Der Morgen ohne Tag - Markus D. Mühleisen - E-Book

Der Morgen ohne Tag E-Book

Markus D. Mühleisen

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Beschreibung

Der Investigativjournalist François Beauford fliegt nach New York für seine Recherche zum insolventen Mega-Techkonzern Intersol. Auf halbem Weg über den Atlantik wird klar, dass die Sonne an diesem Morgen nicht aufgeht. Die Erde bleibt in der Dunkelheit gefangen. Die Welt stürzt unvermittelt ins Chaos. Fast alle Militär- und Spionagedienste der Welt sind ratlos. Nur die Recherche von François Beauford führt zur Quelle des Übels. Kann er die Welt aus den Fängen der Dunkelheit entreißen? Eine wilde Jagd mit ungewissem Ausgang beginnt ... Dieser Thriller spricht die Urängste der Menschheit an, die finstere Mächte für ihre Zwecke missbrauchen.

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Seitenzahl: 478

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

0 Vorwort

1 Etwas endet und jemand verschwindet

2 Phaethon erwacht

3 Aufstieg der Obskurität

4 Nachtlandung

5 Stromschnellen im Chaos

6 Durch die Angst hindurch

7 In medias res

8 Das Drei-Körper-Problem

9 Intellectus mundi

10 Im tiefen Dunkel

11 Ortsveränderung

12 China Town

13 Phaeton soll schlafen

14 Licht

15 Wachsamer Schlaf

16 Schein und Sein

17 Die rote Kali

18 Phaeton spricht

19 Das Innere der dunklen Göttin

20 Dekapitation

21 Gegenmaßnahmen

22 Sturmwinde

23 Praeparatio

24 Problemi in arrivo

25 DEFCON 1

26 Weggewischt

27 Grenzen der Macht

28 Katz und Maus

29 Untergetaucht

30 Ein neues Gesicht

31 Erkenntnis

32 Verwarnung

33 Chaos

34 Wenn Schrödingers Katze entwischt

35 Inverses Denken

36 Die Dinge werden klarer

37 HALO

38 Der dritte Mann

39 Unterstützung

40 Spezielle Fähigkeiten

41 Nachtflug

42 Unbemerkter Einschub

43 Zielanflug

44 Die Insel

45 Zerbrechen

46 Hades wird erweckt

47 Auf der Flucht

48 Eskapismus im Polareis

49 Die Italienerin

50 Epilog

51 Persönliche Lieferung

55 Buchvorschläge

52 Personen und Institutionen

53 Zeitleiste

54 Technologien und Begriffe

0 Vorwort

Es gibt viele Dinge, die uns vielleicht erzählt wurden, als wir noch Kinder waren. Eine oft gegebenes Versprechen ist, dass die Dunkelheit der Nacht mit absoluter Sicherheit durch die aufgehende Sonne am nächsten Morgen vertrieben wird.

Was aber, wenn dies nicht geschieht? Wenn die Sonne nicht aufgeht und uns die Dunkelheit der Nacht weiter gefangen hält?

Als mir dieser Gedanke als Idee für ein Buch kam, war ich zuerst selbst über mich erschrocken. Spricht der Gedanke an eine fortdauernde Dunkelheit doch eine der Urängste in uns Menschen an. Und doch hat mich dieser Gedanke dafür begeistert, eine Geschichte darüber zu erzählen.

Im Grunde meines Herzens bin ich ein Optimist. Mein Glaube an die souveräne Handlungsfähigkeit des Einzelnen ist ein sicheres Fundament dafür, dass sich vermeintlich ausweglose Situationen durch das Zusammenwirken positiver Fähigkeiten doch auflösen lassen. Manchmal ist dafür das Handeln großer Strukturen wie eines Staates oder sogar des Militärs nötig. Manchmal ist es die hartnäckige Arbeit von einzelnen Menschen oder kleineren Gruppen, die ein gutes Ende ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Zusammenwirken in der Welt von heute noch unerlässlicher ist als in früheren Zeiten. Das liegt auch daran, dass die Welt durch die Technik so undurchschaubar und vernetzt worden ist, dass es für den Einzelnen unmöglich erscheint oder ist, alleine etwas bewirken zu können.

Zum Glück ist dieser Roman eine rein fiktive Geschichte und, wie bei solchen Geschichten nun einmal üblich, sind jegliche Ähnlichkeiten der Charaktere dieses Buches mit echten Menschen rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt. Es gibt es eine US Space Force mit eigener Internetpräsenz. Aber die Active Group der US Space Force ist eine Fiktion, die ich mir ausgedacht habe.

Nun, mit den Technologien, die ich in diesem Roman beschrieben habe, verhält es sich etwas vielfältiger. Heute sind sämtliche dieser Technologien entweder schon existent oder gerade in Entwicklung. Inwieweit diese Entwicklungen bereits verwertbare Ergebnisse erbracht haben, ist mir selbstredend nicht bekannt. Doch nach meinem Verständnis ist die Entwicklung der beschriebenen Technologien zur Anwendungsreife prinzipiell möglich, in einigen Fällen sogar bereits Realität geworden. Wir sollten uns vielleicht viel öfter bewusster machen, was um uns herum bereits alles existiert. Denn so sehr ich mich für Technologie und Entwicklung begeistere, die Risiken der geschaffenen Möglichkeiten sind zum Teil wirklich erschreckend. Man denke nur beispielhaft an sich selbst organisierende und replizierende Nanomaschinen.

Ich möchte mich ausdrücklich bei allen Menschen aus militärischen Organisationen entschuldigen. Eventuell falsche oder missbräuchliche Nutzung von Bezeichnern, Auszeichnungen und Dienstgraden sind auf keinen Fall böse Absicht, sondern schlicht meiner Unwissenheit und vielleicht eine etwas zu farbenfrohe Fantasie geschuldet.

Was wäre ich ohne die vielen Helfer, die mich bei meinen Buchprojekten unterstützen?

Rolf hat versucht, mir meine gröbsten Fehler zum Thema Fliegerei auszureden. Für die wahrlich herkulische Arbeit des Korrekturlesens danke ich meiner guten Fee, ohne ihre Unterstützung wäre dieses Buch so niemals entstanden. Meine Familie hat mit nachsichtigem Augenrollen meine Abwesenheit hingenommen, wenn ich an diesem Buch geschrieben habe.

Ich verneige mich in Dankbarkeit vor all meinen Unterstützern!

Nach diesen vielfältigen Vorbemerkungen wünsche ich Ihnen, meinen Leserinnen und Lesern, viel Spaß und hoffentlich sehr spannende Momente mit meiner Geschichte über den

Morgen ohne Tag

1 Etwas endet und jemand verschwindet

François Beauford versucht sich durch das Getümmel im Héraut de Clichy zu schieben. Wie üblich hat sich in der Bar ein kleines, aber lautstark diskutierendes Grüppchen zum Feierabend versammelt. Das Héraut de Clichy ist wenig bekannt. Es verirren sich hierher keine Promis, keine Stars und Sternchen. Früher einmal, in der Belle Epoque, hat man diesen Teil von Paris als dessen wahres Zentrum gesehen. Damals haben sich auch die Finanzwelt, also die Banken, und die Presse in diesem Bereich konzentriert. Heute ist das 9tme Arrondissement noch für die Galerie Lafayette oder Printemps, die großen Kaufhäuser, bekannt. Wenigstens die Presse hat dem Viertel die Stange gehalten, so ist die Redaktion der La Tribune, eine der führenden Medienplattformen für Wirtschaft und Finanzen, vor Ort geblieben.

Würde jemand die Besucher heute Abend danach fragen, so würden sich die Gäste im Héraut de Clichy als Freunde bezeichnen. So nickt François den Gästen, die er mit freundschaftlichem Druck zur Seite schiebt, um sich zur Theke vorzuarbeiten, grinsend zu. Es werden kurze, flapsige Floskeln der Begrüßung ausgetauscht, die jedoch neben der lauten Musik eines kleinen Rock&Pop-Lokalsenders fast nicht zu verstehen sind.

Endlich hat François die Theke erreicht. Manuel, der glatzköpfige Barkeeper werkelt wie immer in ruhiger Gelassenheit hinter dem Tresen und versorgt seine Gäste mit den ersehnten Getränken. Bezahlt wird beim Gehen, denn wer hierherkommt, hat nicht vor zu betrügen, das steht außer Frage. Manuel stellt zwei frisch gezapfte Gläser Bier auf den Tresen, die sofort von gierigen Händen geschnappt und ins Getümmel davongetragen werden. Als er François erblickt, erhellt kurz ein Lächeln sein Gesicht, dass seine beiden goldenen Schneidezähne blitzend zur Schau stellt.

Schon ist der Moment vorbei und Manuel trägt wieder seinen stoischen Gesichtsausdruck, dabei nickt er François kurz zu. Diese wortlose Kommunikation wird von François ebenfalls mit einem kurzen Nicken erwidert, begleitet von einem leicht angehoben, rechten Mundwinkel, seiner ganz eigenen Art ein lässiges Grinsen zu zeigen. Einer der Gäste legt ihm die Hand auf die Schulter und François wendet sich um. Seraphine Solier, eine der wenigen weiblichen Gäste heute Abend im Héraut de Clichy blickt ihn ernst an, dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen, damit sie ihm laut ins linke Ohr sprechen kann, anders ist die laute Musik nicht zu übertönen: »Bonsoir, François, hast du es schon gehört?«

Irritiert blickt er die inzwischen schon leicht angegraute, ehemalige brünette Rechtsanwältin an. Er beugt sich zu ihr hinüber, damit er ihr ebenfalls laut ins Ohr sprechen kann: »Salut Seraphine, was soll ich denn gehört haben?«

Ernst schaut sie ihm ins Gesicht, dann weist sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den kleinen Flachbildschirm in der Ecke. Es läuft stumm geschaltet die Nachrichtensendung einer international arbeitenden Plattform für Nachrichten aus dem Finanz- und Wirtschaftsbereich. Zuerst versteht François nicht, was sie ihm zeigen will, denn gerade wird eine Landschaftsaufnahme als Füller zwischen zwei Sendungen gezeigt. Dann bemerkt er den Text auf dem Laufband unten am Bildschirm:

*Intersol Technologies seeks creditor protection through Chapter 11*

François ist die Feierabendlaune schlagartig verdorben. Mit ernster Miene verfolgt er die weiteren Texteinblendungen auf dem Laufband.

*Geraldo Gonzales disappeared and is being sought worldwide*

Frustriert schüttelt François den Kopf und meint entsetzt: »Merde.«

Er wendet sich der Theke zu. Dort hat Manuel gerade seinen geliebten Pastis in einem schmalen, hohen Glas auf einer kleinen, weißen Serviette mit dem Logo einer Brauerei abgesetzt. François greift sich das Glas und stürzt den Inhalt, ganz im Gegensatz zu seinem sonst üblichen Verhalten, in einem Zug herunter. Manuel sieht das und quittiert dieses für François ungewöhnliche Verhalten mit hochgezogenen Augenbrauen. Mit einem Ruck setzt François das Glas wieder auf der kleinen, weißen Serviette ab und nickt dem Barkeeper ernst zu. Dieser zuckt die Schultern, schnappt sich das leere Glas, um es möglichst schnell durch ein Gefülltes zu ersetzen.

François' Blick fällt auf eine Pinwand mit Postkarten, die neben dem Regal mit den Getränkeflaschen aufgehängt sind. Eine Skyline von New York ist zu sehen. Grimmig erinnert er sich daran, dass er nach Monaten der Vorbereitung eigentlich am nächsten Wochenende in New York sein wollte, um den gerade als verschwunden gemeldeten Geraldo Gonzales zu interviewen. Obwohl dieser nicht in den einschlägigen Listen geführt ist, so ist doch jedem in der Finanzwelt klar: Gonzales wird als der reichste und vor allem einflussreichste Mensch auf diesem Globus betrachtet. Mehr als zwei Jahre Recherche, Kontakte knüpfen und betteln auf unzähligen dieser immer gleichen, öden Veranstaltungen der Hochfinanz und der Tech-Branche waren nötig. Dann endlich bekam François einen Zugang zu Geraldo Gonzales, hinter vorgehaltener Hand nennt ihn jeder Big GG. Geplant war ein mehrtägiges Interview mit Besuch der Forschungsstätten von Intersol Technologies, dem Herzstück des Firmenimperiums von Big GG.

Plötzlich spürt er das Vibrieren des Mobiltelefons in seiner Tasche. Beim Lärm der Musik kann er es natürlich nicht hören. Gerade läuft ein alter Rolling Stones Song, Paint it Black. Wie passend, denkt sich François. Er nimmt das Gerät heraus und blickt auf das Display. War ja klar … sein Redakteur versucht ihn zu erreichen. François stürzt seinen zweiten Pastis hinunter und arbeitet sich durch das Gewühl zurück zur Eingangstür. Als er endlich auf den Gehsteig treten kann und die Türe sich hinter ihm geschlossen hat, spürt er die Ruhe um sich herum. Lediglich die in einer Großstadt wie Paris üblichen Geräusche sind zu hören: Feierabendverkehr und Menschen, die sich unterhalten. Versonnen blickt François die Straße entlang. Früher haben sich die Menschen einfach getroffen und miteinander geredet. Heute reden sie immer noch miteinander, aber es gehört nun zum guten Ton, dass dies mit einem Mobiltelefon geschieht. Entweder hält man dieses direkt ans Ohr oder ganz lässig mittels einem dieser Kopfhörer, die inzwischen klein und nahezu unsichtbar ins Ohr geschoben werden können. François ist einer der Ohrhalter. Er zieht sein Mobiltelefon hervor. Der Redakteur hat aufgelegt, aber ihm eine Sprachnachricht hinterlassen. Dazu drei Nachrichten auf der beliebten Social-Media-Plattform. Das ist ungewöhnlich für Jonba Kraszninsky, den digital bequemen Redaktionsleiter des Ressorts Technologie bei La Tribune. Seufzend ruft François ihn zurück. Dabei hält er sein Mobiltelefon ans Ohr. Als Investigativjournalist legt er großen Wert auf Vertraulichkeit, daher handelt es sich dabei nicht um eines der Produkte der großen Player. Er verwendet ein Gerät mit Linux als Betriebssystem. Da dieser Widerstand gegen die etablierten Marktriesen mit sehr viel Engagement bei der Auswahl, Inbetriebnahme und Wartung bestraft wird, hat er das Telefon selbst aufgesetzt. Jonba meldet sich nach dem ersten Klingeln: »Was zum Teufel ist da los, François, hä?«

»Auch dir einen schönen Abend, Jonba.«

»Vergiss den schönen Abend. Dein Big GG ist verschwunden und pleite, also nix mit schönem Abend!«

François seufzt. Wie üblich in solchen Situationen bricht das afrikanische Temperament bei seinem Freund durch. François kennt das schon, also hört er die nächsten Minuten geduldig zu, wie Jonba Kraszninsky Dampf ablässt. An den entscheidenden Stellen wirft François eine gemurmelte Zustimmung oder ein ablehnendes Brummen ein. Damit stellt er sicher, dass sich Jonba wahrgenommen fühlt. Der Sohn einer Nigerianerin, mit einem Vater, der lange Jahre in der polnischen Armee, bei deren Spezialkräftekommando gedient hat, verfügt er über eine unglaubliche körperliche Präsenz. Er ist riesig, über zwei Meter groß, mit nachtschwarzer Haut und von Natur aus mit einem sehr muskulösen, athletischen Körper gesegnet. Ursprünglich war er in der Auswahl als Zehnkämpfer für die letzten Olympischen Spiele, aber seine afrikanischpolnische Familiengeschichte hat den Verantwortlichen des französischen olympischen Komitees, obwohl nach außen hin auf Vielfalt und Integration pochend, dann doch zweifeln lassen. So wurde sein Olympiaticket an einen blassen Franzosen aus den Vogesen vergeben, der dann, wie erwartet, statt einer Medaille nur hintere Platzierungen erreichen konnte. François ist Jonba in dieser schweren Zeit beigestanden. Er hatte damals als blutjunger Journalist bei La Tribune angefangen und durfte Hintergrundberichte im Sportteil verfassen. So hat er zusammen mit Jonba die Machenschaften und Verflechtungen im französischen Olympiakomitee aufgedeckt. Der Artikel hat einigen Funktionären den Job gekostet. Jonba und François jedoch ihre Festanstellung bei La Tribune beschert. Als echter Familienmensch hat sich Jonba für eine Karriere im Innendienst entschieden, wohingegen François, ein eingefleischter Junggeselle, dem Ungebundenheit und Freiheit wichtiger ist als der sichere Hafen einer Partnerschaft, der investigativen Seite des Journalismus treu geblieben ist.

»François, bist du noch dran?«

Der Angesprochene taucht aus seinen Erinnerungen auf und räuspert sich, bevor er antwortet: »Klar, ich habe nur gerade nachgedacht.«

Ein kehliges Lachen kommt von der anderen Seite: »Natürlich. Ich kotze mich hier aus und du sinnierst über alte Zeiten.«

François macht einen ertappten Gesichtsausdruck, dann muss er grinsen, als er antwortet: »Erwischt. Aber ich muss nach New York.«

Ein leises Rauschen ist zu hören, sonst nichts. Jonba zögert mit einer Antwort. Als er dann wieder das Wort ergreift, ist seine Stimme zurückhaltend und vorsichtig: »Warum?«

Unbewusst wiegt François den Kopf und meint: »Da stimmt etwas nicht.«

Ein tiefes Seufzen vom anderen Ende ist die Antwort: »War doch klar. Immer stimmt irgendwo irgendetwas nicht. He, der Typ ist weg, warum dann nach New York fliegen?«

»Ja, klar. Aber die Frage ist doch: warum ist er weg?«

Wieder dauert es einen Moment, bevor Jonba antwortet: »In Ordnung. Du hast zwei Wochen. Mehr nicht, hörst du? Zwei Wochen. Länger kann ich das intern nicht durchsetzen.«

Dankbar lächelnd nickt François beim Antworten: »Danke, Jonba. Ich melde mich.«

»Pass auf dich auf, hörst du? Ich habe ein saublödes Gefühl bei der Sache.«

»Mach’ ich doch immer.«

»Einen Scheiß machst du. Aber dieses Mal hörst du auf mich, in Ordnung? Pass auf!«

François erschrickt über die Sorge, die unüberhörbar aus der Stimme seines Freundes herauszuhören ist. So fällt seine Antwort ebenfalls ernst aus: »In Ordnung, versprochen. Wie gesagt, ich melde mich. Ciao, Jonba.«

»Au revoir und bon voyage, François.«

Dann ist das Telefonat zu Ende. François nimmt das Telefon vom Ohr, tippt kurz zum Beenden des Gesprächs auf das Display und blickt noch einen Moment nachdenklich auf sein Mobiltelefon.

»Wo bist du denn da schon wieder hineingeraten?«

Als er sich zu der rauchigen Frauenstimme umwendet, blickt ihn Seraphine Solier ernst an. Sie trägt wie immer ihr Business-Kostüm und lehnt lässig an der Hauswand, die Beine leicht überschlagen, eine Zigarette in der rechten Hand direkt vor ihrem grellrot geschminkten Mund und hält dabei mit der linken Hand den rechten Ellenbogen unterstützt. François bewundert wieder einmal, wie diese Frau trotz ihrer alles anderen als schlanken Figur einen solch lässig attraktiven Eindruck machen kann. Ihrem ernsten Gesichtsausdruck entnimmt er, dass sie sich wirklich um ihn sorgt.

»Ach, eigentlich bin ich bis jetzt nicht einmal dabei, dass ich in etwas hineingeraten könnte. Du hast mir die Nachricht doch gezeigt.«

Fragend hebt Seraphine die Augenbrauen an: »Der Technologiefuzzi? Was hast du denn mit dem zu schaffen?«

François holt tief Luft, hält diese kurz an und leert dann in einem tiefen Seufzer seine Lungen wieder: »Na ja, mir kam da etwas komisch vor und dann habe ich etwas nachgebohrt.«

Sie nickt verstehend, die Augenbrauen immer noch angehoben: »Natürlich hat dich das, was du da gefunden hast, nicht davon abgebracht der Sache weiter nachzugehen.«

Mit einem entwaffnenden Grinsen lächelt er sie an, dabei zuckt er lässig mit den Schultern und hebt beide Handflächen etwas an: »He, Seraphine, du kennst mich doch!« Sie nickt ihn grimmig an: »Natürlich, François. Ich kenne dich nur zu gut. Deshalb mache ich mir ja Sorgen. Dieser Gonzales ist zehn Hausnummern zu groß für dich. Das ist dir schon klar? Der reichste Mann auf dem Planeten und Herr über zigtausende Arbeitsplätze und hunderte Firmen.«

Nun schaut er ihr mit vollkommen ernster Miene ins Gesicht: »Und gerade anscheinend auf der Flucht vor irgendetwas.«

»Das weißt du doch nicht. Die Meldung war lediglich, dass er verschwunden ist.«

François schüttelt energisch den Kopf: »Nicht Big GG. Der verschwindet nicht. Bisher hat er jedes Mal, wenn eines seiner Unternehmen in Schwierigkeiten war, aggressiv die Öffentlichkeit gesucht.«

Seraphine Solier schaut ihn nachdenklich an, hat sie doch in den vergangenen Jahren gelernt, dass François mit seinen Vermutungen fast immer richtig gelegen ist, dennoch sagt sie ernst: »Mag sein. Aber das ist eine Nummer zu groß für dich.«

In diesem Moment sieht sie, wie ein Funkeln in den Augen ihres Freundes aufglimmt. Sie kennt ihn gut genug, als dass sie hoffen kann, dass das Feuer, das diese Geschichte in ihm entfacht hat, schnell oder einfach zu löschen wäre. Geschlagen nickt sie: »Ich sehe schon, wohin das läuft. Aber eines musst du mir versprechen François.«

Mit leicht schief gehaltenem Kopf blickt er ihr in die Augen: »Was?«

Sie holt tief Luft, bevor sie seinen Blick direkt und offen erwidert, dann fährt sie fort: »Du hältst mich auf dem Laufenden und du sicherst deine Information wie üblich. Hörst du?«

Noch einige Sekunden halten die beiden den intensiven Blickkontakt aufrecht. Dann nickt François ruckartig, als er antwortet: »Versprochen.«

Ihre Antwort ist ein leises, aber nachdrückliches Flüstern, dass über den Verkehrslärm hinweg fast nicht zu hören ist: »Danke.«

Dann strafft sie und stößt sich von der Hauswand ab, an der sie bisher gelehnt hat. Nach einem letzten Zug schnippt sie die Zigarette weg und macht sich auf den Weg zurück ins Héraut de Clichy. Einige Schritte geht sie, bevor sie sich ein letztes Mal zu ihm umwendet: »Wie geht es jetzt weiter?«

Mit einem für ihn ungewöhnlich nachdenklichen Ton antwortet er: »Am Samstag fliege ich nach New York. Dort setze ich an mit meiner Recherche.«

Sie nickt verstehend. Sie verabschiedet sich erneut und mit einem Grinsen, das sie ihm über die Schulter hinweg zuwirft, meint sie: »Schnapp' ihn dir! Ich gönne mir nun noch einen Schlummertrunk und bezahle deinen Deckel. Au revoir, François.«

Dann steht er alleine auf dem Gehsteig. Wieder blickt er nachdenklich die Straße hinab, der Verkehr ist inzwischen etwas weniger geworden. Für die Pariser ist jetzt Feierabend angesagt. Für François dagegen beginnt die Arbeit erst. Wie um sich selbst Mut zu machen, nickt er energisch, dann macht er sich auf den Weg nach Hause.

2 Phaethon erwacht

Flug XFH381 gleitet ruhig dahin. Seit dem Start in Paris vom internationalen Flughafen Charles-de-Gaulle am Samstagmorgen um 05:03 Uhr verlief der Flug gänzlich unauffällig. Jetzt, nach etwas mehr als vier Stunden Flugzeit, hat der Airbus A330neo ziemlich genau die Hälfte der insgesamt 5.834 km zurückgelegt. An Bord ist noch die Pariser Zeit gültig und so ist es nun 09:08 Uhr und damit Zeit für das Frühstück.

François gähnt. Die Kabinenbeleuchtung wurde schon vor einiger Zeit von Nacht auf Tag umgestellt, aber draußen ist es noch dunkle Nacht. Die letzten Tage waren angefüllt mit weiteren Recherchen zu Intersol Technologies. Er hat dazu praktisch durchgearbeitet und inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. Der Gott der Flugpassagiere war ihm hold, als er heute früh am Morgen am Flughafen Charles-de-Gaulle für seinen Flug nach New York eingecheckt hat, kam er völlig unerwartet in den Genuss eines kostenlosen Upgrades. So fliegt er in der noblen Executive-Class der Airline. Froh und glücklich über dieses unerwartete Geschenk hat er nicht weiter nachgefragt. Da sitzt er nun in einem wunderbaren Sessel, den er gleich nach dem Start in ein nahezu perfektes Bett verwandeln konnte. Jetzt versucht er, dieses Wunderwerk an fliegendem Sitzmöbel mit einem der vielen Bedienelemente wieder zurück in einen Sessel zu verwandeln. Noch will ihm das nicht gelingen, da spricht ihn eine freundliche Frauenstimme an: »Kann ich Ihnen helfen?«

François blickt zu der Frau auf, sie hat einen nüchternen Gesichtsausdruck, aber das Lächeln ist warm und freundlich. Er runzelt die Stirn: »Ja, bitte!«

Die Frau greift routiniert zum Handbedienterminal des Wundersessels und ruft dort auf dem Touchbildschirm ein Menü auf, wählt die Position "aufrecht sitzen" und schon bewegt sich der Sessel sanft. Über das Geräusch der Triebwerke sind die Elektromotoren der Sesselverstellung nicht zu hören, aber François kann die leichten, fast nicht bemerkbaren Vibrationen gerade noch wahrnehmen: »Bitte schön.« Der Blick der Frau bleibt noch auf ihm ruhen. »Vielen Dank. Ich bin offenbar zu dumm, um einen Sitz zu bedienen. Dafür benötige ich tatsächlich die Unterstützung der Flugbegleitung.«

Jetzt lacht die Frau leise, ein angenehmes Lachen, das François aufhorchen lässt. Er blickt sie zum ersten Mal bewusst an. Ihr Alter schätzt er auf Mitte dreißig. Sie hat hellbraunes Haar und sehr wache, intelligent blickende dunkelbraune Augen.

»Nun, in der Executive-Class werden Sie nur vom Toppersonal bedient. Ich bin Fiona Köhler, Ihre Pilotin auf diesem Flug.«

Das ist einer der seltenen Momente, in denen François peinlich berührt ist: »Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht degradieren, also natürlich sind auch Flugbegleiter wichtig, aber Sie wissen schon ...«, mit einem Seufzer beendet er den verunglückten Versuch. Kurz schließt er die Augen. Als er sie wieder öffnet, lächelt ihn Fiona Köhler immer noch an. Soeben haben sich wundervolle Grübchen auf ihren Wangen gebildet. François versucht die Situation mit einem Lächeln seinerseits zu retten: »Also noch mal von vorn: Vielen Dank und entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie der Kabinen-Crew zugeordnet habe.«

Fiona Köhler hält diesen etwas verdattert wirkenden Franzosen für sehr sympathisch. Und als ob sie ein kleines Teufelchen reiten würde, blickt sie ihn nun mit gespieltem Ernst an: »Mhm, und wie gedenken Sie, diesen Fauxpas wiedergutzumachen?« Jetzt leuchten seine Augen auf. Ganz der galante Franzose antwortet er mit warmer Stimme: »Nun, ich könnte Sie auf einen Drink einladen, wenn und falls Sie diesen Vogel sicher in New York landen können!«

Diese schlagfertige Antwort lässt sie hell auflachen. Nun ist ihr Gesichtsausdruck nicht mehr formal und professionell, sondern fröhlich und unbeschwert. Sie nickt ihm zu: »Dann wollen wir mal schauen, ob ich das hinbekomme. Und dann sehen wir, ob Sie ihren Teil dieses Deals einhalten wollen und können.«

Jetzt lacht auch François kurz auf: »Ich will und ich kann.« Dann streckt er ihr die rechte Hand zum Gruß hin: »François Beauford, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen.«

Sie ergreift seine Hand und schüttelt sie kurz. Es ist eine sehr angenehme Berührung für beide Seiten. Dann wird ihr Blick wieder ernst: »So, dann gehe ich mal und mache meine Pilotensachen, Sie wissen schon, steuern und landen und so!«

Er grinst sie an und zeigt nach vorn zur geschlossenen Türe des Cockpits: »Ich glaube, dazu müssen Sie da lang.«

Wieder blitzt der Schalk in ihren Augen auf: »Ach herrje, vielen Dank. Hier drin verläuft man sich ja so leicht.« Ein letztes Augenzwinkern und Fiona Köhler wendet sich zum Gehen. Sie denkt sich, dass dieser Tag, so angenehm er gerade begonnen hat, gefälligst auch so weiterzugehen hat.

Nach wenigen Schritten hat sie das Cockpit erreicht. An der Türe tippt sie den Zugangscode ein und die Türe wird entriegelt, sodass sie es betreten kann. Ihr First Officer, der Co-Pilot, sitzt konzentriert auf der rechten Seite. Er blickt kurz über die Schulter zu ihr und nickt ihr zu. Fiona Köhler schließt die Cockpittüre sorgfältig. In früheren Zeiten war diese oft den ganzen Flug über geöffnet, aber seit den immer häufiger vorkommenden Flugzeugentführungen bleibt die Türe zum Cockpit meist verschlossen. Sie setzt sich auf den linken Sitz, den Sitz des Piloten. Kurz überfliegt sie die Anzeigen und prüft die Eintragung im Bordcomputer. Alles ist genau so, wie sie es erwartet hat. Ihr First Officer ist zwar blutjung und hat seinen Flugschein erst seit Kurzem, aber die Ausbildung heutzutage trimmt die Pilotenschüler knallhart auf die Einhaltung der Abläufe und Prozesse. Kurz referiert er ihr Kurs und Flughöhe und meldet: keine besonderen Vorkommnisse. Dann widmet er sich wieder der Kursplanung, schließlich hat sie ihm angekündigt, dass er den Vogel heute in New York landen darf.

Fiona Köhler muss an den Fluggast denken, den Franzosen. Als François Beauford hat er sich vorgestellt. Sie beschließt, sich von ihm tatsächlich auf einen Drink einladen zu lassen, schließlich endet heute ihre Rotation in New York und sie hat ganze fünf Tage dort zur freien Verfügung. Nicht gänzlich zur freien Verfügung, wie sie sich eingesteht. Als zweite Chefpilotin der Fluglinie muss sie sich morgen wohl noch an ihren Computer setzen und einiges an Schriftkram erledigen. Aber danach kann sie die Stadt, die niemals schläft, genießen. Genau das hat sie auch vor. Innerlich grinst sie bei dem Gedanken daran, dass sie diesem François mit treu warmem Augenaufschlag gesteht, dass sie den jungen First Officer die Landung hat durchführen lassen. Sie ist sich sicher, dass dieses Date, denn genau genommen ist es das, ein wunderbarer Abend wird.

Nun blickt sie hinaus über den Atlantik. Sie runzelt die Stirn und wirft einen Blick auf ihre mechanische Armbanduhr. Für sie ist dieses wunderbare Stück Technik, obwohl sündhaft, teuer und sehr pflegeintensiv, eine Art Anker, der ihr Halt in dieser von digitalen Datenströmen immer stärker geprägten Welt bietet. Es ist 09:08 Uhr, ihre Uhr geht noch nach Pariser Zeit, also der mitteleuropäischen Zeit. In New York wird sie auf die dort seit dem neunten März geltenden Sommerzeit umgestellt. Dann greift sie sich den Flugplan, der nach wie vor auf einem Klemmbrett in Papierform im Cockpit vorgehalten wird. Nicht alle Fluggesellschaften handhaben das so, aber sie ist sich mit dem Chefpiloten der Airline einig, dass ein Papier im Cockpit im Zweifelsfall immer verfügbar und vor allem lesbar ist. Für elektronische Daten gilt das nicht zwangsläufig. Jetzt vertieft sich ihr Stirnrunzeln. Über dem Atlantik herrscht tiefe Nacht. Nochmals rechnet sie im Geiste nach, wann der Sonnenaufgang sein sollte. Wie sie schon vorher instinktiv erwartet hat, wäre der Zeitpunkt genau jetzt. Ihr Unbehagen vertieft sich. Dann wendet sie sich nach rechts dem First Officer zu: »Wann erwarten wir den Sonnenaufgang?«

Er blickt von seiner Kursplanung auf, blinzelt kurz und schlägt zwei Seiten auf seinem Klemmbrett zurück. Mit dem Finger findet er die gesuchte Stelle: »Sonnenaufgang auf halber Wegstrecke ist 08:08 Uhr UTC, also nach Pariser Zeit 09:08 Uhr.«

Sie nickt unheilschwanger: »Checken Sie die Uhrzeit.«

Wieder blinzelt er sie kurz an, dann blickt er auf seine Armbanduhr und ruft danach die Uhrzeit aus dem Bordcomputer ab: »Wir haben 09:11 Uhr MEZ.«

Er nickt ihr kurz zu, dann widmet er sich wieder seiner Kursplanung. Die Situation ist ernst, ja geradezu absurd: »Schauen Sie hinaus!«

Jetzt blickt der junge Pilot irritiert auf. Dann geht sein Blick hinaus aus dem Cockpitfenster. Es ist eine dunkle, mondlose Nacht. Fiona Köhler kann sehen, wie es in ihm arbeitet. Dann keucht er erschrocken und schaut wieder zu seiner Pilotin nach links: »Kein Sonnenaufgang zu sehen!«

Hektisch prüft er in seinen Unterlagen die Zeiten und Daten, rechnet nach und keucht dann erneut: »Ich muss etwas falsch machen. Aber ich finde den Fehler nicht!«

Verzweifelt schaut er wieder zu Fiona und will ihr sein Klemmbrett reichen, wie ein Schüler, der seine Lehrerin um Hilfe bei einer schweren Mathematikaufgabe bittet. Sie schüttelt nur traurig den Kopf: »Nein, Sie haben keinen Fehler gemacht oder wir beide haben den gleichen Fehler gemacht.«

Er schüttelt verneinend, in Ablehnung der Erkenntnis des Offenbaren, den Kopf: »Wir müssen aber etwas falsch gemacht haben. Die Sonne geht immer auf! Jeden Tag geht sie auf, wie ein Uhrwerk. Das ist so!«

Fiona Köhler blickt erneut zum Cockpitfenster hinaus. Es ist nach wie vor schwarze, dunkle Nacht. Sie atmet tief ein und aus. Und dann macht sie etwas, das nur sehr wenige Menschen beherrschen. Sie akzeptiert die Situation erst einmal, wie sie ist. Damit öffnet sie sich die Möglichkeit, wieder das Zepter der Handlung in die Hand zu bekommen. Ihr Blick wird grimmig und hart. Dann wendet sie sich wieder ihrem First Officer zu: »Nein. Heute geht die Sonne offenbar nicht auf.«

Sie wartet kurz, ob ihr Co-Pilot darauf reagiert. Aber er starrt sie mit zunehmend verzweifelt werdendem Blick einfach weiter an.

Übergangslos konfiguriert sie das rechts neben den Schubhebeln liegende Funkgerät. Kurz blickt sie ihren First Officer an, der immer noch schreckensstarr neben ihr sitzt. Um ihn aus seiner Erstarrung zu lösen, gibt sie ihm eine Aufgabe: »Sie bestimmen Position und Höhe mit allen verfügbaren Methoden. Dann gleichen Sie diese mit unserem Flugplan ab.«

Der junge Pilot zuckt zusammen und nickt dann eifrig. Fiona Köhler ist froh, dass er zumindest vorerst seinen Schreck überwunden hat. Ihr sitzt die Erkenntnis, dass die Sonne heute offenbar nicht aufgegangen ist, noch in den Knochen. Aber wie es ihre Art ist, beginnt sie zu handeln. Als Erstes versucht sie die Flugleitung auf dem amerikanischen Kontinent zu erreichen.

3 Aufstieg der Obskurität

Er muss nochmals eingenickt sein. François Beauford versucht, sich zu strecken. Wie üblich hat er sich zur eigenen Sicherheit mit dem Beckengurt am Sitz angeschnallt, was ein Strecken deutlich erschwert. Aber leidvolle Erlebnisse bei Flügen in Fernost während der Taifunsaison haben ihn gelehrt, dass ein Flugzeug von jetzt auf gleich in Turbulenzen geraten kann und ein geschlossener Sicherheitsgurt einen als Passagier vor kleinen oder gar größeren Blessuren bewahren kann. Auf diesem Flug XFH38 gleiten sie vollkommen ruhig und turbulenzfrei durch die dunklen Lüfte über dem Atlantik. Das Triebwerksgeräusch, das in der Kabine zu hören ist, ist gleichmäßig und zeugt von einem ruhigen, planmäßig verlaufenden Flug. Seufzend öffnet François Beauford seinen Gurt und steht auf. Er blinzelt und gähnt hinter vorgehaltener Hand. Dabei fällt ihm das anregende Gespräch mit der Pilotin wieder ein und ein warmes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. Er nimmt sich vor, diese Frau tatsächlich zu einem Drink einzuladen, sei es auch nur, um dem Jetlag keine allzu große Angriffsfläche zu bieten. Dann schüttelt er den Kopf: Nein, das stimmt nicht. Er gesteht sich ein, dass er sich sehr darauf freut, diese Fiona Köhler näher kennenzulernen. Wieder versucht er sich zu strecken, dazu steht er auf. Nach einem verhaltenen Gähnen blickt er hinaus. Draußen ist es nach wie vor dunkel. Kurz runzelt François Beauford die Stirn. Eigentlich ging er davon aus, dass sie inzwischen den Sonnenaufgang sehen müssten. Dann zuckt er mit den Schultern und blickt sich um. Vom Eingangsbereich vorn beim Cockpit strömt ein herrlicher Geruch nach Kaffee zu ihm herüber. Kurzentschlossen macht er sich auf den Weg und spricht den Flugbegleiter an, der dort die Ausgabe des Frühstücks vorbereitet: »Bitte entschuldigen Sie: Könnte ich eine Tasse Kaffee haben?«

Der Flugbegleiter blickt ihn amüsiert an: »Ah, wir sind doch erst auf halber Strecke und draußen ist es noch dunkel! Für Jetlag ist das noch etwas früh, oder nicht?«

Obwohl der Flugbegleiter wie alle an Bord Englisch gesprochen hat, kann François genau heraushören, dass der junge Mann entweder Franzose oder Belgier ist. Verschwörerisch zwinkert er ihm zu, als er sich zu ihm vorbeugt und flüstert: »Un café est essentiel à la vie!«

Der Angesprochene lacht kurz auf und nickt zur Bestätigung: »Absolument, Monsieur, Absolument!« Dann geht sein Blick suchend in der kleinen Bordküche umher und schließlich hält François Beauford eine dampfende Tasse Kaffee in den Händen: »Merci beaucoup! Tu m'as sauvé!«

Der Flugbegleiter nickt ihm verschwörerisch zu: »C'est un plaisir.«

Dann schnappt er sich eine der Kunststoffkästen, die er mit Servietten und anderen Dingen befüllt hat und macht sich auf den Weg in die Kabine. Er nickt François Beauford noch einmal freundlich grinsend zu, dann ist François alleine. Er genießt mit geschlossenen Augen den ersten Schluck seines Kaffees.

Hinter ihm hört er ein Piepsen und daraufhin das schabende Geräusch einer Türentriegelung. François Beauford öffnet die Augen und macht einen Schritt zur Seite. Die Cockpittüre wird aufgestoßen und ein junger Mann in weißem Hemd steht vor ihm, die Schulterklappen haben sehr neue Abzeichen, die zwei silberne Streifen zeigen. Ohne François anzuschauen, stürmt er an ihm vorbei nach hinten in die Kabine. Die Tür zum Cockpit ist beim Aufschwingen mit deutlich hörbarem, schnappenden Geräusch in eine Verriegelung eingerastet, die die Türe offen hält. Verdutzt blickt François dem Mann nach, dann wandert sein Blick ins Cockpit. Auf der linken Seite sitzt Fiona Köhler. Gerade hat sie eine Eingabe auf einem Gerät in der Mittelkonsole rechts von ihr beendet, als sie aufblickt. Ihr Blick ist ernst. Als sie François sieht, verschwindet ihr Stirnrunzeln kurz, dann erscheint es erneut. Das Licht der dunkel gedimmten Cockpitbeleuchtung zusammen mit dem Lichtschein der Instrumente erleuchtet ihr Gesicht. Ohne es wirklich erklären zu können, empfindet François diesen Anblick als verheißungsvoll abenteuerlich. Er ruft sich sofort innerlich zur Ordnung: »Soll ich die Türe wieder schließen oder kommt Ihr Kollege gleich wieder zurück?«

Die Pilotin schaut ihm kurz in die Augen, dann gibt sie sich einen Ruck. Ihre Antwort verblüfft François Beauford etwas: »Er wird wohl noch einen Moment benötigen.«

Nochmals fixieren die dunkelbraunen Augen ihn genau, dann hat Fiona Köhler sich entschieden: »Kommen Sie doch herein und machen Sie die Tür zu.«

Unsicher geworden hebt er die Augenbrauen, aber die Pilotin nickt ihm aufmunternd zu. Dann wendet er sich der Tür zu. Nach kurzem Suchen hat er die Verriegelung gefunden und er betritt das Cockpit und schließt die Türe hinter sich.

»Sie können sich auf den Jumpseat setzen.« Mit dem Kinn weist Fiona Köhler auf den dritten Sitz, der im Cockpit auf der rechten Seite hinter dem Platz des Co-Piloten eingebaut ist. »Danke schön.« Als er sich gesetzt hat, geht sein Blick zum Cockpitfenster und hinaus in die Dunkelheit. Hier vorn ist es deutlich lauter als in der Kabine. »Ich war offen gesagt noch nie in einem Cockpit.«

Fiona Köhler nickt. Sie kennt die Reaktion von Passagieren, die ins Allerheiligste an Bord gebeten werden, nur zu gut. Sie wendet sich wieder den Instrumenten zu und tippt erneut auf die kleinen Tasten eines der Geräte in der Mittelkonsole. Dann blickt sie auf und mustert ihn. Den Kopfhörer hat sie zwar aufgesetzt, aber auf der rechten Seite so weit zurückgeschoben, dass sie ihn hören kann. François versucht sich einen Überblick zu verschaffen. Er runzelt die Stirn und schaut dann verwirrt zu Fiona Köhler: »Ich hätte erwartet, dass es inzwischen hell ist.« Immer noch hält sie Blickkontakt mit ihm. Dann wendet sie sich wieder um und schaut ebenfalls hinaus: »Ich auch. Aber heute geht die Sonne nicht auf.«

Zuerst lacht François auf in der Annahme, dass die Pilotin sich einen Spaß mit ihm erlaubt. Aber er kann an ihrer Haltung erkennen, dass sie es todernst meint. Er will mit einem flapsigen Kommentar antworten, aber dann besinnt er sich anders: »Die Sonne geht also nicht auf. Ist das eine Annahme oder wissen Sie das genau?«

Noch einmal geht ihr aufmerksamer Blick von links nach rechts hinaus ins Dunkel, dann wendet sie sich erneut um: »Das ist das, was wir beobachten.« Gerade als er nachfragen will, fährt sie fort: »Ganz Europa liegt nach wie vor im Dunkeln.«

Mit einer Handbewegung weist sie auf eines der Geräte in der Mittelkonsole: »Sie können sich nicht vorstellen, was dort los ist. Die Flugleitung ist mit Anfragen überlastet. Der Funkverkehr ist, gelinde gesagt, dramatisch.«

François Beauford schaut die Pilotin erschrocken an. Sie erwidert seinen Blick ruhig, aber mit erkennbarer Sorge. Ohne es bewusst anzustreben, vergleicht er ihre abgeklärte Reaktion mit der geradezu panischen Flucht ihres Co-Piloten aus dem Cockpit. Diese Frau ist krisenfest und resilient. Kurz schließt er die Augen. Als er sie wieder öffnet, geht sein Blick erneut hinaus in das Dunkel über dem Atlantik. Er möchte sich vor Fiona Köhler keine Blöße geben, so atmet er bewusst tief ein und aus, bevor er antwortet: »Das ist völlig absurd. Aber viel wichtiger: sind wir in Gefahr?«

Jetzt schüttelt sie den Kopf, offenbar hat sie sich in diesem Franzosen nicht getäuscht. Ihre Antwort kommt nüchtern und professionell: »Flug XFH38 ist nicht in Gefahr. Dieses Flugzeug kann im Dunkeln genauso gut fliegen wie im Hellen. Wir sind planmäßig auf Kurs und erreichen New York in etwas mehr als vier Stunden. Dort werden wir landen, Nachtlandungen sind kein Problem, das ist Business as usual für uns.« Er nickt, dankbar für ihre nüchterne Einschätzung: »Aber was passiert mit der Welt? Was passiert, wenn die Sonne nicht mehr aufgeht?« Langsam bewegt sie ihren Kopf auf und ab, abwägend, sorgenvoll: »Das ist natürlich eine ganz andere Sache. Aber es ist nichts, worum wir uns bis zur Landung kümmern müssen.« Unvermittelt geht sein Blick zur Cockpittüre.

Jetzt lacht Fiona Köhler fatalistisch auf: »Und mein First Officer, mein Co-Pilot, wird das nun Stück für Stück verstehen müssen, aber der schafft das schon.«

Ihr Blick geht wieder nach vorn, François Beauford bemerkt, wie sie routiniert alle Instrumentenanzeigen überfliegt und die Umgebung draußen kontrolliert. Dann geht ihre Hand zum Kopfhörer, sie schiebt die rechte Ohrmuschel über ihr Ohr und hantiert an der Mittelkonsole.

François verharrt und beobachtet in Gedanken, wie die Pilotin professionell mit einer Gegenstelle im Funkkontakt steht. Der Dialog kommt zu einem Ende und Fiona Köhler nickt zufrieden. Während dieser kurzen Zeit versucht er sich, mit der Situation anzufreunden. Die Sonne ist nicht aufgegangen. Finsternis herrscht auf der Welt. Ärgerlich schüttelt er den Kopf. Nein, keinesfalls will er sich davon in eine Verzweiflung treiben lassen. Für Verzweiflung ist es noch viel zu früh. Er hat viel zu wenige Informationen, als dass das sinnvoll wäre. Auch wenn das Thema Dunkelheit auf hinterhältige Art seine Urängste anspricht.

»Bitte entschuldigen Sie. Die Flugleitung wollte uns umleiten, aber ich habe denen klargemacht, dass wir dann nur noch mit der Notreserve an Treibstoff unterwegs wären. Wir landen also in New York wie geplant.«

François Beauford nickt leicht, weniger aus Verständnis für die Abläufe als zum Zeichen seiner Aufmerksamkeit. Fiona Köhler grinst müde, als sie antwortet: »Das ist das übliche. NYC ist immer voll, da hofft ständig einer darauf, dass er den Slot eines anderen bekommt, der verspätet ist oder ausfällt. Aber alles gut: wir landen in New York.« Er lächelt und versucht humorvoll zu antworten: »Und dann werden wir uns im Dunkeln mit unseren Mobiltelefonen als Taschenlampen einen Ort suchen, an dem eine entspannte Unterhaltung möglich ist.« Ihre Antwort kommt im ernsten Ton: »Das machen wir. Hoffen wir, dass die Akkus durchhalten.«

François Beauford will gerade antworten, als ein Summton hinter ihm ertönt. Die Pilotin hantiert an ihren Instrumenten und die Cockpittüre wird nach außen aufgezogen. Ein inzwischen etwas weniger hektisch blickender Co-Pilot steht in der Türöffnung. Fiona Köhler schiebt sich den Kopfhörer über die Ohren, als sie mit betont lauter Stimme weiterspricht: »So, ich hoffe, Ihnen hat Ihr Besuch hier vorn im Cockpit gefallen! Wenn Sie nun wieder Platz nehmen würden, wir müssen unseren Anflug auf New York vorbereiten.«

François versteht die Botschaft und verneigt sich leicht: »Vielen Dank für die Gelegenheit. Ich bin wirklich fasziniert, welch anspruchsvolle Aufgabe Sie als Piloten haben!«

Er nickt ihr mit einem Augenzwinkern zu, der Co-Pilot hinter ihm kann das nicht sehen. Sie wendet sich mit stoischer Miene um. François Beauford wendet sich zum Gehen, der Co-Pilot macht zwei Schritte zurück, um ihn durch die Cockpittüre passieren zu lassen. Auch der Co-Pilot bekommt ein ehrfürchtiges Nicken von François Beauford zum Abschied, natürlich in diesem Fall ohne Augenzwinkern.

Als er sich gerade wieder an seinen Platz setzt, wird das Frühstück serviert. Die Mitarbeiter der Kabinencrew lächeln professionell freundlich, aber François Beauford erhascht immer wieder einen Moment, wo das Kabinenpersonal mit sorgenvoller Miene nach draußen späht. Als ob sie die Hoffnung haben, dass sich die Sonne doch noch zeigen würde. Jedes Mal werden sie enttäuscht.

4 Nachtlandung

Die Stimmung an Bord ist gedrückt. Inzwischen ist jedem klar geworden, dass die Welt im Dunkeln bleibt. Es ist der sehr professionell agierenden Kabinen-Crew nach der wunderbar überlegt und kompetent formulierten Durchsage der Pilotin gelungen, dass es die Menschen beruhigt wurden und es zu keinen größeren Dramen oder Konflikten gekommen ist. Jetzt sitzen alle angeschnallt auf ihren Plätzen und lauschen den üblichen Geräuschen eines Verkehrsflugzeuges. François hat vorhin einen wunderbaren Blick auf das nächtliche New York durch sein Kabinenfenster erhaschen können. Nein, das ist nicht das nächtliche New York, korrigiert er sich in Gedanken selbst. Es ist das normale New York, das wie die ganze übrige Welt gerade im Dunkeln liegt. Je länger er darüber nachdenkt, desto unwirklicher und gleichzeitig Furcht einflößender erscheint ihm diese Situation. In den vergangenen Stunden hat er sich selbst dazu gebracht, nicht ständig über die Welt im Dunkeln nachzugrübeln. Denn, so hat er sich immer wieder selbst ermahnt, an diesem Umstand kann er derzeit nichts, aber auch gar nichts ändern. Trotzdem lauert die Sorge und Furcht wie ein gehässiges Wesen hinter jedem Schutzwall, den er in seinem Geist gegen die Verzweiflung über die Dunkelheit aufgebaut hat. So hat er die letzten Stunden mit dem Studium aller seiner Unterlagen verbracht, die er über Geraldo Gonzales zusammengetragen hat. Sein Laptop verwendet eine freie Linux-Distribution, und seine Festplatte hat er komplett verschlüsselt. Die Schlüsselchiffre muss er jedes Mal, wenn er sich an seinem Laptop als Benutzer anmeldet, neu erdenken. Dazu geht er im Kopf methodisch nach der Anleitung vor, die ihm sein Freund aus Studienzeiten genau erläutert hat, bis er den Passcode mit seinen 16 Stellen erarbeitet hat. Anfangs war das sehr mühselig, aber inzwischen beherrscht er dieses Verfahren perfekt und, wie er festgestellt hat, sowohl im halb wachen als auch im leicht betrunkenen Zustand. Nach menschlichem Ermessen dürfte es auch einem der drei Buchstabendienste der Welt unmöglich sein, die Daten im Massenspeicher seines Laptops zu entschlüsseln. Für den Fall, dass ihm das Gerät weggenommen oder zerstört würde, hat er an einem sicheren Speicherort im Internet die verschlüsselte Version seiner Daten abgelegt. Dieses Vorgehen birgt natürlich ein gewisses Risiko in sich, aber François Beauford ist sich darüber völlig im Klaren. Milde lächelt er, wenn er daran denkt, was passiert, wenn der Laptop einfach eingeschaltet wird. Das Betriebssystem wird gestartet und am Ende erscheint ein aufgeräumter Desktop ohne Passwortschutz. An dieser Stelle sind lediglich einige Ordner mit Urlaubsbildern und PDF-Dateien seiner alten Artikel zu finden. Das E-Mail-Programm zeigt die üblichen Maileingänge eines Privatmanns. Den Mailaccount hat er vorsätzlich bei einem der großen, amerikanischen Anbieter eingerichtet. Von diesem Anbieter ist bekannt, dass er unter der Hand die Daten seiner Kunden gerne intern und extern weiterreicht. Selbstverständlich, unter strikter Wahrung der Firmenpolitik, die einen Datenmissbrauch auszuschließen, vorgibt.

Dieser Geraldo Gonzales, GG wie ihn seine Freunde und seine Feinde nennen, ist eine sehr schillernde Person. In der Öffentlichkeit tritt der Multimilliardär als Selfmademan auf. François ist sich jedoch sicher, dass GG von sehr finanzkräftigen Strukturen mit Kapitalmitteln versorgt wird. Er muss hervorragende Verbindungen zum internationalen militärisch, wirtschaftlichen Komplex haben. Anders ist es François Beauford nicht erklärbar, wie GG sein Firmenimperium immer in die vorderste Front für Hochtechnologieprojekte bringen kann. Allerdings scheint er sich mit seinem "Project Deep Space" verhoben zu haben. In den vergangenen sieben Monaten wurden kurz hintereinander 15 Sonden gestartet. Alle hatten die Aufgabe, den Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter näher zu untersuchen. Die große Vision von GG ist die Ausbeutung der dort auf den Asteroiden schlummernden Ressourcen an Metallen, seltenen Erzen und Gasen. Diese Vision hat das Ziel, der Menschheit den Weg ins Sonnensystem zu ebnen und gewissermaßen nebenbei die Aufgabe zu haben, GG unfassbar reich werden zu lassen. Nachdenklich ruft François Beauford das Video der letzten Pressekonferenz von GG auf. Wie üblich trägt er eine schwarze Hose mit fein bestickten Streifen an der Seite. Sein weißes Leinenhemd ist mit ähnlichen Verzierungen versehen, das schwarze Haar mit Gel glatt nach hinten gekämmt. Im Nacken wird sein langes Haar von einer ledernen Haarspange mit Holzstift zusammengehalten. François Beauford hat seinen Kopfhörer aufgesetzt, so kann er den Ton der Aufzeichnung genau hören. Er kennt die Aufzeichnung, daher konzentriert er sich weniger auf den Inhalt als auf die Person. Ganz anders als üblicherweise, wenn er auf eine Bühne kommt oder zu einem Rednerpult geht, ist es still. Keine Musik läuft, niemand jubelt im Saal.

Der Spot der Beleuchtung folgt ihm von dem Moment an, wo er die Bühne betritt. Ernst blickt er sein Publikum an, dann wendet er sich dem Rednerpult zu und legt die wenigen Schritte dorthin zurück. GG ist ein charismatischer Mensch. Jemand hat einmal gesagt, dass er sogar die Wetteransage für einen verregneten Urlaubstag als hysterisch gefeierte Ansprache gestalten kann. Aber nicht in diesem Moment. Still blickt er kurz zu Boden, dann ergreift er das Wort. Seine Stimme ist leise, das so charakteristische, leichte Knarzen lässt seine Worte rustikal klingen: »Meine Damen und Herren, meine Freunde. Ich stehe heute hier, um Ihnen etwas sehr Betrübliches mitzuteilen.« Er holt tief Luft und blickt kurz in die Runde. Dann fährt GG fort: »Die letzten Wochen waren unendlich schwer. Nicht nur für mich, sondern für alle in der Intersol Technologies Familie.«

Wieder eine Pause: »Aber wenn etwas gesagt werden muss, dann muss es gesagt werden. Es ist meine Pflicht, meine Obliegenheit, Ihnen, meine Freunde, das Folgende zu berichten.« GG holt nochmals Luft, dann strafft er sich sichtbar, bevor er fortfährt. Er scheint die nächsten Worte von einem Notizzettel abzulesen: »Wir sind gescheitert. Alle 1.400 Explorationssonden haben die Kommunikation mit unseren Bodenstationen eingestellt. Es ist eine Tragödie.«

Mit einem schmerzvollen Gesichtsausdruck blickt er erneut zu seinem Publikum auf.: »Es ist vorbei. Jeder Versuch, die Verbindung wiederherzustellen, ist ohne Resultat geblieben. Es tut mir sehr leid, meine Freunde. All unsere Hoffnung, unsere Begeisterung, unser Wissen haben wir in diese Mission, nein, in diese Vision investiert. Genauso wie wir all unsere Ressourcen und unsere finanziellen Mittel eingesetzt haben. Nun müssen wir, muss ich eingestehen, wir sind gescheitert.«

Trotz des lauter werdenden Kabinengeräusches jetzt kurz vor der Landung hat François Beauford den Eindruck, dass man nach den letzten Worten eine Stecknadel im Saal der Pressekonferenz hätte fallen hören können. GG nickt nachdenklich, dann fährt er fort: »Nun werden wir besprechen und klären müssen, wie es weitergeht. Ob es überhaupt weitergeht.«

Wieder ein fatalistisches Nicken, dann spricht der große GG die letzten öffentlichen Worte: »Ich danke Ihnen für all Ihre Kraft und Ihr Vertrauen. Ich verspreche Ihnen, Sie hören erneut von mir.«

François hält die Wiedergabe durch Klick auf das Pausensymbol an. Da ist sie, die entscheidende Stelle. Einen winzigen Moment lang verschwindet die Pose des geschlagenen Menschen, der sein Scheitern offenbart. Für einen Sekundenbruchteil ist dort ein Wesen zu sehen, dessen kalter Blick Furchtbares erahnen lässt.

Plötzlich spürt François eine Hand auf seiner Schulter. Es ist die Flugbegleiterin, die ihn bittet, den Laptop auszuschalten und das Tischchen vor ihm für die Landung hochzuklappen. Er nickt ihr freundlich zu. Schließlich spürt er, wie das Flugzeug mit einer letzten Linkskurve in den Endanflug einschwenkt. Das Geräusch der Landeklappenhydraulik ist zu hören.

Dieser kurze Moment, in dem dieser Multimilliardär sein wahres Wesen gezeigt hat, ist der Grund für seine Reise nach New York. Er spürt förmlich, dass hinter diesem Scheitern viel mehr steckt als der vermeintliche Zusammenbruch eines Technologiegiganten. Deshalb will er sich in New York mit einem gut informierten Insider treffen, der sich auf die Analyse der Bilanzen von Großkonzernen spezialisiert hat. Jetzt ist wieder das Geräusch einer arbeitenden Hydraulik zu hören, harte Schläge folgen. Das Fahrwerk ist ausgefahren, eingerastet und so hat sich auch das Geräusch deutlich geändert. François Beauford spürt, wie das Flugzeug etwas rollt, also über die Längsachse hin und her wackelt. Eigentlich hat er angenommen, dass Fiona Köhler ohne diese Korrekturen beim Landeanflug auskommt. Mit einem milden Lächeln nimmt er sich vor, sie darauf mit ironisch, hintergründigem Ton heute Abend anzusprechen. Jetzt sieht er draußen, wie die Beleuchtungen am Boden immer näher kommen. Ansonsten ist es komplett dunkel. Dann wird es übergangslos hell, die Landebahnbeleuchtung taucht den Airbus in grelles Scheinwerferlicht. Zuerst setzt das Hauptfahrwerk auf, dann kippt die Nase des Flugzeuges nach vorn und das Bugfahrwerk berührt den Boden. Die eigentliche Landung war perfekt, soweit er das als Passagier beurteilen kann. Mit dem Aufsetzen hat sich das Triebwerksgeräusch geändert, wie François weiß, ist der Umkehrschub nun zum Abbremsen aktiv. Das Flugzeug verzögert stark und schon hat es das Ende der Landebahn erreicht und biegt scharf nach links auf einen Rollweg ab. Er ist in New York wohlbehalten gelandet. Sein Blick geht hinaus durch das Kabinenfenster. Hinter der Beleuchtung des Flughafens lauert die Dunkelheit.

5 Stromschnellen im Chaos

François Beauford blickt sich erschöpft um. Er hat nun über fünf Stunden gebraucht, bis er die Einwanderungskontrolle passiert hat. Er kann sich noch glücklich schätzen. Gerade war eine Durchsage zu hören, die das Schließen der Schalter angekündigt hat. Bei der Gepäckausgabe herrschte, gelinde gesagt, Chaos, aber das Glück war ihm hold, ein frustrierter Passagier hat wohl seinen Trolley vom Gepäckband gezerrt, dann erkannt, dass es nicht sein Trolley ist und ihn einfach mitten zwischen den Gepäckbändern stehen lassen. Als François Beauford seinen Trolley erspäht hatte, ist er energisch darauf zugestrebt und wollte durch die Zollkontrolle. Zwei aufmerksame Sicherheitsbeamte haben das jedoch beobachtet und in ihm einen Kofferdieb vermutet. Zu seinem Glück war in seinem Kulturbeutel ein Medikament, das die Apotheke mit einem Etikett mit seinem Namen beklebt hatte. Denn so konnte er die Eigentümerschaft an dem Gepäckstück nachweisen und nach viel Argumentieren durfte er endlich eine Stunde später die Zollkontrolle passieren. So froh er vor Sekunden noch war, dass er dieses Martyrium der Einreise in die USA endlich erfolgreich hinter sich gebracht hat, so verzweifelt ist er nun. Vor dem Flughafen herrscht ein Verkehrsgewühl, wie François Beauford es noch nie gesehen hat. Das will etwas heißen, schließlich wohnt er seit Jahrzehnten in Paris, sozusagen der Mutterstadt aller Verkehrsstaus. Nachdenklich blickt er auf das Durcheinander, das durch die Glasscheiben und Drehtüren draußen zu sehen ist. Immer noch ist es dunkel. Natürlich hat sich dieses Problem in der Zwischenzeit nicht in Luft aufgelöst. Und François spürt, dass diese Dunkelheit die chaotische Situation hier und wahrscheinlich überall auf der Welt geradezu provoziert. Die Menschen haben Angst und sind deshalb aggressiv. Durch die Scheiben kann er beobachten, wie eine junge Frau die Koffer eines älteren Ehepaars aus dem Kofferraum eines Taxis zerrt und achtlos auf die Straße wirft. François schüttelt enttäuscht den Kopf. Da spricht ihn eine Frauenstimme von der Seite an: »Man sollte meinen, dass die Menschen in schwierigen Situationen enger zusammenrücken. Aber genau das Gegenteil geschieht.«

Er wendet sich der Stimme zu und seit Stunden kann er zum ersten Mal wieder lächeln. Neben ihm steht Fiona Köhler, die Pilotin von Flug XFH38, noch in Uniform, ihren handlichen Trolley hat sie an der Hand. Sie blickt mit sorgenvoll gerunzelter Stirn nach vorn und beobachtet das chaotische Treiben auf dem Gehsteig vor dem Flughafen durch die Glasfront. Auch François schaut nun wieder dorthin: »Sie werden zusammenrücken, aber jetzt ist bislang noch nicht die Zeit dazu. Noch glaubt jeder, dass das vorübergeht.«

Ihr Kopf ruckt zu ihm herum: »Und Sie? Sie glauben das nicht?«

Er zuckt mit den Schultern, »Ich weiß es ganz einfach nicht. Aber ich hoffe es natürlich. Eine Existenz in Dunkelheit spricht die Urängste der Menschen an.« Dann wendet er sich wieder ihr zu: »Aber ich hätte eine Frage an die Pilotin!« Sie grinst und hebt das Kinn fragend: »Na dann fragen Sie mal?«

Er versucht einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen, aber ein Rest seines schelmischen Lächelns bleibt doch zu sehen: »Welchen Kurs muss ich einschlagen, damit ich zu Fuß in die Stadt komme? Denn dort draußen sehe ich keine Chance, an ein Transportmittel zu kommen.« Sie nickt verstehend: »Nun, in die Stadt kommen Sie mit Kurs 000. Sie müssen nur nach Norden gehen.«

Er nickt verstehend, strafft die Schultern und greift zu seinem Trolley. Sie kann die nüchterne Miene nicht lange aufrecht halten und kichert. François Beauford stellt überrascht fest, dass ihm dieses Kichern ausgezeichnet gefällt: »Oder Sie fahren mit uns. Deshalb habe ich Sie überhaupt angesprochen. Wir sind auch gerade erst mit der Flugnachbereitung fertig geworden und haben einen Shuttle in die Stadt.«

Erleichtert atmet er aus und nickt ihr dankbar zu: »Das ist die wirklich beste Nachricht seit Stunden. Vielen Dank!«

Nun blickt sie ihn wieder ernst an: »Aber es gibt eine Bedingung.« Er rollt gespielt mit den Augen: »Ah, wusste ich es doch. Immer gibt es eine Bedingung. Nun, Madame, was muss ich tun?«

Sie nickt lächelnd, als sie antwortet. Dabei zeigen sich wieder die Lachfältchen in ihren Augenwinkel: »Einen Drink. Sie haben mir einen Drink versprochen.«

François lacht auf, dann verbeugt er sich graziös: »Es ist mir eine Ehre, Madame. Einen Drink für eine Mitfahrt. Ein fairer Tausch.« Dann wird sein Gesicht wieder ernst: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich diesem Chaos endlich entkommen möchte.«

Wenige Minuten später sitzt er in einem Kleinbus, außer ihm sind nur noch zwei weitere Männer, Flugpersonal vermutlich einer indischen Fluggesellschaft im Bus. Er sitzt neben Fiona Köhler. Der Kleinbus fährt los und quält sich durch den Verkehr am Flughafen. Beide beobachten mit zunehmender Sorge, wie die Menschen da draußen mit der Dunkelheit umgehen. Es dauert über eineinhalb Stunden, bis sie endlich beim Hotel von Fiona Köhler angekommen sind. Nachdem das Shuttle die anderen Fahrgäste bereits vor einiger Zeit abgesetzt hatte, konnten François Beauford und die Pilotin sich entspannter unterhalten. New York ist hell erleuchtet wie üblich bei Nacht. Aber die Stimmung der Stadt ist nicht die des Abends oder der Nacht. Es ist das summende Getriebe des Tages mit der optischen Wirkung der Nacht. François Beauford stellt fest, dass er diese seltsame Kombination als Widerspruch empfindet. Als er Fiona Köhler darauf anspricht, wendet sie den Blick vom Seitenfenster ihm zu und nickt nachdenklich: »Da haben Sie recht. Es ist kein guter Kontrast.«

Wieder wandert ihr Blick zurück auf die Straßen von New York hinter der etwas schmierigen Scheibe des Shuttlebus. Sie sitzt auf der linken Seite, François Beauford daneben. Langsam spürt er eine bleierne Müdigkeit. Die letzten Stunden haben ihn mental viel Kraft gekostet, das spürt er jetzt. Er schließt kurz die Augen. Einfach, nur als Hauch, kann er das Parfüm von Fiona Köhler wahrnehmen. Das lässt seinen Geist abdriften. Er stellt sich vor, wie sie beide entspannt bei einem Abendessen unter freiem Himmel sitzen und übers Wasser der untergehenden Sonne zuschauen.

»Warum lächeln Sie?« Erschrocken öffnet er die Augen und als er ihren forschenden Blick auf sich spürt, setzt er unbewusst die Miene eines vom Lehrer beim Träumen ertappten Schülers auf. Als sie dieses Mienenspiel sieht, kichert die Pilotin leise: »Diesen Gesichtsausdruck muss ich mir merken. So sieht es also aus, wenn Sie etwas ausgefressen haben, nicht wahr?«

Betrübt zuckt er mit den Schultern: »Eigentlich habe ich mir nur etwas sehr Angenehmes vorgestellt. Ganz anders als das hier!«

Dabei macht er mit der rechten Hand eine unbestimmte Bewegung, die die gesamte Umgebung des Shuttlebus umfasst.

Neugierig fragt sie nach: »Möchten Sie mir erzählen, worum es bei dieser angenehmen Vorstellung ging?«

Er holt tief Luft und will schon verneinend den Kopf schütteln. Dann besinnt François Beauford sich eines Besseren: »Ach was soll's. Ich habe mir gerade vorgestellt, wie wir beide entspannt zu Abend essen und dabei dem Sonnenuntergang am Wasser zuschauen.«

Ihr Blick wird sehr ernst. Dann nickt sie ihm zu: »Das ist wirklich eine angenehme Vorstellung.« Gerade will er ihr antworten, da meldet sich der Fahrer des Shuttlebus und teilt ihnen mit, dass sie das Hotel erreicht haben, in dem Fiona Köhler untergebracht ist. Sie greift sich ihre Handtasche und beide stehen auf. Der Fahrer zieht die Schiebetüre auf der rechten Seite auf

Aus dem Kofferraum holt er den Trolley der Pilotin. François Beauford und Fiona Köhler stehen sich etwas unsicher gegenüber. Dann streckt sie ihm keck die Hand zum Abschied entgegen. Er schüttelt sie automatisch, seine Augen bleiben dabei unentwegt an ihren hängen: »Vielen Dank, Herr Beauford.« Er lächelt ihr zu: »Ich habe zu danken. Und ich heiße François.«

Sie kichert zur Antwort: »Ein sehr französischer Name, wie ich finde.«

»Der französischste Name überhaupt.« Dann müssen beide kurz lachen. Noch immer schütteln sie sich die Hände. Keiner der beiden möchte zuerst loslassen.

»Fiona. Das ist sicher nicht der deutscheste Namen wie ich meine.«

François Beauford lacht amüsiert auf: »Sicher nicht. Aber wunderschön.«

Nach einem letzten Blick lässt sie seine Hand los, dreht sich um und bedankt sich mit einem Nicken beim Busfahrer. Der tippt kurz mit dem Zeigefinger der rechten Hand an eine imaginäre Schildmütze und wendet sich dann ab, um wieder seinen Platz hinter dem Lenkrad einzunehmen. Fiona Köhler geht einige Schritte, als sich François Beauford aus seiner Erstarrung löst: »Wie kann ich Sie erreichen? Sie haben noch einen Drink bei mir gut!« Sie wendet sich im Laufen um und ruft ihm zu: »Linke Tasche im Jackett!«

Ihre nächsten Schritte führen sie durch die Drehtüre ihres Hotels, dann ist sie verschwunden. François Beauford schaut ihr verwundert nach. Dann greift er suchend in die linke Tasche seines Jacketts. Er spürt Papier und fischt es heraus. Es ist ihre Visitenkarte: Fiona Köhler, Vice Chief Pilot. Ihre Mobiltelefonnummer hat sie von Hand auf die Rückseite geschrieben. Er lächelt, dieses Mal nicht aufgrund einer Fantasie. Der Fahrer tippt kurz die Hupe an, was François Beauford dazu bringt, zügig einzusteigen und hinter sich die Schiebetüre zu schließen. Das mühsam erleuchtete New York im Dunkel dieses Tages bleibt dahinter zurück.

6 Durch die Angst hindurch

François Beauford tritt durch die Drehtüre und holt erst einmal tief Luft. Draußen hat es begonnen zu regnen und so hat er die letzten zwei Blocks bis hierher im Laufschritt zurückgelegt. Er trägt ein dunkles Stoffjackett, das er nun vorsichtig auszieht. Dann versucht er, es etwas auszuschütteln. Ganz durchnässt ist es nicht, aber doch so feucht, dass er es nicht sofort wieder anzieht. Er blickt sich in der Lobby um. Vorhin hat er kurz entschlossen Fiona Köhler eine Nachricht gesandt, in der er seine Einladung auf einen Drink wiederholt hat. Zu seiner Verblüffung hat sie sofort zugesagt. Anschließend haben sie kurz telefoniert und vereinbart, dass er sie an ihrem Hotel abholen würde, um in einem kleinen Restaurant, das sie kennt, gemeinsam zu Mittag zu essen. In guter Stimmung hat François Beauford erst einmal eine Dusche genommen und dann seinen ersten Kontakt in New York erreicht. Nach längerem Hin und Her vereinbarten sie ein mögliches Treffen für heute Nachmittag.