Der Milchhof – Das Flüstern der Gezeiten - Regine Kölpin - E-Book

Der Milchhof – Das Flüstern der Gezeiten E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

"Unsere Milch ist weißes Gold – machen wir das Beste daraus!" Dramatisch, atmosphärisch, authentisch: Der zweite Band der neuen gefühlvollen Nordsee-Familiensaga der SPIEGEL-Bestsellerautorin Regine Kölpin. Friesische Wehde 1920: Nach den Kriegsjahren stehen Lina und ihre Tochter Alea vor der Herausforderung, die Molkerei wieder in Schwung zu bringen. Doch die finanzielle Situation des Milchhofs verschlechtert sich durch die zunehmende Inflation, und die inzwischen verwitwete Lina steht bald vor einer schweren Entscheidung: Entweder sie gibt den Hof auf oder sie heiratet den zwanzig Jahre älteren Großgrundbesitzer Wilhelm, obwohl sie Derk noch immer liebt und sie nun endlich zusammen sein könnten. Lina entscheidet sich schweren Herzens für die Ehe mit Wilhelm, denn damit ist das Überleben der Molkerei vorerst gesichert. Doch sie zahlt einen hohen Preis für ihre Entscheidung, denn Derk verlässt enttäuscht den Milchhof. Als dann auch noch Wilhelm stirbt, es zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen Alea und ihrer Tochter Enna kommt, und die Frauen unter den erstarkenden Nationalsozialisten die Molkerei nicht mehr alleine führen dürfen, geht es für den Milchhof bald wieder ums Überleben, und den drei Frauen wird einmal mehr klar: Wenn sie nicht zusammenhalten, werden sie untergehen. Vor der atmosphärischen Kulisse einer privaten Molkerei an der Nordseeküste entfalten sich in der »Milchhof«-Saga die Schicksale von drei starken Frauen aus drei Generationen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

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Das Projekt wurde gefördert mit dem Stipendium Neustart Kultur.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Dieser Roman wurde vermittelt durch die

Literaturagentur Lesen & Hören, Anna Mechler.

Lektorat: Christine Neumann

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: Arcangel/Rekha Arcangel und Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Familie Bleeker

Mitarbeiter und andere

Teil 1

1920–1924

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil 2

1933–1939

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Zum Roman

Literaturnachweise

Internetseiten

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Verzeichnis der wichtigsten Personen

Familie Bleeker

Lina de Vries, verw. Bleeker, geb. Harms – Leiterin der Molkerei Bleeker

Wilhelm de Vries – Linas zweiter Ehemann

Wilko Bleeker – erstgeborener Sohn von Lina und Thees

Ludger Bleeker – zweiter Sohn von Lina und Thees

Alea Bleeker – Tochter von Lina und Thees

Tammo Neunaber – Aleas späterer Ehemann

Enna Neunaber – Aleas und Tammos Tochter

Mitarbeiter und andere

Derk Voigt – Obermeier auf dem Milchhof

Talke Voigt – Derks Ehefrau

Antke Bleeker, geb. Voigt – Talkes und Derks Tochter

Karl Doden – Linas Widersacher

Mathilde – ehemalige große Magd, lebt jetzt in den USA

Otto von Webersbach – Derks heimlicher Sohn

Adelheid Blankenburg – Mädchen aus dem Ruhrgebiet, das Lina aufgenommen hat

Teil 1

1920–1924

Kapitel 1

Januar 1920

Winzige Eiskristalle zierten das Schilfgras am Wegrand, das sich aber nur verhalten im seichten Wind wiegte, als fürchtete es, abzuknicken. Lina Bleeker kam es vor, als würde sich selbst die Natur noch vorsichtig zeigen, weil sie dem Frieden, der seit zwei Jahren wieder in Europa herrschte, nicht traute. Denn es war kein wirklicher Frieden. Eher ein Konstrukt, das auf maroden Pfählen gebaut war und bei der kleinsten Erschütterung zusammenzubrechen drohte.

Immerhin hatten sie hier in der Friesischen Wehde diesen schlimmen Krieg einigermaßen schadlos überstanden. Jedenfalls, was die Gebäude anging. Viele Familien jedoch waren auseinandergerissen worden, hatten Väter und Söhne verloren, und diese Lücken konnten durch nichts gefüllt werden.

Es würde Zeit brauchen, bis sich die Wunden verschlossen, auch wenn Narben blieben, die vermutlich noch oft aufplatzten und erneut bluteten.

Wie lange würde es dauern, bis die Menschen wieder Vertrauen zum Leben bekamen?

Lina seufzte. Sie hoffte trotz allem auf Besserung. Gleichgültig, welche Verträge die anderen Staaten mit dem verhassten Deutschland machten und wie sehr sie das Land nach Kriegsende knebelten. Es musste doch wieder bergauf gehen! Gestern, am 10. Januar, war der Versailler Vertrag mit allen Konsequenzen in Kraft getreten. Was auf sie zukam, hatten sie schon gewusst, weil die Absegnung lange zuvor erfolgt war. Doch nun war es beschlossen, und sie mussten damit zurechtkommen.

Die meisten Deutschen lehnten den Vertrag ab, denn die Bevölkerung durfte nun zusehen, wie sie mit all den Knebeln und Bestimmungen zurechtkam. Das betraf auch den Milchhof Bleeker.

Hinzu kam die Schmach, die viele Deutsche angesichts der Forderungen empfanden, selbst liberale Politiker hießen das nicht gut. Die extremeren aber nutzten alles für sich und waren sich einig, dass die Kommunisten und Staatsfeinde sowie die Juden ihre Finger im Spiel gehabt hatten – einzig, um Deutschland zu schaden. Diese Dolchstoßlegende, von der Obersten Heeresleitung in die Welt gesetzt, machte immer schneller die Runde, und sie wurde immer stärker ausgeschmückt, sodass viele Menschen daran glaubten.

Lina sah das alles skeptisch, mochte so nicht urteilen, und eigentlich interessierte sie auch nur, welche Konsequenzen auf den Milchhof zukamen.

»Wir schaffen auch das und lassen uns nicht unterkriegen«, flüsterte sie. »Ich habe noch nie aufgegeben. Noch nie!« Lina wickelte sich den Schal fester um den Kopf, denn die Luft war zum Schneiden kalt. Aber sie hatte rausgemusst, um nachzudenken und den Kopf frei zu bekommen. Frische Luft und tief durchatmen halfen immer.

Die Marsch erstreckte sich vor Lina, sie konnte allerdings den Geestrücken der Friesischen Wehde schon gut erkennen. So weit würde sie nicht laufen, das kurze Stück reichte, damit sie wieder klar denken konnte. Es waren ja nicht nur die Sorgen um den Betrieb, die Lina zusetzten.

Auch ihre Söhne Wilko und Ludger machten ihr großen Kummer. Wilko, inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt, war in den letzten Kriegstagen nach Hause gekommen – und hatte sein rechtes Bein verloren. Sein bester Freund war tot, direkt neben ihm von einem Geschoss zerfetzt. Mehr wusste Lina nicht. Nur dass Wilko Nacht für Nacht von seinen Erinnerungen aufgefressen wurde. Wilde Tiere, die als Gedanken getarnt über ihn herfielen und ihn quälten.

Und Ludger? Ihr kleiner Ludger, der doch eigentlich Bankier hatte werden wollen, bevor ihm der Kriegswahnsinn das Gehirn vollkommen vernebelt und schließlich verschluckt hatte? Ludger lebte seit der Rückkehr von der Westfront in seiner eigenen Welt. Er lieferte sich nachts einen choralen Wettstreit im Gebrüll mit dem älteren Bruder. Äußerlich unverletzt, aber die Seele offenbar mehrfach durchlöchert. Und sie als Mutter konnte sich das nur hilflos mit ansehen. Dieser Krieg hatte nicht nur viele Menschenleben gekostet, auch die eigentlich Unversehrten waren zerstört.

Wäre Derk Voigt, ihr alter Freund und Obermeier auf dem Milchhof Bleeker, nicht wie eh und je ein Fels in der Brandung und stets an ihrer Seite, zurück nach Ellenserdammersiel gekommen, wäre Lina inzwischen vollkommen verzweifelt. Seine Ruhe und sein unerschütterlicher Glauben an sie und den Milchhof gaben ihr Kraft.

Lina ließ ihre Fingerspitzen über einen der Halme streifen. Die Ähre war braun, der Stängel vergilbt. Doch sie hatten den Winter fast überstanden.

Vorsichtig strich Lina die Eiskristalle von der Spitze ab. Erst war es kalt, doch dann schmolz der Reif, und sie spürte die Nässe auf ihrer Haut.

Lina huschte unwillkürlich ein Lächeln übers Gesicht. Auch ihre Probleme würden verschwinden. Genau wie das Eis zu Wasser wurde, wenn nur die Sonne länger darauf schien.

»Jetzt kann ich wieder zur Molkerei zurückgehen«, sagte Lina zu sich. »Jetzt habe ich wieder Kraft und Mut. Was doch das Schmelzen eines einzigen Kristalls vermag.«

Sie wandte sich um und lief zum Milchhof, wo sie von den vertrauten Geräuschen und Gerüchen empfangen wurde, die sie so sehr liebte.

Es war das Scheppern der Milchkannen, das Klirren der Glasflaschen, das beruhigende Geräusch der Käseharfe und das ewige Brummen der Dampfmaschine, von der sie sich trotz der Elektrizität nicht hatte trennen mögen. Diese Maschine gab ihr die nötige Sicherheit. Gleichgültig, wie sich die Versorgungslage auch darstellen mochte: Sie hatten Strom. Sämtliche Geräusche wurden umhüllt vom süßlichen Duft der Milch, den Lina von Kindesbeinen an so sehr genoss. Allein wenn sie sich vorstellte, wie sich das sämige Weiß drehte, wenn sie zu rühren begann. Welche Köstlichkeiten sie aus der Milch herstellen konnte.

Aus der Käsefertigung kam Lina ihre Tochter Alea entgegen.

»Moin!« Sie war stets früh auf den Beinen, und beide hatten sich heute noch nicht gesehen.

»Moin, min Söten«, begrüßte Lina ihr Kind. »Gibt es Neuigkeiten?«

Alea nickte. »Erzähl ich dir gleich.« Sie wandte den Kopf und entdeckte eine der Molkereigehilfinnen, die mit den Klotschen aus der Fertigungshalle über den Hof lief. »Ich muss nur kurz …« Alea rannte auf das Mädchen zu und maßregelte sie. Hygiene war in einer Molkerei das höchste Gebot! Darauf mussten sie achten, auch wenn immer wieder versucht wurde, nachlässig damit umzugehen, weil Sauberkeit unbequem war und Mehrarbeit bedeutete.

Linas Tochter zählte inzwischen dreiundzwanzig Lenze und war ihrer Mutter zu einer echten Unterstützung im Betrieb geworden. Ohne Alea wären die Kriegsjahre für Lina zu einer noch schlimmeren Belastungsprobe geworden, zumal ihr Derks Frau Talke und ihr Mitstreiter gegen den Milchhof, der Sozialist Karl Doden, das Leben unendlich schwer gemacht hatten. Das war nun hoffentlich vorbei, denn Karl war gleich nach dem Krieg ohne Abschied bei Nacht und Nebel verschwunden. Lina müsste lügen, wenn sie nicht froh darüber wäre, und sie hoffte, dass er nie wiederauftauchte.

Und Talke?

Talke hatte in all den Jahren eine Wendung gemacht, die Lina lange nicht durchschaut hatte. Geheiratet hatte Derk eine graue Maus, bei der er Zuflucht und Ruhe hatte finden wollen. Aber das Schicksal konnte grausam sein. Erst war ihr Sohn Onno bei der Geburt gestorben, weil die Hebamme nicht ihr, sondern Linda bei deren schwerer Geburt beigestanden hatte. Und dann musste Talke feststellen, dass sie es nie schaffen würde, das Herz ihres Mannes wirklich zu gewinnen, denn es war an sie, Lina Bleeker, vergeben.

Sie fand es erschreckend, zu welchen Taten der Hass einen Menschen treiben konnte. Erst waren es nur kleine Intrigen gegen Lina und die Molkerei gewesen, zu denen Talke auch noch von Linas verstorbenem Mann Thees verleitet worden war. Doch als das nichts fruchtete und ihr deutlich wurde, dass sie auf ganzer Linie verloren hatte, war sie zu einer Frau geworden, die nur noch ihre Vorteile sah und ihre Zufriedenheit daran ausmachte, dass es Lina schlecht ging. Dafür tat Talke alles und scheute vor nichts zurück. Nicht einmal vor der eigenen Erniedrigung.

So manches Mal hatte Lina deshalb ein schlechtes Gewissen. Sie trug an dieser Verwandlung große Mitschuld, weil sie und Derk …

Aber ändern konnte sie auch nichts mehr an der Situation. Gegen große Gefühle herrschte eben große Machtlosigkeit.

»Bitte achte zukünftig darauf, sonst wird es zu Problemen mit uns kommen«, durchdrang nun Aleas Stimme Linas finstere Gedanken und holte sie in die Wirklichkeit zurück.

Lina beobachtete ihre Tochter, wie sie dem Mädchen zwar umsichtig, aber zugleich mit der nötigen Strenge erklärte, warum sie die Klotschen draußen nicht tragen durfte und sie aus Hygienegründen in der Fertigung zu bleiben hatten.

Lina lächelte. Alea war zu einer hübschen jungen Frau herangereift, sicher würden sich bald viele Verehrer einfinden, die um sie freiten. Es gab nach den schlimmen Verlusten im Krieg einen Frauenüberschuss, aber keiner der Männer wäre so blind, als dass Alea keinen bleibenden Eindruck hinterließ.

Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, und sie trug stets ein freundliches Lächeln auf ihren vollen Lippen. Das lange blonde Haar war zwar immer zu einem Knoten oder zu Schnecken gefasst, aber wenn die Sonne es streichelte, glänzte es so golden wie deren Strahlen. Alea lief auch nicht, sie bewegte sich geschmeidig wie eine Katze, ihre Bewegungen waren weich und von großer Anmut und Ruhe geprägt.

Nein, kein Mann würde das übersehen. Lina war zuversichtlich, dass ihre Tochter das große Glück finden würde, auch wenn noch kein Galan in Sicht war, den Alea auch nur annähernd ins Auge gefasst hätte.

Die junge Molkereigehilfin ließ die Predigt über sich ergehen, nickte mit gesenktem Kopf und verschwand wieder in der Käsefertigungshalle. Erst danach kam Alea zu Lina zurück.

»Diese jungen Deerns müssen wirklich alles von der Pike auf beigebracht bekommen. Auch Dinge, die eigentlich klar sein sollten!« Sie seufzte.

Lina strich ihrer Tochter über den Arm. »Sie werden es schon lernen, genau wie wir früher.«

»Ja, das werden sie, und der Milchhof Bleeker wird als Molkerei weiter ganz oben mitspielen. Dafür sorgen wir! Egal, was in der Politik geschieht, wir halten hoffentlich dagegen, auch wenn es sicher schwer wird.«

Alea wischte sich mit dem Handrücken eine unter dem Tuch herausgerutschte Haarsträhne aus der Stirn.

Lina war stolz auf sie. Für ihre Tochter gab es momentan nur den Milchhof Bleeker. Sie wusste, welche Verantwortung sie zusammen mit ihrer Mutter trug, und sie würde alles tun, um dem gerecht zu werden.

»So, nun erzähl mir, was es an Neuigkeiten gibt!«, forderte Lina sie auf.

»Es geht voran, Mutter. Richtig gut voran.« Alea strahlte regelrecht. »Wir haben die ersten größeren Bestellungen für den Käse bekommen – und Derk sagt, die Milchanlieferungsquoten steigen wieder an! Das ist doch beeindruckend!«

Lina nickte verhalten. Das klang grundsätzlich zwar gut, aber sie durften die von außen auf sie einwirkenden Tatsachen nicht aus den Augen verlieren. Alea war stets leicht zu begeistern und verdrängte Unangenehmes gern.

»Du weißt aber, dass die Probleme dadurch nicht kleiner werden«, begann Lina vorsichtig. »Was nützen die höheren Milchanlieferungen, wenn wir keine Absatzmärkte haben. Die Holländer und Dänen drängen nach Abschluss des Vertrages ganz sicher mit ihrer Markenbutter auf den deutschen Markt. Bei deren niedrigen Preisen können wir aber nur schwer mithalten.«

Der Versailler Vertrag machte zur Bedingung, dass der deutsche Markt für ausländische Produkte geöffnet werden musste. Das führte zu mächtigen Schwierigkeiten auf dem Binnenmarkt.

»Kommt Zeit, kommt Rat«, antwortete Alea mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. »Immerhin haben wir noch meinen Käse, Bleekers Kräuterglück, und der verkauft sich nach wie vor gut. Derk hat auch schon überlegt, was wir modernisieren können, damit wir wettbewerbsfähig bleiben.« Aleas Blick schweifte schon wieder über den Hof, und dabei entdeckte sie, dass eine Kuh dort frei herumlief.

»Dammich«, fluchte sie. »Mutter, geh doch zu Derk, der kann es dir selbst erzählen. Ich kümmere mich derweil um das Vieh!«

Alea rannte los und fing die Kuh ein. Kurz darauf kam ein junger Knecht mit hochroten Ohren, die wie kleine Segel unter der Schirmmütze hervorlugten, gemächlich aus dem Stall. Er hatte das Tier wohl schon vermisst.

»Da bist du ja«, sagte er mit ruhiger Stimme und tätschelte der Gefleckten den Hals. »Danke, Fräulein Bleeker. Kommt nicht wieder vor.«

Alea drückte ihm den Strick in die Hand, schob aber noch ein paar mahnende Worte nach.

Ihr freundliches, aber zugleich bestimmtes Wesen trug dazu bei, dass sich keine der Arbeiterinnen und kein Gehilfe kleingemacht fühlten, und dennoch zollten sie Linas jüngster Tochter höchsten Respekt, denn jeder wusste um ihre Fachkenntnis und ihren Gerechtigkeitssinn. Das alles war keineswegs selbstverständlich, denn Frauen hatten in der Regel keinen guten Stand – und ernst genommen wurden sie schon gar nicht. Da gab es noch eine Menge zu tun.

Lina lächelte. Ihre Tochter aber hatte es geschafft. Sie stand durchsetzungsfreudig und mit beiden Beinen im Leben. Wie sie es einst selbst gewesen war – ehe sie Thees Bleeker geheiratet hatte und damit in eine unglückliche Ehe geschlittert war, die sie eine Zeit lang entmündigt hatte. Seit so vielen Jahren war sie nun schon Witwe. Lina wischte die Erinnerungen beiseite.

Sie wurde höchst ungern an ihren verstorbenen Ehemann erinnert. Schlimm genug, dass es diesen Gedenkstein mitten auf dem Hof gab, der ihm zu Ehren aufgestellt worden war. Ein Ehrenmal für einen Mann, der rücksichtslos agierte, moralisch zwei Menschen auf dem Gewissen hatte und dem die Familie völlig gleichgültig war.

Lina gab sich einen Ruck.

»Alea hat recht«, murmelte sie. »Ich spreche mit Derk, was wir gegen diese wirtschaftliche Übermacht aus den Niederlanden und Dänemark tun können.«

Wie immer, wenn sie an Derk dachte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie liebten sich schon so lange, aber da er mit Talke verheiratet war, gingen sie sich privat aus dem Weg, damit sie sich nicht in noch größere Schwierigkeiten brachten, als sie es zuvor schon getan hatten. Auch darüber mochte Lina jetzt nicht nachdenken.

Im Kontor war es gewohnt stickig. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Licht, die dunklen Möbel trugen ebenfalls nicht dazu bei, dass der Raum freundlich wirkte.

Im Licht der einfallenden Sonne tanzten kleine Staubkörner, es roch stets nach Papier und Tinte.

Derk brütete hoch konzentriert über den Zahlen, und seine Zunge wanderte von einem Mundwinkel zum anderen. Der Bart war wie immer ausgedünnt, so als hätte er kein Interesse daran, das gut aussehende Gesicht zu verdecken. Lediglich den Schnäuzer konnte man als Bartwuchs bezeichnen.

Derk trug heute ein weißes Hemd, die Ärmel waren bis kurz über den Ellenbogen hochgekrempelt. Darüber hatte er eine braun karierte Weste gezogen, und die Beine steckten in den von ihm so geliebten Knickerbockern, die jetzt modern waren. Seine Schirmmütze lag achtlos neben ihm auf dem Tisch.

Lina blieb kurz stehen, weil sie es liebte, diesen Mann, der ihr so nah und zugleich so fern war, anzuschauen.

Es dauerte einen Moment, ehe Derk sie bemerkte. Sofort legte er den Stift beiseite und lächelte Lina warmherzig an. »Moin. Sicher hat dir Alea schon erzählt, dass wir von den Bauern jetzt mehr Milch bekommen.«

»Das hat sie«, antwortete Lina. »Aber nützt es uns etwas?«

Sofort wurde Derks Gesicht ernst. »Das kann ich nicht abschließend beurteilen«, wich er aus. »Das große Problem ist der Versailler Vertrag, wie du weißt. Das drückt die Preise. So billig wie Holland und Dänemark können wir nicht produzieren.« Derk nahm den Stift wieder in die Hand und trommelte damit auf dem Papier herum.

»Was wäre die Lösung?«, fragte Lina. Bloß nicht den Kopf in den Sand stecken. Nie aufgeben, sondern immer gleich neue Pläne schmieden.

»Investieren, wie immer«, schlug Derk vor. »Gib mir ein paar Tage! Ich bin gerade dabei, eine Aufstellung zu machen, was sinnvoll ist und wir uns leisten können. Außerdem muss es zu bekommen sein. Noch sind nicht alle Lieferketten wieder intakt.«

Derk schaute Lina mit seinem durchdringenden Blick an, und sie hielt dem stand. Weil es so wunderbar war, wenn sie sich so ansahen, denn es zeigte ihnen die Seele des anderen. Sie mussten nichts sagen, sie verstanden sich ohne Worte.

Im Augenblick schien es, als würde es zwischen ihnen beiden immer wärmer, weil sie es eine lange Zeit nicht zugelassen hatten und schon vor dem Krieg auf Abstand gegangen waren. Nach Derks Rückkehr kam das Wiederankommen und Sichneuzurechtfinden in einer Welt, die so anders war als zuvor.

Nun aber trennte sie nichts mehr, außer der Tatsache, dass er mit Talke verheiratet war.

Doch dieser Augenblick schenkte ihnen tiefes Verstehen.

Keiner sagte ein Wort, und doch sagten sie sich so viel, dass es Wochen gefüllt hätte, wären die Sätze ausgesprochen worden. Jeder aneinandergereihte Buchstabe klang wie eine perfekte Komposition in ihren Ohren, weil sie sich ausmalen konnten, was der andere dachte und mitteilen wollte.

Dennoch war es still im Kontor. Nur leise schallten die Stimmen der anderen Büromitarbeiter zu ihnen herüber, durchbrochen vom Klappern der Schreibmaschine. Die Tür aber war geschlossen, und ohne anzuklopfen wagte es keiner der Angestellten, den Raum der Betriebsleitung zu betreten.

Lina und Derk waren allein. Das war immer gefährlich, aber auf dem Milchhof waren sie vorsichtig. Nicht wie in Dresden, als sie sich geliebt hatten, weil sie wussten, dass es niemand erfahren würde. Es war bei dem einzigen Mal geblieben, denn Ellenserdammersiel war nicht Dresden. Ellenserdammersiel war die Wirklichkeit.

Doch jetzt, inmitten dieser Akten und Verträge, inmitten ihrer Molkereiwelt waren sie sich plötzlich so nah wie damals, und es gelang ihnen, die Realität auszublenden.

Es gab nur Lina und Derk. Derk und Lina.

Um sie herum existierten weder die Geräusche aus dem Nebenraum noch die Spinne, die sich gerade hinter Derk am Fenster abseilte. Talke und Linas Kinder waren ganz weit fort.

Lina näherte sich Derk mit einem kleinen Schritt.

Der stand ebenfalls auf, und wie von Marionettenfäden gezogen, bewegten sie sich langsam aufeinander zu. Ihre Hände umschlossen sich wie von selbst, und Linas Kopf fand sich von allein an Derks Kinn wieder. Dass ihre Lippen sich gleich darauf berührten, war unausweichlich.

Linas Knie wurden weich, und als ihre Zungen miteinander spielten, fühlte es sich richtig an. Weil sie zusammengehörten. Gleichgültig, ob die Umstände etwas anderes sagten.

*

Talke wollte Butter vom Milchhof holen. Außerdem hatte sie gern ein Auge auf ihren Mann Derk, der nach wie vor Seite an Seite mit Lina arbeitete.

Als sie die Butterei mit ihren Päckchen verließ, sah sie durch das Fenster des Kontors eine Bewegung. Derk saß dort gewiss am Schreibtisch, aber Talke war sicher, dass sie eben Linas blondes Haar gesehen hatte. Sie befand sich also mal wieder bei ihrem Mann im Büro. Was auch immer sie ständig zu besprechen hatten. Wie immer kochte in Talke großer Zorn hoch, wenn ihr die Nähe zwischen Lina und Derk bewusst wurde.

Talke hatte mit all ihren Intrigen in den Jahren kein bisschen Boden gutmachen können. Nicht einmal der Krieg hatte ihr genützt. Lina war immer die Stärkere geblieben. Wen wunderte es, hatte sie doch von Kindesbeinen an immer auf der sonnigen Seite gestanden. Sah man mal vom frühen Tod der Mutter ab, war es Lina Harms, später Bleeker, immer gut gegangen.

Talke konnte ihre Wut auf Lina schon wieder kaum zügeln. Zu dumm, dass Karl Doden eine furchtbare Enttäuschung gewesen war. Wollte er zunächst großmäulig die Bleekers kleinkriegen, hatte er sich in Talkes Augen als Schwächling erwiesen. Nachdem er Thees Bleeker getötet hatte und nie dafür belangt worden war, hatte sie ihn davon überzeugen können, dass er auch Lina schaden musste, damit die Bleekers ein für alle Mal in die Knie gezwungen wurden.

Aber Karl hatte sich zunehmend in der Politik und im Untergrund engagiert. Auf welcher Seite er stand, hatte Talke nicht immer verstanden – wichtig war für Karl immer nur gewesen, seine eigene Haut zu retten. Er hatte es dank ihrer Unterstützung immerhin vermeiden können, als Fahnenflüchtiger erwischt zu werden.

Karl war ein Getriebener ohne Ziel.

Kurzum: Als Liebhaber hatte er seinen Mann gestanden, als Rachewerkzeug gegen den Milchhof Bleeker war er unbrauchbar. Schließlich hatte Talke Karl gleich nach Kriegsende vom Hof gejagt.

Er war inzwischen ein begeisterter Anhänger der neuen, noch sehr kleinen Bewegung, die sich Nationalsozialisten nannte und offenbar sogar eine Parteigründung im nächsten Monat plante.

Talke feixte. Was war sie früher ein Schaf gewesen, das sich nicht für solche Dinge interessierte. Aber seit dem Krieg hatte sie sich angewöhnt, die Zeitung regelmäßig zu lesen und sich zu informieren. Sie verstand längst nicht alles, aber das machte nichts. Das Wesentliche reichte. Und was die Grundfeste dieser neuen Bewegung anging – das gefiel ihr.

Dennoch war Karl Doden schuld daran, dass Lina ihre gerechte Strafe noch nicht erhalten hatte.

»Karl ist een Swienegel«, murmelte sie. »Mit Lina Bleeker werde ich auch allein fertig.«

Talke schlich sich ans Fenster, aber es war zu hoch, als dass sie ins Kontor blicken und wirklich etwas erkennen konnte. Nervös schaute sie sich um. Sie könnte doch …

Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stand sie schon vor der Tür zum Bürogebäude.

Vorsichtig drückte Talke die Klinke herunter. Sie war froh, dass die weder ein Knarzen noch ein Ächzen von sich gab, sondern sich fast wie von selbst öffnete.

Es war still im Raum der Betriebsleitung und wie immer etwas dämmrig. Doch das Licht reichte, um Talke genau jenes Bild zu präsentieren, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen ausgemalt hatte. Lina und ihr Mann standen eng umschlungen am Schreibtisch und küssten sich, als gäbe es die Welt um sie herum nicht mehr.

Talke schluckte. Am liebsten wäre sie wie eine Furie dazwischengegangen und hätte auf die beiden eingeprügelt.

Aber dann entschied sie sich anders. Das Fass war übergelaufen, dieses Mal würde sie nicht einknicken. Sie war lange töricht genug gewesen und hatte sich wie ein Tanzbär an der Nase herumführen lassen.

Das würde Lina ihr büßen. Und wie!

*

Derk genoss den Kuss und ignorierte den feinen Zug, der plötzlich seine Beine umstrich. Er wollte nicht, dass es aufhörte, sondern nur eines: Linas weichen und hingebungsvollen Lippen nachspüren. Er mochte es, wie anschmiegsam sie sein konnte, wenn sie die harte Schale der Molkereileiterin ablegte und ganz die Frau war, die er begehrte.

Derk liebte Lina schon so lange. Und so hörte er nicht auf, sie zu liebkosen, genoss Minute um Minute.

Er fuhr zusammen, als er einen neuerlichen Luftzug spürte. Mit klopfendem Herzen schob er Lina ein Stückchen weg. »Hast du das auch gefühlt?«

Seine Geliebte hatte hochrote Wangen, und ihre Augen glänzten sehnsüchtig. »Nein, was denn?«

Verlegen ordnete sie ihr Haar, das ein wenig gelitten hatte.

Derk ließ den Blick zum Eingang schweifen. Doch er war geschlossen.

»Ich habe gedacht, da ist jemand«, entschuldigte sich Derk, weil er die innige Atmosphäre so abrupt gestört hatte. Er räusperte sich. »Da habe ich mich wohl geirrt. Trotzdem sollten wir vorsichtiger sein.«

Lina seufzte. »Du hast wohl recht. Das hätte uns nicht passieren dürfen. Stell dir vor, es wäre wirklich jemand reingekommen.« Sie kicherte wie ein junges Mädchen. »Dann wäre uns der Dorftratsch gewiss.«

Lina wurde schnell wieder ernst. Sie wusste genau wie Derk, welche Katastrophe das in seinem Leben auslösen würde. Er tätschelte ihre Hand und konnte seine Nervosität nicht verbergen, denn er war nach wie vor besorgt.

»Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Wir müssen weiterhin Distanz wahren, sonst wird es immer wieder so enden wie jetzt.« Derk brach die Stimme. »Uns hätte hier jeder ertappen können.«

Ein Blick zur Uhr sagte ihm außerdem, dass er losmusste.

»Es ist gleich Mittag. Talke wartet mit dem Essen.«

»Du musst nichts erklären, Liebster«, flüsterte Lina. »Ich verschwinde schon.«

Ihr Lächeln wirkte dennoch verletzt, aber ihr war ebenso klar wie ihm, dass sie sich fortan zusammenreißen mussten. Lina winkte kurz und verließ das Kontor.

Derk sah ihr eine Weile hinterher, auch als die Tür längst geschlossen war.

Sie waren so lange standhaft geblieben. Warum es gerade heute derart aus dem Ruder gelaufen war, war für Derk nicht fassbar. Da war plötzlich diese Magie gewesen. Die kleinen Wellen, die sie aufeinander zugespült hatten und deren Strömung es verhinderte, dass sie auseinanderdrifteten.

Er atmete tief durch. Talkes Warnung galt immer noch. Wenn er sich nicht privat von Lina fernhielt, würde sie ihrer Tochter Antke sagen, dass er in Dresden mit einer fremden Frau einen Sohn hatte, und auch, dass sogar Lina von ihm schwanger gewesen war. Beides kein Ruhmesblatt, weiß Gott nicht. Aber es war geschehen, weil sein Leben an Talkes Seite unerträglich geworden war, nachdem sie ihr Kind verloren hatten und der Hass auf Lina, die Molkerei und ihn so groß geworden war, dass der alles wie bei einem Flächenbrand vernichtet hatte. Talke war ihm im Laufe der Jahre fremd geworden, wobei er zugeben musste, dass er sie wohl nie wirklich gekannt hatte.

Aber Antke würde ihm seinen Verrat nicht verzeihen, egal, welche Beweggründe ihn derart an den moralischen Abgrund geführt hatten. Derk würde seine Tochter verlieren. Das war das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Schlimmer noch, als auf Lina zu verzichten.

Er hatte einen riesigen Fehler in seinem Leben gemacht, und das war, Talke zu heiraten. Aber er musste zu seinen Entscheidungen stehen. Das war er sowohl seiner Frau als auch der Tochter schuldig.

Plötzlich war Derk kalt. Das Kontor war mit dem neuen Kohleofen gut geheizt, aber es erschien ihm, als zöge es von überall unangenehm durch die Ritzen.

Ich muss nach Hause, so schnell es geht, schoss es durch seinen Kopf. Eine Ahnung sagte ihm, dass er sich vorhin keineswegs getäuscht hatte und wirklich jemand kurz im Kontor gewesen war.

Derk riss den Wollmantel vom Haken, knöpfte ihn noch im Laufen zu und rannte quer über den Milchhof Richtung Ellenserdammersiel, wo er mit Talke und der zwanzigjährigen Antke in einer Kate in Bahnhofsnähe wohnte.

Aus dem Schornstein kringelte sich der Rauch, es roch nach verbranntem Torf und nach Kohlsuppe.

Antke stand am Herd und rührte den Eintopf, als Derk reingestürmt kam.

»Moin, Vader! Du bist früh, eigentlich wollten wir erst um ein Uhr speisen, aber ich habe schon alles fertig«, begrüßte ihn seine Tochter und hielt Derk die Wange hin. Sie roch nach Kernseife und einem Gemisch aus dem zubereiteten Eintopf. »Moder kommt bestimmt gleich, sie wollte noch rasch zum Milchhof und etwas Butter besorgen. Hast du sie gar nicht angetroffen?«

Derk fuhr erschrocken zusammen. »Talke war in der Molkerei?«

»Jo, mich wundert, dass ihr euch nicht in die Arme gelaufen seid.«

Antke kostete die Suppe und gab etwas Salz dazu. »Nun ist sie richtig wohlschmeckend. Wenn Moder kommt, können wir essen.«

Derk setzte sich an den Tisch und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum.

»Was ist los mit dir, Vader?«, fragte Antke. Sie hatte die gleichen blauen Augen wie er und sah ihm auch sonst sehr ähnlich. »Du wirkst unruhig. Ist was in der Molkerei schiefgelaufen?«

»Nein, es ist alles in Ordnung«, antwortete Derk fahrig. »Ich frage mich nur, wo deine Mutter bleibt.«

Antke stellte ihm ein Glas Wasser hin. »Trink schon mal, das verkürzt die Wartezeit ein wenig.«

Dankbar nahm Derk einen Schluck. Er war wirklich aufgewühlt, denn wenn Talke auf dem Milchhof gewesen war, konnte das bedeuten, dass sie ihn und Lina womöglich gesehen hatte. Er wäre froh, wenn seine Frau gleich käme und sich die Zweifel zerstreuten. Er machte sich vermutlich nur selbst verrückt. Warum sollte Talke ausgerechnet dann ins Kontor gekommen sein, als er sich für einen Moment vergessen hatte?

»Weil die Tür kurz aufgegangen ist«, beantwortete ihm eine innere Stimme die Frage.

Derk fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die noch immer von Linas Kuss zu brennen schienen und das Gefühl hinterlassen hatten, es könnte ein Versprechen auf mehr sein. Er dachte an jene Nacht in Dresden zurück. Es waren die schönsten Stunden in seinem Leben gewesen.

Lina und er, sie gehörten zusammen – und würden dennoch immer vom Strom des Lebens getrennt sein. Er sollte endlich zu träumen aufhören.

Es klackte, und Talke trat ein. Sie brachte einen Schwall der frostigen Winternordseeluft mit, und sofort wurde es kalt in der Kate. Das änderte sich auch nicht so schnell, als sie die Tür wieder schloss und Antke rasch ein Stück Torf in den Ofen schob.

Talke hängte den Wollmantel in der schmalen Diele an die Garderobe, die aber nur aus drei einfachen Haken bestand. Einen für sie, einen für Derk, einen für Antke. Die restliche Kleidung war in Truhen und Kommoden in den jeweiligen Räumen untergebracht.

Talke schaute kurz ihren Mann und ihre Tochter an.

»Da bin ich. Es ist verdammt kalt draußen.« Sie wandte sich an Antke. »Gib uns bitte schon mal die Suppe in die Teller.« Derk bedachte sie weder mit einem Gruß noch mit einem Blick.

Ihm wurde immer unbehaglicher. Vor allem, als sich seine Frau mit einem aufgesetzten Lächeln am Tisch niederließ, zum Löffel griff und begann, die Suppe zu löffeln.

Derk und Antke taten es ihr gleich, sodass eine Weile nur das Klappern des Geschirrs zu hören war.

Derk spürte, dass die Luft in der Küche brannte – und die vernichtende Glut ging von Talke aus. Ihm blieb jedoch nichts anderes übrig, als abzuwarten.

»Läuft es in der Molkerei?«, fragte seine Frau mit einem Seitenblick zu ihrem Mann, als der Teller geleert war.

»Ja, danke der Nachfrage. Die Milchanlieferungsmengen steigen, aber wir müssen noch weiter in neue Maschinen investieren«, gab er Auskunft. Aber ihm war schon klar, dass Talke ihm diese Frage nicht wegen der zu erwartenden Neuinvestitionen gestellt hatte. O nein! Es steckte viel mehr dahinter! So gut kannte er seine Frau dann doch.

Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.

Es half nichts, Derk musste wissen, ob Talke etwas gesehen hatte. Er trat die Flucht nach vorn an.

»Deshalb war Lina vorhin kurz bei mir im Kontor. Ich erstelle jetzt eine Liste, was für den Milchhof wichtig ist. Der Versailler Vertrag wird auch uns arg zusetzen.«

Talke schob den Löffel neben dem Teller hin und her.

»Sie war also zur Besprechung bei dir im Kontor?«

Dabei blickte sie ihrem Mann fest in die Augen und hob die Brauen.

Die darauffolgende Stille war fast unerträglich. Derk wusste jetzt, dass er in der Falle saß.

Seine Frau lächelte, doch es sah aus, als ob der Hofhund die Zähne bleckte.

»Hast du mir und Antke nicht was zu sagen? Es gibt da schließlich eine Abmachung, wie du weißt!«, sagte sie ganz ruhig. So, als würde sie übers Wetter reden.

Derk setzte sich gerade hin. Es galt, Ruhe zu bewahren.

Sie hatte kein Recht darauf, ihm Vorwürfe zu machen. Nicht nach dem, was Talke ihm im Gegenzug mit ihrem Marinesoldaten und später mit Karl Doden angetan hatte. Eheliche Treue sah anders aus.

»Wir hatten eine Abmachung. Ich mit dir und du mit mir. Wir haben uns beide nicht daran gehalten, wie du dich sicher erinnern kannst«, stellte er klar.

Talke blitzte Derk zornig an. »Der werte Herr wagt es, mir etwas vorzuhalten, was er selbst zuvor getan hat?«

Antke war kreidebleich geworden. »Moder! Vader! Wovon sprecht ihr?«

»Dass dein Vater ein Kind mit einer anderen hat und nicht einmal davor zurückgeschreckt ist, Lina Bleeker zu schwängern. Allerdings hat sie das Balg genauso verloren wie ich meinen Onno.«

Derk umfasste Talkes Handgelenk. Er konnte jetzt auf Antke keine Rücksicht nehmen und würde später mit ihr sprechen. In Ruhe, wenn sich die Wogen etwas geglättet hatten. Jetzt musste er sich erst gegen Talkes Anschuldigungen wehren.

»Und du? Du hast dich zur Hure eines Matrosen gemacht. Und zu der eines Mörders, dem wir nur seine Tat nicht nachweisen können. Oder meinst du wirklich, dass Lina und ich nicht wissen, was Karl Doden ihrem Mann angetan hat? Abgeschlachtet hat er ihn und dann in die Hunte geworfen!«

Talke sprang auf, dabei stieß sie gegen das Tischbein, und die Teller klirrten. »Aber nur, weil Thees Bleeker, der saubere Gemahl von Lina, die Magd Suntje in guter Hoffnung hat sitzen lassen, sodass ihr nur der Weg ins Wasser blieb. Ganz zu schweigen von Hero, den er mit Fieber aufs Dach gejagt hat, sodass er abgestürzt ist. Auf dem Milchhof Bleeker herrscht Sodom und Gomorrha, und alle tun dort so scheinheilig, dass mir die Galle hochkommt, wenn ich nur den Namen höre!« Talke spuckte vor Derk auf den Tisch. »Ihr seid doch alle verdorben.«

Sie wandte sich an ihre Tochter, die dem Streit kreidebleich gefolgt war und offenbar nicht wusste, was sie davon halten sollte. »Antke. Nun weißt du, was du für einen Vater hast!« Talke riss sich los und stürzte aus der Küche. Kurz darauf fiel die Haustür hinter ihr zu.

Kapitel 2

Moin, Frau Bleeker. Ich möchte Ihnen gern meine Aufwartung machen!« Wilhelm de Vries hob kurz den Hut, als er sich vor Lina verneigte. Der Bankier und Großgrundbesitzer trug einen dunklen Lodenmantel über dem Tweedanzug und sah überaus geschniegelt aus.

Wie immer war der Bart akkurat gestutzt, wie immer lag ein unergründliches Lächeln auf seinem Gesicht.

Der Mann hatte Lina gerade noch gefehlt. Ein paar Minuten zuvor hatte sie in Derks Armen gelegen, sich gestohlen, was ihr nicht zustand, und war noch vollkommen verwirrt davon. Ausgerechnet jetzt stand der nächste Verehrer vor ihr. Es war nicht so, dass sie den gut aussehenden Wilhelm unsympathisch fand oder ihr sein Werben nicht schmeichelte. Aber heute, wo ihre Gefühle Purzelbäume schlugen, ja, regelrechte Kapriolen in ihrem Kopf veranstalteten, war es ihr zu viel. Nur blieb Lina keine Wahl, als die Contenance zu wahren, allein, um dem Milchhof nicht zu schaden.

Lina konnte Herrn de Vries gegenüber nicht unhöflich sein und ihn kühl behandeln. Immerhin hatte er den Daumen auf jeglicher Finanzierung der Molkerei, und von seinen Kühen kam ein Großteil der Milch.

»Was führt Sie denn zu mir?«, fragte Lina deshalb. »Gibt es etwas Geschäftliches zu besprechen?«

Wilhelm de Vries schüttelte den Kopf, und ein gewinnendes Schmunzeln zeichnete sich ab. »Das nicht. Ich war gerade in der Nähe, und mit dem Automobil geht es ja schnell, einen kurzen Abstecher zum Milchhof zu machen. Mich hat die Sehnsucht getrieben, mit Ihnen zu klönen. Der Grund sind folglich Sie allein, werte Frau Bleeker. Sie allein«, gab er formvollendet zurück. Lina ahnte, dass er sich ausrechnete, eines Tages um ihre Hand anzuhalten. Aber noch kam sie ganz gut ohne Mann zurecht. Derk mal ausgenommen, doch ihn durfte sie nicht haben.

Lina setzte ihr gewohnt unverbindliches Lächeln auf, das sie auch dann an den Tag legte, wenn sie mit Kunden zu tun hatte, die es zu beschwichtigen galt. Abweisen konnte sie Wilhelm de Vries nicht. Ihn zum Tee einzuladen war jedoch nicht verpflichtend und würde ihrer harmonischen Beziehung schmeicheln.

»Das ist sehr freundlich. Wollen Sie mir bitte ins Haus folgen? Gleich ist ohnehin Elführtje, und der Tee ist fertig. Ich sag dem Mädchen Bescheid, dass wir einen Gast haben.«

»Das wäre an einem solch kalten Tag ein Segen, Frau Bleeker. Wie Sie wissen, jährt sich der Todestag meiner Gemahlin – Gott hab sie selig –, und ich komme nicht allzu oft in den Genuss, Tee in Begleitung zu trinken. Und dann noch, wenn sie so charmant ist, wie Sie es sind.«

Lina war das ein wenig zu dick aufgetragen, und nach ihrer Begegnung mit Derk verspürte sie nur wenig Lust, mit Herrn de Vries Teetied zu machen. Noch immer glaubte sie ein Brennen auf den Lippen zu spüren, noch immer fühlte sie die Hände des Geliebten an ihrem Körper.

Sie musste aufhören, daran zu denken!

»Ich freue mich über Ihre Gesellschaft«, hörte sich Lina sagen und hätte sich wegen dieser Lüge am liebsten auf die Zunge gebissen. Aber ihr blieb keine Wahl, wenn sie Wilhelm de Vries nicht vergrellen wollte. Denn von seinem Gutdünken hing finanziell eine Menge für den Milchhof ab.

»Wollen Sie mir bitte folgen?« Lina machte einen Schritt auf die Haustür zu.

In diesem Augenblick kam ihr Ludger entgegen.

»Einen Moment bitte«, sagte sie entschuldigend zu dem Bankier und wandte sich an ihren Sohn. »Wohin möchtest du?«

Ludger war dick eingemummelt und hatte sich die Mütze tief ins Gesicht gezogen.

»Aufs Meer«, gab er knapp zurück. Er sprach seit der Rückkehr aus dem Krieg kaum noch und verkroch sich zunehmend in seiner eigenen Welt.

»Es ist zu kalt, und wir wollen in einer Stunde essen. Tjelda hat heute Gulasch gekocht, das magst du doch so gern.«

Lina warf einen Blick zu Herrn de Vries, der seinen Hut zwischen den Händen drehte.

»Ich komme gleich«, entschuldigte Lina sich erneut. Aber sie konnte Ludger nicht einfach so gehen lassen.

»Ich habe eben eine Scheibe Brot zu mir genommen, mir ist nicht nach Fleisch. Es ekelt mich«, erklärte der.

Lina zog die Brauen hoch. Das waren ganz neue Töne. »Seit wann das?«

»Seit gestern. Wenn ich Fleisch sehe, denke ich an …« Er brach ab und verzog schmerzhaft das Gesicht.

Lina ahnte, was er meinte. Ludger sah seine Kameraden vor sich auf dem Feld. Tot, zerschossen.

Sein Kinn zitterte.

»Ist gut, min Jung. Dann geh. Aber fahr nicht zu weit raus, es ist wirklich sehr kalt.«

»Kälter, als ich es innen drin bin, bestimmt nicht!«, gab er zurück.

Lina wusste seine Offenheit zu schätzen. Dass er das überhaupt zugab, war schon viel.

Sie sah Ludger nach, wie er vom Hof der Molkerei trottete. Den Blick gesenkt, jeden Tritt sorgsam gesetzt. Das war nicht mehr ihr Kind, nicht mehr der kleine, fröhliche Junge, der so gern die Pfennige gezählt und »Bank« gespielt hatte. Der Mann, der sich jetzt vom Milchhof entfernte, war ein Schatten seiner selbst. Eine gebrochene Persönlichkeit, der das Leben zu groß geworden war wie ein Paar Schuhe, in der die Zehen so viel Spielraum hatten, dass er ständig stolperte, aber nicht einmal wusste, wie und wo er sich auffangen konnte.

Ludger, ihr kleiner Ludger. Verschluckt vom Krieg und zerstört wieder ausgespuckt, in der Hoffnung, er würde fortan ohne Ausfälle funktionieren.

Wäre ihr Sohn eine Maschine wie ihr Separator oder die Flaschenabfüllmaschine, könnte sie ihn reparieren, aber es gab keinen Schlüssel, mit dem sie ihn aufschrauben und die defekten Teile ersetzen konnte, damit er wieder funktionierte. Damit alles gut wurde.

Ludger blieben als Balsam für die Seele nur sein Ruderboot und das Meer. Dort war er eins mit sich, dort konnte er das Leben ertragen.

Lina musste das tolerieren, ihr blieb schließlich nichts anderes übrig.

Sie lächelte verkrampft und ging zurück zu Herrn de Vries. »Es tut mir leid, aber ich wollte nur klären, wohin mein Sohn unterwegs sein wird.«

Warum war jetzt Derk nicht an ihrer Seite? Konnte sie trösten oder mit seiner ruhigen Art einfach ein anderes Licht auf die Situation werfen.

»Sie müssen sich doch nicht entschuldigen«, sagte Wilhelm de Vries und hielt ihr galant den Arm hin. »Kinder machen eben immer, was sie wollen, nicht wahr. Auch wenn sie schon erwachsen sind, nehmen sie nur selten Rücksicht auf die Gefühle ihrer Mutter.«

Lina seufzte innerlich. Eine solche Plattitüde konnte sie nun gar nicht brauchen, denn sie war wegen Ludgers Verhalten zutiefst besorgt. Derk hätte …

Lina biss sich auf die Unterlippe. »Ja, so ist es«, entfuhr es ihr dann. Es war besser, dieses Thema jetzt nicht vor Wilhelm de Vries zu vertiefen.

»Nun lassen Sie uns den Tee einnehmen!«, meinte er.

Es widerstrebte Lina, dass der Bankier dermaßen den Ton angab, aber sie schwieg.

Auf dem Weg zum Salon wies sie die Kleine Magd an, ihnen Tee und Kekse zu servieren und Herrn de Vries den Mantel abzunehmen.

»Bitte nehmen Sie Platz. Wir müssen mit dem kleinen Tisch vorliebnehmen. Wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte, duftet es bereits verführerisch nach Gulasch, das um ein Uhr auf den Tisch kommt. Deshalb können wir nicht im Speisezimmer sitzen.«

Herr de Vries ließ sich auf den Stuhl fallen und zog die Weste über den feisten Bauch, der seiner Attraktivität aber nicht schadete. Er war nicht nur gut gekleidet, sondern auch ein überaus stattlicher Mann.

»Nichts für ungut, Werteste«, sagte er. »Ich möchte Sie auch gar nicht lange aufhalten.«

»Das tun Sie nicht«, beeilte sich Lina zu versichern, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass er gleich wieder verschwände und sie ihren Gedanken um Derk und Ludger nachhängen könnte. Es gab so viel zu rekapitulieren und zu überlegen. Doch jetzt verlangte der Bankier nach ihrer ganzen Aufmerksamkeit.

»Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, liebe Frau Bleeker, dass wir jetzt, nach dem verlorenen Krieg, auf schwere Zeiten zusteuern, die auch Ihren Betrieb treffen werden.«

»Die Milchanlieferung steigt aber gerade wieder«, warf Lina ein.

»Die Teuerung auch. Und sie wird weitergehen, weil wir als Land sehr geknechtet werden. Die Würfel sind nach der Zustimmung zum Versailler Vertrag im Juli letzten Jahres gefallen, und jetzt, wo diese ganze Schweinerei auch noch in Kraft tritt, werden es nicht nur die Betriebe merken, sondern auch der kleine Mann. Es ist wohl müßig, Ihnen die Hintergründe als Frau weiter zu erläutern, denn die Angelegenheit ist doch sehr komplex.«

Lina schluckte ihren Ärger über diese anmaßende Bemerkung hinunter. Dennoch wollte sie das auf keinen Fall auf sich sitzen lassen.

»Ich leite diese Molkerei, ich weiß, worin die Ursachen liegen und wohin das alles führen kann. Wirtschaftliche Zusammenhänge begreife ich durchaus, Herr de Vries«, gab sie zurück, behielt aber ihr Lächeln bei.

Sie wurden unterbrochen, weil Sophie den Tee servierte. »Danke. Sag in der Küche bitte Bescheid, dass wir pünktlich um eins essen, ich habe später noch einen Termin.«

Mit dieser Bemerkung war gewährleistet, dass sich der Bankier nicht übermäßig lange auf dem Milchhof aufhielt.

Der vorgeschobene Termin war ohnehin eine glatte Lüge, aber Linas Interesse daran, dass Herr de Vries sich festsetzte, war gering.

»Nun, meine Teuerste«, fuhr er fort, nachdem er sich von Sophie hatte einschenken lassen und sie mit dem Tablett den Salon wieder verlassen hatte. Er nahm einen Schluck und spreizte dabei seinen kleinen Finger ab.

Lina nahm das mit Befremden zur Kenntnis. Es war albern, wenn ein Mann sich so geziert benahm.

Lina wunderte sich, warum sie Wilhelm de Vries heute so ablehnend gegenüberstand. Das war doch sonst nicht so. Sie hatten auch oft zusammen lachen können und durchaus angenehme Gespräche gehabt.

Wilhelm de Vries schien ihre heutige Zurückhaltung gar nicht wahrzunehmen, oder er tat so, als bemerke er es nicht. Er redete einfach weiter, als wäre alles in Ordnung.

»Wenn Sie mit dem Milchhof Bleeker wegen der, sagen wir mal, doch prekären politischen Situation in Schwierigkeiten geraten sollten, möchte ich Ihnen versichern, dass ich für Sie da sein werde.« Diese Bemerkung war mehr als doppeldeutig, und Lina hatte den tieferen Sinn durchaus verstanden.

»Das ist sehr freundlich«, gab sie unverbindlich zurück, »und ich weiß das zu schätzen.«

»Das ist mir sehr wichtig. Bitte greifen Sie auf mein Angebot zurück, sollte es nötig sein.« Wieder nippte Wilhelm de Vries mit gespreiztem Finger am Tee. »Auch wenn ich mich wiederhole, meine Teuerste: Ich möchte für Sie da sein. Sie wissen als Witwe ja selbst, wie einsam eine Seele sein kann.«

Lina knabberte an einem Keks, sagte dazu aber nichts. Sie wollte Herrn de Vries nicht vor den Kopf stoßen. Wilhelm de Vries war ein gut aussehender und heiß umschwärmter Mann mit großem Charme, Bildung, Geld und Ländereien. Aber er war eben nicht Derk.

Lina war froh, als er sich nach einer halben Stunde erhob und sich formvollendet mit einem Handkuss verabschiedete.

Sie musste nämlich noch in die Käserei und in der Lagerhalle nach dem Rechten sehen. Vorhin war es ihr so erschienen, als hätte die neue Mitarbeiterin die eine Reihe der Käselaibe nicht fristgerecht gewendet.

*

Die Glocke läutete. Mit diesem Zeichen rief Tjelda zum Essen. Linas Magen knurrte, sie hatte, außer dem Tee eben, am Morgen nur einen trockenen Zwieback und den einen Keks geknabbert. Es wunderte sie, dass sie überhaupt ein Hungergefühl verspürte, schlugen ihr die Ereignisse des Vormittags doch arg aufs Gemüt und durchwühlten ihre Gedärme.

Schon in der Diele empfing Lina der würzige Geruch des Gulaschs. Wilko im Esszimmer saß bereits am Tisch, er nahm immer an der Stirnseite Platz, weil er dort mit dem Rollstuhl besser hinpasste. Er hatte nicht auf Lina gewartet, sondern schaufelte sich schon das Essen auf den Teller.

»Du bist spät«, knurrte er.

»Ich muss arbeiten, wie du weißt«, gab Lina zurück. »Und wenn ich am anderen Ende der Molkerei beschäftigt bin, dann dauert es eben. Ich denke nicht, dass ich mich dafür entschuldigen muss.«

Warum sie nun so auf ihren Sohn losging, wusste Lina auch nicht. Es war einfach alles zu viel.

Wilko aber blieb völlig gelassen.

»Ach ja, die Besprechungen mit Derk. Talke sprach davon.« Wilkos Stimme klang betont unbeteiligt, er schaute seine Mutter nicht einmal an, sondern griff zu Messer und Gabel.

»Genau, aber ich hatte auch noch Besuch vom Bankhaus de Vries und musste hernach in die Lagerhalle. Als Betriebsleiterin ist es eben auch notwendig, mit dem Obermeier eine Menge durchzugehen. Aber nun wollen wir essen.«

»Auf Alea und meinen werten Herrn Bruder müssen wir ja wohl nicht warten«, murrte Wilko.

»Eigentlich gehört es sich wohl so, nicht wahr?«

»Ich für meinen Teil habe jetzt Hunger«, gab ihr Ältester ungerührt zurück.

»Trotzdem.«

Wilko legte das Besteck auf den Tellerrand. »Mutter, bei Alea weiß man schließlich nie, ob und wann sie geruht zu erscheinen«, brummte er. »Meine Blaustrumpfschwester ist dermaßen in die Molkerei vernarrt, dass sie darüber alles andere vergisst. Und Ludger erscheint ohnehin nur dann, wenn es ihm beliebt. Ich finde, dass dieses wunderbare Essen nun besser nicht kalt werden sollte. Guten Appetit.«

Lina wartete dennoch fünf Minuten, aber da ihre Tochter wirklich nicht kam, nahm sie sich schließlich ebenfalls von den Kartoffeln, dem Rosenkohl und dem Gulasch.

»Ludger ist mit dem Boot raus«, versuchte sie ein Gespräch in Gang zu bringen, weil es sie wahnsinnig machte, dass Wilko überhaupt nichts sagte.

»Der Kerl ist völlig irre«, sagte er schmatzend. »Bring ihn besser in die Anstalt, sonst bleibt er eines Tages auf See. Das sagen alle im Dorf, und weißt du was? Sie haben recht!« Wilko war fertig mit dem Essen und wischte sich den Mund mit der weißen Stoffserviette ab. Dann legte er sie beiseite und entschied sich doch noch für einen Nachschlag.

Lina beobachtete das mit wachsendem Befremden. Wilko aß nicht, er schaufelte. Er schluckte nicht, er schlang. Das bereitete ihr große Sorge.

Während Ludger immer weniger wurde, war ihr Ältester körperlich sehr auseinandergegangen. Der Rollstuhl wurde schon etwas eng. Er bewegte sich einfach zu wenig, weil er es hasste, mit den Krücken herumzulaufen. Damit glaubte er sich noch verletzlicher als mit dem Gefährt, weil er so wenigstens nicht stürzen konnte.

»Du schweigst«, sagte er, als auch der Nachschlag verputzt war und er sich genüsslich zurücklehnte. »Gib zu, dass es fürwahr eine sinnvolle Entscheidung ist, Ludger diese Hilfsmaßnahme nicht zu verweigern.«

»Es wäre keine Hilfe«, entfuhr es Lina. »Es wäre, als würde ich mein Kind abschieben. Er ist hier bestens versorgt, er braucht nur Zeit. So wie alle Kriegsheimkehrer. Auch du!«

Wilko lachte auf und griff nach der Schüssel mit dem Schokoladenpudding. »Ich brauche keine Hilfe, weil mein Kopf noch richtig tickt. Im Gegensatz zu Ludgers.«

»Du schreist nachts, genau wie dein Bruder«, erwiderte Lina.

»Weil dieser verdammte Stumpf schmerzt. Manchmal glaube ich nämlich, der Unterschenkel samt Fuß sind noch dran.« Wilko schob sich einen Löffel voll Pudding in den Mund. Erst als er ihn hinuntergeschluckt hatte, redete er weiter. »Bei Ludger ist das anders, Mutter, das weißt du. Er schreit nicht vor Schmerzen, er schreit, weil er wahnsinnig geworden ist.«

Lina schluckte bei diesen harten Worten schwer. »Wilko, du sprichst von deinem Bruder.«

»Der sich nicht helfen lassen will. Ich schon.«

»Wie meinst du das?«, hakte Lina argwöhnisch nach.

»Ich werde mir ein neues Bein machen lassen.«

Lina sah Wilko erstaunt an. Dafür zollte sie ihm Respekt.

Aber er sollte seinen Bruder in Frieden lassen.

»Das ist eine gute Entscheidung, min Jung. Aber ihr könnt alle sagen, was ihr wollt: Ludger bleibt! Wir bekommen das mit ihm hin.«

»Plötzlich Glucke?« Wilko schaute Lina fragend an. »Früher hast du doch auch immer Leute gehabt, die sich um uns Kinder gekümmert haben, während du dich mit Derk in Dresden herumgetrieben hast.«

Bei dieser Anschuldigung blieb Lina der Bissen im Hals stecken. Wie ungerecht das war und weit unter der Gürtellinie!

»Ich war nur ein einziges Mal für eine Woche in Dresden und immer nur am Vormittag in der Molkerei«, entgegnete Lina hustend. »Ansonsten habe ich mich um euch und den Hof gekümmert!«

Wilko schwieg und nahm sich noch mehr Pudding. Lina war der Appetit vergangen. Sie schob das Essen zum Rand und legte das Besteck ab. Sie war froh, als Alea kam und mit ihrem freundlichen Wesen die Spannung ein wenig abmilderte.

*

Antke schaute Derk fassungslos an. »Stimmt das, Vader?«

Er nickte stumm. »Alles stimmt, auch das, was ich über deine Mutter gesagt habe. Wir haben nie eine gute Ehe geführt – und doch hätten wir es beide gern anders gehabt.«

Antke blickte zu Talke, die mit starrem Gesichtsausdruck über den Tisch schaute und sich nicht regte.

Derks Hand wanderte zu der seiner Tochter, aber sie wollte offenbar nicht von ihm berührt werden. Nicht von der Hand, die auch andere Frauen als ihre Mutter gestreichelt hatte.

»Wir sind aber zusammengeblieben. Deinetwegen«, sagte Derk.

Antke hieb mit der Faust auf den Tisch. »Ihr seid beide unvorstellbare Lügner! So unvorstellbar verlogene Menschen.«

Dann stand sie auf. Langsam, als würde sie straucheln, wenn ihre Bewegungen zu schnell würden. Ihr Kinn zitterte, sie umklammerte die Tischkante, wobei das Weiß ihrer Finger sichtbar wurde. Derk wollte aufspringen, sein Kind halten, wie er es früher immer getan hatte, wenn sie Hilfe brauchte. Aber heute war ihr Blick abweisend, und ihm war klar, dass Antke jede Berührung ablehnen würde. Also blieb er sitzen und wartete.

Talke hatte sich noch immer nicht vom Fleck gerührt, ihr Blick war genauso starr wie zuvor. Es schien, als hätte sie überhaupt nicht bemerkt, dass ihre Tochter diese schreckliche Situation nicht mehr aushielt.

Die drei wirkten wie eingefroren. Es war still, obwohl der Wasserhahn tropfte und der Torf im Ofen knisterte.

Derk ertrug das alles nicht länger und durchbrach das Schweigen. »Was willst du tun, Antke?«

Seine Tochter schaute erst zu ihm, dann wieder zu ihrer Mutter. »Ich werde fortgehen.«

Nun erwachte Talke doch aus ihrer Lethargie. »Du willst was?«

»Ellenserdammersiel verlassen. Schon immer hatte ich einen Traum, den ich aber weit weggeschoben habe, weil ich euch nicht alleinlassen wollte. Diese Rücksichtnahme ist von nun an vorbei. Das versteht ihr sicher.«

»Ein Traum? In Zeiten wie diesen hast du als junge Frau einen Traum? Wie töricht ist das?«

Antke ließ sich nicht beirren. Ihre Finger lösten sich von der Tischkante, ihre Haltung schraubte sich gerade, und sie atmete tief durch. »Ja, Moder. Wir jungen Deerns dürfen träumen, und wir sollten tunlichst versuchen, diese Ideen auch umzusetzen. Machen wir das nicht, sehe ich ja, was dabei herauskommt. Nichts als Unglück. Ich glaube doch, dass deine Träume auch andere waren als das, was du jetzt lebst. So weit werde ich es nicht kommen lassen. Das ist mir in den letzten Stunden deutlich geworden.«

»Du bist unverschämt!« Talkes Stimme klang scharf.

Derk hob beschwichtigend die Hand. »Bitte, Talke! Lass doch Antke kurz sagen, was sie genau vorhat. Vielleicht ist es ein guter Weg.«

Antke schaute Derk überrascht an.

»Danke, Vader. Meine Pläne werden dir dennoch nicht gefallen, das weiß ich schon jetzt.«

»Raus mit der Sprache!«, forderte Derk sie auf.

Antke gab sich sichtlich einen Ruck. »Nach allem, was ich eben gehört habe, ist diese Kate in Ellenserdammersiel nicht mehr mein Zuhause. Ich könnte es auf Dauer nicht ertragen, euch jeden Tag ins Gesicht zu sehen und zu wissen, was ihr getan habt.«

Derk schluckte und wollte etwas sagen, doch es kam ihm nichts über die Lippen. Das schien Antke Oberwasser zu geben, denn sie sprach schnell weiter.

»Ich habe schon immer gespürt, dass in unserem Haus etwas faul ist, aber bislang war es nicht greifbar. Nun aber kenne ich die marode Stelle, und ich weiß: Sie ist nicht zu flicken, gleichgültig, was auch immer ich anstellen werde. Die Bilder sind präsent, die Lügen tanzen im Kreis um uns herum, foppen uns mal hier, mal da. Das alles wird uns keine Ruhe geben, und ich ertrage es nicht mehr.«

Antkes Worte schwebten wie ein schmutziges Spinnennetz über ihren Köpfen. Keiner wollte, dass es herabfiel und sie mit den klebrigen Fäden erfasste.

»Wohin willst du überhaupt gehen?«, rang Derk sich schließlich ab.

»Sie geht überhaupt nicht«, fuhr Talke dazwischen. »So weit kommt das noch, dass sich das Fräulein einfach so aus dem Staub macht und die Eltern allein zurücklässt! Die Deern bleibt. Sie ist noch keine einundzwanzig und kann deshalb nicht einfach tun und lassen, was ihr beliebt. Das wäre ja noch schöner!«

Antke hob das Kinn leicht an und fixierte ihre Mutter.

»Es gibt ohnehin noch viel vorzubereiten. Und wie du eben richtig festgestellt hast, bin ich zwar jetzt noch nicht volljährig, aber im nächsten Jahr. Und dann kann ich tun und lassen, was ich möchte. Bis dahin werde ich alles organisiert haben. Ob es euch gefällt oder nicht.«

»Du hast doch gar kein Geld!«, fuhr Talke sie an.

»Das lass mal meine Sorge sein«, sagte Antke. »Ich werde fortgehen und mir ein neues Leben aufbauen. Wohin, erfahrt ihr noch früh genug.« Sie lächelte befreit. »Und jetzt muss ich allein sein. Ich gehe zum Deich.«

*

Karl Doden saß in Oldenburg in einem Café an der Lambertikirche und trank seinen Mokka. Er war eben von einer Veranstaltung einer rechten Gruppierung gekommen und musste alles erst einmal sacken lassen. Karl hatte sich ausgesprochen wohl in dieser Runde gefühlt. Hier herrschte Zusammenhalt. Eine gerade Linie, an der man sich orientieren konnte. Welch eine Wohltat in einem gespaltenen Land, das sich von außen knechten und demütigen ließ. Wo war der Nationalstolz geblieben? Sie hätten doch bestimmt noch gewinnen können, stattdessen hatten diese »Novemberverbrecher«, diese Anhänger der Republik dafür gesorgt, dass das eigentlich unbesiegbare Deutsche Heer aufgeben musste.

»Von hinten erdolcht«, wiederholte er die Worte von Paul von Hindenburg, die der im letzten November auf der Nationalversammlung von sich gegeben hatte: »Ein englischer General sagte mit Recht: ›Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.‹«

Karl hatte sich diese Worte gut gemerkt, denn sie hatten auf ihn ein solches Faszinosum ausgeübt, dass er fortan genau wusste, wohin er gehören wollte.

Ende der Leseprobe