

Marcel machte den Soldaten nach. Es klang wie ein Fernschreiber. Tüt tüttüt tüüt – ein Code aus kurzen und langen Zeichen. Wie der Herzschlag eines Hasen, musste ich denken.

»Aber warum stotterte der Soldat manchmal und manchmal nicht?«, wollte ich wissen.

»Erst dachte ich, er würde uns etwas vormachen. Aber das war nicht so. Es lag daran, dass er zu viel gesehen hatte«, antwortete Marcel.

»Wollte er denn stottern?«

»Vielleicht stotterte er tatsächlich, um nicht alles erzählen zu müssen. Manchmal schweigen wir auch, damit wir nichts sagen müssen.«

Spät am Abend, kurz bevor die Sonne unterging, schlenderte ich zur Scheune, um zu sehen, wie die Abbrucharbeiten vorankamen. Ich kletterte auf die letzte noch stehende Mauer und schaute herab. In der Dämmerung spielten drei Hasen auf einem Stoppelfeld; eine Hasenmutter und zwei Junge, die übereinander purzelten.

Zwei Tage später stieg ich in den Vorratskeller hinunter und der Schreck fuhr mir in die Glieder. Eine kleine Kinderleiche, dachte ich zuerst. Auge in Auge stand ich dem Tod gegenüber, und dieser hatte die Gestalt eines kleinen, enthäuteten, bleichen, gestreckten Körpers. Zerbrechlich lag er da, mit nackten rosa Muskeln, die ein kaltes blaues Licht zu verströmen schienen.

Es war ein Hase, den Onkel Marcel geschossen hatte.

Nachts fand ich keine Ruhe. Ein Rabe krächzte rau im Kirschbaum. Ein menschlicher Schrei. Etwas veränderte sich, spürte ich. Plötzlich war da etwas in mir, das sich offenbaren wollte. Eine Stimme wiederholte die Worte meines Onkels: »Was noch nicht erledigt ist, muss erledigt werden.«

»Erledigt?«, fragte ich schläfrig.

»Zu einem guten Ende gebracht werden«, flüsterte der Geist beruhigend.

»Wer hat da gesprochen?«, fragte ich, hellwach jetzt. »Das macht mir Angst«, sagte ich in die Stille hinein.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, antwortete der Geist. Oder war es ein Genius?

»Ich habe aber Angst«, flüsterte ich. »Ich habe aber große Angst.«

»In jeder Familie verbirgt sich etwas«, sagte die Stimme.

Das war kein Albtraum. Jemand sprach zu mir, mit eindrücklichen Worten, die sich in mir einnisteten.