DER NÄCHSTE TOTE - Victor Gunn - E-Book

DER NÄCHSTE TOTE E-Book

Victor Gunn

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Sehr ungewöhnlich, dass in der Anwaltskanzlei Henderson so spät noch Licht brennt. Jobling, der Nachtportier, ist erst beruhigt, als ihn der Anwalt selbst anspricht und bittet, ein Taxi zu besorgen. Taxis gibt es in der Fleet Street - ein Weg von ein paar Minuten. Und doch zu weit an diesem Abend... Als Jobling zurückkommt, sitzt Mark Henderson noch immer am Schreibtisch. Aber jetzt steckt ein Dolch in seiner Brust... Der Roman DER NÄCHSTE TOTE von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Inspektor Cromwells Trick). Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

VICTOR GUNN

 

 

Der nächste Tote

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 97

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER NÄCHSTE TOTE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Sehr ungewöhnlich, dass in der Anwaltskanzlei Henderson so spät noch Licht brennt. Jobling, der Nachtportier, ist erst beruhigt, als ihn der Anwalt selbst anspricht und bittet, ein Taxi zu besorgen. Taxis gibt es in der Fleet Street - ein Weg von ein paar Minuten. Und doch zu weit an diesem Abend...

Als Jobling zurückkommt, sitzt Mark Henderson noch immer am Schreibtisch. Aber jetzt steckt ein Dolch in seiner Brust...

 

Der Roman Der nächste Tote von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr (unter dem Titel Inspektor Cromwells Trick).  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER NÄCHSTE TOTE

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war sehr ungewöhnlich, dass aus dem Fenster von Mr. Hendersons Privatbüro um diese Zeit noch Licht fiel, und Jobling, der Nachtportier, blieb zögernd stehen. Es war zwar erst sieben Uhr abends, und daher waren die Anwaltskanzleien im Inner Temple noch nicht ganz verlassen, aber der alte Mr. Henderson war in seinen Gewohnheiten so pedantisch, dass ein Licht in seinem Zimmer um diese Zeit eigenartig genug war, um eine nähere Überprüfung zu erfordern.

»Na so etwas murmelte Jobling und zog die Stirn kraus.

Noch nie in den Jahren seines Dienstes hier hatte er es erlebt, dass in der Anwaltskanzlei Henderson, Sayers & Henderson Überstunden gemacht wurden. Jetzt bestand die Firma allerdings nur noch aus Mr. Henderson, denn sein Vater, Henderson senior, war schon seit dreißig Jahren tot und der andere Teilhaber, Mr. Sayers, im Jahr 1941 bei einem Bombenangriff umgekommen. Mr. Hendersons Kanzlei am King’s Walk war vom Krieg verschont geblieben. Hier hatte sich seit Generationen praktisch nichts geändert.

Mr. Hendersons Zimmer war für den Charakter seines Besitzers kennzeichnend; es war karg, fast düster eingerichtet. Überall an den Wänden standen Regale mit Akten. Nur die Tischlampe war angeknipst; dort saß der ältliche Anwalt an seinem Schreibtisch und schrieb eifrig. Das Geräusch des Straßenverkehrs drang kaum hierher. Das leise Kratzen von Mr. Hendersons Feder und sein leicht asthmatisches Atmen waren die einzigen Laute, die das Schweigen störten.

Als Jobling das alte Gebäude betrat, fand er die Außentür zu Mr. Hendersons Büroräumen offen. An die Innentür, die auch nur angelehnt war, klopfte er leise an. Aber er erhielt keine Antwort. Vorsichtig stieß Jobling nun die Tür auf.

Jetzt lag das Vorzimmer vor ihm, in dem es ziemlich finster war, denn hier brannte kein Licht. Eigentlich hätte die Dämmerung noch durch die Fenster eindringen müssen, denn die Sonne war ja erst vor kurzem untergegangen, aber schwere Wolken am Himmel hatten es früher dunkel werden lassen.

Die Tür, des inneren Büroraums, aus der Licht herausfiel, war auch nur angelehnt. Schwerfällig ging Jobling durch das Vorzimmer und klopfte an die Tür. 

»Hallo - wer ist denn da?«, ertönte eine scharfe, aber etwas zittrige Stimme. »Herein! Ach, Sie sind das, Jobling! Nun, was ist denn?«

»Verzeihen Sie bitte, Mr. Henderson

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, unterbrach ihn der alte Anwalt und sah den Eindringling über seine Brille hinweg an. »Aber Sie stören mich. Ich habe sehr viel zu tun.«

»Gewiss, Sir!« Ich wollte mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist«, antwortete der Nachtwächter. »Als ich Licht in Ihrem Fenster sah, dachte ich, dass vielleicht jemand vergessen hat, es auszulöschen.«

»Unsinn!«, erwiderte der alte Anwalt ungeduldig. »Wen glauben Sie denn zu dieser Stunde noch hier finden zu können? Sie wissen doch ganz genau, dass Mr. Spenlowe stets um halb sechs weggeht.«

»Jawohl, Sie, und Sie um sechs!«

»Nun, heilte Abend habe ich es eben nicht getan«, sagte Mr. Henderson. Er verabschiedete Jobling mit einer Handbewegung. »Gehen Sie ruhig wieder. Eine wichtige Arbeit war noch zu erledigen; Sie haben mich gestört, als ich schon fast fertig war. Gehen Sie, und lassen Sie mich in Frieden.«

Jobling war von seinem Ton überrascht, denn für gewöhnlich war Mr. Henderson wohlwollend und freundlich. Seine jetzige Reizbarkeit war etwas Außergewöhnliches.

»Ich wollte Sie nicht stören, Sir«, entschuldige sich der Nachtwächter und wandte sich zum Gehen. »Aber wenn ich sehe, dass Ihre Tür nur angelehnt ist, so ist es doch meine Pflicht

»Um Gottes willen, Jobling, hören Sie auf und machen Sie, dass Sie hinauskommen!«, fuhr ihn der alte Anwalt an. »Mein Gott, ich hatte ja gar keine Ahnung, dass es schon so spät ist!«

Er blickte auf seine Uhr und beugte sich wieder über seine Arbeit. »Wenn ich etwas für Sie tun kann, Sir...?«

»Sind Sie noch immer hier?« Mr. Henderson schrie ihn geradezu an. »Ich sagte Ihnen doch ganz deutlich, dass Sie mich allein lassen sollen...« Er hier inne. »Aber warten Sie! Sie können wirklich etwas für mich tun! Es passt mir sogar sehr gut, dass Sie gekommen sind, Jobling. Bitte gehen Sie zum nächsten Taxistand und holen Sie mir einen Wagen. Aber sagen Sie dem Fahrer, dass er bereit sein muss, eine weite Fahrt mit mir zu machen.«

»Eine weite Fahrt, Sir?«, fragte Jobling verwundert.

»Mein Gott, Mann, wollen Sie denn alle Einzelheiten wissen?«, herrschte ihn Henderson an. »Jawohl, eine ziemlich weite Fahrt - mindestens zwanzig Meilen. Manche Taxifahrer sind heutzutage nicht mehr gewillt, so weite Fahrten zu machen.«

»Sehr wohl, Sir.«

Jobling war zwar auf seine Art ein brauchbarer Mensch, aber kein sehr rascher Denker. Er blieb nochmals stehen, als er die Tür erreicht hatte.

»Eine weite Fahrt, Sir?«, wiederholte er. »Sollten Sie dazu nicht lieber die Eisenbahn benutzen? Taxis sind doch sehr teuer.«

»Wie?« Mr. Henderson sah auf. »Was haben Sie gesagt? Seien Sie so gut, Jobling, und kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten! Ach, richtig, ich habe Sie ja gebeten, mir ein Taxi zu besorgen! Sehen Sie zu, dass es mich in zehn Minuten hier erwartet.«

Jobling zuckte die Achseln und ging hinaus. Er hatte Mr. Henderson noch nie so reizbar und nervös gesehen. Der alte Herr war für gewöhnlich ruhig und friedlich, der typische Anwalt alter Schule. Die Arbeit, die ihn noch so spät in seinem Büro festhielt, musste wirklich von ganz außerordentlicher Wichtigkeit sein.

Jobling trat aus dem schönen alten Haus und überquerte den offenen Platz davor in der Richtung auf die Crown Office Row. Er wusste schon, wie man es anstellen musste, um rasch ein Taxi zu erwischen. Der weite Platz, den er jetzt überquerte, war praktisch völlig verlassen. Am Tag standen hier die Autos selbstverständlich dicht gedrängt - was Jobling tief bedauerte. In der guten alten Zeit, so meinte er, waren in dieser ruhigen Gegend solche lauten Vehikel nicht zu sehen gewesen.

Nach einer Weile erreichte er die von Leben durchpulste Fleet Street. Damit war ein dramatischer Wechsel der Atmosphäre verbunden. Mit ein paar Schritten war er aus dem Frieden des Inner Temple in das Gedränge und den Lärm großstädtischen Verkehrs gekommen.

In der Nähe der Clemens-Kirche war ein Taxistand, und Jobling, der abwarten musste, bis der Verkehrsstrom eine Lücke aufwies, ging mit schweren Schritten über die Straße zu diesem Stand hinüber. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihn jemand vom Eingang zum Figtree Court aus beobachtete, als er in die Fleet Street einbog. Dieser Mann hatte ihm nachgesehen, bis er um die Ecke der Crown Office Row verschwunden war.

Erst als Jobling außer Sichtweite war, kam in diesen Mann Leben. Rasch schritt er über den offenen Platz auf Mr. Hendersons Kanzlei zu. Er hatte schon früher das alte Haus zu betreten versucht, hatte aber seine Absicht geändert, als sich Jobling ihm näherte. Er war auf seinen Platz am Figtree Court zurückgegangen und hatte von dort aus beobachtet, wie Jobling das Haus betrat und wieder verließ. Offensichtlich wollte der Fremde bei dem, was er hier zu tun beabsichtigte, keine Augenzeugen haben.

In der Dunkelheit war er eine große, schlanke, kaum näher zu beschreibende Gestalt. Er trug einen langen blauen Regenmantel und einen weichen Hut, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Als er das Haus am King’s Walk erreicht hatte, verschwand er in der Dunkelheit des Hausflurs. Zu dieser Abendstunde gab es hier nur wenige Menschen, die ihn hätten beobachten können - und in diesem Augenblick war überhaupt niemand da, der ihn beobachten konnte.

Im Hausflur benahm sich der Mann recht merkwürdig. Aus der Tasche seines Regenmantels zog er Pantoffeln mit Filzsohlen heraus und stülpte sie über seine Straßenschuhe. Die Pantoffeln waren für diesen Zweck bestimmt und passten ausgezeichnet. Jetzt stieg er mit schnellen Schritten, aber lautlos wie ein Schatten, die Stufen zu Mr. Hendersons Kanzlei hinauf, die im ersten Stock lag. Er blieb überrascht stehen, als er bemerkte, dass die schwere eichene Außentür nur angelehnt war. Offenbar hatte er angenommen, anklopfen zu müssen, um Einlass zu finden. Aber so war es ja viel besser. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Auch die innere Tür war nur angelehnt, so, wie sie Jobling gelassen hatte. Der Zufall war also dem Eindringling günstig- denn es war ja ungewöhnlich, dass keine der beiden Türen geschlossen war. Im Vorzimmer hielt der Fremde inne, um seinen Regenmantel auszuziehen und seinen Hut abzunehmen. Dann setzte er sich eine Kopfbedeckung anderer Art auf. Lautlos durchschritt er nun das Vorzimmer und betrat Mr. Hendersons Heiligtum. Trotz seiner Filzpantoffeln machte er dabei ein leises Geräusch, das in der Stille recht bemerkbar war. Der alte Anwalt, noch immer mit Schreiben beschäftigt, blickte ärgerlich auf.

»Schon zurück, Jobling?«, fragte er. »Was ist denn jetzt wieder? So schnell können Sie doch kein Taxi gefunden haben.«

Der Eindringling verhielt sich schweigend. Seine Augen waren auf die amtlich aussehenden Schriftstücke gehaftet, an denen Mr. Henderson gearbeitet hatte.

»Nun, Jobling?«, fragte der Anwalt und blickte über seine Brille hinweg. »Warum antworten Sie nicht? Warum...«

Er brach ab. Aus dem Dunkel auf der anderen Seite des Schreibtisches tauchte jetzt eine Gestalt auf, aber es war nicht die untersetzte des Nachtwächters. Das einzige Licht im Zimmer kam von der Tischlampe - ein kleiner, heller Kreis, jenseits dessen alles im Düstern lag. Mr. Henderson blinzelte erstaunt.

»Wer sind Sie denn?«, fragte er scharf. »Wie sind Sie denn überhaupt hier hereingekommen?«

Immer noch schwieg der Eindringling. Er trat ein paar Schritte vor, eine düstere und furchterregende Gestalt wie aus einem bösen Traum. Mr. Henderson stieß einen eigenartigen Laut aus, als ob seine Halsmuskeln plötzlich gelähmt wären. Jeder Blutstropfen schwand aus seinem freundlichen alten Gesicht.

»Großer Gott«, flüsterte er mit erstickter Stimme, »der Henker!«

In seiner Stimme schwang etwas von höchstem Erstaunen, ja von Ungläubigkeit mit. Offenbar rief ihm die dunkle Gestalt, die im Dämmer hinter seinem Tisch stand, etwas in die Erinnerung zurück.

Auch der Tonfall, in dem er die Worte Der Henker! ausstieß, deutete darauf hin; er schien diese merkwürdige Erscheinung zu erkennen.

Sie war ja auch wirklich eigenartig genug. Der Eindringling, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, stand noch immer in furchterregendem Schweigen bewegungslos da. Auch seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen, ja selbst sein Gesicht war hinter einer schwarzen Maske verborgen, durch die seine funkelnden Augen gespannt auf den Anwalt sahen. Er sah ganz wie ein Henker aus dem 16. und 17. Jahrhundert aus. Er hätte geradewegs aus dem Tower gekommen sein können.

Mr. Mark Henderson war ein friedlicher, wohlwollender Mann, aber jetzt verzog sich sein Gesicht wütend. Der erste Schock war offenbar vorüber.                  

»Zum Teufel, was soll dieses Theater? Wer sind Sie überhaupt? Bilden Sie sich etwa ein, dass ich mich auch nur für eine Minute durch diese Vermummung täuschen lasse?«

Während er diese Worte sprach, lehnte er sich etwas zurück, zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und griff mit der Hand hinein.

Diese Bewegung entschied sein Schicksal. Die schwarze Gestalt, die bis jetzt fast regungslos dagestanden hatte, handelte nun blitzschnell. Etwas silbrig Helles zuckte im Lampenlicht auf, und der alte Anwalt fiel mit einem schwachen, erstickten Laut in seinen Sessel zurück. Aus seiner Weste in der Gegend seines Herzens ragte das Heft eines merkwürdigen Dolches. Die Klinge war nicht zu sehen; sie steckte tief in dem Körper des Unglücklichen. Der Dolch war mit solcher Kraft und so tödlicher Sicherheit geschleudert worden, dass Mr. Henderson im Bruchteil einer Sekunde gestorben war.

Mit einem gemurmelten Fluch ging der Henker nun um den Tisch herum und führte die Bewegung aus, die Mr. Henderson begonnen hatte: Er griff in die Schublade. In ihr lag nur ein schwarzes Lineal aus Ebenholz.

»Verdammt! Das hätte ich wissen sollen!«

Das entsetzliche Verbrechen, das er soeben begangen hatte, berührte ihn offenbar überhaupt nicht. Er schien über sein grausiges Werk sogar Befriedigung zu empfinden, denn seine Augen leuchteten auf, als er den Toten betrachtete.

Dann machte er sich an die Aufgabe, die den eigentlichen Grund seines Besuches bildete. Er überprüfte flüchtig die Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen und an denen Henderson bis jetzt gearbeitet hatte. Schon ein kurzer Blick verriet dem Eindringling, um was es sich handelte. Denn auf dem Ordner stand ein Name, der allerdings im Laufe der Jahre schon halb verlöscht war. Der Ordner enthielt noch weitere Schriftstücke, die der Eindringling oberflächlich durchsah. Aber er wählte nur zwei aus und nahm sie an sich, ebenso die Papiere auf dem Schreibtisch. Dann stellte er den Ordner zu vielen anderen auf ein Regal.

Bis jetzt waren seit dem Eintreten des Fremden nur drei Minuten vergangen, aber seine Arbeit war schon beendet. Er verließ das Büro und trat in das Vorzimmer. Hier nahm er rasch seine Maske ab und schlüpfte in seinen Regenmantel, der sein merkwürdiges Kostüm völlig verbarg. Er zog die Filzpantoffeln aus, ging dann die Treppen hinunter zur Haustür, trat ins Freie und ging in Richtung Mitre Court fort. Eine Minute später war er schon wieder im Großstadttreiben der Fleet Street untergetaucht.

Weitere fünf Minuten vergingen, bevor ein Taxi vor dem Haus am King’s Walk vorfuhr. Mit schweren, unbeholfenen Bewegungen kletterte Jobling aus ihm heraus.

»Warten Sie hier«, sagte er zu dem Fahrer. »Ich werde zu Mr. Henderson gehen und ihm Bescheid sagen.«

»Wenn Sie das tun«, meinte der Fahrer, »dann richten Sie ihm aus, dass er schon etwas extra ausgeben muss, wenn ich ohne ihn wieder zurückfahren muss. Zwanzig Meilen oder mehr aufs Land hinaus und dann leer zurück, das ist für mich kein Geschäft. Und woher soll ich dort einen Fahrgast nach London zurück bekommen?«

Jobling gab ihm keine Antwort. Er verstand sehr gut, warum ihn der Anwalt beauftragt hatte, einen Fahrer für ihn aufzutreiben, der auch zu einer so weiten Fahrt bereit war. Selbst der Taxifahrer, den er gefunden hatte, war ja, wenn er auch den Auftrag annahm, offenbar von seiner Aufgabe keineswegs entzückt. Langsam stieg der Nachtwächter die Treppen hinauf; er fand die Türen von Mr. Hendersons Büro genauso, wie er sie gelassen hatte. Er betrat sofort das Zimmer des Anwalts.

»Das Taxi ist hier, Sir!«, rief er schnaufend. »Es war gar nicht so leicht, einen Fahrer zu finden, der bereit war... He, Mr. Henderson! Mein Gott!«

Vor Grauen und Entsetzen schrie er auf. Er hatte zu der Gestalt gesprochen, die am Schreibtisch saß. Erst als er näher kam, merkte er, dass im Gesichtsausdruck des alten Anwalts etwas Unnatürliches und Furchteinflößendes lag. Ohne sich genauer zu überzeugen, erkannte Jobling schon gefühlsmäßig, dass er in das Gesicht eines Toten sah. Dann bemerkte er das Heft des Dolches.

An allen Gliedern zitternd, stürzte er nun aus dem Zimmer. Er blieb nicht stehen, um sich die Sachlage genauer anzusehen. Der Anblick des Dolches hatte ihm völlig genügt. Nur mit Mühe kam er in seiner Aufregung heil die Stufen hinunter. Ganz außer sich erreichte er die Haustür und humpelte zu dem Taxi.

»Er ist tot - ermordet!«, stieß er heiser hervor.

»Nanu sagte der Taxifahrer. »Was ist denn mit Ihnen los? Fehlt Ihnen etwas? Sie sehen ja käseweiß aus!«

»Mr. Henderson... dort oben... da liegt er in seinem... mit einem Dolch in der Brust!«, stotterte Jobling. »Um Gottes willen, holen Sie einen Polizisten! So schnell Sie können! Ich werde telefonieren, während Sie fort sind.« 

Er wartete die Antwort des verdutzten Taxifahrers gar nicht ab, sondern begab sich eiligst in sein Pförtnerstübchen. Von hier aus rief er die Polizei an und gab dem Beamten mit heiserer Stimme die furchtbare Nachricht durch. Als er aufgelegt hatte, gönnte er sich nur die Zeit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, bevor er eine neue Nummer wählte. Bald darauf hörte er die Stimme von Mr. Horace Spenlowe, Hendersons Kanzleivorsteher.

»Jawohl, Sir«, sagte Jobling, nachdem er seinen Bericht beendet hatte. »Er ist tot. Können Sie nicht sofort herkommen?«

»Aber - aber das ist ja entsetzlich, Jobling!«, ertönte die aufgeregte Stimme des Kanzleivorstehers. »Sind Sie Ihrer Sache sicher? Mr. Henderson ist tot? Ermordet, sagen Sie?«

»Hören Sie, Sir, es ist doch sinnlos, darüber am Telefon zu sprechen«, erwiderte Jobling, noch immer ganz durcheinander. »Bitte kommen Sie doch her, so schnell Sie können!«

 

Inzwischen kamen die Räder des Gesetzes in Gang. Der Taxifahrer kehrte mit einem Polizeibeamten nach dem King’s Walk zurück. Der Anruf bei der Polizei löste sofortige Maßnahmen in Scotland Yard aus. Man leitete die Nachricht von dem Mord weiter, und schließlich wurden Chefinspektor William Cromwell, der gerade nach Haus gehen wollte, entsprechende Anweisungen übermittelt.

»Verdammt!«, knurrte der Chefinspektor. »Warum muss gerade ich immer daran glauben? Das bedeutet doch, dass wir nicht nur um unser Abendessen, sondern auch um den Schlaf kommen.«

»Pech, Old Iron!«, erwiderte Sergeant John Lister, sein Assistent. »Pech für uns beide; denn ich wollte dich eigentlich doch zu einem saftigen Steak in ein Restaurant in Chelsea einladen...«

»Ja? Wolltest du das wirklich?«, unterbrach ihn Cromwell. »Nun, dann kann ich dem Himmel wohl nur für die gnädige Rettung dankbar sein! Du und deine schrecklichen Steaks! Ruf lieber die Fahrbereitschaft an, dass man einen Wägen für uns bereitstellt.«

»Wozu? Wir können ja meinen nehmen!«

Der sehr elegante Johnny Lister, für den sein Beruf als Polizeibeamter mehr ein Vergnügen als eine Notwendigkeit war, bezog ein schönes Einkommen von seinem Vater und war daher in der Lage, seiner Leidenschaft für teure Automobile zu frönen. Seine letzte Erwerbung war eine schwere Aston-Martin-Limousine.

Der Mann, der bei seinen Kollegen als Ironsides bekannt war, verließ sein Büro mit einem verkniffenen Ausdruck auf seinem abweisenden Gesicht. Es war ihm tief verhasst, plötzlich und unvermittelt mit einer neuen Untersuchung beauftragt zu werden. Sein Gesichtsausdruck war aber insofern irreführend, als er nicht annähernd so bösartig war, wie er aussah. Auch in anderer Beziehung konnte sich ein Beobachter leicht in ihm täuschen. Er sah viel älter aus, als er tatsächlich war. Wenn es auf Ausdauer und Gelenkigkeit ankam, war er sogar seinem jungen, sportgestählten Assistenten vollkommen gleichwertig. Seine lange, hagere Gestalt bestand eben nur aus Muskeln; ein scharfer Verstand verbarg sich hinter der Maske mürrischer Gleichgültigkeit, die er für gewöhnlich zur Schau trug.

Nachdem die beiden Kriminalbeamten die notwendigen Anweisungen erteilt hatten, begaben sie sich zu Johnnys Auto und fuhren los. Es war nur eine kurze Fahrt an der Themse entlang. Dann ließen sie den Wagen stehen und gingen zu Fuß bis zum Temple. Kurz hinter dem Tudor-Street-Tor wurden sie von einem kleinen, korpulenten Mann überholt, der es offenbar höchst eilig hatte.

»Sie kommen mir bekannt vor, Sir«, sagte Cromwell und beschleunigte seinen Schritt, so dass er neben dem anderen herging. »Sie sind doch Mr. Spenlowe, nicht wahr?«

»Jawohl«, erwiderte der rundliche, kleine Mann. »Aber leider hatte ich noch nicht den Vorzug...«

»Cromwell, Sir - Chefinspektor«, fiel ihm Ironsides ins Wort. »Ich habe Sie wohl gelegentlich im Gerichtssaal gesehen. Sind Sie nicht Mr. Mark Hendersons Kanzleivorsteher?«

»Gewiss«, erwiderte der andere, vom Laufen ganz atemlos. »Aber wir haben nur wenig mit Strafsachen zu tun, Mr. Cromwell, darum habe ich Sie auch zuerst nicht erkannt. Es ist ja schon drei Jahre her seit dem Fall Platt - aber jetzt habe ich furchtbare Eile«, fuhr er fort, indem er sich selbst unterbrach. »Man hat mir gesagt, dass Mr. Henderson tot ist - ermordet! Ich kann es kaum glauben. Jobling hat mich angerufen, und so eilte ich, so schnell ich konnte, her.« Er warf einen besorgten Blick auf Cromwell. »Aber leider ist wohl Ihre Anwesenheit hier ein Beweis dafür, dass mir Jobling recht berichtet hat.«

»Mir wurde nur gesagt, Sir, dass Mr. Henderson tot ist und wahrscheinlich ermordet wurde«, antwortete Ironsides brummig. »Gehen wir jetzt nur hinein, dann können wir uns ja vergewissern.«

Vor dem Haus am King’s Walk war ziemlich viel Betrieb. Ein Polizist stand vor der Tür auf Posten, zwei Funkstreifenwagen parkten auf dem Platz. Im ersten Stock, in den Räumen von Henderson, hatte Inspektor Griffiths vom zuständigen Revier die Untersuchung bereits in die Hand genommen.

»Ich freue mich, dass Sie hier sind, Mr. Cromwell«, meinte der Inspektor, als er seinem Kollegen von Scotland Yard die Hand schüttelte. »Ihre Leute werden wohl auch bald kommen, nicht? Der arme alte Henderson ist tot - erdolcht. Dabei scheint hier nichts durchwühlt oder gestohlen worden zu sein.«

»Über diesen Punkt wird uns wohl Mr. Spenlowe hier Aufklärung geben können«, meinte Cromwell.

»Ich?«, rief der Kanzleivorsteher. »Ach ja - ich sollte wohl in der Lage sein, Ihnen zu sagen, ob etwas fehlt.« Seine Augen wanderten ängstlich in dem Vorzimmer herum, in dem sie standen. »Mr. Henderson selbst ist wohl dort drin?« Er blickte zu dem Büro des Anwalts hin. »Vielleicht sollte ich hineingehen...«

»Tun Sie es nicht, wenn Sie glauben, den Anblick nicht ertragen zu können«, meinte Inspektor Griffiths.

»Nein!«, rief Spenlowe und riss sich gewaltsam zusammen. »Das ist wohl meine Pflicht!«

Alle Lampen in Hendersons Büro brannten; die Tischlampe war so gedreht worden, dass ihr Licht voll auf die Gestalt am Schreibtisch fiel. Schon beim ersten Blick stieß der unglückliche Spenlowe einen schluchzenden Aufschrei aus und musste aus dem Büro geführt werden.

»Entsetzlich«, murmelte er zitternd.

»Es tut mir leid, dass Sie glaubten, sich dieser grausigen Pflicht nicht entziehen zu können, Mr. Spenlowe«, meinte Ironsides brummig. »Setzen Sie sich eine Weile hierher. Später werde ich Sie noch einiges fragen müssen.«

Ohne Spenlowes Antwort abzuwarten, kehrte er in das Büro zurück. Sinnend starrte er auf den Toten und auf den Dolch, dessen Griff aus seiner Brust herausragte.

»Ist etwas verändert worden?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte Griffiths. »Doktor Groves hier hat festgestellt, dass der Tod wahrscheinlich sofort eintrat, aber er hat die Leiche so gelassen, wie sie war. Der arme Mann erhielt einen Stich ins Herz.«

»Wie wurde er erstochen?«, fragte Ironsides rundheraus.

Der Arzt warf ihm einen erstaunten Blick zu.

»Eigenartig, dass Sie diese Frage stellen«, meinte er. »Ich habe mir darüber auch den Kopf zerbrochen. Ich nehme an, dass Henderson an seinem Tisch saß - wahrscheinlich schrieb er. Hier auf der Schreibunterlage liegt ja noch sein auf geschraubter Füllhalter. Aber wie konnte man ihm dann einen Dolch so ins Herz stechen, dass er in dieser Haltung in seinen Sessel zurücksank? Der Mörder konnte sich doch kaum über den Schreibtisch beugen, um zuzustoßen; dazu ist der Schreibtisch ja viel zu breit. Auch hätte er in dieser Stellung nicht die nötige Kraft gehabt.«

»Könnte der Stoß nicht von hinten ausgeführt worden sein?«, fragte Griffiths.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, erwiderte der Polizeiarzt. »Henderson hätte es kaum jemandem erlaubt, sich ihm von hinten zu nähern und auf ihn einzustechen. Nein, der Stich wurde schon von vorn ausgeführt...« 

»Dann bleibt nur eins übrig«, unterbrach ihn Bill Cromwell mit einem Achselzucken. »Der Dolch wurde eben geworfen. Die Alternative dazu wäre die Annahme, dass Henderson seinen Mörder so gut kannte und ihm so völlig traute, dass er gar nicht auf die Vermutung kam, ein Angriff gegen ihn könnte geplant sein. Aber das glaube ich nicht. Die Umstände sprechen gegen eine solche Annahme.«

»Geworfen?«, wiederholte Griffiths, als ob er nur dieses eine Wort gehört hätte.

»Jawohl. Ich kann mich an ähnliche Fälle erinnern«, erwiderte Ironsides mit müder Stimme. »Ein geübter Messerwerfer, der etwa hier stand...« Er stellte sich halbwegs zwischen Tür und Schreibtisch. »...hätte den Dolch mit genügender Kraft und Sicherheit werfen können, um diese Wirkung zu erzielen. - Übrigens ist das ein eigenartiger Dolch«, fügte er hinzu, trat an die Leiche heran und betrachtete das Heft aus der Nähe. »Eine echte Antiquität - sechzehntes oder siebzehntes Jahrhundert, wahrscheinlich eine italienische Arbeit. Henderson könnte den Dolch als Brieföffner benutzt haben. Wir werden uns bei Spenlowe danach erkundigen müssen.«

Sie taten es sofort.

»Nein, Mr. Henderson besaß nie einen derartigen Dolch.« Der Kanzleivorsteher, der sich inzwischen erholt hatte, schüttelte den Kopf. »Er öffnete überhaupt niemals einen Brief. Alle Briefe kamen zunächst zu mir. Ein Dolch? Dann muss ihn der Mörder mitgebracht haben! Aber welchen Grund kann er gehabt haben, Mr. Henderson zu töten?«, fügte er hilflos hinzu. »So einen freundlichen, hilfsbereiten Mann!«

»Ich glaube nicht, dass uns der Dolch viel weiterbringen kann, Mr. Cromwell.« Griffiths schüttelte den Kopf. »Ein modernes Wurfmesser mit der Fabrikmarke drauf würde uns noch eher zu dem Täter hinführen können, aber von solchen alten Waffen muss es bei uns im Lande - in Museen, bei Pfandleihern und dergleichen - riesige Mengen geben. Man kann solche Dolche sogar schon bei Antiquitätenhändlern bekommen. Wenn wir keine deutliche Spur finden, wer diesen speziellen Dolch besessen haben kann, nützt er uns kaum etwas.«

»Ja, es sieht so aus, als ob es von dem Mörder ganz schlau war, so eine Waffe zu benutzen!« Cromwell nickte. »Es wird natürlich nicht zu hoffen sein, dass sich auf dem Heft Fingerabdrücke finden lassen. Heutzutage sind Verbrecher viel zu gerissen, um ohne Handschuhe zu arbeiten. Außerdem ist das Heft dieses Dolches auch so sehr mit Ornamenten überladen, dass es gar keine Fingerabdrücke aufnehmen würde. - Wer war denn der erste, der das Verbrechen entdeckte?«

»Jobling, der Nachtwächter«, erwiderte Griffiths.

»Bringen Sie ihn her!«, befahl Ironsides kurz.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Joblings Stimmung schwankte zwischen Wichtigtuerei und Furcht, als er von dem Wachtmeister, der ihn holen gegangen war, in das Zimmer geführt wurde.

»Ich verstehe das alles gar nicht.« Er schüttelte den Kopf und blickte von einem der Männer zum andern. »Mr. Henderson war wohl und munter, als ich ihn verließ - und dabei kann ich nicht mehr als zehn Minuten fortgewesen sein. Als ich wieder hierher ins Büro kam, fand ich ihn tot in seinem Sessel vor.«

»Sie haben also Mr. Henderson zweimal gesehen?«, erkundigte sich Bill Cromwell schnell. »Wann verließen Sie ihn denn?«

»So gegen sieben, Sir. Es war schon ziemlich dunkel, weil ja der Himmel heute bewölkt ist«, erwiderte der Nachtwächter. »Darum brannte ja auch Licht in seinem Büro! Mir erschien das merkwürdig. So ging ich zu ihm hinein, um mich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.«

»Warum erschien es Ihnen denn so auffällig, dass in Mr. Hendersons Büro Licht brannte?«

»Weil, solange ich mich erinnern kann, zu dieser Zeit niemals bei ihm Licht war - und ich bin schon ziemlich viele Jahre hier«, antwortete Jobling. »Er ist eben ein Herr mit genau geregeltem Tagewerk. Die andern Leute pflegen die Uhren nach ihm zu stellen. Punkt sechs Uhr abends ging er hier unweigerlich fort. Fragen Sie doch Mr. Spenlowe! Mr. Spenlowe geht immer um halb sechs fort; er ist in seiner Zeiteinteilung genauso pünktlich wie Mr. Henderson selbst. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche; um halb sechs geht Mr. Spenlowe, um sechs Mr. Henderson. Als ich daher noch um sieben Licht aus seinem Fenster fallen sah...«

»Schon gut - schon gut!«, unterbrach ihn Ironsides. »Ich verstehe schon. Sie sind also zu ihm hineingegangen, um nachzuschauen.«

»Jawohl, Sir, und stellen Sie sich vor, die Außentür von Mr. Hendersons Büro stand weit offen!«, erwiderte der Nachtwächter. »Das war schon sehr merkwürdig, aber die innere Tür war auch nur angelehnt. Mir kam das sehr verdächtig vor; ich ging also hinein und sah, dass auch die Tür von Mr. Hendersons Privatbüro nur angelehnt war. Vor Schrecken wär ich beinahe umgekippt. Aber ich ging trotzdem hinein und fand Mr. Henderson hier an seinem Schreibtisch sitzend und schreibend.«

»War er allein?«

»Gewiss, Sir. Er fuhr mich gar nicht schlecht an. Er sagte, er habe noch zu tun - etwas ganz Besonderes zu erledigen - und befahl mir, mich hinauszuscheren. Aber dann rief er mich wieder zurück. Holen Sie mir ein Taxi, Jobling!, beauftragte er mich. Aber fragen Sie den Fahrer, ob er auch gewillt ist, mit mir eine weite Fahrt zu machen. Ich habe den alten Herrn noch nie so nervös gesehen! Ich ging also zum Taxistand, holte einen Wagen, und als ich zurückkam, saß er dort in seinem Stuhl - tot. Da ist mir ein verdammter Schreck in die Glieder gefahren! Dabei war ich nicht länger als höchstens zehn Minuten fort.«

»Ließen Sie die beiden Türen auch angelehnt, als Sie das Auto holen gingen?«, erkundigte sich Cromwell.

»Natürlich, Sir! Ich ließ sie genauso, wie ich sie vorgefunden hatte«, erwiderte der Nachtwächter. »Ich traute mich ja nicht, etwas daran zu ändern! Wie konnte ich denn wissen, dass sich jemand hereinschleichen und den alten Herrn umbringen würde? So etwas kommt doch bei uns im Temple nicht vor!«

»Unglücklicherweise ist aber doch so etwas im Temple vorgekommen«, brummte Ironsides. »Nun machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Jobling. Keiner macht Ihnen einen Vorwurf. Sie haben wohl niemanden in der Gegend gesehen, als Sie fortgingen?«

»Keine Menschenseele, Sir.«

»Sie sagen, dass Mr. Henderson gerade an Schriftstücken arbeitete, als Sie zu ihm kamen?«

»Das sagte er mir, Sir, und vor ihm auf dem Schreibtisch lagen auch verschiedene Schriftstücke.«

»Jetzt liegt dort nichts«, stellte Cromwell fest und wies auf den leeren Schreibtisch. »Wie ist es da-mit, Inspektor? Haben Sie hier Papiere gesehen? Hat jemand anders hier Papiere gesehen?«

Jeder verneinte das. Sowohl der Wachtmeister wie der Taxifahrer, die beide das Büro betreten hatten, während Jobling noch telefonierte, erklärten, dass auf dem Schreibtisch keine Papiere gelegen hätten.

»Dann ist es ja ziemlich klar, dass der Mörder sie mit sich fortgenommen hat«, meinte Cromwell schließlich. »Dieser Umstand deutet darauf hin, dass der Diebstahl von Schriftstücken der Zweck seines Besuches war. Es besteht wohl kein Zweifel, dass Henderson an einem ganz speziellen Auftrag arbeitete - einem Auftrag, der offenbar höchst eilig war. Aber darüber sollten wir wohl mit Spenlowe sprechen.«

Mr. Spenlowe war noch immer höchst nervös und aufgeregt. »Entsetzlich!«, murmelte er. »Der arme Mr. Henderson! Er muss wohl einem gewalttätigen Einbrecher zum Opfer gefallen sein. Nicht etwa, dass Mr. Henderson hier viel Geld aufbewahrte...«

»Soweit wir bis jetzt festgestellt haben, Mr. Spenlowe, ist der Geldschrank unberührt«, unterbrach ihn Inspektor Griffiths. »Er ist noch immer verschlossen; die Schlüssel hat wohl Mr. Henderson noch in seiner Tasche. Hingegen sind Papiere verschwunden, an denen Mr. Henderson gerade arbeitete. Wir hoffen, dass Sie uns vielleicht etwas über sic erzählen können.«

»Wollen Sie damit sagen, dass es kein Raubmord war?«

»Jedenfalls nicht die Art von Raubmord, die Sie meinen, Sir.«

»Ich sollte einmal im Geldschrank nachsehen.« Zitternd erhob sich Spenlowe. »Ich habe ja auch einen Schlüssel. In dem Schrank ist Geld - nicht sehr viel, etwa hundertzwanzig Pfund, soweit ich mich erinnern kann. Aber ich kann ja nachsehen, ob das Geld noch vorhanden ist.« Cromwell nahm ihm den Schlüssel ab und öffnete den altmodischen Geldschrank. Das Geld war da; Spenlowe konnte bezeugen, dass hier überhaupt nichts in Unordnung gebracht worden war.

»Ganz, wie ich dachte.« Ironsides nickte. »Hendersons Mörder war nur an den Papieren interessiert, an denen Henderson arbeitete. Sie verließen das Büro um halb sechs, Mr. Spenlowe. Wissen Sie vielleicht, mit was für einer Arbeit Mr. Henderson beschäftigt war?«

Der Kanzleivorsteher, noch immer halb betäubt von dem Schreck, zuckte zusammen. »Mein Gott - natürlich!«, rief er aus, als ob ihm der Gedanke erst jetzt gekommen wäre. »Lord Ellsworth!«

»Was ist mit Lord Ellsworth?«

»Warten Sie - warten Sie doch!«, rief Spenlowe heiser.

Er eilte zu den Regalen, auf denen viele Ordner standen. Er wählte sich den Ordner aus, auf dessen Rücken die Worte Earl of Ellsworth standen. Als er entdeckte, dass der Ordner halb leer war, stieß er einen halberstickten Schrei aus.

»Mein Gott - meine Ahnung!«, rief er aus. »Er ist halb leer! Jedes Schriftstück, das sich auf das Ellsworth-Vermögen bezieht, ist fort! Ich wusste natürlich, dass Mr. Henderson eine wichtige Arbeit für Lord Archibald Ellsworth ausführte

»Sie wussten das?«, unterbrach ihn Cromwell rasch. »Sie erwähnen es aber jetzt zum ersten Mal!«

»Entschuldigen Sie - ich bin ganz durcheinander!«, erwiderte Spenlowe und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Als ich Mr. Henderson hier tot sah, ließ mich der Schock alles andere vergessen.«

»Aber jetzt erinnern Sie sich wieder?«, fragte Ironsides. »Das ist höchst wichtig, Mr. Spenlowe! Was wissen Sie von den Angelegenheiten des Lords?«

»Ich? Ich weiß davon gar nichts. Das erledigte Mr. Henderson ganz allein!« Der Kanzleivorsteher zuckte hilflos die Achseln. »Jedenfalls kann ich Ihnen nur sagen, dass der alte Herr uns heute Nachmittag aufsuchte - ich meine, Lord Ellsworth. Er kam ganz unerwartet gegen Viertel vor fünf her und ging sofort in Mr. Hendersons Zimmer. Mr. Henderson war recht erstaunt. Ich möchte fast sagen, er war verblüfft.«

»Wissen Sie den Grund dafür?«

»Ich hörte, wie er Seiner Lordschaft Vorwürfe machte. Es ist doch Wahnsinn von Ihnen, Lord Ellsworth, so ohne Begleitung nach London zu kommen! hörte ich Mr. Henderson sagen«, fuhr Spenlowe fort. »Er meinte damit, dass Lord Ellsworth gar nicht in der gesundheitlichen Verfassung für eine solche Reise sei. So war es auch. Lord Ellsworth sah wirklich sehr leidend aus. Natürlich erwiderte Seine Lordschaft Mr. Henderson, er solle sich nicht wie ein altes Weib anstellen.«

»Warum natürlich«?«

»So war eben Seine Lordschaft«, erklärte der Kanzleivorsteher. »Bei ihm konnte Mr. Henderson nie etwas durchsetzen. Ich glaube, Lord Ellsworth ist der eigensinnigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Ich selbst versuchte auch, ihm Vorhaltungen zu machen, als er ankam, aber er verbot mir einfach den Mund. So ist er eben. Der typische, steifnackige Aristokrat der alten Schule. Ich glaube, er hätte im achtzehnten Jahrhundert leben können.«

»Wie lange blieb Lord Ellsworth hier?«

»Das kann ich nicht sagen. Er saß noch bei Mr. Henderson, als ich fortging. Also um halb sechs.« Spenlowe zögerte. »Ich warf einen Blick in Mr. Hendersons Büro, bevor ich wegging, und bot ihm an, ich wollte noch dableiben, um später Seine Lordschaft zum Auto führen zu können. Aber für meine Freundlichkeit wurde ich von Lord Ellsworth nur angebellt und mit Schimpfworten überschüttet, die Seine Lordschaft eigentlich gar nicht hätte kennen dürfen. Mr. Henderson forderte mich schließlich auf, ruhig fortzugehen. Er selbst sei noch mit einer Sonderarbeit für Seine Lordschaft beschäftigt, an der er noch einige Stunden zu arbeiten haben werde.«

»Hm - und um sieben Uhr schickte er den Nachtwächter fort und

ließ sich von ihm ein Taxi holen«, meinte Ironsides nachdenklich. »Dabei trug er ihm ausdrücklich auf, sich nach einem Taxifahrer umzusehen, der gewillt sei, eine weite Fahrt zu machen. Wie weit sollte die Fahrt denn gehen?«

»Jobling sagte etwas von zwanzig Meilen«, fiel Griffiths ein.

»Wo wohnt Lord Ellsworth?«, erkundigte sich Cromwell.

»In Schloss Ellsworth bei Redhill in Surrey«, erwiderte Spenlowe.

»Das passt ja.« Ironsides nickte. »Er beabsichtigte also, mit dem Taxi nach Schloss Ellsworth zu fahren, offenbar um die Schriftstücke abzuliefern, die er aufgesetzt hatte.«                

»Also wird Lord Ellsworth wissen, um was für Papiere es sich handelte, Old Iron«, meinte Johnny Lister und blickte von seinem Notizbuch auf. »Alles scheint sich doch um diese Papiere zu drehen. Wäre es nicht ein guter Gedanke, den Lord einmal anzurufen?«

»Ja! Natürlich!«, rief Spenlowe eifrig.

»Ich bin nicht dieser Ansicht«, widersprach Cromwell. »Diese Angelegenheit ist zu wichtig, als dass man sie am Telefon besprechen sollte. Außerdem muss dem Lord die Hiobsbotschaft, dass der Familienanwalt ermordet wurde, diplomatisch beigebracht werden, besonders, da sein Gesundheitszustand so schlecht ist. Woran leidet denn Lord Ellsworth eigentlich?«  

»Er hatte vor einem Monat einen Schlaganfall«, erwiderte Spenlowe. »Er hat sich wieder erholt, aber völlig hat er die Folgen davon nicht überwunden. Er ist ja auch ein alter Mann. Vor ein paar Jahren hatte er schwere Gichtanfälle, bis sein Arzt ihn veranlasste, seinen Konsum an Portwein einzuschränken.«

»Ich überlasse Ihnen die Nachforschungen hier, Inspektor«, wandte sich Cromwell an Griffiths, denn er war zu einem raschen Entschluss gekommen. »Ich selbst werde nah Redhill hinausfahren und mich einmal mit Lord Ellsworth unterhalten. Er kann uns vermutlich mehr Klarheit über den Fall verschaffen, als wir hier erlangen können. Es ist ja auch noch nicht spät.«

Er winkte Johnny, und die beiden gingen fort. Ihre Abfahrt fiel mit der Ankunft der Beamten vom Erkennungsdienst zusammen. Cromwell überließ ihnen die weitere Untersuchung gern. Er war überzeugt, dass die Spur des Mörders weit eher in Schloss Ellsworth als in dem Haus am King’s Walk zu finden war.

Von den Polizeiautos und ein paar Müßiggängern abgesehen, lag der Inner Temple jetzt still und ruhig. Johnny Lister ging mit Ironsides zu dem Parkplatz seines Aston-Martin.

»Bist du sicher, dass du recht hast, Old Iron?«, fragte er. »Ich meine mit der Fahrt nach Schloss Ellsworth.«

»Ich möchte Lord Ellsworth beobachten, wenn ich ihm sage, dass gewisse wichtige Schriftstücke, an denen Henderson arbeitete, gestohlen worden sind«, antwortete Cromwell grimmig. »Ich werde ihm nicht erzählen, dass Henderson tot ist-jedenfalls vorläufig nicht. Diese Schriftstücke müssen doch etwas ganz Besonderes - und höchst eilig sein, wenn Henderson sich unverzüglich an die Arbeit gemacht hat.«

Bald waren sie aus London heraus.

»Wir können die Strecke in vierzig Minuten schaffen«, meinte Johnny, als sie durch Norbury kamen. »Vielleicht sogar noch schneller. Die Straße ist ja ganz leer. Hat übrigens jemand Hendersons Familie benachrichtigt?«

»Ich habe mit Spenlowe darüber gesprochen. Henderson war Junggeselle und hat keine Familie. Auch keine nahen Verwandten. Das ist an sich recht angenehm, denn bei der Untersuchung eines Mordes stören Verwandte nur. Es ist ganz erstaunlich, wie sie die Polizei behindern können.«

Johnny fuhr mit hoher Geschwindigkeit, und bald hatten sie Redhill erreicht. Schloss Ellsworth lag nur fünf Meilen östlich von dem Städtchen.

Es war noch nicht neun Uhr, als Johnny seinen Wagen auf dem großen Kiesplatz vor dem breiten Portal des schönen, alten Schlosses zum Stehen brachte. Viele Fenster waren hell, und zu ihrer Überraschung fanden die Besucher auch die große Eingangstür weit offen. Die Halle war erleuchtet, und ein stattlicher Mann, wohl der Butler, stand im Eingang. Er unterhielt sich mit einem anderen Mann in Chauffeuruniform und drei Dienstmädchen. Alle sprachen miteinander so aufgeregt und waren in ihre Unterhaltung so vertieft, dass sie die Ankunft von Johnnys Wagen gar nicht bemerkten. Man brauchte also keinen besonderen Scharfsinn, um zu erkennen, dass irgendetwas Ungewöhnliches den Frieden des alten Schlosses gestört haben musste.