Der Nachtzirkus - Erin Morgenstern - E-Book
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Der Nachtzirkus E-Book

Erin Morgenstern

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Beschreibung

Als Marco und Celia einander zum ersten Mal begegnen, ist es sofort um sie geschehen. Sie ahnen nicht, dass ihrer beider Schicksale bereits unauflöslich miteinander verbunden sind, denn ihre Väter – die beiden mächtigsten Magier ihrer Zeit und erbitterte Feinde – haben ihre Kinder dazu auserkoren, in einem Kampf auf Leben und Tod gegeneinander anzutreten. Stattfinden soll das Duell im geheimnisvollen Nachtzirkus, einer Welt voller Magie und verwunschener Abenteuer. Für Celia und Marco wird der Wettstreit ein verzweifeltes Ringen um ihre Liebe und ihre Träume ...

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Das Buch

Als Marco und Celia einander zum ersten Mal begegnen, ist es sofort um sie geschehen. Sie ahnen nicht, dass ihrer beider Schicksale bereits unauflöslich miteinander verbunden sind, denn ihre Väter – die beiden mächtigsten Magier ihrer Zeit und erbitterte Feinde – haben ihre Kinder dazu auserkoren, in einem Kampf auf Leben und Tod gegeneinander anzutreten. Stattfinden soll das Duell im geheimnisvollen Nachtzirkus, einer Welt voller Magie und verwunschener Abenteuer. Für Celia und Marco wird der Wettstreit ein verzweifeltes Ringen um ihre Liebe und ihre Träume …

Die Autorin

Erin Morgenstern, geboren 1980, hat Theaterwissenschaften studiert und mit ihrem Debütroman »Der Nachtzirkus« einen Welterfolg gelandet, der in 37 Sprachen übersetzt wurde. Mit ihrem zweiten Roman »Das sternenlose Meer« kehrt Erin Morgenstern auf die Bühne des magischen Erzählens zurück. Erin Morgenstern ist verheiratet und lebt in Massachusetts.

erinmorgenstern.com

ERIN MORGENSTERN

DER

NACHTZIRKUS

ROMAN

AUSDEMAMERIKANISCHEN

VONBRIGITTEJAKOBEIT

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

THENIGHT CIRCUS

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Taschenbuchausgabe 12/2021

Copyright © 2011 by Erin Morgenstern

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Coverillustration: Kate Forrester

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28007-9V002

DER NACHTZIRKUS

GESPANNTE ERWARTUNG

Der Zirkus kommt überraschend.

Es gibt keine Ankündigung, keine Reklametafeln oder Plakate an Litfaßsäulen, keine Artikel und Zeitungsanzeigen. Plötzlich ist er da, wie aus dem Nichts.

Die hohen Zelte sind schwarz-weiß gestreift, Gold und Purpur fehlen. Bis auf die angrenzenden Bäume und umliegenden Wiesen sieht man keine Farben. Schwarz-weiße Streifen vor grauem Himmel, eine farblose Welt aus Zelten in unterschiedlichen Formen und Größen, umschlossen von einem kunstvoll geschmiedeten Eisenzaun. Selbst die wenigen Flecken Erde, die man dahinter sieht, sind schwarz oder weiß, bemalt oder bestäubt oder mit einem anderen Zirkustrick gefärbt.

Für Besucher ist er nicht geöffnet. Noch nicht.

Nach wenigen Stunden weiß die ganze Stadt Bescheid. Am Nachmittag gelangt die Nachricht auch in die umliegenden Ortschaften. Von Mund zu Mund verbreitet sich die Kunde schneller als durch fette Lettern auf Flugblättern oder Plakaten. Ein Zirkus, der plötzlich auftaucht, ist außergewöhnlich und spektakulär. Die Leute bestaunen die schwindelerregende Höhe einiger Zelte und blicken auf eine große Uhr über dem Eingangstor, die sich nur schwer beschreiben lässt. Ein schwarzes Schild hängt am Tor, auf dem in weißer Schrift zu lesen ist:

Vorstellungen:

Nur in der Nacht

»Ein Zirkus, der nur nachts öffnet?«, fragen die Leute. Niemand weiß darauf eine Antwort, aber gegen Abend hat sich vor dem Eingang schon eine beträchtliche Menschenmenge versammelt.

Natürlich bist auch du darunter. Deine Neugier hat wie immer gesiegt. Du stehst im schwindenden Licht, den Schal gegen den kühlen Abendwind eng um den Hals geschlungen, und möchtest mit eigenen Augen sehen, was das für ein Zirkus ist, der seine Tore erst im Dunkeln öffnet.

Das Kassenhäuschen hinter dem Eingangstor ist geschlossen. Auf dem Platz ist alles ruhig, nur hin und wieder kräuseln sich die Zeltbahnen im Wind. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Zeiger der großen schmiedeeisernen Uhr, sofern man so ein Wunderwerk noch Uhr nennen kann.

Das Gelände wirkt leer und verlassen. Aber dir ist, als könntest du im Duft des frischen Herbstlaubs gebrannten Zucker im Abendwind riechen. Eine feine Süße an den Rändern der Kälte.

Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, das letzte Licht der Dämmerung wird zusehends schwächer. Die Leute um dich herum werden langsam ungeduldig, ein Meer scharrender Füße und Gemurmel um die Frage, ob man nicht doch lieber gehen und den Abend im Warmen verbringen soll. Auch du überlegst gerade aufzubrechen, als es losgeht.

Erst ist es nur ein Rauschen, kaum hörbar durch den Wind und die Stimmen. Wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. Dann kommt das Licht.

Überall auf den Zelten erscheinen kleine Lichter, als wäre ein Schwarm gleißender Glühwürmchen auf dem Zirkus gelandet. Die wartende Menge verstummt beim Anblick des strahlenden Schauspiels. In deiner Nähe hält jemand die Luft an. Ein kleines Kind klatscht verzückt in die Hände.

Und dann erscheint vor den funkelnden Zelten am nächtlichen Himmel ein Schild.

Hoch über dem Eingang, verborgen hinter schmiedeeisernen Schnörkeln, blitzen weitere Glühlichter auf. Sie knistern und werden immer heller, manchmal versprühen sie auch weiße Funken und Rauch. Die Leute am Eingang treten ein paar Schritte zurück.

Am Anfang ist es nur wie ein zufälliges Flackern. Doch dann wird deutlich, dass die Glühwürmchen Buchstaben bilden. Der erste erkennbare Buchstabe ist ein C. Dann folgen sonderbarerweise ein q und mehrere e. Als die letzte Glühbirne erstrahlt und Rauch und Funken sich zerstreut haben, ist das hell leuchtende Schild in seiner ganzen Kunstfertigkeit zu lesen. Du lehnst dich nach links, um besser sehen zu können, und entzifferst den Schriftzug:

Le Cirque des Rêves

Einige in der Menge lächeln wissend, andere runzeln die Stirn und schauen fragend zu ihrem Nachbarn. Ein Kind neben dir zupft seine Mutter am Ärmel und will von ihr wissen, was da steht.

»Der Zirkus der Träume«, lautet die Antwort. Das Mädchen lächelt glücklich.

Dann bebt das Eisentor kurz und öffnet sich wie von selbst. Die Torflügel schwingen auf und laden die Menschen ein.

Jetzt ist der Zirkus geöffnet.

Jetzt darfst du eintreten.

TEIL 1

PRIMORDIUM

Der Cirque des Rêves besteht aus einer Fülle von Kreisen. Vielleicht liegt darin ein Tribut an die Ursprünge des Wortes »Zirkus«, das von Griechisch kirkos abstammt, was so viel heißt wie Kreis oder Ring. Es gibt viele solcher Querverbindungen zum Phänomen Zirkus im historischen Sinn, auch wenn dieser hier mit einem traditionellen Zirkus wenig zu tun hat. Statt aus einem einzelnen großen runden Zelt setzt sich dieser Zirkus aus pyramidenartigen Zeltgruppen zusammen, einige größer, andere recht klein. Sie stehen an ringförmigen Pfaden, umgeben von einem ringförmigen Zaun. Durchgängig und geschlossen.

– Friedrick Thiessen, 1892

Der Träumer braucht nur den Mond, um sich zurechtzufinden, und zur Strafe sieht er den Morgen schon vor dem Rest der Welt.

– Oscar Wilde, 1888

UNERWARTETE POST

New York, Februar 1873

Der Zauberkünstler Prospero bekommt immer ziemlich viel Post über das Theaterbüro, aber dies ist der erste Abschiedsbrief einer Toten, der ihn erreicht, und auch der erste Brief, der ihm am Mantelaufschlag eines fünfjährigen Mädchens überbracht wird.

Der Rechtsanwalt, der mit dem Mädchen ins Theater kommt, verweigert dem protestierenden Direktor jede Erklärung, er setzt es einfach ab, zuckt die Schultern, tippt sich an den Hut und verschwindet.

Der Theaterdirektor muss den Brief gar nicht erst lesen, um zu wissen, wer das Mädchen ist. Die hellen Augen unter den unbändigen braunen Locken sind kleine, weit geöffnete Abbilder der Augen des Zauberers. Er nimmt sie an die Hand, ihre kleinen Finger liegen zaghaft in seinen. Trotz der Wärme im Theater weigert sie sich, ihren Mantel auszuziehen, und schüttelt auf Fragen nach dem Grund immer nur beharrlich den Kopf.

Der Direktor nimmt das Mädchen mit in sein Büro, da er nicht weiß, was er sonst mit ihr anfangen soll. Umgeben von Schachteln mit Eintrittskarten und Kassenbelegen, sitzt sie still auf einem unbequemen Stuhl unter einer Reihe alter eingerahmter Zirkusplakate. Der Direktor bringt ihr einen Tee mit einem Extrastück Zucker, den sie aber nicht trinkt und kalt werden lässt.

Das Mädchen rührt und regt sich nicht auf seinem Stuhl. Mit im Schoß gefalteten Händen sitzt sie mucksmäuschenstill da. Ihr Blick ist auf ihre knapp über dem Boden baumelnden Stiefel gerichtet. Eine Schuhspitze ist abgewetzt, aber sie sind tadellos gebunden. Der versiegelte Umschlag bleibt am zweitobersten Knopf ihres Mantels hängen, bis Prospero eintrifft.

Sie hört ihn, noch ehe sich die Tür öffnet, denn im Gegensatz zum vorsichtigen Gang des Direktors, der mehrmals wie auf Samtpfoten ein und aus gegangen war, hallen Prosperos schwere Schritte im Gang wider.

»Da ist noch eine, ähm, Sendung für Sie«, sagt der Direktor beim Öffnen der Tür, führt ihn in das beengte Büro und stiehlt sich davon, um andere Angelegenheiten zu erledigen und dem Treffen nicht beiwohnen zu müssen.

Der Zauberer steht in seinem weiß gesäumten Samtumhang mit einem Stapel Briefe in der Hand im Büro und schaut sich nach einer Schachtel oder Kiste um. Erst als das Mädchen zu ihm aufblickt und er seine eigenen Augen erkennt, versteht er, was der Direktor gemeint hat.

Zauberer Prosperos erste Reaktion auf die Begegnung mit seiner Tochter ist ein schlichtes »Verdammt«.

Das Mädchen blickt wieder auf seine Schuhe.

Der Zauberer schließt die Tür hinter sich, lässt den Briefstapel auf den Schreibtisch neben die Teetasse fallen und mustert das Mädchen.

Er reißt ihr den Umschlag vom Mantel, ohne die Klammer vom Knopf zu lösen.

Obwohl der Brief an seinen Künstlernamen adressiert ist, wird er im beiliegenden Schreiben mit seinem richtigen Namen angesprochen: Hector Bowen.

Er überfliegt den Inhalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, die der Verfasser gewünscht haben könnte. Nur eine Stelle ist ihm wichtig und lässt ihn innehalten: dass dieses Mädchen, das sich nun in seiner Obhut befindet, offenbar seine Tochter ist und dass sie Celia heißt.

»Sie hätte dich Miranda nennen sollen«, sagt der Zauberer kichernd zu dem Mädchen. »Aber wahrscheinlich war sie dazu nicht schlau genug.«

Das Mädchen blickt wieder zu ihm hoch. Dunkle schmale Augen unter üppigen Locken.

Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht.

Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt.

Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.

Hector Bowen nimmt das Gesicht seiner Tochter in seine behandschuhte Hand und schaut sie prüfend an. Als er sie wieder loslässt, sind auf ihren Wangen die roten Abdrücke seiner Finger zu sehen.

»Du könntest interessant sein«, sagt er.

Das Mädchen bleibt stumm.

In den folgenden Wochen unternimmt er mehrere Versuche, ihr einen neuen Namen zu geben, aber sie hört nur auf Celia.

Einige Monate später – der Zauberer ist zu dem Schluss gekommen, dass sie nun so weit sei – schreibt er seinerseits einen Brief. Und obwohl er ihn nicht adressiert, erreicht er seinen Bestimmungsort jenseits des Ozeans ohne Probleme.

EINE WETTE UNTER EHRENMÄNNERN

London, Oktober 1873

Heute Abend ist die letzte Vorstellung eines sehr kurzen Engagements. Zauberer Prospero hat London schon seit einiger Zeit nicht mehr beehrt und war nur für eine Woche gebucht, Abendauftritte, keine Nachmittage.

Trotz der unverschämt teuren Preise waren die Eintrittskarten schnell ausverkauft, und das Theater ist so voll, dass sich viele Damen gegen die stickige Hitze, die trotz des herbstlichen Wetters draußen im Zuschauerraum herrscht, Kühlung ins Dekolleté fächern.

Irgendwann im Laufe des Abends verwandeln sich alle Fächer in kleine Vögel, die unter tosendem Applaus durch das Theater schwirren. Als die Vögel ihren Besitzerinnen dann wieder ordentlich gefaltet in den Schoß fallen, nimmt der Applaus noch zu – obwohl einige Damen vor Staunen vergessen zu klatschen.

Ein Mann im grauen Anzug, der links der Bühne in einer Loge sitzt, applaudiert nicht, weder bei dieser noch bei anderen Darbietungen. Er beobachtet den Mann auf der Bühne während des gesamten Abends mit gleichbleibend prüfendem Blick. Selbst bei Kunststücken, die dem gebannten Publikum begeisterten Applaus oder erstaunte Ausrufe entlocken, zuckt er nicht mit der Wimper.

Nach der Vorstellung schiebt sich der Mann im grauen Anzug geschickt durch die Menschenmenge im Theaterfoyer. Unbemerkt schlüpft er durch eine Tür hinter einem Vorhang zu den Garderoben hinter der Bühne. Kein Bühnenarbeiter oder Ankleider schenkt ihm Beachtung.

Am Ende des Flurs klopft er mit dem Silberknauf seines Gehstocks an eine Tür.

Die Tür fliegt auf wie von Geisterhand und gibt den Blick frei auf eine unaufgeräumte Garderobe, gesäumt von Spiegeln, die Zauberer Prospero aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen.

Sein Frack liegt unordentlich auf einem Samtsessel, die Weste über seinem spitzenbesetzten Hemd steht offen. Der Zylinder, während der Vorstellung ein wichtiges Requisit, befindet sich auf einem Hutständer.

Auf der Bühne wirkte Prospero jünger, die grellen Scheinwerfer und das dicke Make-up konnten sein Alter gut verbergen. Das Gesicht in den Spiegeln ist faltig, sein Haar schon sehr grau. Aber das Grinsen beim Anblick des Mannes in der Tür hat etwas Jugendliches.

»Du fandest es schrecklich, nicht wahr?«, fragt er das geisterhafte graue Spiegelbild, ohne sich ihm zuzuwenden. Mit einem Taschentuch, das früher vielleicht einmal weiß war, wischt er sich einen dicken Rest Puder aus dem Gesicht.

»Schön, dich zu sehen, Hector«, sagt der Mann im grauen Anzug und schließt leise die Tür.

»Dir war jede Sekunde zuwider, das weiß ich genau«, sagt Hector Bowen lachend. »Ich habe dich beobachtet, gib dir also keine Mühe und streite es ab.«

Er dreht sich um und reicht dem Mann im grauen Anzug seine Hand, die jedoch ignoriert wird. Hector zuckt darauf nur die Schultern und winkt mit theatralischer Geste in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Der Samtsessel rutscht aus seiner mit Koffern und Schals vollgepackten Ecke hervor, während der Frack wie ein Schatten emporschwebt und sich gehorsam in einen Schrank hängt.

»Bitte, nimm Platz«, sagt Hector. »Ich fürchte allerdings, hier ist es nicht so bequem wie oben.«

»Du weißt, was ich von solchen Aufführungen halte«, sagt der Mann im grauen Anzug, zieht seine Handschuhe aus und fährt damit über den Sessel, bevor er sich setzt. »Billige Tricks als Zauberkunst und Magie verkaufen. Und dafür auch noch Geld verlangen.«

Hector wirft das puderverschmierte Taschentuch auf einen Tisch voller Pinsel und Schminktöpfe.

»Kein Mensch im Publikum glaubt auch nur eine Sekunde lang, dass das, was ich da oben mache, echt ist«, sagt er und zeigt in die ungefähre Richtung der Bühne. »Das ist ja das Schöne daran. Hast du die verrückten Apparate gesehen, die sich angebliche Zauberer für die banalsten Tricks zurechtbasteln? Sie sind alle nur Fische mit Federn, die dem Publikum weismachen wollen, sie könnten fliegen, und ich bin der Vogel in ihrer Mitte. Das Publikum kennt den Unterschied nicht, es merkt nur, dass ich besser bin.«

»Das ist noch lange kein Grund, es zu täuschen.«

»Dazu kommen die Leute doch her«, sagt Hector. »Und ich kann es besser als die meisten anderen. Wäre doch Verschwendung, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Außerdem springt dabei mehr heraus, als man meinen sollte. Möchtest du etwas trinken? Irgendwo müssen Flaschen versteckt sein, ich weiß allerdings nicht, ob es auch Gläser gibt.« Er sucht auf einem Tisch, schiebt Zeitungsstapel und einen leeren Vogelkäfig beiseite.

»Nein danke«, sagt der Mann im grauen Anzug, setzt sich im Sessel zurecht und legt die Hände auf den Knauf seines Gehstocks. »Ich fand deine Vorstellung befremdlich und die Reaktion des Publikums recht verblüffend. Du warst nicht sehr genau.«

»Wenn sie mich für einen Blender halten sollen wie den Rest meiner Kollegen, darf ich nicht zu gut sein«, sagt Hector mit einem Lachen. »Aber danke, dass du meine Vorstellung durchgestanden hast. Es wundert mich, dass du überhaupt da warst, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Die Loge war die ganze Woche für dich reserviert.«

»Ich schlage Einladungen selten aus. In deinem Brief stand, du willst mir etwas vorschlagen.«

»Allerdings!«, sagt Hector und klatscht in die Hände. »Ich hatte gehofft, dass du zu einem Spiel bereit bist. Wir haben schon lange nicht mehr gespielt. Aber zuerst möchte ich dir mein neues Projekt vorstellen.«

»Ich dachte, du hast das Unterrichten aufgegeben.«

»Hatte ich auch, aber dieser einmaligen Gelegenheit konnte ich nicht widerstehen.« Hector geht zu einer Tür, die fast gänzlich hinter einem großen Standspiegel verborgen ist. »Celia, meine Liebe«, ruft er in das benachbarte Zimmer und kehrt dann zu seinem Stuhl zurück.

Wenig später erscheint ein kleines Mädchen in der Tür, viel zu hübsch gekleidet für das Chaos und die Schäbigkeit der Umgebung. Nur Schleifen und Spitze, tadellos wie eine neue Puppe, bis auf die widerspenstigen Locken, die sich aus ihren Zöpfen gelöst haben. Als sie sieht, dass ihr Vater nicht allein ist, bleibt sie zögernd an der Schwelle stehen.

»Schon gut, meine Liebe. Komm her, nur zu«, sagt Hector und winkt sie mit der Hand zu sich. »Das ist ein Kollege von mir, du musst nicht schüchtern sein.«

Sie tritt ein paar Schritte näher und macht einen schönen Knicks, sodass der Spitzensaum ihres Kleides über den abgelaufenen Holzfußboden streift.

»Das ist meine Tochter Celia«, sagt Hector zu dem Mann im grauen Anzug und legt dem Mädchen seine Hand auf den Kopf. »Celia, das ist Alexander.«

»Freut mich«, sagt sie. Ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern und tiefer, als man von einem Mädchen ihres Alters erwarten würde.

Der Mann im grauen Anzug nickt ihr höflich zu.

»Ich möchte, dass du diesem Herrn zeigst, was du kannst«, sagt Hector. Er zieht eine silberne Taschenuhr an einer langen Kette aus seiner Weste und legt sie auf den Tisch. »Fang an.«

Das Mädchen macht große Augen.

»Aber ich darf es niemandem zeigen«, sagt sie. »Das musste ich dir versprechen.«

»Dieser Herr ist nicht irgendwer«, erwidert Hector lachend.

»Du hast gesagt, keine Ausnahmen«, gibt Celia zurück.

Das Lächeln ihres Vaters verschwindet. Er packt sie an den Schultern und schaut ihr streng in die Augen.

»Das ist ein Sonderfall«, sagt er. »Bitte zeig dem Herrn, was du kannst. Genau wie im Unterricht.« Er schiebt sie zum Tisch, auf dem die Uhr liegt.

Das Mädchen nickt ernst und wendet seine Aufmerksamkeit der Uhr zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Gleich darauf beginnt die Uhr langsam zu rotieren, dreht sich in Kreisen auf dem Tisch und zieht die Kette in einer Spirale hinter sich her. Dann erhebt sich die Uhr vom Tisch, schwebt in der Luft und verweilt dort, als hinge sie im Wasser.

Hector blickt erwartungsvoll zu dem Mann im grauen Anzug.

»Beeindruckend«, sagt der Mann. »Aber ziemlich einfach.«

Celia runzelt die Stirn über ihren dunklen Augen: Die Uhr zerspringt, ihr Innenleben zerstiebt in alle Richtungen.

»Celia«, sagt ihr Vater.

Sein scharfer Tonfall lässt sie erröten, sie murmelt eine Entschuldigung. Zeiger, Rädchen und Federn fliegen zurück in die Uhr und sortieren sich, bis alles wieder an Ort und Stelle ist und die Uhr weitertickt, als wäre nichts geschehen.

»Na, das ist schon etwas beeindruckender«, gibt der Mann im grauen Anzug zu. »Aber sie gerät schnell in Wut.«

»Sie ist noch jung«, sagt Hector, tätschelt Celia den Kopf und ignoriert ihre missmutige Miene. »Und sie hat das in einem knappen Jahr gelernt. Wenn sie erwachsen ist, wird sie unschlagbar sein.«

»Ich könnte das jedem Kind von der Straße beibringen. Unschlagbarkeit ist eine Frage der persönlichen Einschätzung und leicht zu widerlegen.«

»Ha!«, ruft Hector aus. »Du spielst also mit!«

Der Mann im grauen Anzug zögert kurz, dann nickt er.

»Wenn es ein bisschen anspruchsvoller ist als letztes Mal, ja, dann bin ich interessiert«, sagt er. »Vielleicht.«

»Natürlich wird es anspruchsvoller!«, sagt Hector. »Ich schicke ein Naturtalent ins Rennen. Und das verwettet man nicht so ohne Weiteres.«

»Naturtalent ist ein fragwürdiges Phänomen. Man könnte von Neigung sprechen, aber angeborene Fähigkeiten sind äußerst selten.«

»Sie ist mein Kind, natürlich hat sie angeborene Fähigkeiten.«

»Du sagst selbst, dass sie Unterricht hatte«, gibt der Mann im grauen Anzug zu bedenken. »Wie kannst du dir dann sicher sein?«

»Celia, wann hast du mit dem Unterricht angefangen?«, fragt Hector, ohne sie anzusehen.

»Im März«, antwortet sie.

»In welchem Jahr, meine Liebe?«, fragt Hector.

»Na, in diesem«, erwidert sie, als habe er eine besonders dumme Frage gestellt.

»Acht Monate Unterricht«, stellt Hector klar. »Mit knapp sechs Jahren. Wenn ich mich recht entsinne, fängst du mit deinen Schülern manchmal etwas früher an. Celia ist eindeutig weiter, als sie es ohne Naturtalent wäre. Sie hat diese Uhr schon beim ersten Versuch zum Schweben gebracht.«

Der Mann im grauen Anzug wendet sich an Celia.

»Dass sie kaputtgeht, war nur Zufall, oder?«, fragt er und zeigt zu der Uhr auf dem Tisch. Celia zieht die Stirn kraus und nickt zögerlich.

»Für ein so kleines Mädchen zaubert sie bemerkenswert gut«, sagt er zu Hector. »Aber ein aufbrausendes Temperament ist immer ein misslicher Faktor. Es führt leicht zu unbesonnenem Verhalten.«

»Das verliert sich bestimmt, oder sie lernt, sich zu beherrschen. Es hat nichts zu bedeuten.«

Der Mann im grauen Anzug behält das Mädchen weiter im Auge, während er mit Hector spricht. Statt Worten hört Celia plötzlich sonderbare Geräusche aus seinem Mund kommen, und sie runzelt die Stirn, als die Erwiderungen ihres Vaters genauso konfus klingen.

»Du würdest um dein eigenes Kind wetten?«, fragt der Mann im grauen Anzug ungläubig.

»Sie verliert nicht«, sagt Hector. »Ich schlage vor, du suchst dir einen Schüler, von dem du dich leicht trennen kannst, falls du nicht schon einen hast.«

»Und ihre Mutter hat dazu keine Meinung?«

»Ganz recht.«

Der Mann im grauen Anzug sieht das Mädchen noch eine Weile an, ehe er fortfährt, sie versteht seine Worte allerdings immer noch nicht.

»Ich kann dein Vertrauen in ihre Fähigkeit verstehen, aber richte dich darauf ein, dass du sie verlierst, wenn der Wettstreit nicht zu ihren Gunsten ausgeht. Ich werde jemanden finden, der eine echte Herausforderung für sie ist. Andernfalls gäbe es keinen Grund für mich, an der Sache teilzunehmen. Ihr Sieg steht noch nicht fest.«

»Das Risiko gehe ich gerne ein«, sagt Hector, ohne seine Tochter auch nur anzusehen. »Wenn du es hier und jetzt offiziell machen möchtest, dann los.«

Der Mann im grauen Anzug blickt abermals zu Celia, und als er spricht, versteht sie seine Worte wieder.

»Na schön«, sagt er und nickt.

»Er hat gemacht, dass ich nicht richtig hören kann«, flüstert Celia, als ihr Vater sich zu ihr dreht.

»Ich weiß, Liebes, das war nicht sehr höflich«, sagt Hector und führt sie näher an den Sessel, wo der Mann sie mit Augen mustert, die fast so hellgrau sind wie sein Anzug.

»Konntest du schon immer solche Sachen?«, fragt er mit einem Blick auf die Uhr.

Celia nickt.

»Meine … meine Mutter sagt, ich sei ein Kind des Teufels«, sagt sie leise.

Der Mann im grauen Anzug beugt sich vor und flüstert ihr etwas ins Ohr, zu leise für ihren Vater, um es zu hören. Ein verstohlenes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht.

»Streck deine rechte Hand aus«, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Celia hält ihm sofort die offene Handfläche hin, ohne zu wissen, was sie erwartet. Aber der Mann im grauen Anzug legt nichts hinein. Stattdessen dreht er ihre Hand um und zieht sich einen silbernen Ring vom kleinen Finger. Er steckt ihn ihr auf den Ringfinger, obwohl er viel zu groß ist, und hält mit der anderen Hand ihren Arm fest.

Sie will gerade sagen, der Ring sei zwar sehr schön, passe aber nicht, da merkt sie, dass er schrumpft.

Ihre kurze Freude über den kleiner werdenden Ring wird bald von Schmerz überlagert, als der Ring an ihrem Finger immer enger wird und das Metall sich in ihre Haut brennt. Sie versucht sich zu befreien, aber der Mann im grauen Anzug hält ihren Arm fest umklammert.

Der Ring wird dünner, löst sich auf und hinterlässt eine leuchtend rote Narbe um Celias Finger.

Der Mann im grauen Anzug gibt ihren Arm frei. Celia zieht sich in eine Ecke zurück und starrt auf ihre Hand.

»Braves Mädchen«, sagt ihr Vater.

»Ich brauche eine Weile, um einen Spieler vorzubereiten«, sagt der Mann im grauen Anzug.

»Natürlich«, erwidert Hector. »Lass dir alle Zeit der Welt.« Er zieht sich einen goldenen Ring vom Finger und legt ihn auf den Tisch. »Der ist für ihn, wenn du ihn gefunden hast.«

»Du willst dir nicht selbst die Ehre geben?«

»Ich vertraue dir.«

Der Mann im grauen Anzug nickt und zieht ein Taschentuch aus seinem Mantel, nimmt den Ring, ohne ihn zu berühren, und steckt ihn in seine Tasche.

»Ich hoffe doch sehr, du machst das Ganze nicht nur, weil mein Spieler beim letzten Mal gewonnen hat.«

»Natürlich nicht«, antwortet Hector. »Ich mache das, weil ich eine Spielerin habe, die es mit jedem aufnehmen kann, den du ihr gegenüberstellst, und weil sich die Zeiten geändert haben. Unser Wettstreit könnte interessant werden. Im Übrigen glaube ich, dass ich in der Gesamtbilanz vorne liege.«

Der Mann im grauen Anzug ficht diese Behauptung nicht an, er betrachtet Celia nur weiterhin prüfend. Sie versucht sich seinem Blick zu entziehen, aber das Zimmer ist zu klein.

»Weißt du schon, wo das Ganze stattfinden soll?«, fragt er.

»Nicht direkt«, sagt Hector. »Ich dachte, es macht vielleicht mehr Spaß, wenn wir den Austragungsort noch offenlassen. Als Überraschung, wenn du so willst. Ich kenne einen Theaterproduzenten in London, der für Ungewöhnliches immer zu haben ist. Wenn es so weit ist, gebe ich ihm Bescheid, dann fällt ihm bestimmt etwas Passendes ein. Das Ganze auf neutralem Boden auszutragen wäre vermutlich das Beste, aber vielleicht möchtest du den Auftakt ja lieber auf deiner Seite des Teichs bestreiten.«

»Und wie heißt dieser Herr?«

»Chandresh. Chandresh Christophe Lefèvre. Angeblich ist er der uneheliche Sohn eines indischen Prinzen oder so ähnlich. Die Mutter war eine leichtlebige Ballerina. Irgendwo in diesem Chaos habe ich seine Karte. Du wirst ihn mögen, er ist seiner Zeit immer voraus. Wohlhabend, exzentrisch. Ein bisschen zwanghaft, irgendwie unberechenbar, aber das ist bei Künstlern wohl immer so.« Der Papierstapel auf einem Schreibtisch verschiebt und vermischt sich, bis eine Visitenkarte obenauf liegt und durch den Raum segelt. Hector fängt sie auf und liest sie, bevor er sie dem Mann im grauen Anzug reicht. »Er gibt wundervolle Partys.«

Der Mann im grauen Anzug steckt sich die Karte in die Tasche, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

»Noch nie von ihm gehört«, sagt er. »Und im Übrigen halte ich nicht viel von öffentlichen Schauplätzen. Ich überlege mir das Ganze.«

»Unsinn, ohne Publikum macht es doch nur halb so viel Spaß. Dadurch kommen Einschränkungen und Probleme ins Spiel, die man erst mal lösen muss.«

Der Mann im grauen Anzug überdenkt dies kurz und nickt dann.

»Gibt es eine Offenlegungsklausel? Das wäre eigentlich fair, da ich deine Akteurin kenne.«

»Verzichten wir auf sämtliche Klauseln und halten uns nur an die üblichen Regeln, dann sehen wir, was passiert«, sagt Hector. »Bei diesem Spiel möchte ich keine strengen Vorgaben. Auch keine zeitlichen Beschränkungen. Ich überlasse dir sogar den ersten Zug.«

»Na schön. Abgemacht. Ich melde mich.« Der Mann im grauen Anzug steht auf und wischt sich unsichtbaren Staub vom Ärmel. »War mir ein Vergnügen, Miss Celia.«

Celia knickst wieder vorbildlich, beobachtet ihn dabei jedoch argwöhnisch.

Der Mann im grauen Anzug zieht zum Abschied den Hut vor Prospero, schlüpft zur Tür hinaus und verlässt das Theater. Wie ein Schatten bewegt er sich auf der immer noch belebten Straße.

Hector Bowen kichert in seiner Garderobe vor sich hin, während seine Tochter reglos in der Ecke steht und die Narbe an ihrer Hand betrachtet. Der Schmerz ist so schnell verschwunden wie der Ring, aber die rote Narbe bleibt.

Hector nimmt die silberne Taschenuhr vom Tisch und vergleicht die Zeit mit der Uhr an der Wand. Langsam zieht er die Uhr auf und sieht aufmerksam zu, wie die Zeiger um das Zifferblatt kreisen.

»Celia«, fragt er, ohne sie anzusehen, »warum müssen wir die Uhr aufziehen?«

»Weil alles Energie braucht«, antwortet sie gehorsam, den Blick noch immer auf ihre Hand gerichtet. »Wir müssen Energie und Mühe in alles stecken, was wir verändern möchten.«

»Sehr gut.« Er schüttelt die Uhr vorsichtig und steckt sie wieder in die Tasche.

»Warum hast du den Mann Alexander genannt?«, fragt Celia.

»Das ist eine dumme Frage.«

»Aber so heißt er nicht.«

»Woher willst du das wissen?«, fragt Hector seine Tochter, dreht ihr Kinn in seine Richtung und taxiert ihre dunklen Augen.

Celia erwidert seinen Blick und weiß nicht, wie sie es ihm erklären soll. Sie ruft sich den Mann im grauen Anzug in Erinnerung, seine hellen Augen und die strengen Züge, und überlegt, warum der Name nicht richtig zu ihm passt.

»Das ist nicht sein Name«, sagt sie. »Jedenfalls nicht der, den er immer hatte. Er trägt ihn wie seinen Hut. Damit er ihn ablegen kann, wenn er will. So wie bei dir mit Prospero.«

»Du bist noch klüger, als ich gehofft habe«, sagt Hector, ohne sich zu ihren Zweifeln am Namen seines Kollegen zu äußern. Er nimmt den Zylinder vom Ständer und stülpt ihn ihr über den Kopf, sodass er ihren fragenden Blick unter einem Käfig aus schwarzer Seide verhüllt.

GRAUTÖNE

London, Januar 1874

Das Gebäude ist so grau wie der Gehweg davor und der Himmel darüber, und es wirkt so unbeständig wie die Wolken, als könnte es sich jederzeit in Luft auflösen. Durch den unscheinbaren grauen Stein ist es von den umliegenden Häusern kaum zu unterscheiden, nur ein mattes Schild an der Tür hebt es ein wenig hervor. Selbst die Schulleiterin im Inneren ist in dunkles Anthrazit gekleidet.

Trotzdem wirkt der Mann im grauen Anzug fehl am Platz.

Sein Anzug ist streng geschnitten. Der Griff seines Gehstocks unter den makellosen Handschuhen zu blank poliert.

Er stellt sich vor, aber die Schulleiterin vergisst seinen Namen fast augenblicklich und findet es peinlich, noch einmal nachzufragen. Als er später die erforderlichen Papiere unterschreibt, ist seine Schrift vollkommen unleserlich, und das entsprechende Formular geht, wenige Wochen nachdem es abgeheftet wurde, verloren.

Er nennt ungewöhnliche Auswahlkriterien für seine Suche. Die Schulleiterin ist verwirrt, aber nach einigen Fragen und Klarstellungen bringt sie ihm drei Kinder: zwei Jungen und ein Mädchen. Der Mann möchte sie allein befragen, worauf die Schulleiterin widerstrebend eingeht.

Das Gespräch mit dem ersten Jungen dauert nur wenige Minuten, dann wird er weggeschickt. Als er durch den Flur geht, sehen ihn die beiden anderen neugierig an, doch er schüttelt nur den Kopf.

Mit dem Mädchen dauert es etwas länger, aber auch sie wird weggeschickt, verwirrt und mit gerunzelter Stirn.

Dann wird der zweite Junge in das Zimmer gebracht, um mit dem Mann im grauen Anzug zu sprechen. Er wird zu einem Stuhl gegenüber einem Schreibtisch geführt; der Mann bleibt in der Nähe stehen.

Dieser Junge zappelt nicht so herum wie der erste. Ruhig und geduldig sitzt er da, die graugrünen Augen nehmen fast unmerklich jede Einzelheit im Raum auf und betrachten den Mann, wachsam, aber nicht unverhohlen starrend. Sein dunkles Haar ist schlecht geschnitten, als wäre der Friseur bei der Arbeit zerstreut gewesen, allerdings hat der Junge versucht, das Schlimmste auszugleichen. Seine Kleider sind zerlumpt, aber gut gepflegt; die Hose ist zu kurz und war irgendwann vielleicht blau, braun oder grün – sie ist zu verwaschen, um es genau sagen zu können.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragt der Mann, nachdem er eine Weile stumm die schäbige Erscheinung des Jungen geprüft hat.

»Schon immer«, sagt der Junge.

»Wie alt bist du?«

»Im Mai werde ich neun.«

»Du siehst jünger aus.«

»Ich habe nicht gelogen.«

»Das wollte ich damit auch nicht unterstellen.«

Der Mann im grauen Anzug starrt den Jungen eine Zeit lang schweigend an.

Der Junge starrt zurück.

»Du kannst lesen, nehme ich an?«, fragt der Mann.

Der Junge nickt.

»Ich lese gern«, sagt er. »Aber hier gibt es nicht genug Bücher. Ich habe schon alle gelesen.«

»Gut.«

Ohne Warnung wirft der Mann dem Jungen seinen Gehstock zu. Der Junge fängt ihn mühelos mit einer Hand, kneift allerdings verwirrt die Augen zusammen, als er zwischen Gehstock und Mann hin und her blickt.

Der Mann nickt, holt sich den Gehstock wieder und zieht ein helles Taschentuch aus seiner Jacke, um die Fingerabdrücke des Jungen abzuwischen.

»Sehr gut«, sagt er. »Du wirst mit mir kommen und bei mir lernen. Und ich kann dich beruhigen, ich habe sehr viele Bücher. Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen, dann machen wir uns auf den Weg.«

»Kann ich auch Nein sagen?«

»Möchtest du hierbleiben?«

Der Junge denkt kurz nach und schüttelt den Kopf.

»Sehr gut.«

»Wollen Sie nicht wissen, wie ich heiße?«, fragt der Junge.

»Namen sind nicht annähernd so wichtig, wie die Leute immer meinen«, sagt der Mann im grauen Anzug. »Ein Etikett, das dir diese Einrichtung oder deine verstorbenen Eltern gegeben haben, interessiert mich nicht und nützt mir nichts. Wenn du irgendwann zu dem Schluss kommst, dass du einen Namen brauchst, suchst du dir einen aus. Fürs Erste jedenfalls ist es nicht von Belang.«

Der Junge wird fortgeschickt, um eine kleine Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten zu packen. Der Mann im grauen Anzug unterschreibt Papiere und beantwortet die Fragen der Schulleiterin. Und obwohl sie die Antworten nicht alle ganz versteht, setzt sie der Abwicklung des Geschäfts nichts entgegen.

Als der Junge fertig ist, verlässt er mit dem Mann im grauen Anzug das graue Steingebäude und kehrt nie wieder dorthin zurück.

ZAUBERLEHRE

1875 – 1880

Celia wächst in verschiedenen Theatern auf. Vorwiegend in New York, aber auch längere Zeiträume in anderen Städten. Boston. Chicago. San Francisco. Gelegentliche Aufenthalte in Mailand, Paris oder London. Sie vermischen sich zu einem Schleier aus abgestandener Luft, Samt und Sägemehl, manchmal so sehr, dass sie nicht genau weiß, in welchem Land sie sich gerade befindet – was für sie allerdings auch unerheblich ist.

In ihrer Kindheit nimmt ihr Vater sie überall hin mit, um sie in teuren Kleidern wie ein drolliges Hündchen von seinen Kollegen und Bekannten nach den Vorstellungen in den Bars bestaunen zu lassen.

Als er findet, dass sie zu groß ist, um als reizendes Accessoire zu dienen, lässt er sie immer häufiger in Garderoben und Hotels allein zurück.

Jeden Abend fragt sie sich, ob er nach der Vorstellung zu ihr kommt, aber er stolpert immer erst zu nachtschlafender Stunde herein, streicht ihr manchmal zärtlich über den Kopf, während sie sich schlafend stellt, meist aber ignoriert er sie ganz.

Ihr Unterricht findet nicht mehr wie früher zu festgelegten, wenn auch unregelmäßigen Zeiten statt, sondern er prüft ihre Leistungen jetzt ständig, allerdings nie in der Öffentlichkeit.

Selbst so einfache Aufgaben wie Stiefel zubinden darf sie nicht mehr mit der Hand machen. Sie starrt auf ihre Füße und zwingt die Schuhbänder stumm, sich zu einigermaßen ordentlichen Schleifen zu binden, und blickt böse vor sich hin, wenn die Bänder sich verheddern oder verknoten.

Ihr Vater ist nicht sehr mitteilsam, wenn sie Fragen stellt. Sie hat mitbekommen, dass der Mann im grauen Anzug, den ihr Vater Alexander nannte, auch einen Schüler hat und dass irgendein Spiel stattfinden soll.

»So ähnlich wie Schach?«, fragt sie einmal.

»Nein«, antwortet ihr Vater. »Nicht wie Schach.«

Der Junge wächst in einem Haus in London auf. Er sieht niemanden, selbst dann nicht, wenn man ihm die Mahlzeiten bringt: Sie erscheinen auf abgedeckten Tabletts an der Tür und verschwinden auf die gleiche Weise. Einmal im Monat kommt ein Mann, der kein Wort sagt und ihm die Haare schneidet. Einmal im Jahr nimmt derselbe Mann seine Maße für neue Kleider.

Die meiste Zeit verbringt der Junge mit Lesen. Und Schreiben natürlich. Er schreibt Passagen aus Büchern ab, notiert Wörter und Symbole, die er anfangs nicht versteht, die ihm jedoch zunehmend vertraut werden, je öfter er sie mit seinen tintenverschmierten Fingern in klarer Schrift wiederholt. Er liest Geschichten, Sagen und Romane. Und er lernt langsam andere Sprachen, auch wenn er sie nur schwer sprechen kann.

Hin und wieder gibt es Ausflüge in Museen und Bibliotheken, meist am frühen Abend, wenn nur wenige oder gar keine Besucher mehr anwesend sind. Der Junge liebt diese Ausflüge wegen der interessanten Dinge in diesen Gebäuden und wegen der Ablenkung vom täglichen Einerlei. Aber sie finden selten statt, und er darf das Haus nie ohne Begleitung verlassen.

Der Mann im grauen Anzug besucht ihn täglich und bringt meistens einen Stapel neuer Bücher mit. Er bleibt genau eine Stunde und lehrt ihn Dinge, von denen der Junge nicht weiß, ob er sie jemals verstehen wird.

Nur einmal erkundigt er sich, wann er eigentlich eines der Kunststücke ausprobieren darf, die ihm der Mann im grauen Anzug ganz selten in den streng festgelegten Unterrichtsstunden vorführt.

»Wenn du so weit bist«, lautet die knappe Antwort.

Es wird noch einige Zeit dauern, bis es heißt, dass er so weit ist.

Die Tauben, die bei Prosperos Vorführungen auf der Bühne und manchmal im Publikum erscheinen, werden in kunstvollen Käfigen gehalten und zusammen mit dem Rest seines Gepäcks und Zubehörs in das jeweilige Theater geliefert.

Durch eine zuschlagende Tür fällt ein Stapel Koffer und Kisten in Prosperos Garderobe um und reißt dabei einen Käfig voller Tauben mit zu Boden.

Die Koffer richten sich sofort wieder auf, aber Hector hebt den Käfig hoch, um den Schaden zu begutachten.

Während die meisten Tauben von dem Sturz nur benommen sind, hat eine offensichtlich einen gebrochenen Flügel. Vorsichtig nimmt Hector den Vogel heraus, und die verbogenen Gitterstäbe reparieren sich, als er den Käfig absetzt.

»Kannst du den Flügel heilen?«, fragt Celia.

Ihr Vater betrachtet die verletzte Taube und dann wieder seine Tochter. Er wartet darauf, dass sie eine andere Frage stellt.

»Darf ich ihn heilen?«, fragt sie nach einer Weile.

»Du kannst es versuchen«, sagt ihr Vater und reicht ihr den Vogel.

Celia streichelt zärtlich die zitternde Taube und starrt konzentriert auf den gebrochenen Flügel.

Der Vogel stößt einen schmerzvollen, erstickten Schrei aus, ganz anders als das übliche Gurren.

»Ich schaffe es nicht«, sagt Celia mit Tränen in den Augen und reicht ihrem Vater den Vogel.

Hector nimmt die Taube, dreht ihr den Hals um und ignoriert den empörten Schrei seiner Tochter.

»Bei Lebewesen gelten andere Regeln«, sagt er. »Du solltest mit etwas Leichterem üben.« Er nimmt Celias einzige Puppe von einem Stuhl und lässt sie auf den Boden fallen, sodass der Porzellankopf zerschellt.

Als Celia am nächsten Tag mit der reparierten Puppe vor ihrem Vater erscheint, nickt er nur beifällig, schickt sie mit einem Wink fort und macht mit den Vorbereitungen für seine Vorstellung weiter.

»Du hättest die Taube retten können«, sagt Celia.

»Dann hättest du nichts gelernt«, erwidert Hector. »Du musst deine Grenzen kennen, damit du sie überwinden kannst. Du möchtest doch gewinnen, oder?«

Celia blickt auf ihre Puppe hinab. Nichts deutet darauf hin, dass sie jemals kaputt war, kein einziger Riss in dem leeren, lächelnden Gesicht.

Sie wirft sie unter einen Stuhl und nimmt sie auch nicht mit, als sie und ihr Vater das Theater verlassen.

Der Mann im grauen Anzug nimmt den Jungen für eine Woche mit nach Frankreich, aber nicht, um dort Urlaub zu machen. Die Reise ist unangekündigt, der kleine Koffer des Jungen wurde ohne sein Wissen gepackt.

Der Junge geht davon aus, dass er dort Unterricht erhält, aber er erfährt nicht, worin. Nach dem ersten Tag fragt er sich, ob sie nur wegen des Essens in Frankreich sind, weil er ganz verzaubert ist von dem knusprig frischen Brot in den Boulangeries und der schier endlosen Auswahl an Käsesorten.

Am frühen Abend gehen sie in stille Museen, wo der Junge versucht, so lautlos durch die Galerien zu gehen wie sein Lehrmeister. Aber es gelingt ihm nicht, und er zuckt bei jedem widerhallenden Schritt zusammen. Als er um ein Skizzenbuch bittet, behauptet der Mann im grauen Anzug, es sei besser für ihn, die Bilder im Gedächtnis zu speichern.

Eines Abends wird der Junge ins Theater geschickt.

Er rechnet mit einem Dramenstück oder vielleicht einer Ballettaufführung, aber er bekommt eine ungewöhnliche Vorstellung zu sehen.

Der Mann auf der Bühne, ein Herr mit glattem Haar und Bart, dessen weiße Handschuhe sich vor seinem schwarzen Anzug wie Vögel bewegen, zeigt einfache Kunststücke und Zaubertricks. Vögel verschwinden aus Käfigen mit doppelten Böden, Tücher gleiten aus Taschen, um wieder in Ärmelaufschlägen zu verschwinden.

Neugierig beobachtet der Junge den Zauberer und sein bescheidenes Publikum. Die Zuschauer scheinen angetan von den Täuschungsmanövern und applaudieren oft höflich.

Als er seinem Lehrmeister nach der Aufführung Fragen stellt, wird ihm gesagt, sie würden erst nach ihrer Rückkehr in London über die Sache reden.

Am nächsten Abend wird der Junge in ein größeres Theater gebracht und während der Vorführung erneut allein gelassen. Die Masse der Zuschauer macht ihn nervös, noch nie ist er mit so vielen Menschen in einem Raum gewesen.

Der Mann auf der Bühne wirkt älter als der Zauberer vom Vorabend. Er trägt einen schöneren Anzug. Seine Bewegungen sind präziser. Jedes Kunststück ist nicht nur ungewöhnlich, sondern bestechend.

Der Applaus ist mehr als höflich.

Und dieser Zauberer versteckt keine Taschentücher in seinen spitzenbesetzten Ärmelaufschlägen. Die Vögel, die aus allen möglichen Ecken hervorstieben, haben keine Käfige. Solche Nummern hat der Junge bislang nur in seinem Unterricht gesehen. Zauberstücke und Vorführungen, die man, so hatte er eingebläut bekommen, unbedingt geheim halten muss.

Der Junge applaudiert ebenfalls, als der Zauberkünstler Prospero sich am Ende verbeugt.

Wieder verweigert ihm sein Lehrer jegliche Antwort auf seine Fragen und vertröstet ihn auf London.

Als sie zurück sind und ihre gewohnte Routine aufnehmen, die, so kommt es ihm jetzt vor, nie unterbrochen war, fragt der Mann im grauen Anzug den Jungen nach dem Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen.

»Der erste Mann hat Apparate und Spiegel benutzt und die Zuschauer dazu gebracht, woandershin zu schauen, wenn er wollte, dass sie etwas nicht sehen. Der zweite Mann, der mit dem Namen des Herzogs in Shakespeares Sturm, hat so getan, als würde er ähnliche Kunststücke vorführen, aber bei ihm gab es keine Spiegel oder Tricks. Er hat alles so gemacht wie Sie.«

»Sehr gut.«

»Kennen Sie den Mann?«, fragt der Junge.

»Ich kenne ihn schon sehr lange«, sagt sein Lehrmeister.

»Unterrichtet er auch solche Sachen wie Sie?«

Sein Lehrmeister nickt, geht aber nicht näher darauf ein.

»Wie ist es möglich, dass die Zuschauer den Unterschied nicht sehen?«, fragt der Junge. Für ihn ist die Sache klar, auch wenn er nicht genau sagen kann, warum. Es lag irgendetwas in der Luft, etwas, das er mit eigenen Augen beobachten konnte.

»Die Leute sehen, was sie sehen wollen. Und in den meisten Fällen sehen sie das, was man ihnen sagt.«

Damit ist die Unterhaltung über das Thema beendet.

Es finden noch weitere vermeintliche Urlaube statt, wenn auch sehr selten, aber den Zauberer bekommt der Junge nicht mehr zu sehen.

Zauberer Prospero ritzt seiner weinenden Tochter mit einem Taschenmesser die Fingerkuppen auf, eine nach der anderen, und sieht schweigend zu, wie sie sich beruhigt und die Blutstropfen langsam wieder zurückfließen lässt.

Die Haut wächst zu, die Rillen der Fingerabdrücke finden zusammen und vereinen sich wieder.

Celia lässt die verkrampften Schultern sinken, und die Anspannung fällt sichtlich von ihr ab.

Ihr Vater gönnt ihr nur eine kurze Ruhepause, ehe er ihre frisch verheilten Finger erneut aufritzt.

Der Mann im grauen Anzug zieht ein Taschentuch aus seiner Jacke und lässt es auf den Tisch fallen, wo es mit dumpfem Schlag landet, weil in dem seidigen Stoff etwas Schweres verborgen ist. Er hebt das Tuch hoch und lässt den Inhalt, einen goldenen Ring, auf den Tisch rollen. Der Ring ist leicht angelaufen und trägt eine Gravur, die in den Augen des Jungen lateinisch sein könnte, aber die Schrift ist geschwungen und schnörkelig, er kann sie nicht entziffern.

Der Mann im grauen Anzug steckt das nunmehr leere Taschentuch wieder in die Jacke.

»Heute beschäftigen wir uns mit Bindungen«, sagt er.

Als sie zum praktischen Teil der Stunde kommen, weist er den Jungen an, sich den Ring anzustecken. Er berührt den Jungen nie, unabhängig von den Umständen.

Der Junge versucht vergeblich, sich den Ring vom Finger zu ziehen, als der sich in seiner Haut auflöst.

»Bindungen sind dauerhaft, mein Junge«, sagt der Mann im grauen Anzug.

»Woran bin ich denn gebunden?«, fragt der Junge und sieht stirnrunzelnd auf die Narbe, wo kurz zuvor noch der Ring gewesen war.

»An eine Verpflichtung, die du schon eingegangen bist, und an eine Person, der du erst später begegnest. Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Dies ist nur eine notwendige Formsache.«

Der Junge nickt nur und fragt nicht weiter, aber in der Nacht, als er wieder allein ist und nicht schlafen kann, starrt er stundenlang seine Hand im Mondlicht an und überlegt, wer wohl die Person sein könnte, an die er gebunden ist.

Abertausende Meilen entfernt, in einem ausverkauften Saal, erhält der Mann auf der Bühne donnernden Applaus, während Celia Bowen hinter der Bühne im Schatten alter Kulissenteile kauert und weint.

LE BATELEUR

London, Mai – Juni 1884

Kurz bevor der Junge neunzehn wird, holt ihn der Mann im grauen Anzug ohne Vorwarnung aus dem Haus und bringt ihn in eine kleine Wohnung mit Blick auf das Britische Museum.

Zuerst glaubt der Junge, der Umzug sei nur vorübergehend. In letzter Zeit waren sie des Öfteren für ein paar Wochen oder auch Monate in Griechenland, Frankreich oder Deutschland gewesen, meistens eher zum Arbeiten als zum Besichtigen. Doch diesmal ist es keiner ihrer vermeintlichen Urlaubsaufenthalte in Luxushotels.

Es ist eine einfache Wohnung mit schlichter Ausstattung, die seiner vorherigen Unterkunft derart ähnelt, dass so etwas wie Heimweh kaum aufkommen kann. Allein die Bibliothek fehlt ihm, obwohl auch hier Bücher in beeindruckender Menge stehen.

In einem Kleiderschrank hängen elegant geschnittene, aber unauffällige schwarze Anzüge. Frisch gebügelte weiße Hemden. Zusätzlich eine Reihe maßgefertigter Bowlerhüte.

Er möchte wissen, wann das, was immer nur seine »Prüfung« genannt wird, beginnt. Der Mann im grauen Anzug lässt die Frage unbeantwortet, auch wenn der Umzug in die Wohnung den offiziellen Teil seiner Ausbildung eindeutig beendet.

Und so bringt er sich nun auf eigene Faust neue Dinge bei. Er kritzelt eine Unzahl von Symbolen und Zeichen in Notizbücher, arbeitet seine alten Aufzeichnungen noch einmal durch und entdeckt neue interessante Dinge. Wenn er aus dem Haus geht, hat er immer ein kleines Notizbuch dabei und überträgt, wenn es voll ist, seine Aufzeichnungen fein säuberlich in größere Bücher.

In jedes neue Notizbuch zeichnet er zunächst mit schwarzer Tinte einen filigranen Baum auf die Innenseite des Deckels. Von dort aus ranken lange Zweige über die folgenden Seiten, verknoten sich zu Buchstaben und Zeichen, bis fast alles Papier mit Tinte bedeckt ist. Auf diese Weise sind alle Buchstaben, alle Runen und Glyphen miteinander verwoben und mit dem ursprünglichen Baum verwurzelt.

In seinem Bücherregal steht, sorgfältig aufgereiht, ein ganzer Wald aus diesen Bäumen.

Er übt das Gelernte immer wieder, auch wenn es für ihn allein schwierig ist, die Wirkung seiner Kunststücke einzuschätzen. Deshalb verbringt er viel Zeit mit Übungen vor dem Spiegel.

Auf freiem Fuß und ohne festen Stundenplan erkundet er auf langen Spaziergängen die Stadt. Allein die Vielzahl von Menschen ist nervenaufreibend, aber die Freude, dass er die Wohnung jederzeit verlassen kann, überwiegt seine Angst vor Zusammenstößen mit anderen Passanten.

Er sitzt in Parks und Cafés und beobachtet Leute, die ihn dank seiner unauffälligen Erscheinung mit Anzug und steifem Hut in der Menge der Flaneure nicht weiter beachten.

Eines Nachmittags kehrt er zu seinem alten Haus zurück und hofft, dass es keine Zumutung ist, wenn er seinen Lehrmeister vielleicht zum Tee besucht, doch das Gebäude ist verlassen, die Fenster sind vernagelt.

Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung befühlt er seine Tasche und stellt fest, dass sein Notizbuch verschwunden ist.

Er flucht laut und handelt sich den strafenden Blick einer Passantin ein, weil sie ausweichen muss, als er auf dem überfüllten Gehweg unvermittelt stehen bleibt.

Er macht auf dem Absatz kehrt und wird an jeder Straßenecke unruhiger.

Ein leichter Regen setzt ein, kaum mehr als ein Nieseln, doch in der Menge springen mehrere Schirme auf. Er zieht die Hutkrempe herunter, um seine Augen zu schützen, und hält auf dem immer feuchter werdenden Gehweg Ausschau nach seinem Notizbuch.

Unter der Markise eines Cafés bleibt er stehen und sieht, wie in der ganzen Straße die Laternen aufflackern. Er überlegt, ob er warten soll, bis weniger Leute unterwegs sind und der Regen nachlässt. Und dann sieht er ein paar Schritte weiter ein Mädchen, das ebenfalls unter der Markise Schutz gesucht hat und in einem Notizbuch liest, das nur sein eigenes sein kann.

Sie ist ungefähr achtzehn, vielleicht etwas jünger. Ihre Augen sind hell, und ihr Haar ist von einer unbestimmten Farbe, die sich offenbar nicht entscheiden kann, ob sie blond sein will oder braun. Sie trägt ein Kleid, das vor zwei Jahren ziemlich modisch gewesen wäre, und ist vom Regen ganz klamm.

Er tritt näher, aber sie bemerkt ihn nicht, so tief ist sie im Buch versunken. Sie hat sogar einen ihrer Handschuhe ausgezogen, damit sie die dünnen Seiten besser umblättern kann. Jetzt sieht er, dass es tatsächlich sein Notizbuch ist, aufgeschlagen auf einer Seite mit einer eingeklebten Karte, auf der geflügelte Wesen über ein Wagenrad kriechen. Seine Schrift überzieht die Karte und den Rest der Seite, fasst sie ein in einen einzigen dichten Text.

Er beobachtet ihren Gesichtsausdruck, während sie, in einer Mischung aus Verwunderung und Neugierde, in dem Buch blättert.

»Ich glaube, das ist meins«, sagt er nach einer Weile. Das Mädchen schreckt hoch, lässt das Notizbuch beinahe fallen, kann es aber noch auffangen, verliert dabei allerdings ihren Handschuh. Er bückt sich, um ihn aufzuheben, und als er sich aufrichtet und ihn ihr reicht, scheint sie von seinem Lächeln überrascht.

»Entschuldigung«, sagt sie, nimmt den Handschuh und gibt ihm schnell das Tagebuch. »Sie haben es im Park verloren, und ich wollte es zurückgeben, aber dann waren Sie plötzlich weg, und ich … Tut mir leid.« Sie schweigt nervös.

»Ist schon gut«, sagt er, erleichtert, das Notizbuch wiederzuhaben. »Ich hatte schon Angst, dass es ganz weg ist, was wirklich dumm gewesen wäre. Ich schulde Ihnen meinen tiefsten Dank, Miss …?«

»Martin«, sagt sie schnell, und es klingt wie gelogen. »Isobel Martin.« Sie blickt ihn fragend an und wartet, dass auch er seinen Namen nennt.

»Marco«, sagt er. »Marco Alisdair.« Der Name fühlt sich fremd für ihn an, denn er kommt selten in die Verlegenheit, ihn laut auszusprechen. Er hat diese Namensvariante zusammen mit einem Decknamen seines Lehrmeisters so oft geschrieben, dass er ihn als seinen eigenen empfindet, aber das Geschriebene auszusprechen ist etwas völlig anderes.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Isobel ihn annimmt, verleiht ihm zusätzliche Glaubwürdigkeit.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Alisdair.«

Er sollte ihr danken, sein Buch nehmen und gehen, das wäre das Vernünftigste. Doch es reizt ihn nicht sonderlich, in seine leere Wohnung zurückzukehren.

»Darf ich Sie zum Zeichen meines Danks zu einem Getränk einladen, Miss Martin?«, fragt er und lässt das Buch in seiner Tasche verschwinden.

Isobel zögert, denn sie weiß, dass man sich an dunklen Straßenecken besser nicht von Fremden zum Trinken einladen lässt, aber zu seiner Überraschung nickt sie.

»O danke, wie nett.«

»Sehr gut«, sagt Marco. »Aber es gibt bessere Cafés als dieses hier«, sagt er und deutet auf das Fenster hinter ihnen, »und gar nicht weit weg, falls Ihnen ein Spaziergang im Regen nichts ausmacht. Ich habe leider keinen Schirm dabei.«

»Das stört mich nicht«, sagt Isobel. Marco bietet ihr seinen Arm, und sie hakt sich unter, dann gehen sie durch den Niesel die Straße entlang.

Nach einem oder zwei Blocks biegen sie in eine schmale, dunkle Gasse, und Marco spürt ihre Anspannung, die jedoch schnell von ihr abfällt, als er vor einem hell erleuchteten Eingang neben einem Bleiglasfenster stehen bleibt. Er öffnet ihr die Tür, und sie betreten das winzige Café, das ihm im Laufe der letzten Monate schnell ans Herz gewachsen ist und wo er sich wohlfühlt wie fast nirgends sonst in London.

Überall stehen Glashalter mit brennenden Kerzen, die Wände sind in einem frischen kräftigen Rot gestrichen. In dem gemütlichen Raum sitzen nur ein paar vereinzelte Gäste. Sie entscheiden sich für einen kleinen Tisch am Fenster. Marco winkt der Frau hinter dem Tresen, die ihnen zwei Gläser Bordeaux bringt und die Flasche auf dem Tisch neben einer kleinen Vase mit einer gelben Rose stehen lässt.

Während der Regen leise gegen das Fenster klopft, unterhalten sie sich höflich über unbedeutende Dinge. Marco gibt kaum etwas von sich preis, und Isobel verhält sich nicht anders.

Als er fragt, ob sie etwas essen möchte, lässt ihre höflich ausweichende Antwort durchscheinen, dass sie furchtbar hungrig ist. Er wendet sich wieder an die Frau hinter dem Tresen, die ihnen wenig später eine Platte mit Käse, Obst und geschnittenem Baguette bringt.

»Wie haben Sie so einen Ort nur gefunden?«, fragt Isobel.

»Durch Ausprobieren«, entgegnet er. »Und einige Gläser schrecklichen Weins.«

Isobel lacht.

»Sie Ärmster. Aber wenigstens hat sich die Suche gelohnt. Dieses Café ist herrlich. Wie eine Oase.«

»Eine Oase mit sehr gutem Wein«, bestätigt Marco und prostet ihr zu.

»Erinnert mich an Frankreich.«

»Kommen Sie aus Frankreich?«, fragt er.

»Nein«, sagt Isobel. »Aber ich habe eine Zeit lang dort gelebt.«

»Ich auch. Aber das ist schon einige Zeit her. Und Sie haben recht, dieses Café ist sehr französisch, ich glaube, das macht auch seinen Zauber aus. Viele Lokale in London sind nicht gerade zauberhaft.«

»Sie sind zauberhaft«, sagt Isobel und errötet augenblicklich. Man sieht ihr an, dass sie die Worte am liebsten sofort wieder zurückgenommen hätte.

»Danke«, erwidert Marco, unsicher, was er sonst sagen soll.

»Pardon«, sagt Isobel, sichtlich nervös. »Ich wollte nicht …« Sie verstummt einen Moment lang, aber gelöst durch die anderthalb Gläser Wein spricht sie weiter. »In Ihrem Buch sind Zaubersprüche«, sagt sie und blickt ihn erwartungsvoll an, aber er sagt nichts, und sie wendet sich ab. »Zaubersprüche«, fährt sie fort, um das Schweigen zu füllen, »Zeichen, Symbole … Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber man kann damit zaubern, oder?«

Sie nippt hastig an ihrem Wein, bevor sie es wagt, ihn wieder anzusehen.

Marco wählt seine Worte mit Bedacht, besorgt über die Richtung, in die sich die Unterhaltung entwickelt.

»Und was weiß eine junge Dame, die einmal in Frankreich war, über Zaubersprüche und -zeichen?«, fragt er.

»Nur das, was ich darüber gelesen habe«, sagt sie. »Ich erinnere mich nicht, was sie bedeuten, ich kenne nur die astrologischen Symbole und ein paar aus der Alchemie, aber auch die kenne ich nicht wirklich gut.« Sie hält inne, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie weitersprechen soll, fügt dann aber hinzu: »La Roue de Fortune, das Glücksrad. Die Karte in Ihrem Buch, die kenne ich. Ich habe auch Tarotkarten.«

Während Marco sie bisher nur halbwegs faszinierend und einigermaßen hübsch fand, ändert sich das mit dieser Enthüllung. Er beugt sich über den Tisch und betrachtet sie mit erheblich größerem Interesse als noch kurze Zeit zuvor.

»Heißt das, Sie können die Karten legen, Miss Martin?«

Isobel nickt.

»Ja, zumindest versuche ich es«, stammelt sie. »Aber nur für mich, richtiges Tarot ist das wohl nicht. Ich … ich habe vor ein paar Jahren damit angefangen.«

»Haben Sie Ihre Karten dabei?«, fragt Marco. Isobel nickt wieder.

»Ich würde sie sehr gerne sehen, wenn Sie nichts dagegen haben«, fügt er hinzu, als sie keine Anstalten macht, die Karten aus ihrer Tasche zu holen. Isobel schaut sich vorsichtig nach den anderen Gästen um. Marco winkt ab. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Leute«, sagt er, »bevor die sich fürchten, braucht es mehr als ein paar Karten. Aber wenn Sie nicht wollen, kann ich das verstehen.«

»Nein, nein, schon gut«, sagt Isobel, greift zu ihrer Tasche und holt vorsichtig ihre Karten heraus, die in ein Stück schwarze Seide gewickelt sind. Sie packt die Karten aus und legt sie auf die Tischplatte.

»Darf ich?«, fragt Marco und streckt zaghaft die Hand aus.

»Selbstverständlich«, antwortet sie erstaunt.

»Manche Tarotspieler wollen nicht, dass man ihre Karten anfasst«, erklärt Marco in Erinnerung an seine Wahrsagestunden, als er die Karten aufnimmt. »Und ich möchte nicht anmaßend sein.« Er deckt die oberste Karte auf, Le Bateleur. Der Magier. Marco muss beim Anblick der Karte unwillkürlich lächeln und steckt sie schnell zurück in den Stapel.

»Können Sie Karten legen?«, fragt ihn Isobel.

»Nein, nein«, antwortet er. »Ich kenne die Karten, aber ich kann sie nicht deuten.« Er schaut von den Karten auf zu Isobel, immer noch unschlüssig, was er von ihr halten soll. »Aber Sie können sie deuten, oder?«

»Wenn Sie das sagen.«

Sie sitzt ruhig da und beobachtet, wie er die Karten durchsieht. Er behandelt sie mit der gleichen Sorgfalt, mit der sie sein Tagebuch angefasst hat, und hält die Karten vorsichtig am Rand. Nachdem er sie alle angesehen hat, legt er sie zurück auf den Tisch.

»Die sind sehr alt«, sagt er. »Viel älter als Sie, würde ich sagen. Darf ich fragen, wie sie in Ihren Besitz gekommen sind?«

»Ich habe sie vor Jahren in einem Pariser Antiquariat in einer Schmuckkassette gefunden«, erklärt Isobel. »Die Frau wollte sie mir nicht mal verkaufen, sie sagte, ich soll sie bloß mitnehmen und aus ihrem Laden schaffen. Teufelskarten hat sie sie genannt. Cartes du Diable.«

»Die Leute sind einfältig«, sagt Marco, ein Satz, den er von seinem Lehrmeister oft zur Ermahnung und Warnung gehört hatte. »Statt etwas verstehen zu wollen, tun sie es lieber als böse ab. Bedauerlich, aber wahr.«

»Was ist das eigentlich für ein Notizbuch?«, fragt Isobel. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, ich fand es nur interessant. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich darin geblättert habe.«

»Ich durfte ja auch Ihre Tarotkarten ansehen, wir sind also quitt«, sagt er. »Aber ich fürchte, die Sache ist ziemlich kompliziert und nicht leicht zu erklären oder zu glauben.«

»Mich wundert gar nichts mehr«, sagt Isobel. Marco schweigt darauf, betrachtet sie jedoch so konzentriert wie zuvor ihre Karten. Isobel hält seinem Blick stand.

Ein verlockender Gedanke. Jemanden zu finden, der zumindest ansatzweise die Welt versteht, in der er fast sein ganzes Leben verbracht hat. Er weiß, er sollte es dabei belassen, aber er kann es nicht.

»Ich könnte es Ihnen zeigen, wenn Sie wollen«, sagt er nach einer Weile.

»O ja, gern«, sagt Isobel.

Sie trinken den Wein aus, und Marco zahlt die Rechnung bei der Frau hinter dem Tresen. Er setzt seinen Bowlerhut auf und nimmt Isobels Arm, als sie aus dem warmen Café hinaus in den Regen gehen.

Einen halben Block weiter bleibt Marco vor dem Tor einer großen Hofeinfahrt plötzlich stehen. Leicht zurückgesetzt vom Gehweg bilden die grauen Mauern eine gepflasterte Nische.

»Die Stelle hier ist gut«, sagt er und führt Isobel vom Gehweg durch das Tor. Er stellt sie mit dem Rücken an die nasse kalte Wand und bleibt direkt vor ihr stehen, so nah, dass sie jeden Regentropfen an seiner Hutkrempe erkennen kann.

»Gut wozu?«, fragt sie beunruhigt. Um sie herum regnet es immer noch, und sie haben nichts zum Unterstellen. Marco hebt beschwichtigend die Hand und konzentriert sich auf den Regen und die Wand hinter ihr.

Er hatte noch keine Gelegenheit, dieses Kunststück auszuprobieren, und ist sich nicht sicher, ob es gelingt.

»Vertrauen Sie mir, Miss Martin?«, fragt er und mustert sie genauso konzentriert wie vorhin im Café, allerdings sind seine Augen jetzt nur wenige Zentimeter von ihren entfernt.

»Ja«, sagt sie ohne Zögern.

»Gut.« Marco legt seine Hand fest über Isobels Augen.

Isobel ist vor Schreck wie versteinert. Um sie herum ist es stockfinster, sie sieht nichts mehr und spürt nur das nasse Leder auf ihrer Haut. Sie zittert, ob vor Kälte oder vom Regen, weiß sie nicht. Eine Stimme flüstert ihr Worte ins Ohr, die sie nicht kennt. Und dann hört sie den Regen nicht mehr, und die Wand in ihrem Rücken, die eben noch glatt war, fühlt sich plötzlich rau an. Die Dunkelheit wird etwas heller, und Marco senkt seine Hand.

Isobel, deren Augen sich blinzelnd an das Licht gewöhnen, sieht Marco wieder vor sich, aber etwas ist anders. An seiner Hutkrempe hängen keine Tropfen. Nirgendwo sind mehr Tropfen zu sehen; stattdessen taucht die Sonne ihn in weiches Licht. Aber das ist es nicht, was Isobel den Atem verschlägt.

Was ihr den Atem verschlägt, ist die Tatsache, dass sie in einem Wald stehen und sie mit dem Rücken am Stamm eines riesigen alten Baumes lehnt.

Die Bäume sind kahl und schwarz, ihre Äste ragen weit in den tiefblauen grenzenlosen Himmel. Auf dem Boden liegt eine dünne Schneeschicht, die im Sonnenlicht glitzert und funkelt. Es ist ein herrlicher Wintertag, weit und breit ist kein Gebäude zu sehen, überall nur Schnee und Wald. Auf einem Baum in ihrer Nähe ruft ein Vogel, und in der Ferne antwortet ein zweiter.

Isobel ist verblüfft. Alles ist echt. Sie spürt die Sonne auf ihrer Haut und die Baumrinde unter ihren Fingern. Die Kälte des Schnees ist spürbar, und sie stellt fest, dass ihr Kleid nicht mehr nass ist vom Regen. Sogar die Luft, die sie einatmet, ist eindeutig frische Landluft, ohne jede Spur vom Londoner Smog. Es kann nicht sein, aber es ist echt.

»Das ist unmöglich«, sagt sie zu Marco. Er lächelt, und seine hellgrünen Augen funkeln in der Wintersonne.

»Nichts ist unmöglich«, sagt er, und Isobel lacht – ein helles, glückliches Kinderlachen.