Der Nahost-Konflikt - Marcel Pott - E-Book

Der Nahost-Konflikt E-Book

Marcel Pott

0,0
8,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die aktualisierte und erweiterte Taschenbuch-Ausgabe des kontroversen Sachbuch-Bestsellers Wie ist die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die Israel und Palästina zu verschlingen droht, zu stoppen? Ist die einseitige Parteinahme der USA für Israel nicht falsch und gefährlich? Wo liegen die Ursprünge für die Sonderrolle Israels, die es dem Staat erlaubt, sich über alle internationalen Vereinbarungen hinwegzusetzen? Und was haben die Deutschen, was haben die Europäer mit dem Nahost-Konflikt zu tun? Der langjährige Nahost-Korrespondent Marcel Pott geht diesen drängenden Fragen in seinem Buch über die Tragödie im Nahen Osten auf den Grund.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 323

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



» Buch lesen

» Über das Buch

» Über den Autor

» Impressum

Für Simmi und Laura

Inhalt

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

EINLEITUNG

Reise durch ein heimgesuchtes Land

Was hat der Westen, was haben die Deutschen mit dem Palästina-Konflikt zu tun?

Provokante Besatzungspolitik

Die Sonderrolle Israels

Amerikanische Strategien

1 ISRAEL – EIN EUROPÄISCHES BABY IM ARM DER USA

Land ohne Volk?

Die Unruhen von 1929

Die Rebellion von 1936

»Ohne Auschwitz kein jüdischer Staat«

Die Teilung Palästinas

Eine Heimstätte für das jüdische Volk

Der tote Winkel

Die doppelte deutsche Verantwortung

Zeit, Farbe zu bekennen

Das Ende eines »Tabus«

2 DIE STRATEGISCHE ALLIANZ ZWISCHEN AMERIKA UND ISRAEL

Demokratie als Vorwand

Die amerikanische Nahostpolitik im Zugriff der christlich-jüdischen Lobby

Die amerikanischen Juden und ihr Verhältnis zu Israel

Krieg gegen den Terror

Jimmy Carters Rat an Bush

Strategische Partnerschaft

3 ISRAEL UND PALÄSTINA

Frieden, aber wie?

Wie Israelis den Konflikt sehen

Das Samson-Syndrom

Die Instrumentalisierung des Holocaust

Wie denkt die israelische Rechte?

Der Schutzherr der Siedler

Sharons Ziele

Zwischen Vernunft und Befürchtungen

Einzige Demokratie und Besatzungsmacht

Patriotismus und Intoleranz

»Der siebte Tag des Krieges«

Was geschah in Jenin?

4 WER HAT DEN FRIEDENSPROZESS ZERSTÖRT?

Stimmen des Hasses

Das System Arafat

Enttäuschte Hoffnungen

Die Aufsteiger aus Tunis

Die Legende von Camp David

Yassir Arafat und die Intifada

Arafats Schuld

Das Ende einer Ära?

5 WELCHES LAND FÜR WELCHEN FRIEDEN?

Abkehr von der Sonderrolle

Nur Amerika kann Frieden bringen

Ausgewählte Literatur

Anmerkungen

Personenregister

VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE

George W. Bush hat Saddam Hussein gestürzt und dessen Schreckensregime beseitigt.

Aber der Nahe Osten ist durch den amerikanischen Krieg im Irak nicht sicherer geworden.

Der Palästina-Konflikt ist nach dem Sturz Saddams genauso weit von einer Lösung entfernt wie vor dem Krieg. Alle Friedenspläne sind gescheitert oder verstauben in den Kanzleischubladen zwischen Jerusalem, Washington und Brüssel. Obwohl die Bush-Regierung bekräftigt hatte, in der Nachkriegsphase werde sie sehr schnell dazu fähig sein, Frieden zwischen Israel und den Arabern zu stiften, hat sich nichts getan. Es ist bei amerikanischen Lippenbekenntnissen geblieben. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass die Lage im Irak nicht stabil ist und die Amerikaner dort alle Hände voll zu tun haben.

Die US-Streitkräfte und ihre europäischen Helfer halten zwar das Land zwischen Euphrat und Tigris besetzt, doch sie haben es bisher nicht befrieden können. Schiiten, Sunniten und Kurden sind trotz der nach langem Tauziehen vereinbarten vorläufigen Verfassung uneins über die künftige politische Ordnung im Irak, während versprengte Handlanger des gestürzten Regimes und eingesickerte islamistische Fanatiker ihr blutiges Terrorwerk verrichten.

Von den wahren Motiven für den amerikanischen Feldzug, dem vorgeschobenen Kriegsgrund – Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen – und der mangelnden Legitimität von Bushs Handeln wird in diesem Buch noch die Rede sein.

Der positive Domino-Effekt, den neokonservative Vordenker in den USA für den Fall einer gewaltsam herbeigeführten Befreiung des irakischen Volkes vorausgesagt hatten, ist ausgeblieben. Denn der Fall Saddams hat die anderen Autokraten und Diktatoren in der Region zwar irritiert, aber beileibe nicht bekehrt und auf den Pfad demokratischer Tugend geführt, geschweige denn ihre Untertanen in revolutionäre Umsturzlaune versetzt.

Soll in der Region eine emanzipative politische Kultur entstehen, die ihre Wurzeln in der Moderne hat, so bedarf es tief greifender sozio-kultureller und ökonomischer Umwälzungen im Herzen der arabisch-islamischen Gesellschaften. Derart komplexe Veränderungen lassen sich allein durch ultra-konservatives Wunschdenken in Washington nicht herbeiführen. Gewiß, Syrien und die Mullahs im Iran sind vorsichtiger geworden, um dem Bush-Team keinen populistisch verwertbaren Vorwand für eine Strafaktion zu geben. Doch im Grunde wissen diese Schurkenstaaten, dass Bush sich einen zweiten Feldzug im Nahen Osten auf eigene Faust vorerst nicht mehr leisten kann. Es sei denn, er könnte der amerikanischen Bevölkerung tatsächlich handfeste Beweise darüber liefern, dass eines dieser Regimes über Massenvernichtungswaffen verfügte.

Und Oberst Ghaddafis Abrüstungs-Schalmeien? Ist der unberechenbare libysche Wüstenfürst nicht in London und Washington zu Kreuze gekrochen, weil er sich Saddams Schicksal ersparen wollte? Das wäre zu kurz gedacht. Ghaddafi hatte – lange bevor George W. Bush seine neue Herrschaftsdoktrin an Saddam ausprobierte – damit begonnen, sein Verhältnis zu Amerika und Europa zu bereinigen, weil er durch die ihm auferlegten Wirtschaftssanktionen ökonomisch enorm unter Druck geraten war und sich zu Hause wachsenden innenpolitischen Problemen ausgesetzt sah. Der scheinbar überraschende Verzicht Ghaddafis auf ein eigenes Atomwaffenprogramm dient vor allem dem eigenen Machterhalt, der auch auf der Modernisierung der veralteten Ölförderanlagen beruht. Das erreicht er nur, wenn das Embargo aufgehoben wird.

Doch unabhängig davon steht fest, dass im Nahen Osten so lange keine Stabilität einkehrt, wie die Palästina-Frage nicht gelöst ist. Dennoch leiden die Palästinenser weiter unter dem brutalen Besatzungsregime der israelischen Armee, und die Terrorakte der palästinensischen Extremisten verbreiten unverändert Angst und Schrecken in der israelischen Zivilbevölkerung. Während sich die palästinensische Selbstverwaltung nur mühsam am Leben hält, herrscht dort, wo sie eigentlich regieren sollte, mehr und mehr ein Zustand der Anarchie. Yassir Arafat, den weder die USA noch Israel als Gesprächspartner akzeptieren wollen, ist nichtsdestotrotz immer noch die bestimmende Kraft im Westjordanland. Zwar besitzt er – selbst wenn er es wollte – nicht mehr die Macht, gegen die palästinensischen Terror-Gruppen vorzugehen, weil die Sharon-Regierung seinen Sicherheitsapparat weitgehend zerstört hat. Doch Arafat kann die politischen Reformer in der palästinensischen Gesellschaft, die seine auf Korruption beruhende autokratische Herrschaft beschneiden und ein Ende der Gewalttätigkeiten erreichen wollen, blockieren. Es ist ein Leichtes für ihn, sie als vaterlandslose Gesellen hinzustellen, die angeblich bereit seien, die Interessen der Palästinenser zu verraten, indem sie Zugeständnisse machen, ohne entsprechende Gegenleistungen von Israel erwarten zu können. Denn der israelische Premierminister Ariel Sharon baut unverdrossen weiter Siedlungen auf arabischem Boden: in der Westbank, dort, wo auch nach dem Willen Amerikas der Staat Palästina entstehen soll. Sharon tut dies völlig ungehindert und ungestraft und verschärft dadurch das Kernproblem, das bisher jede Friedensinitiative untergraben hat. Die Rede ist vom israelischen Landraub, dem die Palästinenser mit ohnmächtiger Wut zusehen müssen.

Aber hatte nicht Jack Straw, der britische Außenminister, öffentlich eingeräumt, den Palästinensern sei historisches Unrecht geschehen, und er müsse persönlich eingestehen, dies im Blick auf den Nahost-Konflikt nicht immer ins Zentrum seines Denkens gestellt zu haben?

Wenn Saddam unschädlich gemacht sei, müsse der Westen deshalb mit aller Kraft darangehen, die Palästina-Frage zu lösen. Das bedeute nicht nur eine Befriedigung legitimer israelischer Sicherheitsinteressen, sondern vor allem die Umsetzung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts durch die Gründung eines eigenen Staates. Auch dieser Rhetorik folgten keine Taten, nur Fototermine.

Was aber muss getan werden, um aus der nahöstlichen Sackgasse zu entkommen?

Der scheinbar unauflösliche Zusammenhang zwischen brutaler Besatzung, willkürlichem Landraub und blutigem Terror muss aufgelöst werden. Wer kann das tun?

Natürlich wird das niemals gelingen, wenn die Konfliktparteien nicht dabei mitwirken. Aber allein auf sich gestellt und nur aus eigener Kraft werden sie es nicht schaffen. Das hat die Vergangenheit zur Genüge bewiesen. Ohne Amerikas festen Willen, eine klare Position in der Landfrage einzunehmen, wird es keinerlei Fortschritt geben. Solange die israelische Regierung freie Hand behält, in neokolonialistischer Manier arabisches Land zu rauben, gibt es keine Hoffnung. Einen Weg aus der Krise können nur die USA weisen. Nur Amerika hat die Macht und die Kraft, den nötigen Druck auf die Konfliktparteien auszuüben. Die Europäer können ihren Teil zur Lösung beitragen. Aber die Last der Verantwortung trägt Amerika. Das gilt umso mehr, als Präsident Bush den Irak-Krieg unter dem Motto geführt hat, er wolle die Welt nicht nur sicherer, sondern auch besser machen.

Marcel Pott, im März 2004

EINLEITUNG

Reise durch ein heimgesuchtes Land

Die Fahrt von Amman hinunter ins Jordantal verläuft ohne Hindernisse. Es gibt kaum Verkehr auf der Straße an diesem grauen Apriltag. Das Morgenlicht ist diesig und lässt das Frühlingsgrün der Gräser erblassen. Hier und da schimmert es blau und gelb in der kargen Landschaft. Die Sonne bleibt hinter der Wolkendecke verborgen, und in den Olivenhainen an den vorbeiziehenden Hängen verteilen sich die Bäume wie schwarze Tupfer. Wir sind auf dem Weg zur Allenby Bridge, dem Kontrollpunkt zwischen Jordanien und dem israelisch besetzten Westjordanland. Schwarzweiß gefleckte Milchkühe überqueren in aller Ruhe die Fahrbahn und sammeln sich am Rande einer Bananenplantage. Ein paar Dattelpalmen recken sich gegen den abweisenden Himmel. Eine Gruppe dunkelhäutiger Ghoranis, der alteingesessenen Bewohner des Jordantals, wartet am staubbedeckten Straßenrand auf Arbeit.

Nichts deutet darauf hin, dass nur wenige Kilometer weiter, auf der anderen Seite des Jordan, Ausnahmezustand und Krieg herrschen. Die jordanischen Grenzbeamten zeigen kein besonderes Interesse an uns. Innerhalb kurzer Zeit werden wir abgefertigt. Eine halbe Stunde später besteigen wir einen Bus, der uns zusammen mit sechs indonesischen Pilgern durch das Niemandsland in den israelischen Herrschaftsbereich bringt. Wir überqueren den Jordan, einen unscheinbaren kleinen Fluss, der braun und träge dahinfließt. Das Tote Meer ist nicht mehr weit, und die drückende Schwüle erinnert uns daran, dass wir uns 373 Meter unter dem Meeresspiegel befinden. Kurz hinter der neuen, unförmig wirkenden Betonbrücke hält der Bus. Ein israelischer Soldat sammelt die Pässe der Passagiere ein. Wir müssen aussteigen. Der Bus und das Gepäck werden durchsucht. Dann geht es weiter. Die Passabfertigung am israelischen Checkpoint wird fast ausschließlich von jungen Frauen erledigt. Vor uns schiebt ein grau melierter älterer Herr in Anzug und Krawatte seinen amerikanischen Pass durch die Öffnung unter dem Sichtglas. »Marwan Jad?«, fragt die junge israelische Beamtin. »Sie sind in Bethlehem geboren«, stellt sie sachlich fest, »was ist der Grund Ihres Besuches in Israel?« – »Ich will meine 90-jährige Mutter besuchen«, lautet die Antwort des palästinensischen Amerikaners. Die israelische Grenzbeamtin steht auf, nimmt den Pass und geht in ein Büro am Rande der Halle, um den Fall ihren Vorgesetzten zu schildern. Wir kommen ins Gespräch. Marwan erzählt mir, dass er seit 35 Jahren in Florida lebt. Er ist 66 und Pensionär. Deshalb hat er Zeit und macht einmal im Jahr die weite Reise von Amerika nach Palästina. »Wegen meiner alten Mutter nehme ich den Weg auf mich, aber auch, um die palästinensische Heimat wiederzusehen«, sagt er.

Zehn Minuten später passiert Marwan die Passkontrolle, und mein Freund Bill Lyons ist an der Reihe. Bill ist Fotograf und amerikanischer Staatsbürger. Er ist mit einer Palästinenserin verheiratet und lebt seit Jahrzehnten in der jordanischen Hauptstadt. Warum er in Amman lebe, will die junge Grenzbeamtin wissen. »Weil ich mit einer Palästinenserin verheiratet bin«, antwortet er. »Was wollen Sie in Israel?«, lautet die nächste Frage. »Ich fahre nicht nach Israel, sondern nach Ost-Jerusalem.« – »Jerusalem ist die Hauptstadt Israels«, entgegnet die Beamtin forsch. »Aber nicht die ganze Stadt«, insistiert Bill und betont damit, dass die israelische Annektion Ost-Jerusalems international nicht anerkannt ist. Wiederum verschwindet die junge Frau mit dem Pass.

Nach einer Viertelstunde werden wir gebeten, im Wartebereich Platz zu nehmen. Es dauert lange, ehe uns zwei junge Offiziere getrennt voneinander befragen. Die beiden sind sehr höflich. Sie fragen nach unserem Reiseziel. Ich erkläre Ihnen, dass wir uns über die Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten informieren und einen israelischen Historiker in Tel Aviv interviewen wollen. Als ich mich über den barschen Ton der Passbeamtin beschwere, bitten sie um Nachsicht. Sie verweisen auf die angespannte Lage und den seelischen Druck, dem die kaum zwanzigjährigen Frauen ausgesetzt sind. »Sie wollen keinen Fehler machen. Sie würden unverzeihliche Schuld auf sich laden, wenn es einem Attentäter wegen ihrer Nachlässigkeit gelänge, hier durchzuschlüpfen.« Nach diesem Gespräch können wir gehen.

Draußen stehen fünf oder sechs palästinensische Taxifahrer etwas verloren herum. Es gibt in diesen Tagen kaum Reisende, die den Jordan in westlicher Richtung überqueren. Wir nehmen ein Sammeltaxi nach Ost-Jerusalem. Nach 40 Minuten und fünf Straßensperren sind wir am Ziel, dem Pilgrim’s Palace Hotel, einen Steinwurf vom Damaskus-Tor entfernt. Für die gut 80 Kilometer von Amman bis hierher haben wir acht Stunden gebraucht.

Mein erster Gang führt mich in die Altstadt. Schon, als ich die Treppen vor dem Damaskus-Tor hinabsteige, merke ich, was sich im Vergleich zu früher verändert hat. Es sind fast keine Touristen zu sehen. Die Zahl der fliegenden Händler, die ihre Kurzwaren, Schuhe und T-Shirts auf den Stufen ausbreiten, ist viel geringer als zu besseren Zeiten. Die burschikosen palästinensischen Bauersfrauen in ihren rot bestickten schwarzen Trachten, die sonst – trotz ihrer offensichtlichen Armut – so stolz und selbstbewusst wirken, schauen mit müdem Blick auf ihre paar Zucchini, Gurken und Tomaten, die sie auf dem Steinboden zum Kauf anbieten. Es liegt eine gedrückte Atmosphäre über den Mauern der alten Stadt. Die einzigen Touristen, die ich an der Via Dolorosa sehe, gehören zu einer kleinen Gruppe amerikanischer Juden, die von zwei bewaffneten Israelis begleitet werden. Überall stehen oder gehen junge israelische Soldaten mit schussbereiten Schnellfeuergewehren. Sie sind kaum zwanzig Jahre alt und fallen besonders auf, weil nur wenige Palästinenser unterwegs sind. Aber es gibt noch andere bewaffnete Israelis. Männer in Jeans und Sporthemden, über denen sie schusssichere Westen tragen. Sie strahlen etwas Martialisches aus, obwohl sie zivil gekleidet sind. Über den Gesäßtaschen haben sie ihre Pistolen ostentativ in den Gürtel gesteckt. Ihre schmalen, elliptisch geformten Sonnenbrillen wirken wie ein Erkennungszeichen. Manche von ihnen tragen die Sonnenbrille nicht auf der Nase, sondern im Nacken. Ihre Blicke sind weniger musternd als herausfordernd. Auftreten und Aufmachung dieser durchtrainierten Männer hat etwas Aufgesetztes an sich. Schon auf dem breiten, abschüssigen Weg, der kurz hinter dem Damaskus-Tor beginnt und hinunter zu den verwinkelten Gassen des Souks (Bazars) führt, erlebe ich eine viel sagende Szene. Ein vielleicht 16-jähriger Junge bugsiert vorsichtig seinen voll beladenen Obstkarren nach unten. Dabei blickt er nicht auf und ist so konzentriert bei der Sache, dass er die israelischen Soldaten nicht bemerkt, die genau auf ihn zusteuern. Kurz bevor sie den Karren erreichen, brüllt ihr Anführer: »Aus dem Weg mit deinem Gerät oder du kannst was erleben«, und dabei stößt er sein Gewehr mit einer aggressiven Geste in die Luft. Völlig verängstigt, schubst der Junge seinen Obstkarren zur Seite und verliert so die Kontrolle. Der Karren kippt um, und die Bananenstauden rutschen ein gutes Stück den Weg hinunter. Der israelische Soldat, höchstens zwei Jahre älter als der Junge, schaut sich nicht einmal um, als das geschieht.

Am Ende meines Rundgangs werde ich selbst in eine Auseinandersetzung verwickelt, die typisch ist für die Verhältnisse in Ost-Jerusalem. Vier israelische Soldaten umringen einen etwa 40-jährigen Mann in einem blauen Overall, aus dessen Schenkeltasche ein Zollstock hervorragt. Auf dem Kopf trägt der Palästinenser eine gelbe Schirmmütze. Der Mann wirkt eingeschüchtert. Einer der jungen Burschen, er ist höchstens neunzehn Jahre alt, zerrt ihn grob am Ärmel und drückt ihn dann herunter auf einen steinernen Vorsprung. Als ich näher komme, sehe ich die Schweißperlen auf der Stirn des palästinensischen Handwerkers. Plötzlich schlägt der Soldat dem Mann mit einer kurzen Bewegung die Kappe vom Kopf. Der Palästinenser zuckt zusammen. Er wirkt verängstigt und hilflos, in seiner rechten Hand hält er einen Ausweis. Ich trete auf die Gruppe zu und frage den jungen Israeli, was der Mann verbrochen habe. Der Soldat schnauzt mich an, ich solle verschwinden, sonst nehme er mich fest. Ich gehe ein paar Schritte zurück und warte an der nächsten Ecke. Schließlich lassen sie den Palästinenser laufen und schlendern davon. Jetzt erfahre ich, dass es praktisch um nichts ging. Der palästinensische Handwerker hatte einfach seinen Personalausweis nicht schnell genug aus der Tasche gezogen. »Die Demütigung hat Methode«, sagt mir ein amerikanischer Geistlicher, der in der Altstadt lebt. »Sie wollen den Palästinensern das Leben in Ost-Jerusalem vergällen. Aber hinter der Arroganz steckt auch eine Menge Unsicherheit dieser Teenager, die hier als Soldaten auftreten und sich offenbar in ihrer Haut nicht wohl fühlen.« Am nächsten Morgen fahren wir von Jerusalem nach Tel Aviv. Kurz hinter einer Kurve müssen wir stark bremsen. Vor uns kriecht eine endlose Autoschlange durch die hügelige Landschaft. Es dauert fast eine Stunde, ehe wir eine Straßensperre erreichen, die aus riesigen Betonquadern besteht. Die Soldaten kontrollieren jedes ihnen verdächtig erscheinende Fahrzeug. Weniger die großen Lkws, vielmehr die kleineren Lieferwagen und Pick-ups. Mitten auf der Autobahn, im Herzen Israels, suchen sie nach palästinensischen Attentätern, die es auf israelische Bürger abgesehen haben.

In Tel Aviv gehen wir nach meinem Interview mit dem Historiker Moshe Zuckermann in eine russische Kuchenbäckerei. Sie liegt am Rande einer Geschäftspassage, die ausschließlich russische Firmen beherbergt. Die kleinen Tische und Stühle des Cafés sind zur Hälfte besetzt. Als sich ein junger Mann mit dunklem Teint und einer großen Reisetasche den Tischen nähert, gibt der Inhaber laut und deutlich auf Russisch ein Kommando, und sofort steht ein bewaffneter Wachmann neben dem Verdächtigen. Er untersucht den Inhalt der Tasche mit wenigen Handgriffen, dreht sich um und verschwindet wieder, als er nichts Verdächtiges findet. Falscher Alarm. Die Anspannung bei den Gästen im Café lässt nach. Aber die Furcht vor einem Bombenanschlag ist fast körperlich spürbar. Israelis und Palästinenser sind in diesen Zeiten auf dramatische Weise einander ausgeliefert. Keiner scheint dem anderen entrinnen zu können.

Was hat der Westen, was haben die Deutschen mit dem Palästina-Konflikt zu tun?

Die palästinensischen Selbstmordattentate haben unsägliches Leid über die Menschen in Israel gebracht. Seit mehreren Jahren erschüttern Anschläge die israelische Gesellschaft, und die Regierung Sharon schlägt daraufhin immer härter und rücksichtsloser auf die palästinensische Zivilbevölkerung ein. Israelis und Palästinenser versinken in einem »Whirlpool der Gewalt«,1 wie es der palästinensische Philosophieprofessor Sari Nusseibeh nennt. Sharon raubt den Palästinensern mit seiner gnadenlos eingesetzten Militärmaschine den Rest ihrer Würde. Die Bomben der Attentäter wiederum vertiefen das historische Trauma der Wehrlosigkeit der Juden. Beide Völker sind Opfer, aber auch Täter.

Ginge es nicht um das Gelobte Land, sondern um Sri Lanka, der Westen hätte sich längst achselzuckend abgewandt. Doch der Kampf um Palästina hat seinen Ursprung in Europa und ist untrennbar mit der Geschichte der westlichen Politik verbunden. Am Anfang steht die »Erbsünde«2 der Europäer: der Antisemitismus und die gescheiterte Emanzipation und Integration der Juden. Lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten entwickelte sich als Reaktion auf diese »Erbsünde« die Idee der nationaljüdischen Lösung der »Judenfrage«. Quasi als Ersatz für die gescheiterte Emanzipation, wie der israelische Historiker Moshe Zimmermann3 meint. Die europäische Grundhaltung gegenüber Juden brachte die Zionisten – die Verfechter der nationaljüdischen Lösung – dazu, nach Palästina auszuwandern. Sie siedelten sich in dem von Arabern bewohnten Land an und hatten dabei nationalistische, völkische und teilweise auch rassistische Vorstellungen im Gepäck.4 Alles Ideen, deren Wurzeln im europäischen Nationalismus liegen. Allerdings hätten sich die Zionisten nach dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) ohne die Förderung und die Protektion des britischen Empire niemals in so großer Zahl in Palästina ansiedeln können. Denn das geschah gegen den erklärten Willen der dort seit über tausend Jahren lebenden Araber, die den Verlust ihrer Heimat fürchteten.

Die britische Herrschaft über Palästina fußte auf dem Mandat des Völkerbundes. London hatte sich mit den Zionisten noch vor Ende des Ersten Weltkrieges verbündet, um die anderen europäischen Konkurrenten um die »Kolonie Palästina« aus dem Feld zu schlagen – auf Kosten der Palästinenser. Die Engländer wollten sich nach dem Zusammenbruch des Osmani-schen Reiches in Palästina festsetzen, um eine Landverbindung zwischen dem britisch beherrschten Ägypten und dem künftig von London kontrollierten Bagdad herzustellen. Palästina wollten sie sich dadurch sichern, dass sie als »Schutzmacht« die »nationale Heimstätte« der zionistischen Juden garantierten.

Ein weiteres wichtiges Glied in der Ursachenkette für den Nahost-Konflikt ist der Völkermord an den europäischen Juden durch die Nazis. Er bestimmt das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland in konstitutiver Weise. Das hat in den vergangenen Jahrzehnten in der Bundesrepublik den Blick auf den Palästina-Konflikt erheblich beeinflusst. Es war üblich, den Konflikt vorwiegend durch die »israelische Brille« zu betrachten. Das war politisch korrekt bei Christ- wie Sozial-und Freidemokraten und führte zu Äußerungen von Politikern wie dem heutigen Bundespräsidenten Johannes Rau: »Israel ist wie meine zweite Heimat.«

Die veröffentlichte Meinung in Deutschland nahm ganz überwiegend denselben proisraelischen Standpunkt ein wie die politische Klasse. Hinzu kam, dass Israel im Kalten Krieg auf der »richtigen« Seite stand, nämlich der des Westens. Erst mit Beginn des Friedensprozesses von Oslo im September 1993 setzte allmählich eine Veränderung ein, und die PLO und Yassir Arafat wurden auch in Bonn salonfähig. Der Blick richtete sich jetzt zum ersten Mal seit 1948 (erster arabisch-israelischer Krieg) ernsthaft auch auf das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Zuvor waren die Palästinenser vor allem als »Flüchtlingsproblem« aufgefasst worden. Als eine bedauerliche, aber wohl unvermeidliche Folge der rechtmäßigen Staatsgründung Israels auf dem Boden des historischen Palästina. Ein Problem, für dessen Lösung im Grunde die arabischen Staaten sorgen sollten, für die es »ohne weiteres möglich gewesen wäre«, diese »wenigen Millionen Menschen bei sich zu integrieren«, wie Israel argumentierte. Eine Meinung, die auch in Europa und in den USA ein positives Echo fand. Der israelische Standpunkt schien nicht nur plausibel, sondern sogar politisch-moralisch gerechtfertigt, weil es ja letztlich »die arabischen Staaten waren, die für das Los der Palästinenser Verantwortung trugen«. Denn sie hatten die Teilungsresolution 181 des UN-Sicherheitsrates von 1947 und die daraus folgende Staatsgründung Israels nicht anerkannt – stattdessen Israel den Krieg erklärt und die Palästinenser angeblich aufgefordert, ihr Land zu verlassen und nach dem unvermeidlichen Sieg der arabischen Armeen in ihre Heimat zurückzukehren.

Die britische Kolonialpolitik wurde mit der Entstehung des Palästina-Konfliktes bei uns öffentlich nicht ursächlich in Zusammenhang gebracht. Ebenso wenig wie die Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nazis, die den Zustrom europäischer Juden nach Palästina zusätzlich anschwellen ließ. Die Tatsache, dass der Palästina-Konflikt durch die imperialistische Politik des britischen Empire hervorgerufen und die Teilung Palästinas durch die UNO unter dem Eindruck des deutschen Völkermordes an den europäischen Juden erfolgte – das Problem also quasi in Europa von den Europäern geschaffen worden ist –, hat der Westen jahrzehntelang ignoriert und totgeschwiegen.

Begünstigt durch den Kalten Krieg, wurde das »westliche Baby« Israel nicht nur zum Vorposten gegen die »prosowjetischen« Araber, sondern genoss als »David im Kampf gegen Goliath« auch jede Sympathie im Westen – als ein Land, das Europa kulturell eng verbunden war, ganz anders als die arabischen Staaten der Region, die mit revolutionärem Eifer begonnen hatten, sich von den Fesseln der europäischen Kolonialmächte zu befreien. Das Bild von den »guten Israelis« gegen die »bösen Araber« bestimmte fortan das kollektive Be-wusstsein im Westen. Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, den Konflikt in und um Palästina differenzierter, also mit kritischeren Augen zu betrachten. Vor allem die Phase vor Ausbruch des palästinensischen Aufstandes im September 2000 zwingt uns dazu, die Gründe für das Scheitern des »Oslo-Prozesses« genauer zu untersuchen. An dieser Stelle sei zunächst nur so viel gesagt: Wenn ein Friedensprozess zu mehr Hass, Wut, Angst und Enttäuschung führt und Gewalt statt gegenseitige Annäherung hervorbringt, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht. Denn viele jener Palästinenser, die sich heute voller Ingrimm in die Gewalt gegen Israel flüchten, waren usprünglich für den Frieden. Aber die Jahre nach dem Vertrag von Oslo 1993 nährten keine Hoffnung, sondern sie schürten die Verzweiflung. Als der Aufstand begann, ächzten die Palästinenser unter dem Joch der israelischen Besatzung -trotz des Friedensprozesses. Der Alltag im Zangengriff der israelischen Armee, die die arabische Bevölkerung bei jeder Gelegenheit spüren ließ, wer Herr in Palästina ist, machte den Glauben an ein bevorstehendes Ende der Fremdherrschaft zunichte. Denn Israel hatte die jüdischen Siedlungen – das Haupthindernis für einen tragfähigen Frieden- nicht abgebaut oder eingefroren, sondern die Zahl der Siedler seit 1993 von 100 000 auf über 200 000 verdoppelt. Das hat das Vertrauen der Palästinenser in die israelische Friedensbereitschaft zerstört.

Da die EU und die USA die expansive Siedlungspolitik tatenlos hinnahmen, verstärkte sich auf palästinensischer Seite das Gefühl, dem mächtigen Israel hilflos ausgeliefert zu sein.

Provokante Besatzungspolitik

Der Aufstand der Palästinenser geht vor allem auf die tiefe Enttäuschung der Menschen zurück, dass Israel längst einen eigenen Staat auf dem Boden des historischen Palästina hat, den Palästinensern aber dieses Recht im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ost-Jerusalem vorenthält. Stattdessen sehen sich die Palästinenser dem israelischen Versuch gegenüber, die Westbank in vier Kantone aufzustückeln, durchsetzt mit neuen Siedlungen und zusätzlichen Straßensperren. Drei Millionen Palästinenser leben auf einem Bruchteil ihrer ursprünglichen Heimat. Ein weitläufiges Straßennetz, das nur jüdische Siedler und die israelischen Besatzungstruppen benutzen dürfen, durchschneidet die Wohngebiete der einheimischen arabischen Bevölkerung. Die Palästinenser müssen sich mit immer weniger Land zufrieden geben und sind gezwungen, den Israelis Wasser aus dem Boden ihrer Heimat für teures Geld abzukaufen. Die Palästinenser in Ost-Jerusalem waren jahrelang Opfer einer schleichenden »ethnischen Säuberung«. Wer wegen eines Studiums oder eines Jobs für längere Zeit ins Ausland ging, verlor sein Wohnrecht, wenn sein Personalausweis ablief, bevor er nach Hause zurückkehren konnte. Immer wieder walzten Bulldozer der israelischen Armee Häuser palästinensischer Familien nieder. Formale Begründung: fehlende Baugenehmigung. Tatsächlich hatte die israelische Militärverwaltung die entsprechenden Anträge alle abgelehnt, um das Land konfiszieren und per Dekret enteignen zu können. Jüdische Siedler oder das israelische Militär kommen in den Genuss palästinensischen Eigentums, das kurzerhand zur Sicherheitszone erklärt wird. Diese alltägliche Schikane verbittert selbst die Gutwilligsten.

Die Sonderrolle Israels

Die große Mehrheit der Araber und Muslime weltweit fühlt sich vom Westen missachtet und nicht ernst genommen. Das manifestiert sich für sie vor allem im Palästina-Konflikt. Die einseitige Parteinahme zugunsten Israels durch die USA vermittelt ihnen ein gefährliches Ohnmachtsgefühl, das einen Nährboden für Gewalt und Terror bildet. So wurde noch nie eine israelische Regierung zur Verantwortung gezogen, wenn sie auf dem besetztem Land der Palästinenser Siedlungen gebaut und damit die Genfer Konventionen gebrochen hat. Weder von Amerika noch von Europa.

Der amerikanische Präsident George W. Bush geißelt zu Recht die entsetzlichen Selbstmordanschläge von Palästinensern gegen wehrlose israelische Bürger. Er kritisiert zu Recht den palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat, weil dieser für die Eskalation der Gewalt seit September 2000 eine Mitverantwortung trägt. Doch für die Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee an der wehrlosen palästinensischen Zivilbevölkerung im April 2002 hat er – trotz entsprechender Vorwürfe der in New York beheimateten Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch – keine Worte. Den Bruch des humanitären Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts in den palästinensischen Städten Jenin und Nablus übergeht Präsident Bush mit allgemeinen Floskeln. Für ihn ist der israelische Ministerpräsident ein »Mann des Friedens«, obwohl Sharon faktisch die gesamte zivile Infrastruktur der Autonomieverwaltung, einschließlich des Kulturministeriums, hat zerstören lassen. Ganz zu schweigen von den palästinensischen Krankenhäusern, die von marodierenden israelischen Soldaten heimgesucht wurden. Die Kritik des Internationalen Roten Kreuzes am Vorgehen der israelischen Streitkräfte ignoriert George W. Bush.

Vandalismus, Plünderungen und Diebstahl – alles im Namen des Kampfes gegen den Terror?5 Die israelische Armee hat sich während der »Operation Schutzwall« im Frühjahr 2002 teilweise aufgeführt wie eine Söldnertruppe im Dreißigjährigen Krieg.6 Aber all dies bleibt folgenlos, weil sich Amerika schützend vor Ariel Sharon stellt. Die UN-Kommission zur Untersuchung der israelischen Militäraktion im Flüchtlingslager Jenin hat der israelische Premierminister noch nicht einmal ins Land gelassen. Und er hat auch offen gesagt, warum: »Keine Nation der Welt hat das Recht, den Staat Israel oder seine Bürger vor Gericht zu stellen.«7 Damit setzt sich Sharon über den bindenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates hinweg und macht die Vereinten Nationen lächerlich. Das hat die Regierung Bush öffentlich bedauert, mehr nicht. Hier kommt die Sonderrolle Israels ins Spiel, die es ihm erlaubt, sich über alle internationalen Vereinbarungen hinwegzusetzen.

Hätte ein arabischer Führer dasselbe Privileg der grenzenlosen Immunität beansprucht, obwohl er verdächtigt wird, das internationale Recht gebrochen zu haben, er wäre wohl nicht so glimpflich davongekommen. »Israel hat immer Recht«, sagen die Araber. Selbst dann, wenn es in eklatanter Weise die Menschenrechte verletzt und willkürlich palästinensische Wohnhäuser niederwalzt.

Mitten im kalten Winter und in stockfinsterer Nacht vollstreckt die israelische Regierung Kollektivstrafen an 600 Frauen, Männern und Kindern, die ihr Dach über dem Kopf verlieren – ohne Aufschub, sodass sie zitternd und frierend ihr Hab und Gut unter den Trümmern der eigenen Häuser begraben sehen. So geschehen im Gazastreifen im Januar 2002.

Die israelische Regierung meint, sie handele immer in gerechter Selbstverteidigung. Auch, wenn sie »gezielte Liquidierungen« militanter Kämpfer und Politiker durchführt – im Klartext: ermorden lässt. Damit – so behauptet Ariel Sharon -könne man Terrorakte gegen israelische Bürger vorbeugend verhindern. Doch fast immer bewirkten die Morde genau das Gegenteil. Als ein Kommando der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) im Oktober 2001 den israelischen Tourismusminister Rehavam Zeevi in einem Jerusalemer Hotel ermordete, nannte Ariel Sharon das zu Recht einen Terrorakt. Er verschwieg dabei allerdings, dass dieser politische Mord auch ein Racheakt der PFLP war, deren politischer Führer zuvor von der israelischen Armee im Auftrag der Regierung Sharon an seinem Schreibtisch umgebracht worden war. »Terroristen sind immer die anderen«, sagt die israelische Regierung. Das treibt den Arabern die Zornesröte ins Gesicht. Und sie fühlen sich durch die amerikanische Palästina-Politik erniedrigt.

Amerika beschützt Israel um jeden Preis. Auch wenn sich die israelische Regierung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung ins Unrecht setzt, verhindert Washington eine Verurteilung Israels im UNO-Sicherheitsrat. Amerika misst im Nahen Osten mit zweierlei Maß – zu Lasten der Araber. Solange den Palästinensern ein souveräner und lebensfähiger Staat in ihrer Heimat an der Seite Israels verwehrt bleibt, wird dies eine blutende Wunde im arabisch-islamischen Fleisch und der Nährboden für junge, zornige Terroristen sein.

Das müssen die Politiker in den USA und Europa bedenken. Denn die politische Temperatur im Nahen Osten wird in Palästina gemessen. Terror kann man nur erfolgreich bekämpfen, wenn dessen Ursachen beseitigt werden. Der Krieg gegen die Taliban und ihre Al-Qaida-Verbündeten war notwendig, um die Terrornester in Afghanistan auszuheben. Doch mit dem Fall von Mullah Omar und Osama Bin Laden ist das Übel nicht ausgemerzt. Wer denkt, das Problem sei zu lösen, indem charismatische Führerfiguren wie Bin Laden ausgeschaltet würden, irrt sich gewaltig. Andere »islamische Helden« werden nachwachsen, wenn die amerikanische Politik in der Region sich nicht ändert. Das ist nur eine Frage der Zeit. Der Westen insgesamt muss den Mut haben, die eigenen Fehler zu korrigieren.

Amerikanische Strategien

Für die politische Klasse in Washington ist der palästinensisch-israelische Konflikt jedoch nur ein lästiger Nebenschauplatz, wo die Konflikte eingedämmt werden müssen, ohne den Machtanspruch Israels allzu sehr zu beschneiden und ohne die geostrategischen Interessen der USA in der Region insgesamt zu verletzen. Die Existenz des modernen jüdischen Staates Israel auf dem Boden des historischen Palästina besitzt aus amerikanisch-westlicher Sicht eine doppelte Legitimation: die Bibel – Israel, das »biblische Land« der Juden – und den Holocaust, die millionenfache Vernichtung jüdischer Menschen durch die Nazis. Da mittlerweile der Einfluss christlichfundamentalistischer Kreise aus dem »Bibelgürtel« der Vereinigten Staaten auf den rechten Flügel der republikanischen Partei erheblich gewachsen ist, hat das Argument vom »biblischen« Anspruch Israels auf »Judäa und Samaria« (biblische Bezeichnung für die Westbank) auch im Umfeld von Präsident George W. Bush viele Fürsprecher gefunden.

Entscheidend bleibt aber auch für die gegenwärtige US-Regierung die regionale Rolle Israels im geopolitischen Zusammenhang. Israel ist für die USA ein strategischer Brückenkopf, von dem aus der Nahe und Mittlere Osten in Schach gehalten wird, egal wer in West-Jerusalem an der Macht ist. Dabei geht es unter dem Stichwort »free flow of oil« um die Kontrolle der Energiereserven am Persisch-Arabischen Golf, damit die »Sicherung der westlichen Öl-Versorgung« gewährleistet ist. Zum anderen soll sichergestellt sein, dass im Mittleren Osten keine der Regionalmächte zu stark wird und sich der amerikanischen Umklammerung entzieht. Israels Bedeutung für die USA kann im Blick auf den Iran oder auch auf ein eines Tages von Washington abgefallenes Saudi-Arabien gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Israel ist die einzige Nuklearmacht der Region. Experten schätzen die Anzahl seiner atomaren Sprengköpfe auf mindestens 150 bis 200. Die Staaten am Persisch-Arabischen Golf aber haben sich in den letzten zwanzig Jahren in mehreren Kriegen gegenseitig geschwächt (erster Golfkrieg 1980–1988; zweiter Golfkrieg 1991). Zum Vorteil der USA, die inzwischen von Kuwait über Saudi-Arabien bis nach Oman Truppenstützpunkte und hochmoderne Befehlszentren unterhalten. Dabei dienten auch Saddam Hussein und sein Regime als willkommene Rechtfertigung. »Wären die US-Truppen nicht am Golf, würde der Mann in Bagdad seinen Expansionsgelüsten freien Lauf lassen«, so oder ähnlich äußerten sich amerikanische Politiker, um dann nach dem 11. September hinzuzufügen: »Solange Saddam an der Macht ist und Massenvernichtungswaffen in seinen Besitz bringen will, kann der Krieg gegen den internationalen Terrorismus nicht gewonnen werden.«

Vor diesem Hintergrund tritt die »ethisch-moralische« und die »historisch-religiöse« Legitimation für den jüdischen Staat Israel im machtpolitischen Sinne zurück, obwohl sie innenpolitisch in den USA eine eminent wichtige Rolle spielt. Das Muster amerikanischer Realpolitik ist simpel: Die strategische Allianz mit Israel genießt Priorität vor den völkerrechtlich verbrieften Rechten der Palästinenser. Nur wenn die israelische Besatzungsmacht die palästinensische Bevölkerung zu sehr drangsaliert und damit die Massen in der arabischen Welt auf die Barrikaden bringt – was die Machtbasis des pro-amerikanischen Regimes in der Region bedrohen könnte –, verordnet Washington der israelischen Regierung als »Vermittler« etwas mehr Zurückhaltung, ohne allerdings die Verhältnisse grundlegend zu ändern. Diesem Zweck dient auch das Wort von Präsident George W. Bush, dass die USA für die »Vision eines palästinensischen Staates« einträten. Selbst die Partnerschaft mit »arabischen Freunden« wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien unterliegt im allgemeinen der israelischen Priorität. Allerdings ist diese amerikanische Politik nur möglich, weil die arabische Staatenfamilie uneins ist und die arabischen Herrscher unverändert miteinander konkurrieren. An einer Demokratisierung und vor allem einer Emanzipation der arabischen Gesellschaften oder einer »Reformation« des orthodoxen Islam haben die USA kein Interesse. Das könnte ihren Einfluss schmälern. So bleibt es dabei: Der reiche, aber relativ bevölkerungsarme Süden (Golf-Region) steht dem armen, aber bevölkerungsreichen Norden gegenüber. Und genau das wollen die Islamisten ändern, auf Kosten des amerikanischen Einflusses. Die Palästina-Frage dient ihnen dabei als Vehikel ebenso wie die desolaten sozialen Verhältnisse in faktisch allen arabischen Ländern.

So sehr die Legitimation für den Staat Israel wegen des Holocaust und der »biblischen Wurzeln« für Amerika und Europa außer Frage steht, so deutlich verweisen die Araber darauf, dass diese Sichtweise des Westens rein selbstbezogen ist. Der Völkermord an den europäischen Juden ist ein Verbrechen, mit dem die Araber weder tatsächlich noch moralisch etwas zu tun haben. Auch die jahrhundertelange kollektive Verfolgung der Juden durch die europäischen »Christen« im Mittelalter und in der Neuzeit steht mit der historischen Existenz arabisch-islamischer und auch arabisch-christlicher Volkskultur in Palästina in keinerlei Zusammenhang. Die 1947 – mit Zustimmung der Sowjetunion – getroffene Entscheidung des Westens, das seit über tausend Jahren von Arabern bewohnte Palästina in einen jüdischen Staat und in einen arabischen Staat zu teilen (UNO-Resolution 181), ist von den Betroffenen als Angriff auf die arabisch-islamische Integrität und die arabische Identität durch das christliche Abendland empfunden worden. Ein Angriff, der für die Araber mit besonderer Willkür verbunden ist, weil Europa und Amerika mit diesem Teilungsbeschluss offensichtlich eine »christliche« Schuld an den Juden kompensieren wollten – auf Kosten der Araber.

Ohne Zweifel, Israel muss seine Bürger vor dem palästinensischen Terror schützen. Wenn jedoch israelische Offiziere im besetzten Westjordanland palästinensische Bürger hilflos in ihrem Blut liegen lassen und ihnen die medizinische Versorgung versagen – dann kann das nicht mit dem »Kampf gegen die Infrastruktur des Terrors« gerechtfertigt werden. Wenn israelische Soldaten palästinensische Bürger, manchmal sogar Kinder, als menschliche Schutzschilde missbrauchen, dann ist es angebracht, die Dinge beim Namen zu nennen.8 Auch in Deutschland.

Aus der deutschen Schuld an der Vernichtung der Juden in Europa folgt eine ethisch-moralische Pflicht, den Rassismus zu bekämpfen und dem Völkerrecht und den Menschenrechten möglichst weit gehend Geltung zu verschaffen. Doch diese humanistische Pflicht verlangt von uns Deutschen eine aufrichtige Solidarität mit dem jüdischen Volk in Israel – keine bigotte Leisetreterei. Aufrichtig heißt kritisch, wenn es nötig ist. Nötig ist ein offenes Wort dann, wenn die Gefahr besteht, dass im Konflikt um Palästina aus ehemaligen Opfern Täter werden.

Wenn israelische Streitkräfte in der Westbank teilweise so vorgehen wie Milosevics Truppen im Kosovo,9 dann dürfen wir nicht schweigen. Wir schulden den Opfern des Holocaust tätige Reue durch glaubwürdiges Tun. Glaubwürdig sind wir nur dann, wenn wir Unrecht beim Namen nennen. Das gilt nicht nur für arabische Terroristen, sondern auch für die israelische Besatzungsmacht. Nur so können wir der Verantwortung im Gedenken an die Opfer des Holocaust gerecht werden. Keine israelische Regierung steht über dem Recht. Ebenso wenig wie die jungen Palästinenser, die ahnungslose junge Israelis mit sich in den Tod reißen. Solche Verbrechen sind, wie auch die Untaten der israelischen Besatzungsmacht an der palästinensischen Zivilbevölkerung, nicht zu rechtfertigen. Wir Deutschen tragen historisch im Blick auf Israel und Palästina eine doppelte Verantwortung: Das Schicksal der Juden hat das Schicksal der Araber bestimmt.

1 ISRAEL – EIN EUROPÄISCHES BABY IM ARM DER USA

Wir schreiben das Jahr 1948. Mimi und Raymond Deeb fahren im Frühling von Rom nach Florenz und von dort nach Lucca und Siena. Sie genießen ihre Hochzeitsreise, obwohl beide ständig die bange Frage quält, ob es in ihrer Heimat Palästina bald Krieg gibt. Drei Wochen lang ist das junge Paar unterwegs, und immer steigen Mimi und Raymond in den besten Hotels ab. Mimi stammt aus Haifa, und ihr Vater ist italienischer Honorar-Konsul. Sie ist das jüngste von drei Mädchen, die alle mehrsprachig aufgewachsen sind. Italienisch und Französisch beherrschen sie wie ihre arabische Muttersprache, aber auch Englisch sprechen die Schwestern fließend. Ihre Erziehung gleicht der höherer Töchter in Europa. Raymond kommt aus einer alteingesessenen Familie in Jerusalem. Er hat in London Betriebswirtschaft studiert. Sein Vater Edward hat ihm außerdem ermöglicht, kaufmännische Erfahrungen zu sammeln, damit er in der Lage ist, eines Tages den elterlichen Betrieb zu führen. Es handelt sich um eine Handelsfirma mit internationalen Verbindungen, nicht nur nach Kairo, Beirut und Damaskus, sondern auch nach London und Paris.

Das junge christliche Paar aus Palästina ist weder besonders religiös noch politisch sehr interessiert, obwohl beide in den 30er Jahren aufgewachsen sind, die in Palästina durch den wachsenden Gegensatz zwischen den Juden und den Arabern geprägt waren. Allerdings sind sich die jungen Leute durchaus der Tatsache bewusst, dass sie auch als christliche Araber in Palästina vor einer ungeklärten Zukunft stehen. Als sie in Mailand – kurz vor Ende ihres Aufenthalts in Italien – Möbel für ihr neu einzurichtendes Haus in Jerusalem kaufen und mit dem Schiffsagenten verhandeln, der dafür sorgen soll, dass ihre Sachen wohlbehalten im Hafen von Haifa eintreffen, schieben sie alle düsteren Gedanken beiseite. Doch die Wirklichkeit holt sie wenig später ein. Wenige Tage, nachdem sie ihre Seereise zurück nach Palästina angetreten haben, bricht der erste arabisch-israelische Krieg aus. Es ist der 15. Mai 1948. Mimi und Raymond sollten die Heimat und ihre Elternhäuser in Jerusalem und Haifa niemals wiedersehen. Ihre wertvollen italienischen Kacheln und die sorgfältig ausgewählten Möbel ebenso wenig. Sie sind vermutlich auf den Hafenkais von Haifa zerbombt oder zum Beutegut geworden. Mimi, die heute als Witwe in Amman lebt, spricht nur ungern darüber. Auch über die tieferen Ursachen für den Krieg von 1948 möchte sie nicht reden, obwohl das doch alles schon so lange zurückliegt. »Es verbittert mich zu sehr – immer noch«, sagt sie leise.

Land ohne Volk?

Der Krieg von 1948 ist nicht zu erklären ohne die britische Kolonialpolitik in Palästina (1916–1939) und die daraus folgenden Konsequenzen. Aber der Kampf um Palästina währt im Grunde schon über einhundert Jahre. So lange gibt es bereits den Zuzug jüdischer Siedler aus Europa ins Gelobte Land. Die Besiedlung war eine Folge der Pogrome in Russland und der Unterdrückung der Juden in anderen osteuropäischen Ländern, insbesondere in den Jahren 1882 bis 1903.