Der Moderne Knigge (Satire) - Julius Stettenheim - E-Book

Der Moderne Knigge (Satire) E-Book

Julius Stettenheim

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Beschreibung

In seinem Werk 'Der Moderne Knigge' präsentiert der Autor Julius Stettenheim eine satirische Darstellung der Etikette und gesellschaftlichen Normen des 19. Jahrhunderts. Mit scharfem Witz und Ironie durchleuchtet Stettenheim die absurditäten und Heuchelei der damaligen gesellschaftlichen Konventionen. Sein literarischer Stil zeichnet sich durch pointierte Dialoge und eine subtile Kritik an den oberflächlichen Gepflogenheiten der Zeit aus. Dieses Werk kann als kritische Reflexion über die Machtstrukturen und sozialen Hierarchien der Epoche verstanden werden. Der Autor Julius Stettenheim, ein bekannter Satiriker und Journalist der damaligen Zeit, war bekannt für seinen scharfen Verstand und seine kritische Haltung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Stettenheims eigenes Leben und seine Erfahrungen in den höheren Kreisen der Gesellschaft dienten ihm als Inspiration für dieses Werk. Seine satirischen Werke erlangten großen Bekanntheitsgrad und prägten maßgeblich das literarische Schaffen des späten 19. Jahrhunderts. 'Der Moderne Knigge' ist ein faszinierendes literarisches Werk, das sowohl Historikern als auch Literaturliebhabern einen Einblick in die gesellschaftlichen Normen und Werte des 19. Jahrhunderts bietet. Mit seiner cleveren Satire und treffenden Kritik ist dieses Buch ein Muss für jeden, der sich für die Geschichte der Etikette und die sozialen Strukturen vergangener Epochen interessiert.

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Julius Stettenheim

Der Moderne Knigge

(Satire)

Leitfaden durch das Jahre und die Gesellschaft (Leitfaden durch den Winter und durch den Sommer)

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1277-4

Inhaltsverzeichnis

I. Leitfaden durch den Winter
II. Leitfaden durch den Sommer

I. Leitfaden durch den Winter

Inhaltsverzeichnis

Längst gefühlten Bedürfnissen abzuhelfen, ist seit undenklichen Zeiten des Schriftstellers angenehmer Beruf gewesen. Ob ihm dies jemals gelungen ist, das kann ich nicht sagen. Der Leser, der überhaupt immer auf der Linken sitzt, bestreitet es, und die Hochschätzung, mit der ich dem Leser, als unserem unentbehrlichsten und nützlichsten Menschen, gegenüberstehe, verbietet mir, ihm entgegenzutreten. Auch ist ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagt. Es giebt viele Schriftsteller, welche mit großem Biereifer nach Bedürfnissen suchen, von denen sie sich nur einbilden, daß es längst gefühlte sind, denn es stellt sich nur zu bald heraus, daß kein Mensch das betreffende Bedürfnis längst gefühlt hat; der Schriftsteller am allerwenigsten längst, meist gar nicht. Er hat nur längst gefühlt, daß er einen Stoff zu einem Feuilleton braucht, und so hat er denn, wenn er den Stoff gefunden hat, ein gar nicht vorhandenes Bedürfnis zu einem längst gefühlten erhoben, um den Leser, der gewöhnlich lesensmüde zu sein pflegt, wachzuhalten, indem er ihm vorgaukelt, daß er etwas Nützliches schreiben wolle. Ich gebe zu, daß dies nicht hübsch von ihm ist. Dies ist der mildeste Ausdruck. Denn eigentlich ist es nicht bloß nicht hübsch. Wenn vor einem Hause, das durchaus nicht in Flammen steht, plötzlich die Feuerwehr erscheint, zu spritzen anfängt und ein Sprungtuch ausbreitet, während die Bewohner des besagten Hauses neugierig lächelnd aus dem Fenster gucken, so kann man doch nicht sagen, daß das Erscheinen der Feuerwehr nicht hübsch sei. Indem die Feuerwehr erscheint und in Thätigkeit tritt, um einem längst gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, das durchaus nicht vorhanden ist, macht sie sich lächerlich. Man darf eigentlich von einer städtischen Wohlfahrtseinrichtung, wie es die Feuerwehr ist, nicht sagen, sie mache sich lächerlich, aber ich sage das dennoch, denn ich habe ja keine bestimmte Feuerwehr im Auge, und ich nehme auch gar nicht an, daß es eine Feuerwehr giebt, welche ein Haus, in welchem keine Feuersbrunst wütet, unter Wasser setzt und vor demselben ein Sprungtuch ausbreitet, in das kein Mensch hineinspringen will.

So viel über das Abhelfen längst gefühlter Bedürfnisse, aus welchem viele Schriftsteller ein Geschäft machen.

Man wird mir vielleicht zugeben, daß es mir nicht an Aufrichtigkeit fehlt, indem ich das Obige niederschrieb, während ich die Absicht hatte, einem Bedürfnis und sogar einem längstgefühlten abzuhelfen und in dieser Absicht auch jetzt noch verharre. Man lasse mich eine Weile (keine lange) weiterschreiben und wird sagen, daß ich wenigstens nicht aufdringlich erscheine, daß vielmehr das, was ich vorhabe, wie das Bestreben, abzuhelfen, aussieht.

Der Winter kommt. Das ist ja nichts Außergewöhnliches. Ich will auch nicht etwa den Winter schildern. Ich könnte auch nichts über ihn sagen, was nicht schon gesagt wäre, und selbst, wenn ich ein impressionistischer Maler wäre und zur Darstellung des Schnees die blaue oder rote Farbe verwendete und die Nasen der im Schnee spazierengehenden Menschen grün malte, so wäre dies zwar dumm, aber heute doch nicht mehr auffallend. Der Winter kommt, und mit ihm erwacht das gesellschaftliche Leben.

Dieses sogenannte Leben äußert sich durch ein mehr oder weniger arges Gewoge in geheizten Räumen, den Treibhäusern der Geselligkeit, in denen die Abfütterungen, der Ball, der Jour fixe und ähnliche Veranstaltungen stattfinden. Unter solchen leidet nur das Haus und das dieses leitende Ehepaar, sowie ein beträchtlicher Teil der Eingeladenen, unter denen nur wenige das schriftstellerische Talent haben, glaubwürdige Absagen zu verfassen. Außer jenen häuslichen Lebensäußerungen des Saisonlebens giebt es noch die öffentlichen, zu welchen man sich durch Einkauf eines Billets den Eintritt verschafft, auch wenn man eigentlich nicht in die Gesellschaft passen würde. Dies sind: der Bazar, das Vereinsfest, die Jubelfeier und der Maskenball. Jedes dieser Feste, sie mögen nun zwischen den vier Wänden des Familienhauses und außerhalb desselben zu erdulden sein, hat seine besonderen Formen, denen gerecht zu werden eine ebenso schwere Aufgabe ist, als es schwer ist, sich diesen Formen zu entziehen. Gegen diese Formen wird oft gesündigt, teils weil sie lästig, teils nicht allgemein bekannt sind. Ich halte es natürlich nicht für ein Unglück, einen Verstoß zu begehen, oder begangen zu haben, selbst auf die Gefahr hin, dadurch auf die Tagesordnung einer aus älteren Damen zusammenberufenen Kaffeekammersitzung zu geraten. Aber es ist doch nicht jedermann in der Lage, dergleichen ruhig ertragen zu können. Es giebt strenge Festgeber, welche einem Gast den Gehrock jahrelang nachtragen, in welchem er statt in einem Frack erschienen ist, und ich könnte Damen namhaft machen, welche jeden Fehltritt, namentlich ihren eigenen, gern verzeihen, aber einem Mann, der der Wahrheit gemäß versichert hatte, er habe sich an ihrer Seite nicht unterhalten, das Ewig-Männliche aberkennen. Es wäre dies erträglich, wenn ein solcher Mann nicht wieder eingeladen würde, aber ein solches Glück gehört zu den größten Seltenheiten, wie das große Los, oder der weiße Rabe, und wer von einem solchen Glück erreicht wird, läuft Gefahr, daß man von ihm sagt, das könne nur einem sehr Dummen passieren. Daher glaube ich, den vielen Tausenden, welche im Winter Gäste werden, mit meinen Erfahrungen und Beobachtungen, mit meinen Ratschlägen und Hinweisen, kurz, mit allem, was ich auf meinen Durchquerungen des Gesellschaftslebens in langer Leidenszeit, die allerdings auch manche heitere Station aufzuweisen hat, gesammelt, nützen zu können.

Ich halte also einen Leitfaden durch den Winter für ein längst gefühltes Bedürfnis, namentlich für solche Gäste, die das Gegenteil erklären, um mich in den Glauben zu versetzen, sie hätten einen solchen Leitfaden nicht nötig. Daß ein Leitfaden immer mit Nutzen zu gebrauchen ist, das wissen wir seit der Heldenthat des Theseus, seit er das mit Recht so unbeliebte Labyrinthvieh erlegt hatte und durch Ariadnes Leitfaden Gelegenheit fand, aus dem ohne Zweifel sehr verbauten Gebäude wieder herauszukommen. Ich weiß nicht, ob Theseus später renommierte, daß er auch ohne den Leitfaden das Lokal des Minotauros hätte verlassen können. Ich glaube es nicht. That er es aber, so war er ein sehr undankbarer Jüngling. Jünglinge sind ja unberechenbar. Und so bin ich darauf gefaßt, daß viele, die sich mit meinem Leitfaden bekannt machen, später sagen werden, sie hätten schon alles gewußt. Ich kenne das. Wann hätte ein Leser nicht schon alles gewußt!

Abfütterungen,

welche unter dem Namen Diner, Souper oder gar Löffelchen Suppe auftreten, sind eine für Wirt und Gast gleich traurige Einrichtung, so erfreulich eine Einladung zum Speisen in kleinem Kreise zu sein pflegt. Zum Speisen wurde immer eingeladen, seit die erste Aufforderung Evas an Adam erfolgt ist, dagegen ist die Abfütterung das Gegenteil. Hier bläst der Wirt alle zusammen, welche zu seinem Hause in irgend eine Beziehung getreten sind, oder gegen die er eine Verpflichtung zu haben glaubt. Das abfütternde Paar hat unter herzbrechenden Flüchen und den Hausfrieden störenden Zänkereien alle Einrichtungen getroffen, daß die Teilnehmer der Tafel zufrieden sein werden. Die bunte Reihe ist mit großer Mühe arrangiert worden. Da treffen die Absagen ein. Einige Lebemänner melden, daß sie zu ihrem großen Bedauern (lies: Vergnügen) eine Reise anzutreten haben, oder so erkältet sind, daß sie auf das Glück (lies: Schicksal) verzichten müssen, in dem lieben Kreis erscheinen zu können. Die Dame des Hauses muß die bunte Reihe umbauen. »Immer sagen die Nettsten ab!« meint sie. Aber den Kommerzienrat kann sie nicht neben die Frau Professor placieren, weil er nur die Dekolletierten vertragen kann, die Frau Professor aber fast bis an die Zähne gegen die Neugier bewaffnet erscheint, und diese verschlossene Frau kann nur essen, wenn sie neben einen Mann gesetzt wird, welcher die Geschichte der Hohenstaufen kennt. Dies ist ihre Spezialität. Wer also eine Abfütterung beizuwohnen hat, thut gut, sich vorher nach dem Thema, welches seine Tischdame anzuregen pflegt, zu erkundigen. Meist wissen dies die Hausfrauen anzugeben, so daß man sich vorbereiten kann. Wird ein wissenschaftliches Thema genannt, so ist die Vorbereitung leichter zu nehmen, weil die betreffende Tischdame sich nur gefürchtet machen will, selbst aber ihren Gegenstand nur oberflächlich kennt. Wenn man daher während der Prüfung, die man als unglücklicher Tischnachbar zu bestehen hat, dann und wann das Wort »bekanntlich« einfügt, so stutzt die Dame und wagt nicht, zu korrigieren, auch wenn man was ganz Dummes gesagt hat. Dagegen muß man über solche Gegenstände, über welche jede Tischnachbarin heute mit großer Sachkenntnis zu sprechen pflegt, namentlich über das Zweirad, den Torpedo, die verrückte Lyrik und die Theorie Schenck1, irgend etwas sagen können, wodurch die Tischnachbarin beruhigt wird. Vor allem vermeide man, praktische Fragen zu berühren. Ist die Dame sehr mager, so spreche man nicht über die zufällig herrschende Fleischnot, und ist sie reichlich korpulent, so sei man sehr erstaunt darüber, daß sie weder Suppe, noch Kartoffeln esse, wodurch man sie in den Glauben versetzt, man halte sie für auffallend schlank.

Beim Einschenken sei man vorsichtig. Gewöhnlich stecken die Damen ihre Handschuhe in eines der Weingläser. Füllt man nun ein solches Glas, so halten dies die Damen mit Recht für schädlich, nicht etwa dem Wein, sondern den Handschuhen, wodurch man als Freund des Weins unangenehm berührt wird.

Hat man das Glück, vor einem der beliebten großen Blumenarrangements placiert zu sein, so ändere man nichts daran. Man ist dadurch von den Gegenübersitzenden getrennt, während man ohne diese Flora-Vogesen mit dem Paar leicht in ein Gespräch geraten könnte. Das Paar will aber vielleicht selbst nicht gestört sein. Andernfalls kann es auch möglich sein, daß das Paar sehr langweilig ist. Ich habe wohl noch nicht festgestellt, daß bei Abfütterungen die langweiligen Paare nicht zu den Seltenheiten gehören.

Ist man verheiratet und sitzt man neben einer jungen Frau, so nehme man Rücksicht auf die gleichfalls anwesende eigene Gattin und mache nicht zu auffallend den Hof. Man flüstere seiner Nachbarin nichts ins Ohr, schon weil diese Verkehrsart etwas sehr verbraucht ist, sondern sage alles wie im Selbstgespräch vor sich hin. Auch lasse man die Hände der Dame in Ruhe und bediene sich lieber zur Bekräftigung seiner Redensarten statt des Hände-des Füßedrucks, falls die Dame auf solche Eidesform einigen Wert legt. Doch sei man in der Wahl des Fußes vorsichtig und erwische nicht etwa einen Männerfuß, wodurch ein Au! oder ein ähnlicher Schmerzensschrei erweckt wird, den die Umgebung sofort richtig auffaßt.

Wenn getoastet wird, zeige man, daß man ein Mann ist. Vor allem schlage man nicht um sich. Man ändert dadurch nichts. Erstens kann der Toast gut sein oder es allmählich werden, und zweitens dauert er andernfalls ja keine Ewigkeit. Duldsamkeit ist überhaupt eine der schönsten Eigenschaften des Gastes. Auch sei man rücksichtsvoll und ergreife nicht selber das Wort. Befindet sich unter den Tischgästen einer, von dem man weiß, daß er regelmäßig stecken bleibt, so animiere man diesen, einige Worte auf die Wirtin, oder deren Schwiegermutter zu sprechen. Das Steckenbleiben belebt die Stimmung ungemein.

Kommen Lieder zur Verteilung und sind diese in Quart gedruckt, so nehme man zwei Exemplare und wickele Bonbons für die Kinder hinein. Das zeugt von väterlicher Zärtlichkeit. Man achte aber darauf, daß man das Packet nicht in die Hintertasche stecke, auf die man sich später gewöhnlich setzt. Dies haben dann die beschenkten Kinder nicht gern. Bei der Wahl der Bonbons sehe man nicht auf die Ausstattung, unter welcher gewöhnlich die Qualität der Näscherei zu leiden hat.

Über den Umgang mit der Serviette möchte ich einige Zeilen sagen. Zu erschöpfen wird dieser Gegenstand nicht sein. Ich finde, daß die Serviette, obwohl sie so etwas von einer Fahne der Kultur hat, eigentlich stehen geblieben ist und heute noch wie vor hundert Jahren die Speisenden mehr ärgert, als ihnen dient. Wer sie nicht zwischen Hals und Binde steckt, oder gar so befestigt, daß sie als Brustschürze dient, – beides trägt nicht zur Hebung der menschlichen Erscheinung bei – wird die Bemerkung machen, daß sie häufiger den Fußboden als den Schooß bedeckt. Stets strebt sie, herabzufallen, und man könnte deshalb von einer Niedertracht der Serviette sprechen. Der Gast wird natürlich immer wieder dies ebenso nützliche als untreue Wäschestück einzufangen suchen und zu diesem Zweck sich seufzend bücken und die Hand unter die Tischdecke verschwinden lassen müssen. Dieser einfache, harmlose und dem Reinen absolut reine Vorgang wird aber häufig mißdeutet, und es ist daher nötig, daß der tauchende Gast seine Tischnachbarin genau abzuschätzen trachtet, bevor er der abgestürzten Serviette nachjagt. Denn es giebt Damen, welche diese Bewegung ihres Tischnachbars mißdeuten und einen Schrei des Entsetzens ausstoßen, so daß sich Männer in der Nähe finden, welche bereit scheinen, die gar nicht gefährdete Ehre der Schreienden energisch zu schützen. Ich habe durch das Aufheben der Serviette schon höchst peinliche Scenen sich entwickeln sehen, und die Chronik der Soupers weiß sogar von der Aufhebung einer Verlobung zu melden, nachdem die allerdings etwas angejahrte Braut in dem Griff nach der Serviette einen Angriff auf ihre Ehre, oder doch in ihrem Verlobten einen höchst aggressiv sinnlichen Charakter entdecken zu müssen glaubte. Es mag hierbei betont werden, daß es meist die mit den Jahren häßlich gewordenen Damen sind, welche in dem Serviettengreifen fortwährend eine untugendhafte Ausschreitung oder den Versuch einer solchen sehen, während junge, schöne Frauen weniger anmaßend sich zu benehmen pflegen. Ängstliche Männer, namentlich solche, welche ungern in einen ungerechtfertigten Verdacht kommen, werden sich also an der Seite einer jungen Schönen sicherer fühlen können, als an der einer alten Häßlichen.

Wirte sind einzuteilen in solche, die nach Tisch eine rauchbare Cigarre opfern, und solche, deren Cigarren nicht rauchbar, sondern höchstens anzustecken und dann fortzuwerfen sind. Der auf dem Gebiete des Rauchens geschulte Gast hat seine eigene Cigarre bei sich, namentlich wenn der Wirt in der Cigarrenbranche nicht stubenrein ist. Die von solchem Gast verschmähte Cigarre fällt später in die Hände irgend eines der anwesenden Havannadiebe, die in keiner anständigen Gesellschaft fehlen, und bildet somit einen Teil der irdischen Gerechtigkeit, welcher der unehrliche Gast nicht entfliehen kann. Viele Gäste betrachten die Cigarren nach Tisch vogelfrei. Es giebt sehr verwegene Cigarrendiebe, welche in wohlverwahrte Kistchen einbrechen, wie es Gewohnheits-und Gelegenheitsdiebe giebt, welche keinen Cigarrenbecher sehen können, ohne zu einem Eingriff verführt zu werden. Es ist wohl noch kein Fall vorgekommen, daß ein solcher Eingriff gerichtlich geahndet worden ist, aber ich möchte doch auch an dieser Stelle auf das Ungehörige des Cigarrenraubes hindeuten. Wenn der Wirt, nachdem er seine Gäste glücklich losgeworden, einen Blick in seine Cigarrenkisten wirft, die Verwüstungen bemerkt, welche durch die Eingriffe der Gäste angerichtet worden sind, und berechnet, daß jeder Gast etwa in einer Stunde sechs oder acht Zigarren geraucht haben müßte, wenn er nicht wenigstens vier oder sechs entwendet hat, so gerät der Nichtraucher, oder der ehrliche Raucher in einen falschen Verdacht, und schon dieser peinliche Umstand sollte eigentlich genügen, das Stehlen von Cigarren als absolut unstatthaft erscheinen zu lassen.

Naht bei Tisch der Diener mit der Schüssel, so sitze man möglichst still. Jede plötzliche Bewegung könnte die Folge haben, daß man einen Stoß mit der Schüssel bekommt, und daß diese ihren Inhalt über das Festgewand verbreitet. Beides verstimmt.

Verläßt man den angenehmen Kreis, so hüte man sich, zur Ersparung des Trinkgeldes das Dienstmädchen leise zu fragen: Wie geht’s? um mit deren Antwort »Danke« bei den Ohrenzeugen den Glauben zu erwecken, man habe ihr ein Geldstück in die Hand gesteckt. Es ist dies ein Trik, der nur noch in seltensten Fällen gelingt. Die Dienstmädchen sind längst dahintergekommen, geben keine Antwort und öffnen die Hand. Man frage also nicht nach ihrem Befinden, sondern gebe einfach nichts. Dies ist bedeutend gefahrloser, wenn es auch auf das Dienstmädchen einen höchst üblen Eindruck macht.

Ist das Wetter feucht und kalt und ist man ohne Gummischuhe in die Gesellschaft gegangen, so wähle man beim Verlassen des gastlichen Hauses unter den vorhandenen Gummischuhpaaren ein passendes, sende es aber am anderen Morgen prompt zurück. Ebenso verfahre man mit Regenschirmen, auch wenn diese noch fast neu sind. Was ich vorher über die Cigarren gesagt habe, trifft auch hier zu, nur daß der Gastgeber kein Eigentumsrecht an seinen verschwundenen Cigarren geltend machen kann oder mag. Dagegen ließe sich doch an Gummischuhen, wie an Schirmen und Hüten nachweisen, daß man sich solche widerrechtlich angeeignet hat. Es steht wenigstens fest, daß in Gummischuhen geheime Zeichen angebracht worden waren, welche nur der Eigentümer kannte, der denn auch das im Winter mit Recht geschätzte Fußzeug dem Herrn wieder abzog, der sich aus Gesundheitsrücksichten acht Tage vorher an den Schuhen vergriffen hatte.

Wenn man als Eingeladener ein Neuling im gastlichen Hause ist, so hüte man sich, mit Gästen, die man nicht sehr genau kennt, über die Gesellschaft, den Wirt, die Bewirtung &c. zu sprechen, wenn man nicht ein unbedingtes Lob laut werden lassen will. Denn gerade in Salons, in welchen abgefüttert wird, findet man alle Familienmitglieder des Hausherrn und seiner Frau, auch solche, deren Verwandtschaft kaum noch nachzuweisen ist. Selbst wenn diese, wie dies gewöhnlich der Fall ist, sich unzufrieden äußern, stimme man nicht ein. Denn sie hinterbringen natürlich jeden Tadel haarklein, um sich eine Freude zu verschaffen, ohne dabei zu bemerken, daß sie selbst das Schlimmste gesagt haben. Namentlich hüte man sich vor den Verwandten, denen es minder gut geht, als dem Festgeber. Sie sind infolgedessen seine Feinde. Empfangen sie nun gar aus der Kasse des Festgebers regelmäßige Unterstützungen, oder sind sie ihm in anderer Weise dankbar verpflichtet, so versteht es sich von selbst, daß sie auf den Festgeber und sein Fest schlecht zu sprechen sind. Ihnen gegenüber ist die allergrößte Vorsicht geboten. Man wird diese niemals zu bereuen haben. Hat man sich selbst wie niemals vorher gelangweilt, so preist man den Abend, indem man die Hand des Herrn oder der Dame des Hauses ergreift und sie vorläufig nicht wieder losläßt, als den schönsten der gegenwärtigen und der vorigen Saison, und bemeineidige dies auch gegen andere, selbst wenn man nicht wieder eingeladen zu werden wünscht. Immer sage man sich, man könne doch selbst einmal in die Lage kommen, Gesellschaft bei sich zu sehen, die gut abzufüttern und zu unterhalten man sich die größte Mühe giebt, wie dies ja immer geschieht. Noch ist kein Weiser erstanden, welcher sagen konnte, wer mehr zu beklagen sei: der Wirt oder der Gast. Das aber wird jeder sagen, daß es nicht beneidenswert ist, Festgeber zu sein.

Über die Form der

Absagen

etwas Mustergültiges zu sagen, ist schwer. Plötzlich eingetretenes Unwohlsein wird wohl nicht geglaubt, eine nötig gewordene Reise ist deshalb so unbequem, weil man sich wenigstens zwei Tage lang nicht öffentlich sehen lassen dürfte, Zahnweh ist sehr empfehlenswert, weil es sich der Kontrolle entzieht. Von einem Gichtanfall rate ich ab, weil die Gicht eine gewisse Anhänglichkeit besitzt und man so bald nicht glaubt, daß sie sich rasch wieder entfernt hat und daher der Heuchler, der sie vorschützt, monatelang gefragt zu werden pflegt, wie es ihm gehe. Sehr nützlich ist die Angabe, man habe Besuch von Verwandten bekommen, von denen man sich leider an dem betreffenden Abend nicht trennen könne. Doch brauche man die Vorsicht, im letzten Moment damit hervorzutreten, da man sonst Gefahr läuft, daß man die Aufforderung erhält, den oder die Verwandten mitzubringen, wodurch eine neue Verlegenheit entstehen würde.

Eine schöne Kunst ist es, sich gleich nach Tisch entfernen zu können. Aber es ist eine schwierige Kunst. Man darf sich nicht dabei erwischen lassen. Man muß ein scharfes Auge auf die Festgeber werfen und den Moment ausnützen, wo sie sich in einem anderen Raum aufhalten. Jetzt gilt ein rasches Handeln. Man eilt hinaus, greift nach dem Paletot, dessen Schlupfwinkel man sich genau gemerkt hat, und entfernt sich; den Chapeau claque öffne man bei dieser Gelegenheit leise, damit der Knall nicht die Wirtin oder den Wirt herbeilocke, die oder der dann die Flucht vereiteln würde.

Vieles von dem hier Gesagten und Empfohlenen wird sich auch für den

Ball

verwenden lassen, besonders da ein solcher immer mit einem Abendessen verbunden zu sein pflegt. Doch steht der Ballbesucher als solcher und nicht als Tischgast ganz anderen Fragen gegenüber, die sich nicht ganz leicht erledigen lassen. Der Ballgast ist vor allem von dem Aberglauben erfüllt, daß er zu seinem Vergnügen eingeladen sei, und er bestreitet sogar, zu denjenigen zu gehören, die lediglich eingeladen werden, weil sie im Tanzgeruch stehen und weil sich die eingeladenen jungen Mädchen austanzen wollen. Er darf aber nicht eitel und muß fest davon überzeugt sein, daß er, wenn er nicht tanzen könnte, überhaupt nicht eingeladen worden wäre. Natürlich wird ihm das Gegenteil versichert. Die Wirtin, welche selbstverständlich vom lieben Himmel mit mehreren heiratsfähigen Töchtern heimgesucht worden ist, sagt ihm allerlei in diesem Sinne, so z. B. nach dem berühmten Lessingschen Wort, er wäre auch das größte Ballgenie geworden, wenn er unglücklicherweise ohne Beine wäre geboren worden, aber sie sagt ihm das nur, weil sie genau weiß, mit welchem Mißtrauen die Balleinladungen in den Kreisen junger tanzkundiger Männer betrachtet werden.

Der Ball hat sich für diese jungen Männer in der Neuzeit dadurch bedeutend milder gestaltet, daß unsere Damen vom Backfisch aufwärts nur noch vom Radeln unterhalten sein wollen und auch eigentlich von nichts anderem reden. Als das Rad das Ewig-Weibliche noch nicht ganz ausfüllte, war die Ballstellung des Ewig-Männlichen dadurch eine etwas strapaziöse, daß der Ballgast mit seiner Dame irgend etwas plaudern mußte, um sich nicht gar zu unrettbar zu blamieren. Er half sich ja oft mit dem Ödesten, mit dem Theater, aber dieses Kunstgebiet war doch häufig sehr abgegrast, und der Plauderer merkte meist, daß eben schon ein anderer dagewesen war, der genau dasselbe gesagt hatte. Da erschien das rettende Rad, und mit dem Augenblick, wo es begann, die Köpfe und Herzen der weiblichen Welt vollständig auszufüllen, war namentlich für den Radler, der gleichfalls nichts als das Rad kannte, nichts leichter als eine fesselnde Unterhaltung mit einem jungen Mädchen, ja, er brauchte kaum noch viel zu reden, sondern nur das intelligente junge Mädchen plaudern zu lassen.

Nachdem der Ballgast eingetreten ist, bedeckt er die Tanzkarten der Damen mit seinen Autographen. Dadurch bekundet er, daß er die Stellung nicht überschätzt, die ihm als Ballgast angewiesen ist, und daß er keinen höheren Wert zu haben glaubt als den, mit den Beinen diejenigen Bewegungen zu machen, aus denen der Tanz besteht. Bildet er sich ein, etwas anderes zu sein als ein Walzer-Gymnastiker und Redowa2-Parterrekünstler und irgend einer anderen Fähigkeit die Einladung zu verdanken, so täuscht er sich bitter und wird im Lauf des Abends in der grausamsten Weise geduckt.

Er bleibe im Tanzsaal und mache keine Versuche, in das Rauch-und Spielzimmer zu entkommen. Gelänge es ihm, so würde es ihm nichts nützen, denn er würde doch alsbald von der Wirtin verfolgt, harpuniert und in den Ballsaal zurücktransportiert werden, woselbst er dann nach einem Moment des Genusses zügelloser Freiheit die Gefangenschaft um so drückender empfinden wird.

Stürzt man im Tanze mit seiner Dame nieder, so fühle man sich nicht blamiert, sondern sei im Gegenteil überzeugt, daß man einige Tage lang in den Kreisen des Ballgebers einen interessanten Gegenstand des Gesprächs bildet, was man ohne den Sturz wahrscheinlich niemals werden würde. Man beute auch deshalb den Sturz nicht egoistisch dahin aus, daß man angiebt, man müsse ausspannen und könne den ganzen Abend nicht wieder tanzen. Dies wäre nach dem Gesagten überaus undankbar.

Im Zusammentreffen mit älteren und energisch aussehenden Frauen sei man von Vorsicht beseelt, wenn auch Goethe sehr richtig sagt, der Umgang mit Frauen sei das Element guter Sitten. Es giebt eine große Anzahl Frauen, die nur eine gute Sitte kennen: das Stiften von Ehen, und die hierin schon die glänzendsten Erfolge aufzuweisen haben. Sehr viele Ehen sind auf Bällen angestiftet worden, und wenn Eheleute mit guten Gedächtnissen auf den Ursprung ihres so schönen Bundes zurückgehen, so werden sie wahrscheinlich auf einen Ball stoßen, auf welchem eine gewohnheitsmäßige Heiratsstifterin irgend ein Herz baldowerte, das noch frei war und dessen sie sich sofort annahm. Wer also Lust verspürt, unverlobt den Ball zu verlassen, sei, wie gesagt, älteren Frauen gegenüber vorsichtig. Sie haben entweder selbst Töchter, oder haben eine Freundin, die vor Töchtern nicht schlafen kann, und ein junger Mann hat doch keinen Begriff davon, wie rasch er mit der Mutter sprechen und verlobt sein kann. Die Hand eines jungen Mädchens ist im Handumdrehen vergeben, und wenn dann am anderen Morgen der Ballgast im verlobten Zustand aufwacht und es nicht gewesen sein will, so nützt dies in den allerseltensten Fällen.

Den Dienern und Mädchen, welche in den Tanzpausen Getränke herumreichen, weiche man aus. Es sind mandelmilchgebende Gestalten, und wenn sie trinkbare Erfrischungen bieten, so sind dies entweder völlig beruhigte Wässer, oder lammfromme Weine, die zwar den Durst löschen, aber dem Trinker gleichzeitig die Fähigkeit nehmen, die an der späteren Tafel erscheinenden besseren Jahrgänge zu genießen. Sollte man aber dann noch Durst haben und finden, daß der Wein knapp sei, so freue man sich. Denn nicht nur ist der Kater am anderen Morgen eine große Last, sondern bei scharfem Trinken kommt man leicht in die Lage, über alte Anekdoten zu lachen, die von einem beliebten Gast erzählt werden, und von solchem Lachen bis zum Selbsterzählen ähnlicher antiquarischer Scherze ist nur ein Schritt, und beides ist ein Beweis dafür, daß man an einem empfindlichen Mangel eigenen Witzes leidet.

Es kommt auf Bällen vor, daß irgend ein junger Mann dem Klavierspieler die Tasten entreißen und sich zum

Gesang

begleiten läßt. Dies ist für Nervöse und Kluge das Signal zur Flucht. Sie gehen dann in die Räume, wo sich Skatspieler, Bier und Cigarren vorfinden, und versäumen mit Vergnügen mehrere Lieder und Arien, welche sie schon bedeutend schlechter haben singen hören, obschon man sie wohl kaum bedeutend schlechter hat singen hören können. Dasselbe gilt auch meist von den Liedern und Arien, welche von den Primadonnen der Familie vorgetragen werden. Man kann sich also auch diesen entziehen, besonders wenn man von dem Glück, das ohne Reu ist, und von Vorfällen wie einst im Mai bereits seit Jahren unterrichtet ist. Auch kennt wohl schon jeder den weltberühmten Hymnus auf den Wiener Fiaker auswendig, auf den Droschkenkutscher, welcher, ein echtes Wiener Kind, mit seinem Zeugl am Graben hält, die Fahrgäste übers Ohr haut und dem Fremden den Aufenthalt in der liebenswürdigen Kaiserstadt so ungemein verleidet. Auch das Lied, welches einen Einblick in das, was kein Goethe geschrieben und kein Schiller gemacht hat, gerne verschafft, dürfte bereits von jedem Ballgast vom Blatt gepfiffen und kann also ohne Schaden versäumt werden. Aber selbst wenn die Ballgeber Sängerinnen und Sänger von Beruf für die Ballpause gewonnen haben, kann man sich getrost in einen Raum begeben, in welchen ihr Gesang nur dann dringt, wenn die Thür unvorsichtig weit geöffnet wird. Denn ihr Repertoire ist gleichfalls aus höchst bekannten Nummern zusammengesetzt, und was sie dem holden Abendstern zu sagen und über die im Zigeunerstamm übliche Art zu lieben warnend zu bemerken haben, ist bereits in die Ohren aller Schichten der Bevölkerung eingedrungen. Tritt aber trotzdem der ungeheuer sensationelle Fall ein, daß einmal eine neue Gesangsnummer vorgetragen wird, die man also nicht hören würde, so ist dieser Verlust doch gewöhnlich sehr rasch verschmerzt, ganz abgesehen davon, daß man ihr in der nächsten Woche ohne Zweifel wieder begegnet.

Ganz dasselbe gilt von den Vorträgen derjenigen

Gäste, welche ein Instrument spielen.

Ich ziehe sie aber allen vor, denen, um mich gebildet auszudrücken, Apoll der Lieder süßen Mund geschenkt hat, denn diese musikalischen Herrschaften brauchen nur ihren süßen Mund in die gesellschaftlichen Veranstaltungen mitzunehmen, um etwas vorzutragen, während der Instrumental-Virtuose nicht immer sein Instrument bei sich haben kann. Eine Ausnahme machen nur die Pianistin und der Pianist, da sich ein Klavier selbst in solchen Häusern findet, an deren Wänden Stuck fehlt, jeder andere Virtuos muß besonders ersucht werden, Geige, Cello oder Flöte mitzubringen, was aber dadurch erschwert wird, daß damit meist eine Aussicht auf Honorar eröffnet zu sein pflegt. Musiker, deren Instrumente eo ipso ausgeschlossen sind, habe ich besonders lieb. Ich nenne den Kontrebaßspieler, den Bombardonbläser, den Pauken-, Trommel-und Beckenschläger, sowie den Fagottisten.

Unter den Musikern sind solche, welche dem Gast, welcher aus irgend einem Grunde nicht davonzukommen wußte, sehr schroff entgegentreten, wenn er es wagen sollte, während des Spiels einige Worte zu einer Nachbarin oder zu einem Nachbar zu sprechen. Der animierte Gast ist nur zu leicht verführt, zu glauben, daß er zu seinem Vergnügen anwesend sei, was ja gewöhnlich auf Täuschung beruht, und nun nimmt er an, es gehöre dazu auch eine gewisse Freiheit in der Bewegung, namentlich aber die Unmöglichkeit jeder Tyrannei. Der Musiker wird, wenn er ein peinlich tiefes Schweigen verlangt, einen Bruch desselben nicht sofort rügen, aber er wird doch den Gast, wenn er ihm wieder begegnet, mit Vorwürfen überschütten und ihm strenge sagen, wie er sich bei dem nächsten Wiegenlied oder Trauermarsch zu verhalten habe. Das ist nicht angenehm. Zur Vermeidung einer solchen peinlichen Belehrung möchte ich mir erlauben, allen Mitschuldigen die Form zu schildern, in welcher ich vor einiger Zeit den Angriff eines verstimmten und belehrenden Künstlers abgewehrt habe.

An nichts Böses und somit auch nicht an Tischmusik denkend, flanierte ich Unter den Linden, als ein Musiker auf mich zutrat, dessen ersten Worten ich sofort anmerkte, daß er sich zu einem Hühnchenpflücken anschickte. Ich nahm also das Wort: »Mein lieber Freund, vor einigen Tagen war ich in einer Gesellschaft, in welcher ich nach einem langen und sehr ermüdenden Diner das Glück hatte, einen mir sehr lieben Kollegen mit seiner Tochter, einer jungen, sehr schönen und geistvollen Dame, zu treffen. Eine heitere Unterhaltung entspann sich, aber sie war eben im besten Entspinnen, als Sie anfingen, fortwährend ziemlich laut Klavier dazwischen zu spielen, so daß wir kaum unser eigenes Wort zu hören vermochten. Das finde ich doch, um einen ganz milden Ausdruck zu wählen, nicht nett von Ihnen. Unsere Plauderei war wirklich interessant, aber gerade bei Gelegenheit der feinsten Pointen wurden wir durch Ihr Spielen gestört. Sie sahen uns scharf an, ich merkte es wohl. Sie können also nicht zu Ihrer Entschuldigung behaupten, Sie hätten nicht gewußt, daß wir uns vortrefflich unterhielten, wie Sie es unserer lebhaften Art zu sprechen anmerken mußten. Ich kann Ihnen auch nebenbei versichern, daß der Gegenstand unseres Gedankenaustauschs ein mindestens so erfreulicher war wie der berühmte Danse macabre, mit dem Sie uns fortgesetzt unterbrachen. Während einer lebhaften Unterhaltung sollte überhaupt nicht Klavier gespielt werden. Das ist höchst unpassend, und ein gebildeter Pianist wird sich auch nicht so ungehörig benehmen. Mein Gott, wenn man Klavier spielen will, so braucht man sich doch nicht gerade den Saal, in dem geplaudert wird, dazu auszusuchen, man unterläßt es entweder, oder geht, wenn man die Tasten nicht halten kann, bescheiden in einen anderen Raum des Hauses und spielt sich dort aus. Es ist merkwürdig, daß gerade die Musiker so rücksichtslos zu sein pflegen und immer, wenn sich die Gesellschaft eben zum Plaudern niedergesetzt hat, dazwischen musizieren. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich, während Sie mit einem alten Freunde etwas besprechen, plötzlich die Trommel rührte oder ins Waldhorn stieße!«

Man muß nicht glauben, daß ich diese Rede ohne Unterbrechung hielt. Im Gegenteil, mein Musiker versuchte, in jeder zweiten oder dritten Zeile mit einem »Erlauben Sie« zu Wort zu kommen, um mir, wie ursprünglich beabsichtigt war, die bittersten Vorwürfe darüber zu machen, daß ich es gewagt hatte, während seines musikalischen Vortrags mit einem interessanten Menschenpaar zu plaudern. Man thäte gut, gegen derlei anmaßende Künstler allgemein in meiner Weise vorzugehen und so die Gleichberechtigung aller Gäste zu wahren. Dann wird die Unterhaltung der Gäste wenigstens nicht häufiger von den Musikern, als die Musik von der Unterhaltung gestört werden.

Ziemlich mühelos, dagegen sehr dankbar ist die Kunst, auf einem Ball interessant zu erscheinen. Man stehe in einer Ecke und sei stumm. Das wird im allgemeinen für Philosophie oder unglückliche Liebe, häufig wohl auch für beides gehalten. Wird man aber zum Reden gezwungen, so erkläre man alle durchgefallenen Stücke für Meisterwerke und behaupte auch sonst immer das Gegenteil von dem, was allgemein, namentlich von Gebildeteren, gesagt wird. Man wird infolgedessen sehr bald als Charakter gelten, aber man entferne sich dann ziemlich früh, besonders wenn eigentlich nichts mehr kommen kann. Denn der Balltitel-Charakter hat keine rechte Festigkeit und wird nur zu leicht in Hansnarr oder dergleichen umgewandelt.

Wenn man das Unglück hat, einer Dame den Saum des Kleides abzutreten, so sei man nicht untröstlich. Das wird ja doch nicht geglaubt. Sagt aber die betreffende Dame mit bezauberndem Lächeln: »O bitte, das macht nichts, das ist rasch repariert«, so meint sie: Sie sind ein ganz gemeingefährlicher Tölpel!

Man rede eine Dame nicht an, während sie ihren Fächer graziös vor dem Gesicht hält, so daß man nur ihre Augen sieht. Sie gähnt nämlich in diesem Augenblick. Auf Bällen ist Gähnen eines der unveräußerlichsten Menschenrechte, und ihm verdankt der Fächer einen großen Teil seiner Existenz. Gäbe es eine wirkliche Fächersprache, so würde dies noch deutlicher ausgesprochen werden.

Man mache einer schönen Frau keine Komplimente, denn sie wird doch immer behaupten, daß man ihr nichts neues sagt. Sie hat schon alles gehört. Läßt sie dies merken, so revanchiere man sich dadurch, daß man von der Schönheit einer andern Frau spricht.

Einmal tanze man mit der Schwiegermutter des Ballgebers. Das ist die Gewerbesteuer.

Während der Ruhepausen im Kotillon suche man seine Dame bestens zu unterhalten. Von den Gegenständen, welche dabei thunlichst zu vermeiden sind, nenne ich den Käse, den Lustmord, den Zinsfuß, die ägyptische Augenkrankheit, die Müllabfuhr, die Klauenseuche und das Hühnerauge. Auch die Wanderraupe berühre man nur flüchtig.

Beim Dessert strenge man sich an, dem Vielliebchenessen3 auszuweichen. Die Damen gewinnen immer, und dann weiß man nicht, was man nicht schenken soll.

Wenn man eine größere Reise anzutreten gedenkt, so verschweige man dies namentlich den Damen, weil diese bekanntlich bitten würden, ihnen von allen Stationen eine bunte Postkarte zu senden. Da man dies natürlich verspräche und sicher nicht thäte, so ärgert man sich später, daß man es versprochen hat.

Die Ballmutter soll man in Ehren halten. Es verkörpern sich in ihr die Mutterliebe, die Sorge und die Selbstlosigkeit. Keiner Parteien Gunst und Haß vermochte ihr Charakterbild in der Geschichte der Menschheit ins Schwanken zu bringen. Sie mag vielleicht auf den Bällen häufig in die Notwendigkeit versetzt werden, Verkehrsstörungen herbeizuführen, indem sie sich hier und dort in den Weg stellt, um sich zur Geltung zu bringen und allen Anwesenden klar zu machen, daß sie nicht zum Vergnügen erschienen sei, am allerwenigsten zum Vergnügen der jungen Männer, aber das erhöht ihre Würde. Selbst wenn sie, noch in den Jahren unter dem Äquator des Lebens, tanzt, so soll sich der Ballgast sagen, daß sie dies nur aus Liebe zu ihren Töchtern thut. Sie mischt sich gewissermaßen in der Maske der Tänzerin unter die Menge wie ein Kriminalbeamter, der sich auf der Jagd nach einem Gesuchten vermummt hat, um auf die Spur desselben zu kommen. Der junge Mann, der sich über sie beklagt oder lustig macht, verrät dadurch einen gänzlichen Mangel an Gemüt, denn er trifft nicht nur damit vielleicht seine eigene Mutter, er bekundet auch den Mangel an Talent, das Ballleben von seiner ernsten Seite zu betrachten. Die Ballmutter ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. Während alles um sie wechselt, bleibt sie unverändert. Sie ist ewig. Die jungen Männer werden älter, entfremden sich dem Tanz, verheiraten sich, werden den Frauen uninteressant und werden Philister, die jungen Mädchen werden durch die Ehe vom Ballboden rasiert, verschwinden in irgend einen Beruf, blühen zu Mauerblümchen heran und verstecken endlich Hals und Arme in die diskretesten Fabrikate der Textilindustrie, jede Ballsaison bringt neue Menschen, wie sie neue Walzer und neue Eisnamen bringt, Tanzgeschlechter kommen und verschwinden, Assessorenfluten wälzen sich durch die Säle, neue Schwärme von Backfischen tauchen auf und werden von der Zeit wieder verschlungen, aber die Ballmutter bleibt, unberührt von Hitze und Langeweile, im Sturm der Pflicht wetterfest geworden, achtunggebietend durch die Patina der Erfahrung, die sich in jedem ihrer Blicke bemerkbar macht, stolz im Bewußtsein erfüllter Pflicht, ängstlich durch ihre Kenntnis von der Verruchtheit des männlichen Geschlechts und immer Mutter, zu jedem Opfer und zu jeder Liebesthat bereit. Deshalb soll man sie in Ehren halten. Dies soll in erster Linie der junge Mann, der nur zu gern geneigt ist, bei diesem ehrenvollen Titel dumm zu lächeln. Er soll wenigstens aus Klugheit den Respekt nicht vernachlässigen. Denn die Ballmutter kann auch furchtbar werden, wie jedes Geschöpf, das ein Junges zu verteidigen gezwungen ist. Ein junger Mann hat gar keinen Begriff davon, wie er von einer Ballmutter durchschaut wird, die mit ganz besonders scharfen Röntgenstrahlen sieht. Wird er von einer Ballmutter vernichtet, so ist es seine eigene Schuld, ich habe ihn gewarnt.

Bekommt man beim Tanz einen derben Tritt auf den Fuß, so habe man keine Hühneraugen.

Schreibt eine Kotillontour Damenwahl vor und wird man von keiner Dame aufgefordert, so ist dies kein Kompliment, aber man bemerke es nicht. Man ist vielleicht, wie es in höheren Töchterschulen heißt, ein Ekel. Wird man von dieser seiner Unbeliebtheit überzeugt, so verlasse man vor Beginn der Damenwahl, indem man Schwindel vorschützt, der es ja auch ist, den Salon, und komme erst nach Schluß der Tour zurück.

Ist man ein Ekel, so gebe man sich keine Mühe, ein liebenswürdiger Mensch zu werden. Es nützt absolut nichts. Ein Ekel bleibt ein Ekel.