Der Mordverdacht - Gabi Stief - E-Book

Der Mordverdacht E-Book

Gabi Stief

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Beschreibung

Im Mai 2003 wird die Internistin Mechthild Bach von einer Krankenkasse angezeigt. Die Ärztin, die viele Krebskranke in ihrer letzten Lebensphase versorgt, soll dreizehn Patienten mit Überdosen an Morphium und Beruhigungsmitteln in den vorzeitigen Tod geschickt haben: fahrlässige Tötung, gar Mord – oder palliative Fürsorge und indirekte Sterbehilfe für Todkranke? Acht Jahre lang kämpft Mechthild Bach gegen Vorverurteilungen und übereifrige Gutachter. Sie beteuert, stets ausschließlich Schmerzlinderung für ihre Patienten angestrebt zu haben. Doch Richter und Sachverständige sehen auch Heimtücke als mögliches Motiv ihres Handelns an. Anfang 2011 nimmt Mechthild Bach sich mit einer Überdosis Morphium das Leben, nachdem das Gericht ihr die letzte Hoffnung auf einen Freispruch und auf einen Neuanfang als Ärztin genommen hat. Ihre Geschichte erzählt vom Versagen der Justiz, von selbstherrlichen Gutachtern, die sich als Ankläger aufspielen, und von einer Medizin, die für ein Sterben in Würde noch keinen Ort hat.

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Gabi Stief / Hans-Peter Wiechers

Der Mordverdacht

Hat die Justiz die Krebsärztin Mechthild Bach in den Tod getrieben?

Eine Reportage

Gabi Stief war Politikredakteurin bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und hat aus dem Berliner Büro des Blattes über Sozial- und Gesundheitspolitik berichtet. Sie ist für ihre Arbeit unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet worden und erhielt für ihre Reportage Der letzte Wille. Wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert? den Richard-von-Weizsäcker-Journalistenpreis.

Hans-Peter Wiechers war Gerichtsreporter der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und Kolumnist. Er hat als Regisseur und Drehbuchautor zahlreiche Dokumentarfilme produziert und bei zu Klampen das Buch Harte Zeiten. Menschen in Hannover 1930–1933 (2016) über den Fotografen Walter Ballhause veröffentlicht.

© 2018 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

Umschlaggestaltung: © HildenDesign · München · www.hildendesign.de

Bildmotiv: © Michael Thomas

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86674-721-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹www.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Der letzte Tag

Das große Vorbild

Eine Klinik zum Sterben

Kein Platz für lindernde Medizin

Die Hetzjagd beginnt

Nach Aktenlage

Das Duell der Gutachter

Ein Richter wird krank

Der zweite Prozess

Eine kalte Welt

Ein Nachtrag

Der letzte Tag

Es ist ein milder Januartag im Jahr 2011, als sich der Anwalt Matthias Waldraff auf den Weg zum Landgericht macht. Leichter Regen trübt die Sicht, ab und an hellt sich der Himmel auf und die Sonne schmeichelt.

Auf dem Parkplatz hinter dem Hauptbahnhof wartet eine zierliche Frau auf ihn; sie verschwindet fast unter ihrem Regenschirm. Seit ein paar Jahren treffen sie sich dort immer dann, wenn wieder ein Verhandlungstermin ansteht. Zum Hintereingang des Justizgebäudes sind es nur ein paar Meter und von dort gelangt man unbemerkt von den vielen Kameras und Mikrofonen in die kleine Bibliothek des Anwaltsvereins. Der Raum war in all den Jahren für Anwalt und Mandantin ein wichtiger Ort des Rückzugs, vor Verhandlungsbeginn und in den Pausen.

Mit beiden Händen umklammert die Frau den Griff des Schirms, als suche sie festen Halt. Die akkurat frisierten grauen Haare umschließen ihr blasses, dezent geschminktes Gesicht wie ein Helm. Die Wangen unter der randlosen Brille sind eingefallen. Die schmalen Lippen deuten ein leichtes Lächeln an, als der Anwalt auf sie zugeht. Viele Leute haben ihm erzählt, dass sie früher eine eher korpulente Frau war. Sie aß gern Süßigkeiten. Lächelte nicht nur, lachte. Auf alten Fotos hat sie ein offenes, kein verschlossenes Gesicht mit feinen Zügen; sie schaut den Fotografen auffordernd an; es ist der Blick einer selbstbewussten Frau. Damals, als ihre Welt noch in Ordnung war. Als sie ein geordnetes, erfülltes Leben führte. Ohne Anfeindungen.

Wer Mechthild Bach zum ersten Mal in ihrem weißen Arztkittel begegnet war, fühlte sich sogar ein wenig eingeschüchtert. Sie strahlte Autorität aus, und eine gewisse Strenge, die sich beim weiteren Kennenlernen aber schnell verflüchtigte. Sie konnte fürsorglich sein; bestimmend und liebevoll zugleich, wenn Patienten ihr ihre Probleme anvertrauten. Sie konnte mitfühlen, ohne sich selbst zu öffnen. Sie blieb für die meisten unnahbar; eine Unbekannte. Freunde gab es nur wenige.

Matthias Waldraff ist seit mehr als dreißig Jahren Anwalt, Strafverteidiger. Er kennt dieses elektrisierende Vorgefühl, wenn man weiß, dass im Gerichtssaal eine entscheidende Wende ansteht. Es ist eine innere Anspannung, die wohl auch ein Skispringer empfindet, der oben an der Sprungschanze auf sein Startsignal wartet. Aber diesmal spürt er noch etwas anderes. Als sie nebeneinander auf dem langen Flur schweigend vom Anwaltszimmer zum Schwurgerichtssaal gehen – er in seiner schwarzen Anwaltsrobe, sie trägt einen hellen Rollkragenpulli unter einem modern geschnittenen Tweed-Blazer – hat er das Gefühl, der Gang sei endlos. Bilder schießen ihm durch den Kopf, als blättere er in einem Album, das bald komplett sein sollte.

Er muss an das erste Zusammentreffen vor vier Jahren denken, damals in ihrem Haus in Bad Salzdetfurth. Ihr erster Anwalt, ein renommierter Münchener Medizinrechtler, hatte sich mit 65 Jahren in den Ruhestand zurückgezogen. Eine ihrer Praxismitarbeiterinnen kam auf die Idee, den Strafrechtler Matthias Waldraff zu fragen, ob er das Mandat übernehmen könne. Der Anwalt kannte bis dahin den Namen Mechthild Bach nur aus der Presse. Für Bild war die 54-jährige Internistin ein »Todesengel«, der wahrscheinlich acht Patienten mit einem Medikamenten-Cocktail aus Morphium und Valium totgespritzt hat. Der Spiegel ging kaum weniger rabiat mit ihr um, nannte sie die »Skandalärztin« und raunte über das möglicherweise größte Todesermittlungsverfahren in der Bundesrepublik.

Als Matthias Waldraff sie kennenlernte, war sie noch eine Kämpferin und überzeugt, dass sich alle Vorwürfe am Ende in Luft auflösen würden. Vier lange Jahren wartete sie damals bereits auf ihren Prozess. Vier Jahre, in denen sie ihren Beruf nicht mehr ausüben durfte. 2004 war sie sogar verhaftet worden. Morgens um 6.40 Uhr, an einem Februartag, standen Polizeibeamte vor ihrer Tür, um sie ins Gefängnis zu bringen.

Sie landete in einer Vier-Bett-Zelle, mit Kleinkriminellen und Prostituierten, die Kette rauchten und hämische Bemerkungen machten, wenn »Frau Doktor« versuchte, Akten zu lesen und ihrem Anwalt zu schreiben. Erst nach 22 Tagen kam sie gegen eine Kaution von 40.000 Euro frei. Der Haftbefehl wurde außer Kraft gesetzt, aber nicht aufgehoben. Einmal in der Woche musste sie sich seitdem im Polizeirevier melden. Dennoch vertraute sie nach wie vor darauf, dass sie bald wieder in ihrer Praxis sitzen würde, um das zu tun, was sie die Erfüllung ihres Leben nannte: die Behandlung ihrer Patienten.

Im Parterre ihres Einfamilienhauses hatte sie ein kleines, nüchtern möbliertes Büro, wo sie zwei Tage lang zusammensaßen und redeten. Der Anwalt und seine potenzielle Mandantin. Er bat sie, von sich zu erzählen. Er musste für sich klären, ob er sich dieser Aufgabe gewachsen fühlte und ob er ihr vertrauen konnte. Schließlich ging es um einen Prozess, der, wie er damals bereits ahnte, ihm auch emotional nahe gehen würde wie kein anderer zuvor.

Er wollte wissen, was diese Frau für ein Mensch ist. Eine arrogante Medizinerin mit Heiligenschein, wie ein Bekannter spottete, der sie als Rednerin auf einem Kongress erlebt hatte? Eine Ärztin mit Helfersyndrom, wie Kollegen vermuteten, die sie nur aus der Zeitung kannten? Er musste von ihrer Unschuld überzeugt sein. Am Ende war er es. Er ist es noch heute. Nach so vielen Jahren.

Es war einiges los in den 72 Verhandlungstagen im großen Schwurgerichtssaal. Während draußen an manchen Tagen demonstriert wurde, wurde drinnen gespottet, gelästert, gegiftet, gestritten – und doziert.

2008, vier Jahre nach der U-Haft, begann der erste Prozess, der bereits drei Monate später platzte, weil ein Richter krank wurde. Dass es keinen Ersatzrichter gab, war ein Skandal; aber keineswegs der erste. Wie im Verlauf der Verhandlung bekannt wurde, hatte einer der drei Richter bereits vor Prozessbeginn seiner Ex-Ehefrau am Telefon anvertraut, dass er die Angeklagte für hundertprozentig schuldig halte, Patienten vorsätzlich totgespritzt zu haben. Er hatte Mechthild Bach zwar noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen; aber er kannte die ersten Gutachten. Diese Gutachten, vielmehr die Gutachter, sollten fortan den Prozess beherrschen.

Michael Zenz und Rafael Dudziak, zwei Schmerzmediziner, zwei Anästhesisten, an die sich der Patient nach einer gelungenen Operation in der Regel nicht erinnert, im Gegensatz zum Operateur; also zwei Narkoseärzte, Koryphäen in ihrem Fach, wurden vom Gericht als Sachverständige bestellt. Das juristische Lehrbuch sagt, dass dies sinnvoll ist, wenn es sachverständiger Unterstützung bei der Urteilsfindung bedarf. Aber was geschieht, wenn zwei Sachverständige zu gegenteiligen Urteilen kommen. Wenn zwei Mediziner zu widersprüchlichen Diagnosen kommen, die über ein Leben entscheiden? Wird jenem vertraut, der überzeugender und rhetorisch geschulter vorträgt?

Platzt eine Regierung, kommt es zu Neuwahlen. Platzt ein Prozess, wird neu verhandelt. 2009 startete man neu, mit anderen Richtern und korrigierter Anklage. Statt um achtfachen Totschlag ging es nun um dreizehnfachen. Gutachter Zenz, 2003 erstmals von der Staatsanwaltschaft mit der Prüfung von Krankenakten beauftragt, war fleißig gewesen und hatte nachgelegt. Die Schlacht der Gutachter, der Disput der Wissenschaftler, ging in die zweite Runde.

Ein dritter Gutachter sorgte für das, was der Anklage bislang noch gefehlt hatte: ein Motiv. Warum sollte Mechthild Bach getötet haben? Aus Heimtücke und Habgier, erklärte Manfred Schwartau, ein Mediziner im Dienste der Krankenkassen, der sich gern damit brüstet, betrügerischen Ärzten auf die Schliche zu kommen und falsch abgerechnete Millionenbeträge einzusammeln. Schwartau war es auch, dem die hohe Zahl an Todesfällen auf der Station von Mechthild Bach seltsam erschienen war. Warum wurde in der Paracelsus-Klinik mehr gestorben als in anderen Krankenhäusern?

Eine berechtigte Frage. Doch wollte man die Antwort hören? Es gab Zeugen, die offen darüber redeten. Wenn sterbenskranke Patienten »austherapiert« waren, wenn die Ärzte mit ihrem Latein am Ende waren und freie Betten brauchten, rief man bei Mechthild Bach oder in einer anderen Klinik an und bat sie, einer Verlegung zuzustimmen. Eine Palliativ-Station gab es weder in Hannover, noch in der näheren Umgebung. Palliativ bedeutet, den Schmerz lindern, aber nicht mehr die Ursache der Krankheit bekämpfen. Mechthild Bach tat es: Sie versuchte, mit Medikamenten Schmerzen zu betäuben. Und sie kümmerte sich, sprach Mut zu, gab Hoffnung – auch wenn es keinen Anlass für Hoffnung gab.

Mechthild Bach hat diesem Januartag entgegengebangt. Angstvoll? Nein, eher mit Zuversicht. Diesen letzten Rest an Zuversicht hat sie sich bewahrt, wie einen Schatz. Sie hat in all den zurücklegenden Monaten dem Vorsitzenden Richter Wolfgang Rosenbusch vertraut, seinem Ton nachgespürt, seine Mimik versucht zu deuten. Vertrauen ist wie ein Verzicht auf letztes Wissen, heißt es. Dieser Verzicht endet heute. Denn das Gericht hat überraschend zu einer Zwischenbilanz eingeladen. Kein Urteil, aber ein »rechtlicher Hinweis« soll es sein. Auch Matthias Waldraff hat die Hoffnung, dass dieser Tag für seine Mandantin gut enden wird. Schließlich lautet einer der Grundsätze in jedem Strafverfahren: in dubio pro rea – im Zweifel für die Angeklagte.

Als Mechthild Bach und ihr Anwalt den Saal betreten, türmt sich vor ihnen eine Wand von Dutzenden Fotografen und Kameraleuten auf. Der zweite Anwalt, Albrecht-Paul Wegener, sitzt bereits in der Verteidigerbank. Auch Gutachter Rafael Dudziak, 77 Jahre alt, wie Bach ein feinsinniger Musikliebhaber, hat bereits seinen Platz am Tisch vor den Zuhörerbänken eingenommen und nickt ihr höflich zu. Er hat in all den Wochen immer wieder, in jedem der bis dahin verhandelten sechs Fälle, ausgeführt, dass sie nicht töten wollte. Dass die Anklage hanebüchen sei. Dass der Gegengutachter Zenz im Unrecht sei. Das Dokumentieren habe sie vernachlässigt – ja; aber das Sterben hätte kein Arzt verhindern können. Er tat dies in einer eher schwerfälligen Sprache; ein pensionierter Kliniker, der zwar bereits unzählige Male als Sachverständiger vor Gericht aufgetreten ist, aber als Redner nicht brilliert.

Ganz anders der Mann neben ihm. Michael Zenz, Präsident der Schmerzmedizin-Gesellschaft, die er einst mit Kollegen bei einem Kongress in Florenz gegründet hat, trägt gern vor, belehrt gern; seine Ehefrau ist als bezahlte Assistentin immer an seiner Seite. Auch heute. Er meidet den Blick von Mechthild Bach. Wie immer. Er klappt geschäftig seinen Laptop auf, als müsse er noch einmal einen Vortrag durchgehen.

Hinter ihm, auf den Zuhörerbänken sitzen Mechthild Bachs Unterstützerinnen, gut zwei Dutzend ehemalige Patientinnen, die kaum einen Prozesstag verpasst haben. Sie sind Zeugen, die nie geladen wurden; ja, sogar unerwünscht waren, weil sie für die Angeklagte Partei ergriffen. Dabei hätten sie hundertfach bezeugen können, dass Bachs Krebspatienten nicht nur starben, sondern auch mit ihrer Hilfe den Kampf gegen die heimtückische Krankheit gewannen. Die pensionierte Lehrerin, der im ersten Prozess vom Richter eine Ordnungsstrafe angedroht wurde, weil sie aufgrund ihrer schmerzenden Hüfte beim Eintreten der Kammer nicht aufgestanden war. Die Psychotherapeutin, die schon einige Protestaktionen organisiert hat. Die ehemalige Schwesternhelferin aus der Paracelsus-Klinik, die mittlerweile in Berlin lebt. Oder der Musikdirektor, der sich gern abseits hält und ein guter Freund von Bach ist.

Die Tür hinter der Richterbank öffnet sich und Richter Rosenbusch, seine Kolleginnen Inge Ullrich und Jana Bader und die beiden Schöffen betreten den Saal. Alle Anwesenden erheben sich. Der Geste – den ausgebreiteten Armen, mit denen Rosenbusch allen bedeutet, wieder Platz zu nehmen – folgt ein Rauschen und Räuspern, das an das Wispern von Baumwipfeln im Wind erinnert. Alles verstummt. Die Spannung steigt. Mechthild Bach schaut auf ihre Hände, die gefaltet vor ihr auf dem Tisch liegen.