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Alles hatte so hoffnungsvoll angefangen. Rainer hatte im Studium seine Traumfrau Karin kennengelernt, die er auch heiratete und die ihr komplettes gemeinsames Leben durchplante. Beide machten Karriere, bauten sich ihr Wunsch-Haus, dann kam ungeplant Sohn Tim. Als Tim einen Unfall erleidet und in ein Wachkoma fällt, ist nichts mehr wie es war. Rainer sitzt in einem Park auf einer Bank. Und er ist am Ende. Dort begegnet er einem Wildfremden, der etwas tut, das Rainer so noch nie erlebt hat. Der Fremde hört ihm aufmerksam zu, geduldig. Und Rainer erzählt ihm seine ganze Geschichte.
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Momo
von Ansgar Drabe-Soer
Buchbeschreibung:
Alles hatte so hoffnungsvoll angefangen. Rainer hatte im Studium seine Traumfrau Karin kennengelernt, die er auch heiratete und die ihr komplettes gemeinsames Leben durchplante. Beide machten Karriere, bauten sich ihr Wunsch-Haus, dann kam ungeplant Sohn Tim.
Als Tim einen Unfall erleidet und in ein Wachkoma fällt, ist nichts mehr wie es war.
Rainer sitzt in einem Park auf einer Bank. Und er ist am Ende. Dort begegnet er einem Wildfremden, der etwas tut, das Rainer so noch nie erlebt hat. Der Fremde hört ihm aufmerksam zu, geduldig. Und Rainer erzählt ihm seine ganze Geschichte.
Der Autor:
Ansgar Drabe-Soer wurde 1967 in Ravensburg geboren und ist zum Studieren 1989 nach Regensburg gezogen. Seit drei Jahrzehnten arbeitet er als Sozialpädagoge und Arbeitstherapeut im Bezirksklinikum Regensburg. Erst in der neurologischen Reha- bilitation, ab 2003 dann in der Forensik – anfangs in der Erwach- senenforensik, seit 2023 nun in der Jugendforensik. Schreiben ist seit seiner Jugend eine Leidenschaft.
In seinen Geschichten verarbeitet er seinen Berufsalltag und möchte damit Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben und die auch niemand hört.
Impressum
© 2025 Baltrum Verlag GbR
BV 2512 – Der Momo von Ansgar Drabe-Soer
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Lektorat: Baltrum Verlag GbR
Korrektorat: Baltrum Verlag GbR, Simone Drabe-Soer, Sabine Baumer
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
ISBN: 978-3-819759-14-7
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an [email protected]
Druck: epubli
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Momo
Ansgar Drabe-Soer
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
Unendlicher Dank an alle, die zuhören!
Prolog
Das kleine Mädchen hatte rote Wangen. So eifrig war es am Malen. Es war Weihnachten und es hatte die neuen Holzfarbstifte bekommen. Und jetzt wollte es unbedingt ein schönes Bild malen.
Für Mama und Papa, ihnen wollte es eine Freude machen.
Das Mädchen hatte sich über das große Stiftsortiment riesig gefreut. Endlich konnte es ganz, ganz bunte Bilder malen. Viel bunter als mit den alten Stiften. Da gab es nur noch braun, blau, grün, ein kleiner Stiftstummel mit rot und ein noch kleinerer mit gelb. Aber jetzt hatte es alle Farben, die es sich vorstellen konnte, und immer auch noch in verschiedenen Tönen. Von dunkel bis hell. Jetzt konnte es endlich ganz viele verschiedene rote Blumen malen. Hellrote, leuchtend rote, dunkelrote. Und dasselbe ging mit gelb, grün, braun und mit blau. Das Mädchen hatte sich richtig gefreut. Und jetzt malte es wirklich mit Feuereifer.
Was Mama und Papa wohl zu dem Bild sagen würden? Vor allem auf die Sonne war es sehr stolz. Die leuchtete in allen Gelb- und Rottönen, die es in seinem Sortiment finden konnte. Und alle Blumen auf der Wiese waren so bunt, wie es nur ging.
Endlich hatte es auch die letzte Blume fertig gemalt. Das Mädchen sprang auf und rannte die Treppen hinunter. Die Eltern waren in der Küche und bereiteten das Weihnachtsessen zu. Da hatten sie viel zu tun, denn Oma und Opa sollten auch kommen.
»Schaut mal, was ich für ein schönes Bild für euch gemalt habe!«, rief das kleine Mädchen, als es in die Küche stürmte.
»Na, dann zeig mal her!«, sagte die Mama und nahm das Bild.
Ganz aufmerksam schaute sie es an.
Auch der Papa schaute sich das Bild an. Er stand hinter der Mama und blickte ihr über die Schulter. Das kleine Mädchen hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Weil es stolz auf sich war und Mama und Papa eine Freude gemacht hatte.
Aber Mama schaute gar nicht so, wie wenn sie sich freuen würde. Auch Papa lächelte gar nicht, sondern sah richtig ernst aus. Mama beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinab und gab ihm das Bild zurück. Das fand das kleine Mädchen seltsam. Verwirrt nahm es das Bild.
»Wenn du mir mit einem Bild eine Freude machen willst, dann musst du dir richtig Mühe geben, mein Kind«, sagte Mama mit strenger Stimme. »Schau dir mal die Sonne an. Seit wann gibt es so eine bunte Sonne? Außerdem ist sie nicht rund. Und statt Blumen hast du einfach nur kleine Kreise mit irgendwelchen Farben gemalt.«
Das kleine Mädchen hatte seine Augen weit aufgerissen. Nie im Leben hatte es gedacht, dass sich die Eltern nicht freuen würden.
»Warum gibt es braune Blumen auf deiner Wiese, hm? Ich denke mal, dass das grüne Gekritzel da die Wiese sein soll. Ich sehe jedenfalls keine Grashalme«, sagte jetzt Papa.
»Und dein Haus ist ganz schief. Das würde ja umstürzen«, fuhr er streng fort. »Die Fenster sind auch schief. Du weißt doch wie Fenster ausschauen. Ganz gerade und rechteckig. Damit das Glas genau hineinpasst. Nein, so machst du uns gar keine Freude.«
Jetzt senkte das kleine Mädchen verschämt den Kopf. Es war ganz rot geworden. Und die Freude war natürlich auch ganz weg. Stattdessen schämte es sich jetzt. Wie hatte es nur denken können, dass sein Bild schön war?
»Nein, da hat Papa recht. So können wir uns nicht freuen. Weil wir wissen, dass du es viel besser kannst. Ich glaube, du solltest nochmal in dein Zimmer gehen. Mal uns ein neues Bild, aber diesmal gibst du dir richtig Mühe, damit es wirklich schön wird, ja?!
Versprichst du mir das?«, fragte die Mama.
Das kleine Mädchen hatte genickt.
Dann ging es zurück in sein Zimmer. Es war sehr enttäuscht, dass Mama und Papa das Bild nicht gefallen hatte, und es hatte auch gar keine Lust mehr zu malen. Aber es hatte ja versprochen, ein neues Bild zu malen und es wollte unbedingt, dass Mama und Papa sich doch noch freuten.
Also setzte es sich wieder hin und begann zu malen. Die Sonne malte es rund. Mit geraden Strahlen. Und weil sie nicht bunt sein durfte, wählte es ein dunkles Gelb und malte sie damit aus. Die Wiese malte es mit unendlich vielen kurzen, grünen Strichen. Die Finger des kleinen Mädchens taten richtig weh, so viele grüne Striche musste es malen. Und es dauerte auch ganz schön lange, bis es genügend Blumen gemalt hatte, damit die Wiese bunt wurde. Endlich war es fertig und das Mädchen war sehr froh. Es hatte keinen Spaß gemacht und eigentlich gefiel ihm das Bild auch nicht, aber es hoffte, dass Mama und Papa das Bild jetzt gut fanden. Es nahm das Blatt und rannte wieder in die Küche.
»Schaut mal, jetzt hab’ ich mir ganz viel Mühe gegeben«, rief es.
Die Mama nahm das Bild und schaute es sehr genau an. Und auch Papa betrachtete das Bild. Das kleine Mädchen stand da und schaute ängstlich zu ihnen hoch.
»Ja, ich sehe, du hast dir viel mehr Mühe gegeben. Aber du hast das Haus vergessen. Du willst uns doch kein Bild ohne das Haus schenken, oder?« Damit gab sie ihr das Bild und drehte sich wieder zu den ganzen Töpfen um. Papa sagte sogar gar nichts.
Das kleine Mädchen ging wieder in sein Zimmer. Nahm einen Bleistift und malte ganz konzentriert ein Haus. Es gab sich ganz viel Mühe, dass alles gerade und rechteckig war, damit nichts umstürzte und damit auch Glas in die Fenster passte. Als es endlich fertig war, ging es wieder in die Küche. Und diesmal war Mama zufrieden.
»Jetzt hast du es sehr schön gemacht. Ich sehe, wie du dir Mühe gegeben hast. Und was hast du daraus gelernt, mein Kind?«, fragte Mama dann das kleine Mädchen.
»Ich muss mir immer Mühe geben«, sagte das kleine Mädchen.
»Richtig,« sagte die Mama, »man muss sich immer so viel Mühe geben, wie man kann. Man kann alles immer besser machen als man denkt. Wenn man sich anstrengt. Und nur, wenn es ganz perfekt ist, ist es wirklich gut.« Dann streichelte sie dem kleinen Mädchen kurz über die blonden Haare, legte das Bild auf die Anrichte und wandte sich wieder dem Herd zu. Das Mädchen drehte sich um und ging wieder auf sein Zimmer. Vom Malen hatte es genug.
Dass Papa das fertige Bild gar nicht angeschaut hatte, fiel ihm gar nicht auf.
Erstes Kapitel: Der Momo
Es ist ein Samstagmorgen wie gemalt. Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne taucht die Stadt in ein leuchtendes Gelb. Es ist zwar erst Mai, trotzdem ist es schon fast 20 Grad warm. Und es ist windstill.
Rainer ist das egal. Selbst wenn es jetzt schneien würde, das Wetter spielt keine Rolle für ihn. Er geht mit energischen, ausladenden Schritten die lange Hauptstraße entlang. Seine Hände stecken in den Hosentaschen seiner Jeans. Dadurch pendelt sein Oberkörper stark bei jedem Schritt. Den Kopf hat er gesenkt, sein Blick nimmt nur die Straße, ungefähr zwei bis drei Meter vor ihm, wahr. Die wenigen Fußgänger, die ihm entgegenkommen, weichen aus.
Rainer biegt nach rechts in eine leicht gebogen verlaufende Alleestraße ein. Hier verläuft der Fußgängerweg im Schatten von großen Ahornbäumen, die auf einem Grünstreifen stehen. Die modernen Mehrfamilienhäuser und kleinere Geschäfte werden zunehmend von alten Stadtvillen abgelöst, die, weiter zurückgesetzt, teilweise hinter geschmiedeten Toren in großen Gärten mit hohen Bäumen stehen.
Rainer stapft weiter. Am liebsten wäre er in irgendeinem einsamen, riesigen Wald. Ganz allein mit sich und seiner Verzweiflung. Seiner Ohnmacht. Seiner Scham.
Aber in der Stadt gibt es keine riesigen einsamen Wälder und an das Auto hat er nicht gedacht, als er sein Haus fluchtartig verlassen hat. Nochmal zurückgehen ist keine Option, überhaupt keine. Also bleibt nur der Ostpark. Der liegt ein Stück weg vom Stadttrubel, weg von den Einkaufszentren und den Hauptverkehrsadern. Außerdem ist er schon früher öfter in dem Park gewesen. Da gibt es eine Ecke, die ist sehr abgeschieden und nur schlecht einzusehen. Da steht eine Parkbank. Die ist sein Ziel.
Hoffentlich ist sie nicht besetzt, denkt er verzweifelt, er braucht jetzt diese Bank, braucht diesen Platz, um nachzudenken.
Er stellt sich vor, wie irgendjemand darauf sitzt, und zwar so, dass kein Platz mehr ist. Stellt sich vor, dass er dann dasteht und nicht weiß, wohin. Seine Fantasien lassen seine Verzweiflung und seine Ohnmacht unerträglich werden, lassen seinen Puls hochschnellen.
Er beschleunigt seinen Schritt nochmals, als befände er sich in einem Rennen gegen unsichtbare Gegner und nur der Sieger würde einen Platz auf der Bank ergattern. Die Alleestraße mündet in eine Kreuzung. Rainer biegt erneut rechts ab. Und steht nach wenigen Metern vor einem großen Tor. Es ist offen. Der Park ist für einen Stadtpark uralt und wurde zu einer Zeit angelegt, als Bodenspekulanten und Investoren noch nicht jeden Quadratmeter des Stadtgebietes ins Visier genommen hatten. Aus der Luft betrachtet bildet er ein fast drei Hektar großes Oval.
Er ist einer lichten Waldlandschaft nachempfunden, mit größeren Baumgruppen aus riesigen alten Buchen, Linden, Eichen und Ulmen. Dazwischen schlängeln sich schmale ausgekieste Wege, die an kleineren Wiesen vorbeiführen. Diese sind teilweise gesäumt von Büschen aus Schlehen, Hartriegel und Weißdorn. Außen herum führt ein Rundweg, mit spärlichen kleinen Straßenlaternen ausgestattet.
Die Sonne taucht den Park in ein leuchtendes Grün der frischen Blätter. Auf den kleinen Wiesen blühen gelb jede Menge Löwenzahn, die das Licht wie kleine Sonnen zu reflektieren scheinen. Die Luft duftet frisch und würzig.
Rainer hat keinen Blick für die Schönheit des Morgens. Kurz registriert er, dass, soweit er sehen kann, kein Mensch im Park ist. Dann stapft er einen Weg entlang, in Richtung der versteckten Parkbank.
Während er geht, zieht er seine schwarze Lederjacke aus. Ihm ist viel zu heiß geworden. Aber auch das fällt ihm erst jetzt auf, weil sein T-Shirt schon ziemlich verschwitzt ist.
Rainer folgt dem Weg um ein kleines Wäldchen herum, dann sieht er, leicht versetzt hinter Büschen, schon seine Bank.
Rainer bleibt stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
Verdammt, denkt er frustriert. Soweit er es erkennen kann, sitzt da schon jemand. Anscheinend ein großer Mann. Verdeckt durch die Büsche ist es nur schwer auszumachen. Dafür ist das neue Frühlingslaub schon zu dicht. Ich will, dass er geht! Bitte, lass ihn gehen, fleht Rainer innerlich.
Aber vielleicht täuscht er sich auch und da ist niemand. Schnell setzt er sich in Bewegung, biegt um die leichte Linkskurve und steht dann wenige Meter vor der Bank. Tatsächlich sitzt ein großer Mann darauf. Das Alter des Mannes lässt sich nur schwer schätzen. Immerhin sind die Haare ziemlich grau und das Gesicht hat deutliche Falten. Der Mann trägt eine schwarze Jeans und einen gelblichen Pullover, der so gar nicht dazu passt. Er hat die Hände im Schoß gefaltet und wirkt ruhig und entspannt. Kurz blickt er zu Rainer, um dann wieder in den Park zu schauen.
Verdammt, verdammt, verdammt, denkt Rainer verzweifelt.
Aber zumindest sitzt der Mann ganz am linken Eck der Bank, so dass genügend Platz für ihn bleibt. Trotzdem hat er die Bank nicht für sich allein. Und das ist schlecht. Rainer beschließt, sich trotzdem hinzusetzen. Er wird sich einfach so abweisend und unfreundlich geben, dass der andere bald verschwindet.
Rainer geht mit großen Schritten zur Bank und lässt sich geräuschvoll ganz auf der rechten Seite nieder. Dann rutscht er mit dem Gesäß ganz nach vorne, lehnt sich weit nach hinten an und verschränkt die Hände vor der Brust. Seine Beine streckt er weit aus. Den Blick hat er stur auf einen Punkt auf dem Weg gerichtet. So bleibt er regungslos sitzen und versucht, so aggressiv und ablehnend wie möglich zu wirken.
Seine ganze Aufmerksamkeit hat er auf den Mann gerichtet. Hat er sich bewegt? Herübergeschaut?
Was der sich wohl jetzt denkt? Ob der wohl merkt, dass er will, dass er geht?
Rainer ist 40 Jahre alt, mittelgroß und geht gerade noch als nicht dick durch. Zusammen mit seiner Stirnglatze und der Hornbrille wirkt er bestimmt nicht wie ein trotziger Halbstarker, den er jetzt gerade mimt. Aber Rainer weiß keine andere Möglichkeit, keinen anderen Protest.
Der andere scheint sich nicht zu bewegen.
Verdammte Scheiße, geh endlich, denkt Rainer.
So sitzt er einige Minuten. Und weil der Mann so ruhig dasitzt, driftet langsam seine Aufmerksamkeit ab, hin zu dem Grund seiner Verzweiflung. Seine Gedanken schweifen wieder zurück zum frühen Morgen.
Er sieht sich selber, sieht das Kissen, sieht Tim. Sieht sich wieder aus dem Haus stürmen. Immer und immer wieder laufen die Bilder vor seinem inneren Auge ab.
Hätte er es wirklich gemacht? War er schon so weit? Schon so am Ende, so verzweifelt, so ohnmächtig?
Was war nur in ihm vorgegangen? Rainer seufzt laut auf, lehnt sich nach vorne und vergräbt seinen Kopf in seine Hände.
Ich halte es einfach nicht mehr aus, denkt er verzweifelt, ich kann nicht mehr. Mein ganzes Leben ist so was von kaputt.
Er krallt seine Hände in sein Gesicht. Ja verdammt, er ist gefangen in einer Sackgasse. Aber was soll er machen? Es gibt einfach keinen Ausweg. Aber irgendetwas muss sich ändern. Das ist ihm seit heute Morgen klar. Nur was, verdammt nochmal, was soll er machen, martert er sein Gehirn.
Denn es eskaliert sonst. Alles. Alles fliegt ihm um die Ohren. Ach Quatsch, es ist bereits eskaliert. Es war schon am Fliegen! Er war heute kurz davor gewesen zu töten. Seinen eigenen Sohn! Rainer ballt verzweifelt die Fäuste vor seinen Augen. Plötzlich nimmt er eine Bewegung wahr. Rainer dreht den Kopf. Der Mann neben ihm sitzt noch genauso da wie vorher. Aber er hat den rechten Arm in seine Richtung gestreckt und hält ihm ein Päckchen Papiertaschentücher hin. Eines griffbereit, halb herausgezogen.
Auf einmal fällt Rainer auf, dass er weint. Seine Fäuste sind ganz nass.
Verdammt, jetzt heul ich hier auch noch herum in aller Öffentlichkeit, denkt er verschämt. Wortlos greift er sich ein Taschentuch, dabei nickt er kurz dem Mann zu. Heftig wischt er seine Augen trocken und dann schnäuzt er sich. Er hat das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
»Äh, danke, es ist nur, es …«, vage deutet er in den Park, wie wenn er Heuschnupfen hat.
»Egal was es ist, es braucht jedenfalls ein Taschentuch«, sagt der Mann freundlich. »Wenn Sie noch eines möchten, ich lege Ihnen die Packung hin.«
Rainer braucht tatsächlich noch eines. Dankbar greift er zu. Dabei sieht er aus den Augenwinkeln, dass der Mann wieder seine ursprüngliche Haltung eingenommen hat und diskret in den Park schaut.
Rainer reibt sich die letzten Tränen aus den Augen, schnäuzt nochmal, dann atmet er ein paarmal tief durch. Irgendwie hat er jetzt das Bedürfnis, sich und sein Verhalten zu erklären.
»Wissen Sie, was ein richtiger Scheißtag ist?«, fragt er den Mann.
Dieser wendet sich ihm zu, sagt freundlich: »Ich glaube, so wie es Ihnen gerade geht, wollen Sie nicht wirklich Erlebnisse aus meinem Leben hören, stimmt’s? Aber es ist völlig in Ordnung, wenn Sie etwas erzählen wollen.«
Rainer ist verdutzt. Es interessiert ihn wirklich einen Dreck, ob der Mann schon Scheißtage gehabt hat oder nicht. Aber ihm etwas erzählen, einem Wildfremden? Will er das wirklich? Und vor allem, es ist nicht so einfach, das alles zu erzählen. Vieles ist ihm selber nicht klar, für vieles schämt er sich. Und das ging niemanden etwas an.
Andererseits, was soll’s? Verschlechterte es seine Situation? Sicher nicht. Auch hat er nichts vor. Und eigentlich hat er auch keinen Plan, wie es weiter gehen soll. Also war es egal. Und sein Bedürfnis, sein ganzes Dilemma jemanden zu erzählen ist riesengroß, wenn er ehrlich ist. Hat er jemanden, dem er sich sonst anvertrauen könnte? Eigentlich hat er auch keinen Freund, nur Kumpels, Arbeitskollegen und Bekannte. Da ist tatsächlich niemand. In den letzten Jahren ist er zunehmend isoliert worden oder hat sich isoliert, beides stimmt irgendwie. Er schaut zu dem Mann hinüber. Der sitzt einfach nur da, blickt zurück. Scheint alle Zeit der Welt zu haben. Rainer zögert noch ein bisschen.
»Das ist eine richtig lange Geschichte«, sagt er dann vorsichtig.
»Wissen Sie was, gegenüber vom Park gibt es eine Bäckerei. Ich hole uns zwei Kaffee und bis ich wieder da bin, können Sie sich ja überlegen, ob Sie Ihre Geschichte erzählen wollen, oder nicht. Und zu was Sie sich auch immer entschließen, es ist dann eine gut überlegte Entscheidung. Aber ich denke, einen Kaffee können Sie auf jeden Fall gebrauchen. Einverstanden?«
Rainer nickt. »Danke«, sagt er noch leise. Der Mann steht auf.
»Milch, Zucker?«, fragt er noch.
»Wie? Ach so, viel Zucker, danke nochmal.« Rainer lehnt sich zurück. Ja, einen Kaffee könnte er echt gebrauchen. Er fühlt sich auf einmal völlig leer und erschöpft. Wie ein Luftballon ohne Luft. Der lange Fußmarsch, sein ganzes Gefühlswirrwarr, das Weinen. Er ist völlig fertig.
Der Mann, der jetzt einen Kaffee holt, strahlt irgendetwas Besonderes aus, eine Ruhe und eine Art Vertrauenswürdigkeit, die er so noch nicht erlebt hat. Er wirkt ehrlich interessiert, ohne ihn zu drängen.
Vielleicht erzähl’ ich ihm einfach alles, denkt Rainer, er hat es ihm schließlich angeboten. Mal schauen, ob er wirklich so viel Zeit hat, wie er sagt. Weil, wenn er schon erzählt, wird er von vorne anfangen müssen.
»Ihr Kaffee.« Der Mann steht auf einmal neben ihm und reicht ihm einen großen Pappbecher.
»Den Plastikdeckel hab’ ich weggelassen, finde das ist unnötige Umweltverschmutzung. Dafür bin ich schnell genug gegangen. Ich denke, er ist noch heiß«, erklärt er noch.
Rainer nimmt dankbar den Kaffee. Er ist tatsächlich noch heiß. »Vielen Dank, äh …, was bin ich Ihnen schuldig?«, fragt er, wobei ihm siedend heiß einfällt, dass er seinen Geldbeutel gar nicht dabei hat.
»Eine Entscheidung«, sagt der Mann und lächelt. Dabei schiebt er noch eine Tüte Donuts in die Mitte der Bank und setzt sich dann wieder auf seinen Platz.
Rainer versteht erst nicht, dann begreift er, was der Mann gemeint hat.
»Okay, ich erzähl Ihnen meine Geschichte, wenn Sie unbedingt wollen.«
»Was ich will, spielt keine Rolle. Es ist ganz alleine Ihre Entscheidung«, entgegnet der Mann ernst.
Rainer ist ob dieser Antwort leicht perplex. Kurz überlegt er, dann sagt er: »Stimmt. Ja. Ich glaube, ich möchte das alles einfach mal erzählen und so ... aber Ihnen ist klar, das dauert?«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Manche Geschichten sind auf gar keinen Fall schnell erzählt. Aber ich hab’ Ihnen das Angebot auch nur gemacht, weil ich wirklich Zeit habe.«
Damit dreht sich der Mann auf der Bank so, dass er das rechte Bein angewinkelt auf die Sitzfläche stellt und mit den Armen umschließt, seinen Kaffee in einer Hand haltend. Jetzt sitzt er Rainer zugewandt da und blickt ihn an.
Rainer nimmt seinen Kaffee in beide Hände und stützt sich vornübergebeugt auf seine Ellbogen ab. Er überlegt kurz, wie er anfangen soll. Es ist nämlich gar nicht so einfach, überhaupt nicht.
Was, um Gottes Willen, ist wirklich der Anfang seiner Geschichte?
Schließlich atmet er einmal tief durch, gibt sich einen Ruck.
»Ich heiße Rainer Burger«, begann er unbeholfen, »ich bin in diese Stadt gekommen, um zu studieren, Betriebswirtschaft. Da war ich etwas über zwanzig. Ich hab’ in einer WG gelebt, studiert und Handball gespielt, abends gefeiert und so. Aber das will ich eigentlich gar nicht erzählen. Was ich erzählen will: Durch den Hochschulsport hab ich Karin kennengelernt. Das ist der Beginn, verstehen Sie?«
»Die Liebe zu Karin ist der Ausgangspunkt Ihrer Geschichte, habe ich das richtig verstanden?«
»Ja, so ist es. Ich, also … ich hab’ mich voll in Karin verliebt. Sie war meine absolute Traumfrau, aber es hat gedauert, bis wir zusammen gekommen sind ...«
Rainer war völlig ausgepumpt. So richtig viel Sport hatte er eigentlich nie getrieben. Sport hatte einfach keine große Rolle für ihn gespielt. In der kleinen Stadt, wo er herkam, war Handball die Sportart Nummer eins gewesen. Und so war es eigentlich nur logisch, dass er, wie so viele andere Jungs, irgendwann Handball gespielt hatte. Da er nicht übermäßig talentiert war, hatte es oft nur für die Reservebank gereicht. Vielleicht war Handball aber einfach auch aufgrund seiner Größe nicht wirklich geeignet für ihn gewesen. Wie auch immer, für andere Sportaktivitäten hatte er sich auch nicht groß interessiert.
An der Hochschule wurde Sport in allen Variationen angeboten. Kraftsport, Schwimmen, Mannschaftssportarten.
Aber so richtig Lust hatte er natürlich die ersten zwei Semester auch nicht gehabt, da irgendetwas anzufangen.
Im dritten Semester hatte er dann das Wahlfach Karriereplanung belegt. Und als er zur ersten Vorlesung ging, fiel ihm die blonde energische Studentin zum ersten Mal so richtig auf. Sie war fast so groß wie er, mit einer super Figur und gleich von der ersten Vorlesung an voll bei der Sache. Sie wirkte so klug und ehrgeizig, brachte sich sofort in die Vorlesung mit Beiträgen ein, so als ob sie schon einiges Wissen den anderen Kommilitonen voraushätte. Schon so kompetent wirkte sie auf Rainer, dass er sie sich zukünftig ohne weiteres in einer Führungsetage einer Firma vorstellen konnte. Er dagegen kam sich neben ihr ziemlich unscheinbar und dumm vor.
Was ziemlich doof war, denn er hatte sich schnell unsterblich in diese blonde, attraktive Studentin verliebt. Und weil er sich so verliebt hatte und durchaus auch über Ehrgeiz verfügte, bereitete er sich ab sofort und anhand eines Skripts, das er von einem älteren Semester bekommen hatte, akribisch auf die nächsten Vorlesungen vor. Damit er ein bisschen mithalten, manchmal mit klugen Äußerungen brillieren konnte. Nachdem er es zudem geschafft hatte, ein paar Mal auch wie zufällig neben ihr zu sitzen, waren sie endlich ins Gespräch gekommen. Und so erfuhr er, dass sie Karin hieß und wirklich so ehrgeizig war, wie sie wirkte. Sie wollte Karriere machen, um jeden Preis. Und wer Karriere machen will, der braucht einen brillianten Abschluss. So einfach war das für sie. Darum hängte sie sich voll rein, verzichtete auf viele der Vergnügungen, die das Studentenleben so bot, um sich lieber dem Lernen zu widmen. Rainer fand sie faszinierend und unendlich attraktiv. Und so beschloss er, nun ab sofort ebenfalls Karriere machen zu wollen, um jeden Preis. Nein, nicht um jeden Preis. Er hoffte, sein Preis würde Karin sein, wenn es ihm nur gelänge, sie auf sich aufmerksam zu machen.
Und das war auch der Grund, warum er jetzt völlig ausgepumpt in der Umkleidekabine auf dem Sportgelände der Uni herumhing. Karin liebte es, sich als Ausgleich für das viele Lernen beim Sport auszupowern. Fitnesstraining, Aerobic, Bodystyling, Crossfit – egal, da war sie auf jeden Fall offen für alles, was ihrem Zweck diente und über den Uni-Sport angeboten wurde.
Manches wurde auch in gemischtgeschlechtlichen Gruppen angeboten. Und jetzt war Rainer zum fünften Mal beim Zirkeltraining mit dabei. Weil das gemischtgeschlechtlich stattfand und natürlich, weil Karin da mitmachte.
Er hatte wirklich alles gegeben. Anfangs hatte er feststellen müssen, dass es andere Kommilitonen gab, die einfach um Längen sportlicher waren als er. Aber wie gesagt, er war ehrgeizig und so, wie er fleißig seine Skripte lernte, so trainierte er nun oft außerhalb der Studienzeiten heimlich und hart. Um besser mithalten zu können. Denn nur so sah er seine Chance: dass Karin ihn bemerkte.
Und tatsächlich schien er Karin zu imponieren. Mit seinem Lerneifer und seinem sportlichen Ehrgeiz. Obwohl sie auch von anderen Studenten umschwärmt wurde, sprach sie scherzhaft von ihm, als ihrem Bruder. Weil sie so ähnlich seien in ihren Interessen.
Aber Bruder zu sein, war nicht Rainers Ziel. Er wollte mehr. Viel mehr.
Darum hatte er Karin heute zum Essen eingeladen. Richtig chic, in ein trendiges Nobelrestaurant. Unter anderen Umständen wäre es viel zu teuer für Rainer gewesen. Aber er hatte bei einer Spedition einen Aushilfsjob angenommen. In der Nachtschicht. Für eine Woche. Es hatte ihn völlig fertig gemacht, die Bezahlung allerdings war top gewesen und so konnte er sich die Einladung leisten.
Jetzt musste er nur noch duschen, dann würde er sie mit dem Taxi abholen und mit ihr ins Restaurant fahren. Ganz edel. Rainer schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr in seine WG. Er war sehr aufgeregt und hoffte, Karin wenigstens ein bisschen zu imponieren.
Zwei Stunden später saßen sie sich satt und zufrieden gegenüber. Es hatte nicht nur richtig gut geschmeckt, sie hatten sich auch blendend unterhalten. Über ihre Zukunft in irgendwelchen Führungsetagen. Sie hatten Unternehmen verglichen, bei denen sie sich vorstellen konnten zu arbeiten. Hatten sich von Traumländern und Traumurlauben erzählt, die man sich bei entsprechendem Gehalt leisten konnte.
Jetzt tranken sie ihren Wein und blickten sich über den Tisch hinweg an.
»Du bist echt anders als die anderen. Lädst mich hier in so ein klasse Lokal ein«, sagte Karin auf einmal. »Du bist richtig straight on, finde ich echt cool. Und weißt du, wir leben zwar im 21. Jahrhundert, aber trotzdem wollen viele immer noch die Frauen an den Herd und so. Aber niemals in Führungsetagen. Bei dir hätte ich nie das Gefühl, dass du es nicht akzeptieren würdest, wenn auch die Frau Karriere macht«, schloss sie. Rainer wurde ganz rot, weil er sich über das Lob freute, weil er spürte, dass er heute Abend vieles richtig gemacht hatte.
»Also ehrlich, ich würde dich genauso wollen, wie du bist«, getraute er sich zu sagen. Und hätte sich dafür am liebsten gleich wieder auf die Zunge gebissen. Wie konnte er nur so eine platte Anmache starten? Hatte er jetzt alles wieder versaut?
Karins Reaktion überraschte ihn darum komplett.
»Warum fragst du mich dann nicht direkt?«, antwortete sie keck.
Rainer war fassungslos. Sollten sich seine ganzen Bemühungen ausgezahlt haben? Tausend Gedanken schwirrten auf einmal durch seinen Kopf.
»Ich, also ich, äh ...«, stotterte er knallrot.
Karin beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
Dann lachte sie: »Du hast ja auch eine softe Seite, finde ich ja so süß!«
»… darf ich Sie etwas fragen? Damit ich es richtig verstehe?« Der Mann unterbricht in kurz.
Rainer, der immer noch vornübergebeugt dasitzt, dreht den Kopf und nickt.
»Ja, bitte, natürlich«, sagt er.
»Ist es so, dass Sie sich, um Karin zu erobern, anders gegeben haben, als Sie wirklich sind? Es wirkt Ihrer Erzählung nach so.«
Rainer überlegt ein bisschen, sagt dann: »Wenn ich ehrlich bin, schon. Der ganze Sport, dass ich alles dem Studium untergeordnet habe, ja, das hab’ ich so nur wegen Karin gemacht. Nur so konnte ich ihr imponieren. Nur so hab’ ich sie für mich gewonnen.«
»Konnten Sie denn diese Energie die ganze Zeit aufrechterhalten?«
»Komisch, dass Sie das fragen. Noch an besagtem Abend ist mir gekommen, dass ich mich jetzt immer so geben musste, damit sie bei mir bleibt. Und ich hab’ Angst gehabt, dass ich das nicht schaffe.«
»Weil?«
»Weil ich total überzogen habe? Ich bin schon ehrgeizig und so, aber nicht immer, verstehen Sie? Das ganze zusätzliche Lernen, der ganze Sport, das hat mich echt geschlaucht.«
»Weil es für Sie noch andere Dinge gab, die wichtig waren?«
»Genau, Waldspaziergänge machen, Sonnenuntergänge anschauen, mal ausschlafen, auch wenn das jetzt alles vielleicht kitschig klingt.«
»War es also so, dass Karin damit die Richtung Ihrer Beziehung vorgegeben hatte?«
Rainer muss nicht lange überlegen: »Ich glaube, ich hatte nur die Wahl zwischen dem so weitermachen, weil Karin mich so wollte, oder sie zu verlieren.«
Sie schweigen beide.
»Na ja, ich hab’ durchgehalten. Mich daran gewöhnt. An diese Art Leben. Es hatte ja auch Vorteile. Wir haben beide einen richtig guten Abschluss hingelegt. Ich hab’ sofort eine Stelle als Controller bei der Firma bekommen, bei der ich auch mein Praktikum abgeleistet hatte. Die Bezahlung war von Anfang an hoch und ich hatte jede Menge Aufstiegsmöglichkeiten. Karin ging es ähnlich. Ja, wir haben unser Ziel erreicht! Nach dem Studium haben wir dann geheiratet und sind in unser Haus gezogen …«
Sie standen beide vor dem schlüsselfertigen Neubau. Sie hatten sich für ein zweistöckiges Einfamilienhaus mit Pultdach entschieden. Eine Wohnküche und ein riesiges Wohnzimmer, nur durch eine Art Theke getrennt und mit gefliesten Böden, dominierte das Untergeschoss. Im Obergeschoss gab es ein großes, edles Bad, die drei anderen Räume waren mit Holzboden ausgestattet. Alles in gehobener Ausstattung, vieles ziemlich exklusiv. Karin wirkte sehr zufrieden.
Das alles hatte eine Menge Geld gekostet und dabei war das Grundstück mit den 480 m² noch gar nicht angelegt. Lediglich die Doppelgarage und die Pflasterarbeiten waren fertiggestellt. Die zukünftigen Rasenflächen waren noch brauner Matsch, auf denen der ein oder andere Erdhaufen lag.
»Rainer, ich finde, es ist perfekt! Genauso habe ich mir unser Haus vorgestellt. Wenn jetzt noch der Garten angelegt ist, wow, das macht echt ’was her«, stellte Karin zufrieden fest.
Rainer stand neben ihr. So ganz konnte er ihre Begeisterung nicht teilen. Er dachte an den Wahnsinnskredit, den sie hatten aufnehmen müssen. Sie hatten kaum Eigenkapital einbringen können, dementsprechend hoch war die Summe, die sie jeden Monat für Zins und Tilgung aufzubringen hatten. Eine irre Summe. Karin schien das nichts auszumachen. Im Gegenteil, es wirkte fast, als würde sie diese Herausforderung brauchen, ja sogar genießen. Ihm machte das dagegen Angst. Es durfte nichts schiefgehen. Keiner von beiden durfte als Verdiener ausfallen und das über Jahre. Rainer wäre es viel lieber gewesen, alles eine Nummer kleiner und billiger zu machen. Aber da war er chancenlos. Karin hatte andere Pläne gehabt.
»Wie sagt man so schön: Echt hart auf Kante gestrickt!«, bemerkte Rainer darum vorsichtig.
»Ach Quatsch, hast du etwa Angst wegen dem Geld? Was ist denn los, Rainer? Wir zwei reißen das locker!« Karin wirkte sehr optimistisch. Sie hatte es auch genau so gewollt. Das perfekte eigene Haus in allerbester Wohnlage. Damit hatten sie jetzt schon ihre Kapitalanlage für die Rente. Da wurde Karin nicht müde, das immer wieder zu betonen. Dabei waren sie beide noch nicht mal dreißig.
Rainer blieb trotzdem skeptisch. Ihm wollte es einfach nicht gefallen, für die nächsten Jahre ein Gefangener des Kredits zu sein. Und er hatte das Gefühl, wie wenn sich ein Ring um seine Brust gelegt hätte. Ein Ring, von dem er Angst hatte, dass er es ihm immer schwerer machen könnte, Luft zu holen ...
Rainer sitzt da und blickt in den Park. Sein Kaffee ist mittlerweile kalt geworden. Aber das ist ihm egal. Gedankenverloren trinkt er trotzdem einen Schluck.
»Ja, so war das«, sagt er leise vor sich hin.
»Ist es so, dass Karin Ihre Ängste und Sorgen nicht wahrgenommen hat?«, fragt ihn der Mann.
Rainer reißt sich aus seinen Gedanken.
»Nein, das hat sie tatsächlich nicht. Sie hatte einen genauen Plan, wie unser Leben zu laufen hat. Wenn ich was gesagt hab’, hat sie das nicht ernst genommen. Sie ist, glaub’ ich, davon ausgegangen, dass ich alles genau so sehe. Ihr Bruder im Geiste, verstehen Sie?«
»Das hört sich fast nach einer Art Gefangenschaft an, das 'Bruder im Geiste sein'«, bemerkte der Mann.
»Das haben Sie schön gesagt. Ja, es war schon ein bisschen wie eine Gefangenschaft, die Alternative wäre die Trennung gewesen. Karin hätte es nicht akzeptiert, wenn ich nicht bei allem mitgemacht hätte. Aber was hätte ich machen …« Rainer bricht ab.
»Sie meinen, dass Sie schon zu viel investiert hatten, um jetzt alles aufzugeben?«
»Ja, ich steckte schon zu tief drin. Wir waren schon mehrere Jahre zusammen, hatten uns so viel gemeinsam erarbeitet. Mein Leben lief wie auf einer Schiene, verstehen Sie? Und irgendwie war es ja auch okay: Der Job, das Haus. Ich hab’ dann gedacht, ich beiße mich da mit ihr durch und wenn das Haus mal abgezahlt ist, können wir es ruhiger angehen. Das genießen, was wir uns aufgebaut haben. Und zwar gemeinsam, weil auch Karin dann alles erreicht hätte. Ja, so ähnlich hab’ ich mir das zurechtgelegt.«
»Sie erzählen das jetzt so, als ob dann etwas schiefgelaufen wäre«, bemerkte der Mann.
Rainer blickte ihn an. Nickte.
»Es ist tatsächlich einiges schiefgelaufen, ja, das kann man so sagen …«
»Verdammte Scheiße«
Rainer fuhr hoch. Es war Sonntag, der einzige Tag, an dem sie beide es sich gönnten, länger auszuschlafen.
»So ein Mist!«
Das war eindeutig Karin. Und es kam aus dem Bad. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war.
»Was ist denn, Karin?«, rief er vom Bett aus.
Es kam keine Antwort. Stattdessen stürmte Karin ins Schlafzimmer und warf wütend ein Stäbchen auf die
Bettdecke.
»Das ist los!«, zischte sie stocksauer.
Rainer starrte das längliche Stäbchen an und stand erst mal auf der Leitung. Karin warf sich mit einem Grunzen neben ihn auf das Bett. »Das ist jetzt so ein Scheiß, Rainer. Und ich denk’ ständig ich hätte eine Darmgrippe«, stöhnte sie frustriert. Und dann dämmerte es Rainer so langsam.
»Sag mal, bist du schwanger?«, fragte er schließlich ungläubig.
»Ja, ich bin schwanger. Schön, dass du das jetzt auch begreifst. Trotz Pille, verdammt nochmal! Das gibt es doch gar nicht!«, fauchte Karin ihn an.
Rainer stemmte sich hoch zum Sitzen und rieb sich die Augen. Er war gerade erst wach geworden und fühlte sich überwältigt von der Nachricht, deren Dimension ihn gerade völlig überforderte.
»Und jetzt?«, fragte er schließlich und kam sich im gleichen Moment ziemlich dumm vor. Musste er nicht Freude zeigen? Oder auch frustriert tun? Die Wahrheit war, dass er gerade so gar keine Meinung dazu hatte. Geschweige denn irgendwelche Pläne. Nicht ohne wenigstens einen Kaffee im Bauch. Aber so sauer wie Karin im Moment war, freute sie sich nicht über die unvorhergesehene Schwangerschaft, das war mehr als deutlich.
»Ja und jetzt? Frag halt blöd. Abtreibung kommt für mich nicht in Frage. Dazu bin ich zu katholisch erzogen worden. Wir werden ein Kind haben, basta!« Damit stand sie abrupt auf und fing an, sich anzuziehen.
Rainer schnaufte tief durch. Jetzt wusste er auf jeden Fall, was Sache war. Er wurde also Vater. Er hatte keine Ahnung, ob er sich darüber freute oder nicht. Das kam einfach zu plötzlich. Und er hatte das Gefühl, etwas Zeit zu brauchen, um sich darüber klar zu werden. Und ein klein wenig war er auch sauer, dass Karin nicht im Mindesten daran interessiert war, wie es ihm damit ging, Vater zu werden. Aber er fand nicht den Mut, seine Gedanken in Worte zu fassen.
»Ich brauch’ jetzt erst mal einen Kaffee«, sagte er stattdessen und wälzte sich aus dem Bett, um sich auch anzuziehen.
Das Frühstück verlief lange Zeit sehr schweigsam. Karin schien intensiv nachzudenken. Sie wirkte jetzt weniger wütend, sondern eher kühl und rational. Was Rainer erst recht frustrierte. Er ahnte, dass Karin jetzt und in diesem Moment ihrer beider Zukunft schmiedete. Und wie immer kam er sich dabei nur als passiver Teilnehmer dieser Zukunft vor.
»Wir müssen das Ganze gut durchplanen!« Karin riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich darf mit meinem Verdienst definitiv nicht zu lange ausfallen. Außerdem habe ich keine Lust, meine Karriere an den Nagel zu hängen. Aber wir werden trotzdem finanziell schlechter dastehen. Das musst du auffangen. Schließlich haben wir immer noch die Kosten für unser Haus. Aber du sollst ja sowieso bald Abteilungsleiter werden, oder?«
Rainer starrte sie begriffsstutzig an, während er auf seinem Toast herumkaute.
»Ja, ja schon«, sagte er dann mit vollem Mund.
»Na, dann wirst du auch besser verdienen, oder?« Karin sah ihn direkt an.
Rainer bemühte sich, gleichzeitig runterzuschlucken und zu antworten. »Ich glaub’ schon«, murmelte er undeutlich.
»Rainer, kümmere dich bitte darum, ja? Ich werde mich kundig machen, wie wir den Rest zukünftig managen können«, setzte Karin energisch nach. Damit stand sie auf und ging hoch ins Bad.
Rainer lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Starrte an die Decke.
Mir ist das alles zu schnell, ich komme da einfach nicht mit, dachte er.
»Eine glückliche Vaterschaft hört sich anders an, hm?«, sagt der Mann in diesem Moment leise.
»Das ist richtig«, antwortet Rainer trocken.
»Haben Sie sich denn Zeit genommen oder bekommen, um sich über Ihre Gefühle klar zu werden?«
»Nicht wirklich. Sobald der erste Schock bei Karin verdaut war, hat sie sich auf die Hinterbeine gestellt und angefangen alles zu organisieren.«
»Das klingt, als ob Sie nicht gefragt und beteiligt gewesen wären?«
»Richtig, das klingt nicht nur so. Ich, ich hab’ geschaut, dass es mit der Karriere voran geht, und natürlich auch mit der Bezahlung. Das war mein Part.« Rainer nimmt seinen Kaffee und trinkt einen Schluck.
»Ist der Ring um Ihre Brust enger geworden?«
»Ja«, sagt Rainer und fährt sich mit der rechten Hand übers Gesicht. »Der Ring ist enger geworden.«
Karin legte einen ganzen Stapel Unterlagen auf den Tisch. Sie hatten gerade zu Abend gegessen und dann hatte Karin die Teller und das Besteck zur Seite geschoben.
»Schau mal, Rainer, ich habe mir einen Haufen Gedanken gemacht, wie wir zukünftig alles unter einen Hut bekommen«, eröffnete sie ihm und zeigte auf die Unterlagen.
Rainer beugte sich interessiert vor. Dabei beschlich ihn kurz ein schlechtes Gewissen. Er hatte sich durchaus auch Gedanken gemacht, aber es war nichts dabei herausgekommen. Zumindest nichts so Konkretes, dass auch er hätte Unterlagen präsentieren können. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er sich einfach nur auf Karin verlassen.
Karin nahm ein DIN-A-4 Blatt in die Hand, das ganz oben auf dem Papierstapel lag. Es schien so eine Art Liste zu sein.
»Also, ich glaube, dass es ein guter Plan ist«, begann sie. »Schau, Rainer, ich bleibe die ersten sechs Monate nach der Geburt daheim, bis das Kind abgestillt ist und hoffentlich dann durchschläft. Dann fange ich wieder an zu arbeiten. Über einen Kollegen hab’ ich die Adresse von einer Frau Bodenröder bekommen ...«, sie deutete auf den Namen auf dem Papier, »... die könnte bei uns vormittags das Kind versorgen und auch gleichzeitig den Haushalt machen. Angeblich ist sie sehr zuverlässig und hat das bei dem Kollegen auch schon gemacht, als seine Frau trotz Kinder in die Arbeit gegangen ist.«
»Wohnt die dann auch bei uns?«, fragte Rainer und kam sich sehr dämlich vor, als Karin laut auflachte.
»Natürlich nicht, was denkst denn du! Ne, sie kommt in der Früh und bleibt bis ich wieder da bin. Weil, und das ist der nächste Punkt ...«, sie deutete mit dem Finger auf das Papier, »ich kann natürlich nicht Vollzeit arbeiten, werde also meine Arbeitszeit reduzieren. Ich habe mit meinem Chef schon über Teilzeit gesprochen. Ist kein Problem. Ich kann sogar einen Teil der Arbeit über Home Office erledigen. Da war er sehr entgegenkommend.«