Die Lebenspflückerin und der Meerkristall - Regine Kölpin - E-Book

Die Lebenspflückerin und der Meerkristall E-Book

Regine Kölpin

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Beschreibung

Ostfriesland 1548 - Die Hebamme Hiske Aalken hat alle Hände voll zu tun, denn in der Herrlichkeit Gödens grassiert das Marschenfieber. Als ihr in dieser schweren Zeit der Arzt Jan Valkensteyn zur Hilfe eilt, taucht auch ein holländischer Kaufmann namens Friso van Heek auf, der Hiske wenig sympathisch ist. Gleichwohl ist er ein faszinierender Mann, den offensichtlich ein großes Geheimnis umgibt. Ein Geheimnis, das mit einem wertvollen Medaillon - dem Meerkristall - und mit einer entstellenden Narbe zu tun hat, die der Kaufmann am Arm trägt. Eines Tages wird Friso van Heek tot im Neuen Siel gefunden, und der Meerkristall ist spurlos verschwunden. Hiske glaubt, dass der Mord etwas mit dem Medaillon und mit Frisos geheimnisvoller Vergangenheit zu tun hat, aber sie findet mit ihren Vermutungen nur bei Jan ein offenes Ohr. Nach und nach wird ihr klar, dass der Kaufmann in der Herrlichkeit viele Feinde hatte.


Zweiter Teil der großen Lebenspflückerinnen- Reihe.

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Über das Buch

Ostfriesland 1548 - Die Hebamme Hiske Aalken hat alle Hände voll zu tun, denn in der Herrlichkeit Gödens grassiert das Marschenfieber. Als ihr in dieser schweren Zeit der Arzt Jan Valkensteyn zur Hilfe eilt, taucht auch ein holländischer Kaufmann namens Friso van Heek auf, der Hiske wenig sympathisch ist. Gleichwohl ist er ein faszinierender Mann, den offensichtlich ein großes Geheimnis umgibt. Ein Geheimnis, das mit einem wertvollen Medaillon - dem Meerkristall - und mit einer entstellenden Narbe zu tun hat, die der Kaufmann am Arm trägt. Eines Tages wird Friso van Heek tot im Neuen Siel gefunden, und der Meerkristall ist spurlos verschwunden. Hiske glaubt, dass der Mord etwas mit dem Medaillon und mit Frisos geheimnisvoller Vergangenheit zu tun hat, aber sie findet mit ihren Vermutungen nur bei Jan ein offenes Ohr. Nach und nach wird ihr klar, dass der Kaufmann in der Herrlichkeit viele Feinde hatte.

Zweiter Teil der großen Lebenspflückerinnen- Reihe.

Über Regine Kölpin

Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren und wuchs die ersten Jahre ihrer Kindheit auf einem alten Rittergut „Hof Hirschberg“ bei Großalmerode auf. Seit ihrem 5. Lebensjahr lebt sie an der Nordseeküste in Friesland. Die mehrfache Spiegel-Bestsellerautorin schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Ihre Arbeiten sind mehrfach ausgezeichnet worden. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie über 200 Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist mit dem Musiker Frank Kölpin verheiratet. Sie haben fünf erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf in Küstennähe. In ihrer Freizeit verreisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen.

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Regine Kölpin

Die Lebenspflückerin und der Meerkristall

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Die Personen

Historische Persönlichkeiten

Amsterdam 1524

1. Kapitel — 1548, Herrlichkeit Gödens – Ostfriesland

Amsterdam 1524

2. Kapitel

Amsterdam, 1524

3. Kapitel

Amsterdam 1524

4. Kapitel

Amsterdam 1529

5. Kapitel

Amsterdam 1529

6. Kapitel

Amsterdam 1529

7. Kapitel

Amsterdam 1530

8. Kapitel

Amsterdam 1530

9. Kapitel

Amsterdam 1531

10. Kapitel

Amsterdam 1531

11. Kapitel

Amsterdam 1532

13. Kapitel

Amsterdam 1532

13. Kapitel

Amsterdam 1532

14. Kapitel

Amsterdam 1535

15. Kapitel

Amsterdam 1535

16. Kapitel

Amsterdam 1535

17. Kapitel

Zwei Wochen später

Epilog

Geschichtliche Situation in der Herrlichkeit Gödens 1548

Glossar

Danksagungen

Impressum

Die Personen

Hiske Aalken:

Hebamme in der Herrlichkeit Gödens, einst als Toversche (Hexe) aus Jever hierher geflohen

Der Wortsammler:

eine vergessene Seele, die eine Zuflucht bei der Hebamme Hiske Aalken gefunden hat

Jan Valkenstijn:

Arzt, aus Amsterdam stammend

Garbrand:

katholischer Mönch, aus einem englischen Kloster geflohen und Freund Jan Valkenstijns

Melchior Dudernixen:

Bader in der Neustadt. Mennonit aus Holland

Magda Dudernixen:

Weib des Baders. Mennonitin aus Holland

Anneke Hollander:

Marketenderin und Duuvke (Hure). Mennonitin aus Holland

Klaas Krommenga:

ehemaliger Scharfrichter aus Jever

Friso van Heek:

weit gereister Kaufmann aus Holland

Historische Persönlichkeiten

Hinrich Krechting:

die rechte Hand der Hebrich von Knyphausen, Jurist und Anführer der Menschen in der Herrlichkeit Gödens. Kommt aus Münster, war dort Kanzler von Jan van Leyden, dem großen Täuferführer.

Hebrich von Knyphausen:

Häuptlingswitwe, lenkt nach dem Tod ihres Mannes Haro von Oldersum die Geschicke der Herrlichkeit Gödens.

Jacobus Cornicius:

Stadtarzt aus Emden, Freund Jan Valkenstijns. War als Humanist und Naturwissenschaftler publizistisch aktiv und ein Verfechter der religiösen Reform. Er wirkte u. a. als Leibarzt am ostfriesischen Hof.

Wolter Schemering:

Erster Landrichter in der Herrlichkeit Gödens, ist zusammen mit Hinrich Krechting aus Münster geflohen.

Rothmann:

führender Glaubensprediger aus Münster. Er ist aus der Stadt entflohen, über sein weiteres Wirken gibt es keine gesicherten Erkenntnisse; vermutlich in Holland gestorben.

Elske Krechting:

Erste Frau von Hinrich Krechting, aus Münster an seiner Seite mit den Kindern geflohen

Gräfin Anna von Oldenburg:

Gräfin von Ostfriesland, lebte in Emden, hat versucht, eine Einheit der Glaubensrichtungen zu bewirken.

Johannes a Lasco:

Superintendent, eingesetzt von Gräfin Anna, war maßgeblich an der Neugestaltung des ostfriesischen Kirchenwesens beteiligt.

Dr. Gerhard Westerburg:

auch als Dr. Fegefeuer bekannt, geriet u. a. in Köln in Konflikt mit der Kirchenobrigkeit, musste fliehen und war die letzten Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1558 Pfarrer in Dykhusen (Herrlichkeit Gödens).

Tochter Westerburgs, im Roman Bente genannt:

eine der Töchter Westerburgs, hat im Jahr 1550 den Emder Stadtarzt Jacobus Cornicius geheiratet, ein Name ist nicht bekannt.

Lübbert Jans Kremer:

ein holländischer Kaufmann, überzeugter Mennonit, der die Städte Oldersum und Appingedam sehr gut kannte.

Amsterdam 1524

Seine Hände sind filigran genug für das, was er tun muss. Er hat ohnehin keine Wahl. Unermüdlich lässt er die feine Spitze der Nadel über das Silber gleiten, malt damit das Motiv, das ihm der Meister aufgetragen hat.

»Es ist der Kristall, der das Leben unendlich macht. Er vergeht nie. Niemals.«

Der Mann weiß nicht, zu wem die Stimme gehört, denn der Meister offenbart sich nie, bleibt immer hinter einem Vorhang versteckt oder trägt eine dunkle Ledermaske, die ihn nicht verrät. Der Alte aber weiß um dessen Macht und Kraft, wenn er die Peitsche über seinen Rücken zischen lässt, weil die Arbeit nicht so vonstatten geht, wie der Meister es wünscht. Also schläft er nur, wenn er es nicht vermeiden kann, tut, was von ihm verlangt wird. Der Alte hofft, dass der Meister zufrieden ist. Dann sind ihm diese letzten Tage in Frieden vergönnt, auch wenn Augen und Rücken schmerzen. Wenn er das Werk vollendet hat, wird er sterben.

»Es ist ein Geschenk für das Wertvollste, was es gibt. Du bist der Auserwählte, der es für mich erstellt. Mache es gut, auch wenn es das Letzte ist, was du in deinem Leben tun wirst. Das, was ich getan habe, ist der größte Frevel unter uns Glaubenden. Nie darf jemand davon erfahren. Und du weißt zu viel. So bleibt mir keine Wahl. Ich muss es tun«, hat der Meister gesagt, und der alte Mann spürte die Peitsche zum ersten Mal auf dem Rücken. So heftig, dass ihm das Blut heruntergelaufen ist. Anschließend hat eine dampfende Schale Haferbrei vor ihm gestanden, ein Festmahl für den Alten, ein Essen, das er sonst nicht bekommt.

Welche Wahl hat er? An seinem Bein hängt eine Kette, die der Meister an der Wand befestigt hat. Er ist ihm ausgeliefert wie ein Hofhund. Macht er seine Sache gut, gibt es eine warme Mahlzeit; tut er es nicht, tanzt die Peitsche über seine bereits geschundene Haut.

Obwohl die Hände des Alten immer wieder zittern, gelingt es ihm, die winzig kleinen Linien zu ziehen und das hineinzugravieren, was von ihm verlangt wird. Vor ihm auf dem Tisch glitzert im Kerzenschein ein großer Kristall. Das Licht der Flamme bricht sich in den einzelnen Flächen, verzaubert den Edelstein in ein Mysterium, das ohnegleichen an Schönheit ist. Genau so muss er ihn abbilden. Der Kristall soll in einem Meer schwimmen, mit kleinen Wellen, die seinen Fuß umspielen.

»Wenn die Gravur fertig ist, wirst du aus einer Zacke eine Träne schleifen. Eine Träne, die nie vergeht.«

Der Alte hat schon viel Schmuck in seinem Leben hergestellt, er ist der beste Edelsteinschleifer und Goldschmied weit und breit. Das, was er zeit seines Lebens als Reichtum empfunden hat, wandelt sich nun zu einem Fluch, der ihn vorzeitig ins Jenseits befördern wird. Er war immer gottesfürchtig, hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.

Dennoch ist eines Abends jemand in seine Kammer eingedrungen. Als er aufwachte, lag er in dieser Werkstatt und hatte die Kette am Bein.

Dem Mann tränen die Augen, das Licht der Unschlittkerzen reicht oft nicht, um ihn genau arbeiten zu lassen, zumal sie stark rußen und seiner alten Lunge einen Hustenreiz bescheren. Er muss sich tief über das Silber beugen, die Nadel darübergleiten lassen. Es wird sein Meisterwerk werden, sein absolut gelungenstes Stück. Enden wird es mit der Träne, die kalt ist wie Eis. Weil sie für die Liebe gedacht ist, aber sein Blut daran klebt. Ihm wird es verwehrt bleiben zu sehen, wie das Medaillon über die Haut einer schönen Frau gleitet. Wenn der Alte doch einmal kurz die Augen schließen muss, überkommt ihn das Bild eines jungen Weibes am Saum der See. Das Licht bricht sich in den Wellen, und seine Strahlen spiegeln sich im Silber des Medaillons wider.

Diese Gedanken erfrischen ihn, lassen ihn sein Werk noch besser machen, so lange, bis er wirklich zufrieden ist und jeder einzelne Strich seiner kritischen Begutachtung standhält. Dann ist das Medaillon mit dem Meerkristall fertig.

»Die Träne, die ich hineinlege, soll in Wellen aus Gold schwimmen. Sie soll aussehen, als falle sie genau in dem Augenblick aus meinem Auge«, sagt der Meister, während seine Fingerkuppe über das Medaillon streicht.

Wieder schleift und arbeitet der Alte, weiß, dass sein Ende naht. In dem Augenblick, wo die Träne rollt, ist der Tod gewiss. Seine Bewegungen werden langsamer, er will den Moment hinauszögern. Noch ein bisschen atmen und wenn es die stickige Luft dieser dunklen Werkstatt ist. Noch ein wenig den Schweiß spüren, wie er Stück für Stück über den geschundenen Rücken rinnt. Es ist so wenig, was er noch vom Leben fühlt, und doch ist es ihm so viel.

Der Alte poliert das Silber ein letztes Mal, legt die Träne in das mit dunkelblauem Samt ausgeschlagene Medaillon hinein.

Der Meister schläft noch, er aber wird jetzt nicht ruhen. Er hat noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, die es ihm nicht erlaubt, das müde Haupt schon jetzt aufs Strohlager zu betten. Der Mann schleicht sich, soweit seine Kette es zulässt, in Richtung der Kammer des Meisters, der auf seiner Bettstatt liegt und schnarcht. Dem Alten zittern die Knie. So weit hat er sich noch nie vorgewagt. Der Meister will, dass der Meerkristall in goldenen Wellen badet. Nur wie der Alte das anstellen soll, hat er nicht gesagt. Vielleicht wird er ihn vor seinem Tod noch auspeitschen, wenn er es nicht hinbekommt, oder er wird ihn verhungern oder verdursten lassen. Ein gnädiger und rascher Tod ist ihm nur gewiss, wenn er alles genau so tut, wie es verlangt wird.

In der Ecke der Kammer liegt ein großes Kissen, das mit Goldbrokat bestickt ist. Der Alte legt sich auf den Bauch, angelt danach, und schließlich kann er ein paar Fäden herausziehen. Es dauert eine Weile, ehe er wieder zu Atem gekommen ist. Kaum aber sitzt er auf seinem Hocker, beginnt er, die Wellen hineinzusticken. So füllt er das weiche Blau nach und nach.

Doch noch immer fehlt etwas. Das, was das Kunstwerk zu seinem macht, seine Handschrift trägt, auch ohne dass es für den Meister offensichtlich ist. Das ist dem Alten wichtig, auch wenn nie jemand erkennen wird, dass er es geschaffen hat. Er nimmt den blauen Samt wieder in die Hand und stickt zwischen die Wellen kleine Sterne. Für jeden Tag seiner Arbeit einen und am Ende sieht es aus, als spiegele sich der Himmel im Meer.

Der erste Hahn kräht bereits, als er den letzten Stich tut. Sein Garn ist alle, das Werk vollbracht. Der Alte schließt die Augen und schläft ein.

1. Kapitel

1548, Herrlichkeit Gödens – Ostfriesland

Hiske schlug die Plane beiseite und kletterte vom Wagen. Die Burg Gödens, auf dessen Hof sie sich befand, lag im Dunkel der Nacht, nur ihr Turm wurde vom fahlen Mondlicht angestrahlt. Die Hebamme verspürte keine große Lust, schon jetzt in ihre kleine Kate, die auf dem Weg nach Hebrighausen lag, zurückzukehren. Sie war unglaublich erschöpft. Das Marschenfieber raubte den Menschen in der Herrlichkeit Woche für Woche Kinder und Alte. Meist konnte Hiske nichts tun. Jedes Kind, das starb, empfand sie jedoch als persönliche Niederlage. Sie hatte kein Mittel, kein Kraut, das wirklich half.

Nach der Enge und dem Schweiß im Wagen sehnte sich Hiske nach frischer Luft. Sie machte sich auf den Weg zum Schwarzen Brack, der großen Meeresbucht, und schlug einen forschen Schritt an. Jeder, der sie so sah, würde vermuten, dass sie in großer Eile war, vielleicht auf dem Weg zu einem niederkommenden Weib. In Wirklichkeit aber befand sie sich auf der Flucht. Auf der Flucht vor ihren Gedanken, ihren Gefühlen und der eigenen Unzulänglichkeit.

Sie war froh, als sie am Schwarzen Brack angekommen war und über dessen dunkle Oberfläche blicken konnte. Es wirkte in der Nacht noch dunkler als sonst. Keine Welle kräuselte die glatte Oberfläche, über der die Mückenschwärme tanzten.

Die Tage waren viel zu heiß, die Luft roch modrig, und das Dünnbier schmeckte von Tag zu Tag schlechter. Auch der gute Käse der Holländer konnte den üblen Geschmack nicht mehr auffangen.

Hiske kam häufig allein hierher, immer dann, wenn sie glaubte, vom Leben erdrückt zu werden. So wie jetzt, wo Tod und Krankheit die Menschen knechteten. Menschen, denen sie sich zugehörig fühlte, Menschen, die sie nach langer Zeit als ihresgleichen angenommen hatten.

Hiske setzte sich ins taufeuchte Gras, sah zu den Sternen und zum Mond, der sich schon morgen wieder ganz runden würde. Ruhe durchströmte sie, milderte den Schmerz, der nicht nur wegen der toten Kinder in ihr tobte. Dieser Schmerz hing auch mit Jan Valkenstijn zusammen, der Gödens verlassen hatte und ihr damals nicht hatte sagen können oder wollen, wann er zurückkommen würde.

Hiske dachte oft an den jungen Arzt, dem sie ihr Leben verdankte. Er hatte sie tiefer berührt, als sie es sich eingestand. Nur an Abenden wie diesen ließ sie ihre Gefühle zu. Er war seit fast drei Jahren fort. Nachdem er zunächst behauptet hatte, er bleibe, war er schon kurze Zeit später mit dem nächstbesten Schiff verschwunden. »Ich muss nach Emden. Dort lebt der Stadtarzt Jacobus Cornicius. Er ist Humanist, Naturwissenschaftler und Leibarzt am ostfriesischen Hof. Er hat interessante Schriften verfasst. Ich muss mit ihm reden, mit ihm forschen. Die Medizin ist mein Leben, Hiske. Ich bin nur dazu geboren. Ich komme aber zurück. Bestimmt tue ich das.« Sein »Irgendwann« hatte er nur genuschelt, aber die Hebamme hatte es doch gehört.

Einen Mann wie Jan Valkenstijn konnte man nicht halten. Er war kein Mensch, der in einem Käfig glücklich werden würde. Nicht einmal, wenn man die Tür offen ließ.

Wie gern hätte Hiske den Arzt nun an ihrer Seite, vor allem jetzt, in diesem Gewirr der rätselhaften Erkrankungen, die mit der wachsenden Bevölkerung immer stärker um sich griffen. Es war ja nicht nur das Marschenfieber, das die Kinder und Alten dahinraffte, immer wieder flackerte auch der Typhus auf. Hiske hatte gehört, dass die Lustseuche, die Syphilis, in den benachbarten Städten um sich griff. Sie hoffte, dass diese Geißel vor den Toren der Herrlichkeit Halt machen würde, nur wer konnte sich da sicher sein?

Mittlerweile glaubte Hiske nicht mehr an Jans Rückkehr. Zu viele Stunden der Hoffnung waren vergangen, sie wollte keinen einzigen Funken Erwartung mehr zulassen. Sie war ihm nicht wichtig genug gewesen, wahrscheinlich hatte er längst ein anderes Weib und Kinder. Männer vergaßen schnell. Drei Jahre waren eine lange Zeit. Sie hätte ihm damals vielleicht Einblick in ihre Gefühle geben sollen, aber dazu war die Hebamme zu stolz. »Was hätte es mir auch gebracht«, sagte sie zu sich selbst. »Er wäre trotzdem gegangen, und mein Schmerz wäre größer als jetzt.«

Hiske straffte den Rücken. Sie sollte allein versuchen, die Probleme in der Neustadt und im Lager in den Griff zu bekommen. Ganz gleich, was noch auf sie zukam, ganz gleich, welche Bürden sie noch würde tragen müssen. Immer mehr Kinder starben auf rätselhafte Art und Weise. Und immer in den Sommermonaten, vor allem, wenn es sehr warm war. Im Winter trat die Krankheit nicht auf. Es war, als falle das Fieber zusammen mit den sinkenden Temperaturen tief in den Keller, um im nächsten Sommer mit ganzer Kraft erneut emporzusteigen. Hiske hatte ein paar Schriften studiert und war, wie die Gelehrten, zu der Erkenntnis gekommen, dass das Fieber mit dem Moor und der Marsch und den im Sommer auftretenden Nebeln in Zusammenhang stand. Nacht für Nacht klebten die weißen Schleier wie eine feste Schicht über den Wiesen und dem Sumpfland. Wer wusste schon, was sich in dem geheimnisvollen Weiß verbarg.

Tun konnte sie nichts, wenn die Kleinen, vom Fieber geschüttelt, in ihren Bettchen lagen, im eigenen Schweiß gebadet. Ihr blieb nur der Versuch, die Hitze zu senken, damit sie eine Weile durchhielten. In ganz seltenen Fällen trotzten sie der Krankheit und überlebten.

Garbrand, der alte Mönch, hatte Hiske noch andere, fremdartig anmutende Kräuter gezeigt, mit denen er in England gearbeitet hatte. Er musste vorsichtig sein, damit sein Können nicht auffiel und man ihn als Mönch enttarnte. Obwohl Hiske sich sowieso fast sicher war, dass die meisten Bewohner es wussten oder aber zumindest ahnten. Warum sie den alten Mann dennoch stiekum duldeten, konnte sie nicht sagen, denn schlimmere Feinde als die Papisten gab es für die Täufer, aber auch für die von der Häuptlingswitwe Hebrich von Knyphausen eingeführte reformierte Kirche nicht. Der Hass auf die Katholiken hatte sich in den Jahren nicht verringert, war aber in weniger aggressive Bahnen gelenkt worden. Hiske seufzte auf, nahm ein kleines Stöckchen und warf es ins Wasser. Sie sah den dabei auftretenden Ringen zu, bis sie sich in der Weite des Schwarzen Bracks verloren und den Mond, der sich in der Wasseroberfläche spiegelte, in Falten legten.

Sie würde wohl oder übel so weitermachen müssen wie bisher. Immerhin hielt Hinrich Krechting, der als Armen- und Kirchenvorstand in der Herrlichkeit alle Fäden in der Hand hatte und die rechte Hand Hebrichs war, große Stücke auf sie. Er glaubte daran, dass sie den kranken Kindern die Linderung geben konnte, die sie brauchten. Denn die Mütter scheuten sich, den Bader Dudernixen aufzusuchen, der mit seinen Aderlässen und anderem Firlefanz schon vier Kinder auf dem Gewissen hatte, das aber vehement abstritt. Ein Arzt hatte sich bislang nicht niedergelassen. Nach Jan Valkenstijn war keiner mehr in Gödens gewesen. Der neue Flecken am Siel bot einfach nichts, was einen Arzt verlocken könnte, sich hier anzusiedeln.

Insgesamt war seit dem Bau der Neustadt alles bedrückender geworden. Im Lager an der Burg Gödens war das Leben von allerlei Kurzweil unterbrochen gewesen, weil immer mal wieder ein Gaukler gekommen war, der die Leute von ihrer Tristesse abgelenkt hatte. Nun aber hatten sich eine merkwürdige Strenge und Disziplin über die Menschen gelegt.

»Wir müssen uns von den Papisten abheben, dürfen nicht so ausschweifend leben.« Krechtings Anweisungen waren eindeutig. Auch wenn er sich nicht mehr zum Täufertum bekannte, so regulierte er das Leben in der Herrlichkeit doch nach den Gesetzen der Abstinenz und Einfachheit. Er achtete mit einem solchen Nachdruck auf deren Einhaltung, dass es Hiske manchmal die Luft nahm. Sie schob es auf seine große innere Zerrissenheit. Manchmal, wenn sie sich gegenübersaßen, merkte Hiske, wie die Gedanken des Juristen abschweiften, wie sich ein Schleier der Trauer über das bärtige Gesicht legte und ihn mit einer Verletztheit zeichnete, die kein Maler der Welt hätte einfangen können. In diesen Augenblicken wusste sie, für welchen Glauben sein Herz schlug, egal, was er nach außen hin trug, egal, wie sehr er die reformierte Kirche unterstützte. Hinrich Krechting würde in seinem Herzen immer Täufer bleiben.

Hiske atmete tief ein, glaubte am Horizont ein Segel zu erkennen, aber es war nur der dichte Nebel, der sich immer stärker über die Wasseroberfläche legte und einen Vorhang zwischen der Herrlichkeit und dem Rest der Welt spannte.

Jan Valkenstijn sah in den Sternenhimmel. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war er wieder in der Herrlichkeit

Gödens. Dort, wo er vor über drei Jahren schon einmal angelandet war, dort, wo er für einen kurzen Augenblick geglaubt hatte, seinen Schmerz und seine Schuld vergessen zu können, als er in Hiske Aalkens Augen gesehen hatte, die mit ihrer Mischung aus Blau und Grün eigentümlicher nicht hätten sein können. Aber er war nicht so weit gewesen, konnte sich seine Schuld nicht verzeihen. Er hatte seine Gefühle verdrängt, dabei die Annäherungsversuche Annekes nicht entschieden genug zurückgewiesen. Fast hätte er damit einen großen Fehler begangen, der ihm auch die Rückkehr heute unmöglich gemacht hätte. Anneke war klug, was den Umgang mit Männern anging. Sie hatte nicht eine Sekunde sein Herz berührt, und doch ging von der Marketenderin eine starke körperliche Anziehungskraft aus, der auch er sich kaum entziehen konnte, erkannte er bei ihr doch Parallelen zu einem Menschen aus seiner Vergangenheit, die nicht gut für ihn waren.

In Emden gab es viele schöne Weiber, und er hätte viele haben können. Doch es war kein Augenblick vergangen, an dem er nicht an Hiske gedacht hatte. Immer war ihm ihr schönes dunkles Haar in den Sinn gekommen, der frische süßliche Duft ihrer Haut und ihr Lachen, das nicht schöner sein konnte, vor allem, wenn ihre Augen dabei blitzten. Doch er durfte sie nicht unglücklich machen. Er war ein Mann, der sich nicht binden sollte, ein Mann, der nicht lieben durfte. Zu viel war geschehen, zu viel lastete auf seinen Schultern. Dennoch war die Sehnsucht nach Hiske immer unerträglicher geworden. Überall sah er junge Frauen mit Kindern, überall wurde er mit der Nase darauf gestoßen, was er im Leben verpasste, wenn er sich nicht endlich verzieh.

Jan war hin- und hergerissen, hatte seine Rückkehr in die Herrlichkeit immer wieder verschoben und gleichzeitig nach einem Grund gesucht, endlich wieder zurückzufahren. Als ihm sein neuer Freund, der Arzt Jacobus Cornicius, von der Marschenfieber-Epidemie in Gödens erzählt hatte, war Jan schließlich doch aufgebrochen. Nicht ohne das Versprechen, alsbald zurück nach Emden zu kommen. Sie waren mit ihren Forschungen noch lange nicht fertig.

Als es aber endlich entschieden war, hatte die Erleichterung überwogen. Jan ertappte sich dabei, dass er sich aufrichtig freute. Er stand am Bug des Schiffes und sog die Luft ein. Es war sehr warm, direkt über dem Wasser hatte sich eine dünne Nebelschicht gebildet. Der Geruch hier war ihm vertraut, es war das Gefühl des Nachhausekommens.

»Darf ich mich dazugesellen?« Ein kleiner, eher schmächtiger Mann mit Barett, lustig blitzenden Augen und einer weißen Halskrause über dem schwarzen Gewand stellte sich zu dem Arzt. »Lübbert Jans Kremer ist mein Name. Ich bin Kaufmann und beobachte Euch schon eine ganze Weile. Ich habe Emden mit meiner Frau und meinen drei Kindern verlassen, weil mir die Idee der Neustadt sehr gefällt und wir als Mennoniten dort sicher ein gutes Leben führen können.« Er senkte den Kopf. »Mich hat Hinrich Krechting um Hilfe gebeten. Nach von Ascheburgs Tod benötigt er Unterstützung auf dem Gebiet des Städtebaus. Ich kenne Appingedam und das Siel in Oldersum sehr gut.«

Jan nickte. »Das waren auch die Pläne von Ascheburgs, die er hinterlassen hat. Wisst Ihr, wie weit der neue Flecken vorangetrieben ist?«

»Die Pläne des alten Lokators sind nur teilweise zu nutzen, Medicus. Die Bauern haben den Bau des Ortes an der Stelle, wo er zunächst geplant war, vereitelt. Die Neustadt rückt nun näher an das neue Siel und wird dort immer stärker zusammenwachsen. Zunächst nutzt man beim Bau der Häuser den Weg, der zum alten Hafen geht. Aber es soll eine Planstadt werden, nichts bleibt dem Zufall überlassen. Ich bin gekommen, um die Pläne von Ascheburgs zusammen mit Bruder Krech…«, er verbesserte sich, »Hinrich Krechting zu verändern und umzusetzen.«

»Krechting ist jetzt endgültig reformiert?«, hakte Jan nach. Mit Bruder oder Schwester sprachen sich nur die Täufer untereinander an.

Der Kaufmann nickte. »Nichtsdestotrotz hat er für die Mennoniten eine Menge geleistet.«

»Kennt Ihr auch den Prediger Rothmann, wenn Ihr so weit gereist seid?«, fragte Jan. Seinetwegen war er vor drei Jahren nach Ostfriesland gekommen. Rothmann hatte eine Botschaft für Krechting und die Täufer gehabt, die Jan überbracht hatte.

»Den Vermahner? Ja, den kenne ich. Er wirkt nicht mehr. Habe gehört, dass er bei einem friesischen Edelmann in einer kleinen Herrlichkeit in der Nähe Groningens Zuflucht gefunden hat und dort verstorben ist.«

»Wann?«, hakte Jan nach.

Kremer schürzte die Lippen. »So genau weiß ich das nicht, vielleicht im letzten Jahr. Diese Herrlichkeit hieß Evsum oder so ähnlich.«

Rothmann lebt also nicht mehr, dachte Jan. Dazu passte auch, was ihm in Emden über Krechting zu Ohren gekommen war. Es hieß, dass dieser jetzt ganz in seinem Amt als Armen- und Kirchenvorstand aufging. Anscheinend waren alle Hoffnungen, die Krechting angetrieben hatten, in der Herrlichkeit ein neues Täuferreich zu errichten, mit dem Ableben Rothmanns zunichtegemacht worden.

Lübbert Jans Kremer deutete auf einen dunklen Umriss auf der Backbordseite. »Da ist der Turm von Wangerooge. Es ist die letzte Insel vor der Einfahrt in die Jade.«

Jans Herz klopfte. Seine Freude war ganz eng an das erwartete Wiedersehen mit Hiske gekoppelt. Er hoffte so sehr, dass sie sich nicht gebunden hatte. Und wie er das hoffte!

Die aufgehende Sonne brannte auf sein Gesicht. Noch in der Nacht hatte sich Klaas Krommenga aus Jever aufgemacht. Schlag für Schlag hatte er seine Ruder ins dunkle Wasser getaucht, als er unter dem Sternenhimmel hindurchgeglitten war. Es war schwierig, das alles mit nur einem Bein zu bewerkstelligen, doch sein Hass hatte ihn die letzten Jahre am Leben erhalten und gab ihm auch jetzt Kraft. Er würde nun das vollenden, was zu seinem Lebensinhalt und zu seinem einzigen Ziel geworden war: Die Hebamme Hiske Aalken musste sterben.

Wahrscheinlich würde seine Seele dafür im Fegefeuer tanzen und ewig brennen, aber das war ihm egal. Er hatte so viele Menschen mit seinem Schwert, dem Strick oder dem Feuer ins Jenseits befördert, er kannte alle Zwischentöne des Sterbens und Leidens. Im Himmel war auch ohne den Mord an der Hebamme kein Platz mehr für ihn. Klaas Krommenga hatte nichts zu verlieren.

Er ruderte weiter, freute sich über jeden Meter, der ihn seinem Ziel näherbrachte. Immer wieder musste er innehalten, nach Luft schnappen, denn die wurde ihm oft knapp, vor allem, weil auch in der Dunkelheit noch eine feuchte Wärme über dem Land lag. Je näher er der Jade kam, desto weniger beeinträchtigte ihn dies, nicht einmal die unerträglich vielen Mücken setzten ihm mehr zu. Deren Surren hatte ihn nur zu Beginn gestört, irgendwann war es ihm egal gewesen. Sein Gesicht war von Pusteln übersät, die juckten und ihn immer wieder dazu veranlassten, die Ruder aus der Hand zu legen und sich zu kratzen. Auch daran war dieses Weib schuld. Sie war schuld an allem, was in seinem Leben schiefgelaufen war. Die Begegnung mit Hiske Aalken war der Wendepunkt zu einem Dasein gewesen, das er von dem Augenblick an als ein solches nicht mehr bezeichnen wollte. »Immer der Hölle entgegen«, grummelte er. Bevor er aber im Fegefeuer ankam, würde er sie mit sich reißen. Sie sollte brennen. Das, was er ihr schon in Jever zugedacht hatte, würde er jetzt einlösen. Klaas wusste, wo er das Weib finden würde. Drei Jahre waren verstrichen, aber dann hatte Satan ein Einsehen gehabt und ihm ihren Aufenthaltsort durch einen Verbündeten zugeflüstert.

»Der Feind ist dir nah, Hebamme. So nah!« Klaas steuerte das Ufer an, er hatte eine Stelle entdeckt, wo er ohne Schwierigkeiten anlegen konnte, denn dank der Toverschen, dem Hexenweib, war er lange nicht mehr so behände, wie er es ohne sie gewesen wäre.

Klaas vertäute das Boot an einem niedrig gewachsenen Baum und legte sich im Schutz des Schilfes zum Schlafen nieder. Er wollte die für ihn zu helle Sonne zum Ruhen nutzen und nur in der Dunkelheit weiterfahren. In der nächsten Nacht oder am Morgen darauf würde er den neuen Hafen anlaufen, und dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Wer es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, war des Todes.

Anneke Hollander hatte eben den letzten Kunden verabschiedet. Der Morgen verdrängte die Nacht. Ihr Leben war falsch, und doch zwang ihr knurrender Magen sie dazu, auf diese Weise ihr Geld zu verdienen. Von nichts konnte auch sie nicht leben. Ihr Einkommen reichte kaum aus. Es war immer schwerer, einen Schap zu bekommen oder auch nur ein Stück Käse oder Brot, selbst das Mehl war teuer geworden.

Ihr Tun in den Nächten war gegen alles, was der Glaube gebot, gegen jede Verordnung, die Krechting erlassen hatte. Sie musste vorsichtig sein, damit er nichts davon erfuhr. Er hatte es streng untersagt, aber was sollte die Enthaltsamkeit? Auch die Täufer und Mennoniten waren Menschen mit Bedürfnissen, ob es Krechting gefiel oder nicht. Die immer häufiger einlaufenden Schiffe brachten weitere Kunden mit. Anneke zuckte mit den Schultern. Sie musste tun, was sie tun musste, eine Wahl hatte sie nicht. Die beiden Frauen, die sie beschäftigte, gaben ihr einen Großteil des Verdienstes ab, dafür bekamen sie eine Kammer, Brot und Dünnbier und hin und wieder das Gekröse eines Hammels. Am Ende jeder Woche gab sie den beiden eine Münze, die sie zu Stillschweigen verpflichtete, denn Krechting würde sie ansonsten der Herrlichkeit verweisen. Während sich einst noch ein Hauch von Güte in seinem Gesicht befunden hatte, vor allem, als er seine Visionen leben wollte, zeigten sich dort nun nur noch Härte und Unnachgiebigkeit. Seine Augen hatten das darin früher lodernde Feuer verloren, nichts war mehr übrig von dem, was alle im Burgkeller, bei ihren heimlichen Versammlungen, gefesselt hatte. Diese fehlende Glut glich Krechting nun durch einen unbedingten Machtwillen und eine unsägliche Konsequenz aus. Einzig im Beisein der Hebamme zeigte er sich von seiner freundlichen Seite, wie auch immer dieses Weib es geschafft hatte, einen solchen Mann für sich zu gewinnen.

Bei Jan Valkenstijn war ihr das aber nur kurz gelungen, denn er war gegangen. Dennoch verspürte Anneke immer wieder einen Stich, denn dass der Arzt nicht in ihrem Bett gelandet war, hatte sie ganz eindeutig dem Hebammenweib zu verdanken. Hin und wieder beschlich Anneke eine große Wut. Auf sich, aber auch auf Jan Valkenstijn, der einfach sang- und klanglos verschwunden war. Sie hätte ihn damals stärker um den Finger wickeln sollen. Er war eine verlorene Seele, und auch wenn er es sich nicht eingestand, so suchte er doch nach körperlicher Nähe, die sie ihm hätte geben können. Im Gegenzug dazu wäre sie davon befreit gewesen, ihre Beine für andere Männer zu spreizen. Sie war nur froh, dass er sich auch nicht für Hiske entschieden hatte. Denn das wäre für Anneke nur schwer zu ertragen gewesen. Zudem sie einem Mann größere Wonnen bereiten konnte als eine Frau wie die Hebamme, deren Hände zwar Kinder aus den Frauenleibern pflückten, die aber ein männliches Gemächt vermutlich noch nie mit dem Verlangen eines Weibes berührt hatte.

Anneke verschloss die Tür. Jedes Mal, wenn sie das tat, verspürte sie einen Trotz gegenüber der Obrigkeit. Was bildete sich Krechting als Täufer aus Münster eigentlich ein, hier alles bestimmen zu können? Sie, die Menschen, mussten hier leben und mit erheblich weniger auskommen als er, der ein Daunenkissen und keines aus Stroh unter seinem Haupt wusste. Dazu kam die Ablehnung durch die einheimische Bevölkerung. »Mennisten und Loegenpack« wurden sie beschimpft, wenn sie ihnen begegneten. Als Deichbauer waren die Holländer gut genug, aber sonst sollten sie sich still verhalten. Krechting hingegen genoss ein hohes Ansehen bei allen, was sicherlich auch an der Gunst der Häuptlingswitwe lag. Alle Hoffnungen ruhten auf dem Juristen, damit die Neustadt wuchs und zu Ruhm und Ehre kam.

Nun sollte bald jemand eintreffen, der Krechting bei der Ausführung der Pläne unterstützen sollte. Das hatte Anneke zumindest gehört. »Vielleicht ist der Mann ledig, und ich kann bei ihm landen«, flüsterte sie. »Keiner redet über meinen heimlichen Nebenverdienst, und so werde ich nie als Duuvke bezeichnet. Das öffnet mir die Türen auch zu den reichen Männern. Sie nehmen sich zwar Frauen wie mich, würden sie aber nie ehelichen.« Sie lächelte und dachte: Kein Fremder weiß von meinem Tun, wenn ich es geschickt anstelle. Mit etwas Glück würde auch Jan Valkenstijn irgendwann zurückkommen, und dann wäre sie schneller als Hiske, die sich ebenfalls noch nicht vermählt hatte, obwohl es tatsächlich unter den Deicharbeitern ein paar Werber gegeben hatten. »Na, wer dunkle und geheimnisvolle Weiber mit solch merkwürdigen Augen mag.«

Anneke besah den Morgen, die ersten Sonnenstrahlen erwärmten die Luft. Sie würde nur kurz schlafen können, bevor der neue Tag mit neuen Hoffnungen und Träumen begann, die sich spätestens in der Nacht, wenn der letzte Freier gegangen war, wieder zerschlagen hatten.

Amsterdam 1524

Als der Meister in die Werkstatt tritt, ist der Alte tot. Er hält das Medaillon in der offenen Hand, die Kette hat sich um den Zeigefinger geschlungen.

Der Meister schafft den Mann hinters Haus. Er ist schwerer als gedacht. Der Morgen dämmert bereits, noch sind kaum Menschen auf den Straßen unterwegs. Amsterdam schläft noch. Hinter dem Haus befindet sich eine Gracht, die träge vor sich hinfließt. Dort bindet er ihm Backsteine an Füße und Hände und legt ihn auf die Wasseroberfläche. Die Gracht öffnet kurz ihren Schlund, und er verschwindet darin, als habe sie ihn gierig verschluckt. Es wird dauern, bis man ihn findet, und niemand kann eine Verbindung zwischen dem Meister und dem Edelsteinschleifer herstellen. Er hat ihn sorgfältig in einer anderen Stadt auserwählt und darauf geachtet, dass sie sich zuvor niemals über den Weg gelaufen sind.

Der Meister setzt sich im Licht der aufgehenden Sonne an seinen Küchentisch, öffnet das Medaillon, sieht auf die Kristallträne, die in einem Meer aus dunklem Samt, Sternen und Goldwellen badet. Es wird das Letzte sein, was sie von ihm hört, denn seine Berufung ist eine andere. Er kann, er darf niemals lieben, das ist nicht sein Weg. Er hat schwere Sünden auf sich geladen, die er nun abarbeiten muss.

Kein Weib wird mehr bei ihm liegen, keine weiche Haut mehr die Seinige berühren. Nun, wo es vollbracht ist, muss er das Priestergewand erneut anlegen, ist nie wieder der Meister mit einfacher weltlicher Kleidung. Er wird endgültig zurückkehren in sein gottesfürchtiges Leben. Morgen für Morgen, Abend für Abend wird er sich kasteien. So lange, bis die Haut auf dem Rücken aufgeplatzt ist, so lange, bis er mehrmals täglich das Blut gespürt hat.

Er ist es nicht wert, anders weiterzuleben. Er hat gehurt, er hat getötet, er hat Leben gezeugt. Aber er hat auch etwas geschaffen. Dieses Schmuckstück und diese Träne, die ewig weinen wird, weil er dennoch nicht anders konnte als zu lieben.

2. Kapitel

Hiske war, obwohl sie nur wenige Stunden Schlaf gefunden hatte, früh aufgestanden, denn sie musste in die Neustadt, weil ein Weib niederkam. Die Fäuste ihrer Magd hatten laut gegen die Tür geschlagen und kein weiteres Ausruhen geduldet. Die Hebamme war müde, wusch sich mit noch fast geschlossenen Augen Hände und Gesicht.

Für den Wortsammler, ihren Ziehsohn, stellte sie eine Schale Haferbrei hin, die er wie immer mit drei großen Schlucken leeren würde. Er war noch größer und kräftiger geworden, seit er bei Hiske regelmäßig etwas zu essen bekam. Sie hatte nicht viel, aber es reichte, um nicht krank zu werden, und es reichte, um mit gefülltem Magen dem Tagwerk nachzugehen. Wenn die Weiber mit ihren Diensten zufrieden waren, gab es nicht nur die von Krechting festgesetzten Münzen, sondern meist noch etwas Mehl, Graupen oder Hafer, womit Hiske etwas Essbares herstellen konnte. In der letzten Woche hatte sie sogar ein gerupftes Huhn geschenkt bekommen, das sie, zusammen mit dem Wortsammler und Garbrand, als Festmahl zu sich genommen hatte.

Mit dem Sprechen haperte es nach wie vor bei dem Jungen. Er war weder in der Lage, ganze Sätze zu bilden, noch alle Dinge beim Namen zu nennen. Er schöpfte weiterhin Wortfantasien, die oft über Hiskes Vorstellungswelt hinausgingen. Hinzu kam, dass er keine klare Aussprache hatte und die Silben oft nuschelte. Einzig Garbrand verstand meist, was der Wortsammler sagen wollte, und so war er eine Art Vaterersatz, zumindest aber ein enger Vertrauter, für ihn geworden.

Anfänglich hatte Hiske versucht, ihm seinen wirklichen Namen, den seine Mutter ihr genannt hatte, zurückzugeben, doch er reagierte nicht, wenn man ihn mit Balthasar ansprach. Also nannte ihn jedermann nur den Wortsammler, und der andere Name war in Vergessenheit geraten. Vergessen, so wie das Jahr seiner Geburt. Er musste jetzt ungefähr zwölf Lenze zählen, obwohl er beileibe älter wirkte und das alle eine lange Zeit getäuscht hatte.

Hiske schlug sich das Tuch um die Schultern und machte sich auf den Weg. Der Boden war noch feucht vom Tau, und über den Wiesen waberten die Morgennebelschleier. Ein Blick zum Hammrich, ein Sumpfgebiet, das sich hinter der Burg erstreckte, zeigte ihr auch da eine weiße Wand, die sich nach und nach verflüchtigte, als schöbe sie jemand Stück für Stück beiseite. Hiske sah ein altes Bauernweib über die Wiesen darauf zusteuern. Sie würde von den dort niedrig wachsenden Weiden Zweige für die Korbherstellung schneiden.

Hiske lief mit schnellem Schritt, es war zu Fuß ein Stück des Weges. Sie hatte schon überlegt, die alte Hofstelle aufzugeben und Krechting zu bitten, ihr in der Neustadt ein kleines Haus zur Verfügung zu stellen. Die Wege waren im Winter nur schwer begehbar, und so würde es ihr nicht möglich sein, immer rechtzeitig bei den Weibern in der Neustadt anzukommen. Doch in dem Fall würde es andersherum für sie schwer werden, die Niederkommenden in Dykhusen zu erreichen. Vielleicht war es aber möglich, ein Gefährt zu bekommen, um die Entfernung leichter überwinden zu können.

Als sie die Straße zum alten Hafen betrat, sah sie aus dem Augenwinkel, dass am neuen Siel tatsächlich ein großer Kahn angelegt hatte. Sie empfand es stets als willkommene Abwechslung, wenn ein Schiff kam. Vermutlich auch, weil sie immer wieder die Hoffnung hegte, dass eines Tages Jan darauf einfahren würde. Die Schiffe wurden immer größer, die früher einlaufenden Knorren waren seit Kurzem von anderen Schiffen wie Hulk oder Kraweel abgelöst worden, seitdem das neue Siel befahrbar war, wenngleich sich die Fertigstellung noch hinzog.

Sie wunderte sich allerdings, dass Krechting zu früher Stunde an ihr vorbeistürmte und nur kurz innehielt, um Hiske eine knappe, höfliche Aufwartung zu machen. »Gott grüße Euch, Hebamme«, sagte er. »Mit dem Schiff ist der Mann angereist, der die Neustadt mit mir fertigbauen wird, damit wir zu Wohlstand kommen in der Herrlichkeit. Ich empfehle mich!« Damit lief er weiter.

Hiske war das altbekannte Blitzen in seinen Augen nicht entgangen. Hinrich Krechting hatte eine neue Aufgabe, die ihn ausfüllte, das gab ihm hoffentlich seinen Schwung und seine Lebenskraft zurück.

Sie eilte weiter zu einem Haus, das mit roten Backsteinen gemauert und mit roten Ziegeln gedeckt war. Es war eine kleine ebenerdige Kate. Im vorderen Teil befand sich die Bäckerei, im hinteren schlossen sich Schlafraum, Küche und Kuhstall an.

Der Ehemann stand vor der Backstube, winkte die Hebamme nach hinten durch. Sie musste die Kammer nicht suchen, das Stöhnen des Weibes hallte Hiske entgegen. Sie lag mit großen Augen in ihrer Bettstatt und wirkte erleichtert, als die Hebamme eintrat. Hiske tastete die Lage des Kindes ab, untersuchte die Frau. Die Wehen waren noch nicht kräftig.

»Es dauert noch. Ich komme gleich wieder, lasse aber Kräuter zum Kauen hier, die dir die Schmerzen nehmen.« Hiske sah die Furcht in den Augen der Gebärenden, es war ihre erste Niederkunft.

»Lass mich nicht allein!«, bat sie die Hebamme.

Hiske strich dem Weib über die Stirn, setzte sich auf die Bettkante. »Hör zu, ich laufe nur zum neuen Siel. Es ist ein Schiff gekommen, und ich muss sehen, ob sie frische Kräuter, Öle und Töpfe für mich haben, damit ich euch alle weiter behandeln kann. Wenn ich zu spät komme, hat mir der Bader wieder alles vor der Nase weggeschnappt.«

Obwohl er es nicht braucht und dies nur tut, um mir eins auszuwischen, dachte die Hebamme. Sie sagte es aber nicht laut, weil sie keine Zwietracht säen wollte.

Das Weib nickte. »Es dauert also noch?«

»Ja, versuche, zwischen den Wehen zu ruhen, noch geht es, denn sie werden in immer kürzeren Abständen über dich kommen und an Stärke zunehmen. Nutze die Zeit jetzt, damit du bei Kräften bleibst.« Mit diesen Worten stand sie auf und ging hinaus.

Vor der Tür wartete der Mann. »Ist es bald auf der Welt?« Hiske schüttelte den Kopf. »Nein, aber bleibt ruhig. Alles ist gut. Ich bin gleich zurück.«

Als Hiske wieder auf die Straße trat, schlug ihr schon jetzt die aufkommende Wärme entgegen. Es würde wieder ein stickiger, sehr warmer Tag werden. Der Juni hatte es in diesem Sommer in sich. Es war heiß, und es gab viel zu viele Mücken, die in riesigen Schwärmen über dem Wasser verharrten und dann vor allem am Abend über die schlafenden Bewohner herfielen. Hiske konnte ihre Stiche an Armen, Beinen und im Gesicht kaum noch zählen. Der Weg zum neuen Siel war lediglich ein Trampelpfad, holprig und nur schwer zu begehen, vermutlich würde das die nächste Straße sein, die sie bauen würden. Einfacher wäre es, am Deich zu laufen, dort entlang wurden auch alle Waren transportiert. Doch es war ein Umweg.

Als Hiske den neuen Hafen erreichte, herrschte schon reges Treiben. Die Waren wurden abgeladen, das Deck geschrubbt. Viele Menschen hatten sich versammelt, ein großer Teil war ungewaschen und sofort als Reisende kenntlich. Der Bader Dudernixen rannte hin und her und versuchte, den Ankommenden sein neues Badehaus schmackhaft zu machen. Es stieß Hiske ab, wie er sich den Menschen anbiederte. Dennoch ließen sich ein paar von ihm in Schlepp nehmen.

Magda Dudernixen schlich hinter ihrem Mann her, sie war seit dem Tod ihres Kindes nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie konnte es nicht verwinden, dass ihr das Marschenfieber binnen kürzester Zeit das Kind genommen hatte. Für die Frau hegte die Hebamme mittlerweile großes Mitleid. Die Geburt des Kindes war schwer gewesen, fast hätte Hiske es wagen müssen, ihr den Bauch aufzuschneiden. Doch kaum war das Kind ein paar Tage auf der Welt, hatten die Dämpfe der Moore es infiziert und gleich in Gottes Arme zurückgegeben. Obwohl Hiske sich nicht sicher war, ob der Bader nicht nachgeholfen hatte. Nur – wer sollte ihn anklagen, wenn die eigene Frau vor ihm kuschte wie ein geprügelter Hund?

Das Marschenfieber war auch am Hafen in aller Munde. Immer wieder schnappte Hiske das Wort auf, die Menschen waren in großer Sorge. Wenn man nur etwas dagegen tun könnte, dachte sie. Während die gesunden, kräftigen Menschen lediglich von einer großen Hitze befallen wurden, die kam und ging, bis sie schließlich verschwand, raffte sie die Kinder und Alten dahin. Sie hatten nur selten genug Widerstandskräfte, der Krankheit etwas entgegenzusetzen, und waren oft in wenigen Tagen tot.

Hiske näherte sich dem Schiff, es war eine Kraweel. Der Sielwärter stand an seinem Häuschen und kontrollierte das Geschehen. Hiske blickte sich suchend um, bemüht, einen Gewürzhändler zu entdecken, dem sie das abkaufen konnte, was sie an Kräutern in der Herrlichkeit nicht finden oder selbst anbauen konnte, obwohl ihr Kräutergarten eine Menge hergab. Sie hatte auch schon versucht, ein paar der fremden Kräuter zu ziehen, aber häufig starben die Pflanzen. Der Boden war zu schwer und zu salzhaltig, da gedieh längst nicht alles.

Leider wurden ihre Hoffnungen heute enttäuscht. Gerade als sie sich abwenden wollte, zuckte sie zusammen. Hiske glaubte an eine Täuschung, aber dann sah sie doch ein zweites Mal hin, und sofort glitt ein Lächeln über ihr Gesicht, ein Lächeln, das seit drei Jahren darauf wartete, endlich den Menschen zu treffen, für den sie es aufgespart hatte.

Ihre Augen begegneten einander in genau demselben Augenblick. Jan schob sofort alle Umstehenden zur Seite, lief auf die Hebamme zu und verneigte sich vor ihr. Er hatte sich kaum verändert, lediglich der Ausdruck der Augen erschien hinter dem freudigen Aufglimmen noch trauriger geworden zu sein. »Schön, dich zu sehen, Hiske. Ich bin zurück.«

Sie schwieg, zog sacht die Augenbrauen hoch und wartete ab, was Jan ihr noch zu sagen hatte. So sehr sie sich freute, so sehr war sie aber auch der Ansicht, er müsse zunächst erklären, warum er eine so lange Zeit verschwunden war und sich mit keiner Zeile gemeldet hatte. Jan zögerte nicht lange. Es war, als sprudelten die Worte aus ihm heraus, weil er sie sich die ganze Zeit im Kopf zurechtgelegt hatte und sie endlich aussprechen durfte. »Ich war all die Jahre in Emden bei Jacobus Cornicius. Wir haben viele Dinge erforscht, haben Erkenntnisse gewonnen, die den meisten Ärzten noch fremd sind. Vesalius’ Abhandlungen über die Anatomie haben wir studiert, die Schriften Girolamo Fracastorius’, der sich mit Seuchen beschäftigt hat, und diejenigen von Paré, der Erkenntnisse in der Wundversorgung hat wie kein anderer. Und Cornicius verfasst selbst Schriften! Ich muss dir so viel erzählen.« Er hielt kurz inne, schien selbst zu merken, dass das nicht die Worte waren, die sich die Hebamme von ihm erhoffte, so sehr sie die Beweggründe verstand. Er räusperte sich. »Ich bin jetzt hier, weil ich von der Marschenfieber-Epidemie gehört habe. Vielleicht kann man was tun. Es gibt über Seuchen ganz neue Erkenntnisse.« Jan war so in seinem Element, dass er die beiden Männer gar nicht bemerkte, die hinter ihn getreten waren.

»Wollt Ihr uns nicht vorstellen?«, fragte der eine, der eher klein und schmächtig wirkte.

Jan fuhr herum. »Natürlich. Das ist Hiske Aalken, Hebamme in der Herrlichkeit.« Er wies mit der Hand auf den Mann.

»Lübbert Jans Kremer, Kaufmann aus Emden.«

»Dann habt Ihr ja ebenfalls eine weite Reise hinter Euch«, sagte eine dunkle Stimme.

»Wer seid Ihr?« Jan fuhr herum und musterte das Gesicht des stattlichen, gut aussehenden Mannes, dem seine Unwiderstehlichkeit offensichtlich bewusst war. Dennoch machte er auf Hiske einen umgänglichen Eindruck, was vor allem an seinem verschmitzen Gesichtsausdruck und den Grübchen lag, die sich selbst beim Sprechen zeigten. Auch die Augen, die der Farbe von Bernstein ähnelten, machten ihn interessant. Er war ein Mensch, der andere auf Anhieb fesseln konnte.

»Ich bin Friso van Heek, Kaufmann aus Amsterdam. Ihr müsst Jan Valkenstijn sein. Euer Ruf eilt Euch voraus, werter Medicus!« Frisos Worte dröhnten, seine Stimme kam Hiske nunmehr ein wenig zu laut und aufgesetzt vor.

Jan schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, Euch kennenzulernen. Das ist Hiske Aalken, ihres Zeichens Hebamme in der Herrlichkeit.«

Friso van Heeks Blick wanderte zu Hiske und verweilte eine Spur zu lange auf ihr, als dass es nicht anzüglich wirkte. Er lächelte, verneigte sich und schien in ihren Augen zu baden. Hiske kannte eine solche Reaktion durchaus. Jan schien der eindringliche Blickkontakt zwischen dem Kaufmann und Hiske nicht besonders zu behagen. »Was verschlägt einen Kaufmann wie Euch in diese Einöde?«, fragte er und brach damit den Bann.

Der Kaufmann nickte Hiske freundlich zu und erwiderte:

»Geschäfte, Medicus. Ich habe vom Bau des neuen Siels gehört und dass es in der Herrlichkeit einen großen Handelsaufschwung geben wird, wenn alles fertiggestellt ist. Ich bin immer gern einer der Ersten, wenn es etwas zu holen gibt!« Der Kaufmann lachte, und wieder klang es eine Spur zu laut.

Mittlerweile war Jan ein wenig auf Abstand gegangen.

Der Blick Friso van Heeks wandelte sich ständig, so als lauere er auf etwas. Hiske kam es vor, als ruhten in dem Mann zwei Seelen, die miteinander Verstecken spielten, und als zeigte sich immer dann die richtige, wenn es passte. Sie hatte den drei Männern schweigend zugehört. Während der Kaufmann sprach, hatte sich aus dem Ausschnitt seines Wamses, über dem er eine kunstvoll gearbeitete weiße Spitze trug, ein Medaillon herausgearbeitet. Es pendelte hin und her, glitzerte im Morgenlicht, das darin zu tanzen schien. Hiske konnte die Augen nicht davon abwenden. Das Schmuckstück war wunderschön.

Friso van Heek hatte ihren Blick bemerkt, griff zum Medaillon und zeigte Hiske die Vorderseite, die silbern glänzte und auf der ein im Meer schwimmender Kristall abgebildet war. Alles war filigran und sehr auffällig gearbeitet. Ein echtes Kunstwerk. »Eigentlich trage ich es nicht zur Schau, es ist ein Erbstück und sehr kostbar. Ich lege es nie ab. Erinnerungen, versteht Ihr?«

Noch während er das Medaillon in Hiskes Richtung drehte, sah sie, als sich der Ärmel nach oben zog, die große Narbe, die sich vom Unterarm her bis zum Handrücken erstreckte. Sie war breit und ganz bestimmt nicht zusammengenäht worden, dazu waren die Zacken am Rand zu unregelmäßig. Wie ein rosafarbiger Wasserarm floss das Wundmal über die tief gebräunte Haut des Kaufmanns.

»Ihr habt in einer Schlacht gekämpft?«, fragte Hiske. Die Narbe hatte ihre Neugierde geweckt.

Der Kaufmann ließ das Schmuckstück los, steckte es wieder in den Ausschnitt zurück und lächelte. »Eine alte Verletzung«, sagte er. »Nicht mehr der Rede wert.«

Hiske war kurz versucht, nachzuhaken, doch es ging sie ja nichts an. Es würde sie allerdings bestimmt noch weiter beschäftigen, weil auch der Mann Friso van Heek sie beschäftigen würde. Sie wunderte sich selbst über ihr unverhohlenes Interesse, vor allem, da Jan eben zurückgekehrt war und ihre Aufmerksamkeit dennoch von Friso van Heek besetzt war.

»Wie seid Ihr in die Herrlichkeit gelangt? Mit dem Schiff eben könnt Ihr nicht gereist sein.« Dann wäre Jan schließlich nicht so verwundert gewesen.

Der Kaufmann verzog das Gesicht. »Ich bin mit einer kleinen Knorr von Emden her gekommen. Eine schrecklich ermüdende und lange Reise.« Sein Blick hatte sich bei Hiskes Frage erneut gewandelt. Er wirkte plötzlich vorsichtig.

Mit dem Mann schien etwas nicht zu stimmen, so als ob er ein gut gehütetes Geheimnis verbarg, das er auf gar keinen Fall preisgeben wollte. »Wo seid Ihr untergekommen?«

»In der Krocht. Es soll ein Rattenloch sein, werte Hebamme. Wahrlich ein Rattenloch!«

Hiske nickte bestätigend, der Wirt der Krocht war dafür bekannt, es mit der Sauberkeit nicht allzu genau zu nehmen.

»Habt Ihr eine andere Idee, wohin ich mein müdes Haupt ansonsten betten könnte?« Nun war Friso wieder der gefällige, überaus zuvorkommende Mann, der gern eine Frau um den Finger wickelte. Hiske war der Blick, der diese Worte begleitet hatte, nicht entgangen, und sie trat einen Schritt zurück. Friso van Heek verstand es wirklich, allein mit seinem Gebaren Grenzen zu überschreiten. So etwas ließ in Hiske alle Alarmglocken schrillen. Sie befürchtete, dass er ein Mensch war, der keine Skrupel kannte und seine Interessen gegen alle Widerstände durchsetzte.

Auch Jan hatte die Worte und die darin enthaltene Anspielung bemerkt, und so zeigte sich zwischen seinen Brauen eine tiefe Furche. Es war wohl besser, nicht allzu freundschaftliche Beziehungen mit Friso van Heek zu pflegen. Hiske ging allerdings davon aus, dass er vermutlich ohnehin mit dem nächsten Schiff verschwinden würde, denn Kaufleute blieben nie lange in dem Flecken, da es noch nicht viele Geschäfte zu tätigen gab. Und schon gar nicht, wenn sie mit einer Unterkunft wie der Krocht vorliebnehmen mussten. Also wandte Hiske sich Lübbert Jans Kremer zu, der nach wie vor ein freundliches Leuchten im Gesicht trug. Er hatte lustige Augen, ihm schien jegliche Bösartigkeit zu fehlen. Es war, als lache er ständig und begrüße das Leben stets mit einer Zufriedenheit und Ausgeglichenheit, die es ihm unmöglich machte, auch nur einen Moment mit seiner Umgebung gram zu sein. Er wurde bereits von seinen drei Kindern umringt, die es nicht abwarten konnten, endlich in die Neustadt aufzubrechen. Doch er strich allen freundlich übers Haar, mahnte sie zur Geduld und widmete nun Hiske seine ganze Aufmerksamkeit. »Ich werde Krechting bei der Arbeit zur Hand gehen«, erklärte er. »Die Pläne von Ascheburgs müssen übertragen werden, hier wird eine Stadt entstehen, wie sie an Bedeutung in Ostfriesland ihresgleichen suchen wird. Das, was Ihr hier seht, ist nur der Anfang.«

Hiske nickte. Das also war der Mann, auf den Krechting gewartet hatte. Er würde seine Sache gut machen, daran zweifelte sie nicht. Lübbert Jans Kremer war jemand, den sie sich gut an der Seite des Juristen vorstellen konnte. Menschen ohne Argwohn waren so wichtig in Zeiten wie diesen. Was ihr aber weiterhin nicht gefiel, war der Blick Friso van Heeks, der, weil er sich unbeobachtet glaubte, sowohl Kremer als auch Jan seltsam beäugte. Nach seinen letzten Worten fühlte sie sich äußerst unwohl in seiner Gegenwart. Hiske schätzte Menschen nicht, die ihr wahres Ich hinter Schleiern verborgen hielten und sie nur dann abnahmen, wenn sie es für richtig hielten.

Hiske beschloss zu gehen. Mit Jan konnte sie später sprechen, hier war nicht der rechte Ort. Sie wollte allein mit ihm sein. Es gab so viel, was unausgesprochen zwischen ihnen schwang und nicht für fremde Ohren bestimmt war. Nun hatte sie so lange auf ihn gewartet, da kam es auf die paar Stunden auch nicht mehr an.

»Ich empfehle mich, werte Reisende. Eigentlich hatte ich gehofft, hier einen Kräuter- oder Gewürzhändler zu finden. Aber leider ist keiner mitgereist. Nun muss ich gehen, ein neuer Erdenbürger wird die Herrlichkeit bald mit seinem Dasein bereichern. Die Frau des Bäckermeisters kommt nieder.«

Jan fasste sie sacht an der Schulter, hielt sie zurück. Seine Augen waren warm. Und ehrlich. Er hatte nichts von seiner Einzigartigkeit verloren. »Warte kurz. Wie geht es meinem Freund Garbrand? Spricht er dem Alkohol noch immer so zu?«

Hiske lächelte. »Er trinkt am liebsten Moscatella, wenn er ihn bekommt, was selten genug ist. Aber dem Genever und Branntwein ist er auch nicht abgeneigt. Wann wirst du ihn aufsuchen? Er lebt noch in der Wagenburg, wird aber schon bald in die Neustadt übersiedeln, wenn sich eine Kammer findet.«

»Ich gehe alsbald zu ihm«, sagte Jan.

»Er hat dich mehr vermisst, als er zugibt«, fügte Hiske hinzu.

»Ich ihn auch, sehr sogar.« Jans Stimme klang weich.

Wenn er das doch auch von mir sagen könnte, dachte Hiske und wandte sich zum Gehen.

»Ich würde mich gern mit dir über das Marschenfieber unterhalten. Deine Beobachtungen sind wichtig und können hilfreich sein. Wann können wir das tun? Wir müssen der Seuche Einhalt gebieten, sonst sterben noch mehr Kinder. Es ist ja mit ein Grund, warum ich hier bin.«

Und der andere?, dachte Hiske. Bist du meinetwegen hier oder geht dir Anneke nicht aus dem Kopf? Würde sie Jan wirklich etwas bedeuten, dann wäre er doch viel eher zurückgekommen. Laut sagte sie: »Ich lasse dir eine Botschaft zukommen, wenn meine Arbeit getan ist. Wo kann ich dich finden?«

»Ich werde beim Landrichter Wolter Schemering wohnen, wie beim letzten Mal auch.«

»Dann suchst du auch jetzt keine langfristige Bleibe«, stellte Hiske fest. Sie merkte selbst, wie enttäuscht sie war, zumal Jan ihr nicht widersprach. Er würde hier erneut nicht Fuß fassen wollen.

Sie verabschiedete sich von den Männern mit einem Kopfnicken und raffte ihre Röcke, damit sie am Saum nicht zu staubig wurden, denn schon jetzt hatte die Sonne den Boden getrocknet.

Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Friso van Heek. Die Wärme seiner Haut brannte sich durch ihre Kleidung, ließ ihr Herz schneller klopfen. »Wisst Ihr wirklich nicht, wo ich sonst Unterschlupf finden kann? Gibt es keine andere Herberge?« Hiske schüttelte den Kopf, sah sich nach Jan um, doch der war bereits in der Menge der Ankommenden verschwunden. Er sieht mir nicht einmal nach, dachte sie, riss sich aber zusammen und antwortete Friso van Heek: »In der Neustadt gibt es leider nichts. Das wird alles erst gebaut. So lange müsst Ihr Euch mit der Krocht zufriedengeben, auch wenn es alles andere als ein bequemes Wirtshaus ist. Doch die Burg Gödens ist nah, und es ist immer noch besser, als kein Dach über dem Kopf zu haben. Bitte entschuldigt, aber das Weib wartet.« Hiske wischte seine Hand von ihrer Schulter, glaubte anschließend ein Brennen zu spüren.