Der Neokatechumenale Weg - Bernhard Anuth - E-Book

Der Neokatechumenale Weg E-Book

Bernhard Anuth

4,4

Beschreibung

Der Neokatechumenale Weg zählt mit über einer Million Mitgliedern zu den einflussreichsten "Bewegungen" in der katholischen Kirche. Besonders Papst Johannes Paul II. hat ihn gefördert. Gleichwohl werfen ihm Kritiker kirchenpolitisches Machtstreben, undurchsichtiges Finanzgebaren und ein Elitebewusstsein vor, das Pfarreien spalte und sektenähnlich wirke. Die Arbeit beleuchtet anhand der zugänglichen Quellen und des internationalen Schrifttums Entstehung und Entwicklung des "Weges". Mit der Analyse des 2002 approbierten Statutes und der neuen Rechtsform des "Itinerariums katholischer Formation" ergibt sich ein phänomenologisch wie kirchenrechtlich konturiertes Bild. So lassen sich unberechtigte Vorwürfe zurückweisen und bleibende Desiderate begründen. Aufgrund der verständlichen Präsentation kann das Buch hilfreich sein für alle am "Weg" Interessierten wie auch für Pfarrer oder Bischöfe, in deren Verantwortungsbereich der "Weg" tätig ist bzw. werden will.

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Bernhard Sven Anuth

Der Neokatechumenale Weg

Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft

Band 36

Begründet vonHubert Müller und Rudolf Weigand

Herausgegeben vonNorbert Lüdecke und Helmuth Pree

Bernhard Sven Anuth

Der Neokatechumenale Weg

Geschichte – Erscheinungsbild – Rechtscharakter

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2006 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

ISSN 0940-337-X

ISBN eBook 978-3-429-06308-5

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2005/06 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie um einen Abschnitt ergänzt, der den Ereignissen Rechnung trägt, die im Dezember 2005 und Januar 2006 eine erneute Diskussion um die Liturgie des Neokatechumenalen Weges angestoßen haben.

Mein Dank gilt allen, die das Entstehen dieser Arbeit ermöglicht haben. Besonders danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Norbert Lüdecke, der mich zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Neokatechumenalen Weg ermutigt und den Verlauf meines Promotionsprojektes aufmerksam und mit kritischen Nachfragen begleitet hat. Herrn Prof. Dr. Albert Gerhards danke ich für das Zweitgutachten und seine weiterführenden Hinweise auf insbesondere liturgiewissenschaftlich relevante Problemfelder meines Untersuchungsgegenstandes. Herr Dr. theol., Lic. iur. can. René Löffler war mir zu jeder Zeit ein wichtiger Gesprächspartner.

Für die Korrekturlesearbeiten gebühren Kerstin Usadel-Anuth, Angela Hülsenbusch, Matthias Hannemann und Dr. theol. Peter Brandt nachdrücklich Dank und Anerkennung. Christine Brunk sowie Anne und Kathrin Henning danke ich für die Erstellung von Canones- und Personenregister.

In finanzieller Hinsicht verdanke ich meine Promotion der Förderung durch die Friedrich-Naumann-Stiftung, die mich mit einem Stipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unterstützt hat. Die schnelle Publikation wurde dankenswerterweise durch Druckkostenzuschüsse der Erzbistümer Köln und Paderborn sowie des Verbandes der Diözesen Deutschlands ermöglicht.

Für die Aufnahme in die Reihe Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft bin ich Herrn Prof. Dr. Norbert Lüdecke und Herrn Prof. Dr. Helmuth Pree verbunden.

Besonders aber danke ich allen, die mir im privaten Umfeld Rückhalt gegeben und mich immer wieder ermutigt und unterstützt haben. Dies gilt vor allem für meine Eltern und meine Frau Kerstin. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Odenthal, im Februar 2006

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Einleitung

1 Entstehung des Neokatechumenalen Weges und Ausformung seines Selbstverständnisses bis zum Ende der 1970er Jahre

1.1 Person und Charisma der „Initiatoren“ des Neokatechumenalen Weges

1.1.1 Francisco „Kiko“ Argüello

1.1.2 Carmen Hernández

1.1.3 Entstehung einer „neokatechumenalen“ Gemeinschaft

1.2 Entwicklung und Ausbreitung des Neokatechumenalen Weges

1.3 Überprüfung und Belobigung durch die Kongregation für den Gottesdienst und Namensgebung als „Neokatechumenat“ bzw. „neokatechumenale Gemeinschaften“

1.4 Merkmale des Neokatechumenalen Weges

1.4.1 Ziel und „Geist“

1.4.1.1 Ein Weg der Umkehr als „Schwangerschaft zum Glauben“

1.4.1.2 Eine neue Struktur der Pfarrei als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“

1.4.1.3 Der neokatechumenale „Dreifuß“: Wort, Liturgie, Gemeinschaft

1.4.2 Mittel und Methode des Apostolates: Ein Katechumenat nach der Taufe

1.4.2.1 Verkündigung (des Kerygmas) / kerygmatische Phase

1.4.2.2 Vor- oder Präkatechumenat

1.4.2.3 Übergang zum Katechumenat

1.4.2.4 Katechumenat

1.4.2.5 Erwählung

1.4.2.6 Erneuerung der Taufversprechen

1.4.3 Mitgliedschaft, Dienste und Ämter

1.4.3.1 Mitgliedschaft

1.4.3.2 Dienste und Ämter

1.4.3.2.1 Verantwortliche der neokatechumenalen Gemeinschaften

1.4.3.2.2 Orts- und Itineranten-Katechisten

1.4.3.2.3 Kantor, Lektor und Ostiar

1.4.3.2.4 Glaubenslehrer und Witwen

1.4.4 Interne Leitungsstrukturen

1.4.4.1 Die Rolle der „Initiatoren“

1.4.4.2 Die nationale und diözesane Gliederungsebene

1.5 Verhältnis zur kirchlichen Hierarchie

1.5.1 Selbstbindung an die kirchliche Hierarchie

1.5.1.1 Pfarrer und Bischof.

1.5.1.2 Papst

1.5.2 Rechtliche Aspekte

1.6 Rechtscharakter des „Weges“ nach dem CIC/1917

1.6.1 Die kirchenamtlichen Vereinigungen

1.6.2 Die „nicht kirchlichen“ bzw. „privaten“ Vereinigungen

1.6.3 Das Problem der rechtlichen Einordnung des „Weges“ in den CIC/1917

2 Weitere Ausbreitung und Profilierung des Neokatechumenalen Weges bis zur Ausarbeitung seines Statutes

2.1 Rechtscharakter des „Weges“ nach dem CIC/1983

2.1.1 Die Vorgaben des II. Vatikanischen Konzils für eine Neuordnung des kirchlichen Vereinigungswesens

2.1.2 Die Typologie des kodikarischen Vereinigungsrechts

2.1.2.1 Private kanonische Vereine

2.1.2.2 Öffentliche kanonische Vereine

2.1.2.3 Freie Zusammenschlüsse von Gläubigen

2.1.2.4 Das Problem der rechtlichen Einordnung des „Weges“ in den CIC/1983

2.1.3 Der Neokatechumenale Weg als „kirchliche Bewegung“?

2.1.3.1 Zum Phänomen der „kirchlichen Bewegungen“

2.1.3.2 Schwierigkeiten der Klassifikation und kirchenrechtlichen Einordnung der Bewegungen

2.1.3.3 Der Neokatechumenale Weg als „kirchliche Wirklichkeit“

2.2 Beziehungen des Neokatechumenalen Weges zur Römischen Kurie

2.2.1 Überprüfung durch die Kongregation für den Klerus

2.2.2 Überprüfung durch die Kongregation für die Glaubenslehre (1986) und „ad personam“-Beauftragung von Bischof Paul Josef Cordes ….

2.2.3 Zugeständnisse der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung hinsichtlich der Liturgie des „Weges“ (1988)

2.3 Der Schreiben Ogniqualvolta Papst Johannes Pauls II. vom 30. August 1990

2.3.1 Inhalt und Kontext des Schreibens

2.3.2 Kirchenrechtliche Konsequenzen

2.4 Neue Initiativen und Einrichtungen des Neokatechumenalen Weges

2.4.1 Die „Familien in Mission“

2.4.1.1 Geschichte und Selbstverständnis

2.4.1.2 Aufgabe und Ziel

2.4.2 Die Priesterseminare „Redemptoris Mater“

2.4.2.1 Die Entstehung des ersten „Collegio diocesano ‘Redemptoris Mater’“ in Rom (1988)

2.4.2.2 Die spezifische Prägung und Aufgabe der Priesterseminare „Redemptoris Mater“

2.4.2.3 Rechtsstellung und Profil der Priesterseminare „Redemptoris Mater“

2.4.3 Die neokatechumenalen „Gemeinschaftstage“ der Bischöfe

2.4.4 Das Internationale Zentrum „Domus Galilaeae“ in Israel

2.4.5 Fragen der Finanzierung und Rechtsträgerschaft

2.4.5.1 Domus Galilaeae

2.4.5.2 „Fondazione Famiglia di Nazareth “ (Rom) und „Diözesanes Neokatechumenales Zentrum e. V.“ (München)

2.4.5.3 „Heilige Familie von Nazareth für die neue Itineranten-Evangelisierung e.V.“ (Berlin)

2.4.5.4 „Redemptoris Mater, Köln e.V.“ (Bonn)

2.4.5.5 „Katechumenium St. Philipp Neri e.V.“ (München)

2.4.5.6 Zusammenfassung

2.5 Konflikte mit dem und um den Neokatechumenalen Weg

2.5.1 Der Neokatechumenale Weg – eine „innerkirchliche Sekte“?

2.5.2 Häresievorwürfe hinsichtlich der Katechesen des „Weges“

2.5.3 Klagen über Elitechristentum, Bildung einer Parallelkirche und Spaltung der Gemeinden

2.5.4 Kirchenamtliche Maßnahmen nach Konflikten mit dem „Weg“

2.5.4.1 Interventionen italienischer Bischöfe in den 1980er und 1990er Jahren

2.5.4.2 Das Verbot des „Weges“ in der Diözese Clifton (1997)

2.5.4.3 Die Sicht des Neokatechumenalen Weges

3 Selbstverständnis, Strukturen und Rechtscharakter des Neokatechumenalen Weges gemäß dem Statut vom 29. Juni

3.1 Das Statut des Neokatechumenalen Weges

3.1.1 Entstehung und Approbation des Statutes

3.1.1.1 Ausarbeitung des Statutes (1997-2002)

3.1.1.2 Approbation durch den Päpstlichen Rat für die Laien am 29. Juni 2002

3.1.1.3 Reaktionen des Neokatechumenalen Weges

3.1.2 Aufbau und Systematik des Statutes

3.1.3 Ein kanonisches Statut ?

3.1.3.1 Begriff und Inhalt von Statuten im Sinne des CIC/1983

3.1.3.2 Das Statut des Neokatechumenalen Weges als kanonisches Statut i.S.v. c. 94 § 1

3.2 Der Neokatechumenale Weg als „Itinerarium katholischer Formation“

3.2.1 Zum Begriff

3.2.2 Kirchenrechtliche Konsequenzen und Perspektiven der Rezeption

3.3 Der Neokatechumenale Weg als „Gesamtheit geistlicher Güter“

3.3.1 „Neokatechumenat“ oder „Katechumenat nach der Taufe“

3.3.1.1 Kerygmatische Anfangskatechesen

3.3.1.2 Vorkatechumenat nach der Taufe

3.3.1.3 Katechumenat nach der Taufe

3.3.1.4 Wiederentdeckung der Erwählung

3.3.2 Die „ständige Glaubensbildung“

3.3.3 Der Taufkatechumenat

3.3.4 Der „katechetische Dienst“

3.3.4.1 Die Katechisten des „Weges“

3.3.4.2 Die Neokatechumenalen Zentren

3.3.4.3 Itineranten-Katechisten und -Priester

3.3.4.4 Die „Familien in Mission “

3.3.4.5 Die Priesterseminare „Redemptoris Mater“

3.4 Merkmale des Neokatechumenalen Weges

3.4.1 Ziel und „Geist“

3.4.2 Mittel und Methode des Apostolates

3.4.2.1 Ein Katechumenat nach der Taufe

3.4.2.2 Der „Dreifuß“ von Wort, Liturgie und Gemeinschaft

3.4.2.3 Eigene Sprache und „neue Ästhetik“

3.4.3 Mitgliedschaft, Dienste und Ämter

3.4.3.1 Bedingungen der Mitgliedschaft in einer neokatechumenalen Gemeinschaft

3.4.3.2 Dienste und Ämter

3.4.3.3 Verantwortliche der neokatechumenalen Gemeinschaften

3.4.4 Interne Leitungsstrukturen

3.4.4.1 Leitung einer neokatechumenalen Gemeinschaft

3.4.4.2 Das Internationale Verantwortlichen-Team des „Weges“

3.4.4.3 Nationale, diözesane und regionale Gliederungsebenen

3.4.5 Vermögen und Finanzierung

3.4.5.1 Kirchliche Stiftungen und gemeinnützige Vereine

3.4.5.2 Kollekten und Abgaben

3.5 Verhältnis zur kirchlichen Hierarchie

3.5.1 Aufsicht durch die universalkirchliche Autorität

3.5.2 Aufsicht durch den Diözesanbischof

3.6 Rechtscharakter des Neokatechumenalen Weges nach der Approbation seines Statutes vom 29. Juni 2002

Zusammenfassung

Würdigung und Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Sekundärliteratur

Anhang

Stellenregister

CIC/1917

CIC/1983

CCEO

Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils

Personenregister

Sachregister

EINLEITUNG

Der „Neokatechumenale Weg“ bzw. kurz der „Weg“1  entstand Anfang der 1960er Jahre in Spanien, näherhin in einem Barackenviertel am Stadtrand von Madrid. Er hat sich in den rund 45 Jahren seines Bestehens zu einer universalkirchlich geförderten und international agierenden kirchlichen Gruppierung entwickelt.

Diese Entwicklung kann den Eindruck einer bis heute andauernden Erfolgsgeschichte erwecken: Bald nach seiner Entstehung in der Madrider Armensiedlung Palomeras Altas verzeichnete der Neokatechumenale Weg großen Zulauf und erregte so die Aufmerksamkeit des zuständigen Erzbischofs Casimiro Morcillo. Auf seine Initiative hin hielten die Verantwortlichen des „Weges“ ihre Katechesen erstmals in Pfarreien außerhalb des Slums. Auch im städtisch geprägten Umfeld hatten die neokatechumenalen Katechesen raschen Erfolg. Erzbischof Morcillo förderte den „Weg“ aufgrund dieser Erfahrung ausdrücklich. Mit seiner Hilfe fasste der Neokatechumenale Weg nur drei Jahre später auch in Rom Fuß und erlangte dort bald die Gunst der Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. Nicht zuletzt dank der wohlwollenden päpstlichen Begleitung dehnte der „Weg“ seine Aktivitäten durch sogenannte „Itineranten-Katechisten“ binnen weniger Jahre auf nahezu alle Teile der Welt aus.

Seitdem verzeichnet er ein stetiges Wachstum: Ende 1976 existierten über 2000 neokatechumenale Gemeinschaften in mehr als 800 Pfarreien in 42 Nationen.2  1990 waren es 10.000 Gemeinschaften mit über 200.000 Mitgliedern in etwa 3000 Pfarreien in 87 Nationen3 , 1997 bereits 15.000 Gemeinschaften in über 4500 Pfarreien in 101 Ländern4 . Der italienische Journalist Stefano M. Paci bescheinigte dem „Weg“ vor diesem Hintergrund schon 1997 eine „‘Wachstumsrate’ ohne Einbrüche“5 . Die vom Neokatechumenalen Weg selbst für das Jahr 2001 publizierten Zahlen bestätigen seine Einschätzung: So bestanden 2001 insgesamt mehr als 16.700 Gemeinschaften in etwa 5000 Pfarreien.6  Nach Angaben des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts und der Schweizerischen Katholischen Arbeitsgruppe „Neue Religiöse Bewegungen“ soll der „Weg“ dabei um die Jahrtausendwende weltweit etwa eine Million Mitglieder gehabt haben.7 

Nicht nur stetiges Wachstum und das gute Verhältnis zu den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II.8  lassen von einer „Erfolgsgeschichte“ des Neokatechumenalen Weges sprechen. Weitere beachtliche Entwicklungen stützen diese Sicht:

1988 eröffnete Papst Johannes Paul II. in Rom das erste von heute weltweit 60 neokatechumenalen Priesterseminaren „Redemptoris Mater“9 , in denen junge Männer des Neokatechumenalen Weges auf das Priestertum und den Einsatz für die Neuevangelisierung vorbereitet werden.

1990 hat der Papst den Neokatechumenalen Weg in seinem Schreiben Ogniqualvolta an Bischof Paul Josef Cordes anerkannt „als ein Itinerarium katholischer Formation, gültig für die Gesellschaft und für die gegenwärtige Zeit“10 .

Im Januar 1999 begann der Neokatechumenale Weg mit dem prestigeträchtigen Bau eines internationalen Zentrums auf dem Berg der Seligpreisungen am See Genezareth. Das Haus trägt den Namen „Domus Galilaeae“ und soll zur Aufnahme von Pilgern sowie der Ausbildung von Seminaristen aus den neokatechumenalen „Redemptoris Mater“-Seminaren dienen.

Im Juni 2002 schließlich approbierte der Päpstliche Rat für die Laien das Statut des Neokatechumenalen Weges. Diese Approbation war, so der damalige Präsident des Rates, Kardinal Stafford, „die Erfüllung eines inbrünstigen Wunsches des Heiligen Vaters“11 . Papst Johannes Paul II. selbst sah in dem neugeschaffenen Statut „eine erneute Bestätigung der kirchlichen Natur des Neokatechumenalen Weges“12 .

In der kirchlichen Öffentlichkeit wird der „Weg“ zumeist den sogenannten „kirchlichen Bewegungen“ zugerechnet. Er selbst wollte und will jedoch weder eine Bewegung noch eine Vereinigung sein „in dem Sinn, was man heute unter diesen Begriffen versteht, sondern […] eine Zeit der christlichen Ausbildung (Formation)“13 . Das Statut vom 29. Juni 2002 bestätigt dieses Selbstverständnis, wenn es den Neokatechumenalen Weg mit den Worten Papst Johannes Pauls II. aus dem Schreiben Ogniqualvolta von 1990 als „Itinerarium katholischer Formation“ beschreibt. Mit der Approbation des Statutes durch den Päpstlichen Rat für die Laien ist diese Formulierung auch kirchenrechtlich relevant geworden.

Für den bereits erwähnten Journalisten Paci ist der Neokatechumenale Weg „eine Wirklichkeit, die die Kirche des dritten Jahrtausends tief beeinflussen wird.“14  Mitglieder und Förderer des Neokatechumenates teilen diese Würdigung mit freudiger Hoffnung, Kritiker(innen) des „Weges“ hingegen mit einiger Sorge, denn in die skizzierte Erfolgsgeschichte des Neokatechumenalen Weges hat sich immer wieder Kritik an seinen Methoden und Lehrinhalten gemischt. Vorgeworfen werden ihm etwa kirchenpolitisches Machtstreben, undurchsichtiges Finanzgebaren und ein ausgeprägtes Elitebewusstsein, das zu Spaltungen in den Gemeinden führe. Manche Kritiker(innen) attestieren dem Neokatechumenalen Weg sektenähnliche Methoden oder sprechen unumwunden von einer „Sekte“ in der Kirche.15 

Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Entstehung und Entwicklung sowie Selbstverständnis und Struktur des Neokatechumenalen Weges aufgearbeitet. Die Analyse ist dabei nach historischen Gesichtspunkten gegliedert und unterscheidet in der Geschichte des Neokatechumenalen Weges drei grundlegende Etappen: (1.) die Zeit von der Entstehung des „Weges“ bis zum Ende der 1970er Jahre, in der sich Selbstverständnis und wesentliche Merkmale des „Neokatechumenates“ entwickelten und innerkirchlich etablierten16 , (2.) die sich anschließende Phase der weiteren Ausbreitung und Entwicklung des „Weges“ bis zur Ausarbeitung seines Statutes und schließlich (3.) die gegenwärtige Situation, die durch das vom Päpstlichen Rat für die Laien am 29. Juni 2002 approbierte Statut des Neokatechumenalen Weges nunmehr auch rechtlich nachprüfbar geregelt ist.

Für jede dieser drei Etappen wird neben dem Selbstverständnis und Erscheinungsbild des „Weges“ auch sein Rechtscharakter im Sinne des jeweils geltenden Kirchenrechts erhoben. Die Kombination aus diachroner und synchroner Betrachtungsweise ermöglicht es, für die verschiedenen Phasen der Geschichte des „Weges“ ein sowohl in phänomenologischer als auch kanonistischer Sicht detailliertes und gut konturiertes Bild des Neokatechumenalen Weges und seiner Stellung innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung zu zeichnen, ohne ihn vorschnell in bereits vorhandene Rechtsformen zu pressen oder ihn auszugrenzen.17 

Mit der Aufarbeitung der (Rechts-)Geschichte des „Weges“ und der kanonistischen Analyse des ihm aufgrund seines Statutes vom 29. Juni 2002 zukommenden Rechtscharakters als „Itinerarium katholischer Formation“ greift die vorliegende Untersuchung ein in pastoraler wie auch kirchenrechtlicher Sicht aktuelles Thema auf, das wissenschaftlich bisher kaum Beachtung gefunden hat.18  „Kritiksucht und Besserwisserei“, wie sie Kurienerzbischof Cordes in deutschsprachigen Publikationen insbesondere zu den sogenannten kirchlichen Bewegungen ausgemacht haben will19 , sind nicht zielführend. Eine sachliche Thematisierung der in Bezug auf den „Weg“ immer wieder laut gewordenen Kritik sowie Nachfragen hinsichtlich konkreter Vorgehensweisen und Strukturen können allerdings helfen, ein adäquates Verständnis des Neokatechumenalen Weges zu gewinnen, der auf dem besten Weg ist, zu einem festen Bestandteil der kirchlichen Rechtsordnung zu werden und das zukünftige Erscheinungsbild der römisch-katholischen Kirche mit zu prägen.

1 Die Selbstbezeichnung des Neokatechumenalen Weges als „Weg“ geht auf die in Apg 9,2 überlieferte Bezeichnung der ersten Christen als „Anhänger des Weges“ bzw. „des Weges Seiende“ (τινας τῆς ὁδοῦὄντxας) zurück (vgl. das Christentum als „Weg der Wahrheit“ [ἡὁδὸς τῆς ἀληθ∊ίας] in 2 Petr 2,2). Vgl. ARGÜELLO, Einleitung, 7; ders., Il neocatecumenato, 86; BLÁZQUEZ, Gemeinschaften, 25. Dazu auch: SCHOCKE, Neokatechumenat, 32 und TEODORO, Liturgia. Aspetti positivi, 69 (Anm. 30). – Papst Johannes Paul II. nennt den Ausdruck „Weg“ 1988 „sehr zutreffend“, insofern man durch den Neokatechumenalen Weg „fast das rekonstruieren“ könne, „was einmal das wahre Katechumenat war“ (PAPST JOHANNES PAUL II., Ansprache v. 31. Jan. 1988, 165).

2 So die Angaben bei ARGÜELLO, Il neocatecumenato, 102 (Anm. 4) u. ZEVINI, Gemeinschaften, 5. Vgl. auch die detaillierte Aufstellung von Nationen, Pfarreien und Gemeinschaften für das Jahr 1974 bei ARGÜELLO, Gemeinschaft, 3 u. ders., Le comunità neocatecumenali, 194, die entsprechenden Daten für 1976 in: Il neocatecumenato, 68 [Anm. 1] u. ARGÜELLO, Il neocatecumenato, 102 [Anm. 4] sowie die Auskunft in: Das Neokatechumenat und seine grundlegenden Phasen, 12, wonach sich die Zahl der Gemeinschaften in Italien und Spanien bis Anfang 1978 verdoppelt und weltweit auf ca. 3000 erhöht hatte (vgl. ebd., 22 [Anm. 1]).

3 Vgl. ZEVINI, Il cammino neocatecumenale, 243; DI NOIA, Art. Neocatechumenal Way, 280. CORDES, Neue geistliche Bewegungen, 7 spricht bereits für das Jahr 1984 von „5518 Gemeinschaften in 2214 Pfarreien aller Kontinente“ und geht „von etwa 200 000 Anhängern dieser Bewegung“ aus. Nach Bleistein ergab eine „Erhebung aus dem Jahr 1985 […], daß mehr als 7200 Gemeinschaften in über 2600 Pfarreien in 65 Nationen bestanden“ (BLEISTEIN, Neukatechumenat 1992, 436f.; ders., Neukatechumenat 1993, 269). CAMPBELL-WESSIG, Spaltpilz, 16 berichtet für dasselbe Jahr von weltweit ca. 250.000 Mitgliedern des „Weges“.

4 Vgl. ARGÜELLO, in: CORDES, Lied, 80. Entsprechend auch BONETE PERALES, Bischöfe, 321.

5 PACI, Weg, 42.

6 Vgl. Geschichtliche Anmerkung, o.S. Von den bis 2001 gezählten neokatechumenalen Gemeinschaften befinden sich „über 8.000 in Europa, 7.300 in Amerika, circa 800 in Asien und Australien und 600 in Afrika “ (ebd.).

7 Vgl. SPI / NRB, Neue Gruppierungen, 179. Ähnliche Angaben schon 1997 bei PACI, Weg, 42.

8 Vgl. ARGÜELLO, Kommentar v. Dez. 1987, 227: „Schon Papst Paul VI. hat diesen Weg ermutigt und gesegnet, und nun hilft ihm Papst Johannes Paul II. und verteidigt ihn inmitten aller Schwierigkeiten, denen die Kirche heute gegenübersteht.“ Die guten Beziehungen zu den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. hat der Neokatechumenale Weg selbst dokumentiert in seiner Publikation Der Neokatechumenale Weg in den Ansprachen der Päpste Paul VI. und Johannes Paul II., hg. v. NK-Zentrum Rom (Rom 1993). – Gordon Urquhart nennt den „Weg“ die „Lieblingsorganisation des Papstes“ (URQUHART, Im Namen des Papstes, 141) und bescheinigt ihm für 1998 das unter den kirchlichen Bewegungen „engste Verhältnis zu Johannes Paul II.“ (ebd., 187). HOFER, Gottes rechte Kirche, 189 weiß gar zu berichten, dass Argüello und Hernández „gern gesehene Frühstücksgäste“ Papst Johannes Pauls II. waren. Vgl. HORST, Geheime Lehren, 5. Nachprüfbar sind diese Angaben nicht. Allerdings war, wie Erzbischof Paul Josef Cordes, der Präsident des Päpstlichen Rates „Cor Unum“, 1997 bestätigt hat, die „große Sympathie des Papstes für den neokatechumenalen Weg […] kein Geheimnis.“ (CORDES, Homilie v. 3. April 1997, 35). – Wie sich das Verhältnis des „Weges“ zu Papst Benedikt XVI. entwickeln wird, bleibt abzuwarten (vgl. hierzu Anm. 1647).

9 Laut KNA bestanden im März 2004 genau 50 Seminare (vgl. Papst mahnt neokatechumenale Priester zum Gehorsam in Bistümern [KNA v. 20. März 2004, Nr. 3101]). Während Die Tagespost am 18. April 2003 demgemäß von 49 „Redemptoris Mater“-Seminaren berichtete (vgl. Wechselvolle Geschichte, 5; HEINZ, Reflexion, 628 sprach schon 1999 von 50 Seminaren), wusste das Presseamt des Erzbistums Köln Ende 2003 nur von 35 Seminaren (vgl. PEK, „Redemptoris Mater“ seit drei Jahren im Erzbistum, 2). Vertreter des „Redemptoris Mater“-Seminars in Bonn sprachen im Juni 2005 von weltweit etwa 60 Priesterseminaren des „Weges“ (vgl. OSTHEIMER/SANCHEZ, Priesterseminar, 11). Vgl. VODERHOLZER, Familien, 6 sowie hierzu auch Anm. 784 und 793.

10 PAPST JOHANNES PAUL II., Brief Ogniqualvolta v. 30. Aug. 1990, 1515.

11 Vgl. STAFFORD, Ansprache v. 30. Juni 2002, 145.

12 PAPST JOHANNES PAUL II., Ansprache v. 21. Sept. 2002, n. 4 (Übers. nach: <http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/speeches/2002/september/documents/hf_jp-ii_spe_20020921_cammino-neocatecumenale_ge.html> [zit.: 13. Feb. 2006]).

13 ARGÜELLO, Kommentar v. Dez. 1987, 227 (H.i.O.).

14 PACI, Weg, 42. Vgl. ARGÜELLO, Neocatechumenal Way, 166.

15 Vgl. u.a. den KNA-Bericht Neokatechumenat: Erfolge und Kritik (KNA-Bayrischer Dienst v. 4. Aug. 1993, I) oder HEINZ, Reflexion, 627 sowie entsprechende Einschätzungen im Kontext konkreter Konflikte mit dem „Weg“ (vgl. KRUSE, Sekte oder Selige; ders., Gehirnwäscher Gottes; HIRZABAUER, in: KRUSE, Fast das Wort Gottes; STEMMLER, „Wir sorgen uns um unsere Kinder“, 63; CAMPBELL-WESSIG, Spaltpilz, 18) bzw. in Äußerungen ehemaliger Neokatechumenen (so z.B. FUCHS, in: HOFER, Gottes rechte Kirche, 198-205). Von Sektennähe bzw.- ähnlichkeit sprechen z.B. ADOMAITIS, Kommunikationsstörungen, 85; ARBUCKLE, Neo-Catechumenate Way, 2; BLEISTEIN, Neukatechumenat 1992, 444; BUCKLEY, A Church within a Church, 151; GRIESS, Allein selig, 9 und HORST, Geheime Lehren, 5. Von Seiten der kirchlichen Hierarchie wird dieser Sektenverdacht in der Regel vehement zurückgewiesen (vgl. z.B. SCHÖNBORN, Gibt es Sekten in der katholischen Kirche?; CORDES, in: CICCONI, „Auf die Dauer…“, 5 bzw. in: ders., Heroismus, 4). Noch im Sommer 2003 hat sich das Erzbischöfliche Ordinariat der Erzdiözese München und Freising von Äußerungen seines Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten Liebl distanziert, der in der Tagespost u.a. in Bezug auf den Neokatechumenalen Weg von „sektiererischen Tendenzen“ gesprochen hatte (vgl. LIEBL, in: RENZIKOWSKI, „Viele Neuaufbrüche sind Veralterungsbewegungen“ sowie ERZBISCHÖFLICHES ORDINARIAT MÜNCHEN, Zu einigen Äußerungen des Münchener Sektenbeauftragten). – Dass diese Diskussion um den „Weg“ auch außerhalb der Kirche wahrgenommen wird, belegt ein Bericht des Spiegel vom Sommer 2005. Demnach sei der Neokatechumenale Weg „eine als besonders rückschrittlich verschrienene ‘Geistige Gemeinschaft’ in der katholischen Kirche“ (WENSIERSKI, Gotteskrieger, 54).

16 Die beginnende weltweite Ausbreitung des „Weges“ und erste Kontakte zur kirchlichen Hierarchie führten in den 1970er Jahren zu ersten Formulierungen des neokatechumenalen Selbstverständnisses: 1972/73 führte die Kongregation für den Gottesdienst eine Untersuchung des Neokatechumenalen Weges durch, an deren Ende die u.a. auf den „Weg“ bezogene Veröffentlichung der Überlegungen zum Kapitel IV der „Feier der Eingliederung Erwachsener in die Kirche“ (1973) und einer belobigenden Note (1974) stand. Im selben Jahr kam es zur offiziösen Namensgebung, u.a. durch die erste Begegnung mit Papst Paul VI. 8. Mai 1974. Dabei händigten Argüello und Hernández dem Papst eine erste Dokumentation über den „Weg“ aus. Eine zweite Selbstdarstellung übergaben sie dem Papst am 12. Jan. 1977 im Anschluss an eine Audienz, in der Paul VI. die „neokatechumenalen Gemeinschaften“ und ihren Weg eines postbaptismalen Katechumenates ausdrücklich gelobt hatte. – Vor diesem Hintergrund setzte bereits ab 1975 eine rege Publikationstätigkeit aus dem und über den Neokatechumenalen Weg ein (vgl. Anm. 176). Selbstverständnis und wesentliche Merkmale des „Weges“ waren damit um 1980 nach damaligem Stand umfassend belegt und der Neokatechumenale Weg selbst hatte sich innerkirchlich etabliert.

Auch G. Butturini (vgl. Anm. 20) geht davon aus, dass der Neokatechumenale Weg seine wesentlichen Merkmale bereits im ersten Jahrzehnt seiner Existenz ausgeprägt hat (vgl. BUTTURINI, Il Cammino: un autorittrato, 122). Die katechumenale Struktur des Weges sei sogar schon 1968 grundgelegt gewesen, als Argüello und Hernández Madrid verließen (vgl. ebd., 123; ders., Il Cammino neocatecumenale, 113). Als Wegmarken seiner Entwicklung hebt Butturini dabei hervor: (1.) Argüellos Einzug in Palomeras Altas (1962/64), (2.) die ersten Katechesen in Madrid und (3.) die Veröffentlichung des OICA im Jahr 1972, in dem auch die weltweite Ausbreitung des „Weges“ einsetzte (vgl. ebd., 110-114; ders., Il Cammino: un autorittrato, 122-124).

17 Dass diese Gefahr bei allen Aufbruchsphänomenen in der Kirche bestehe, hat im Jahr 2000 Kard. Ratzinger betont. Er sehe gerade in den sogenannten Bewegungen „Hoffnung für die Kirche von morgen“, müsse jedoch feststellen, „dass im großen und ganzen die Freiheit dieser Aufbrüche in Deutschland ungebührlich eingeengt ist. Bei uns dominiert die Organisation. Alles muß seine Ordnung haben. Alles muß in den vorgesehenen Strukturen untergebracht werden. Das Spontane stört, wird ausgegrenzt.“ (RATZINGER, Demokratisierung, 91).

18 Im Rahmen einer Monografie hat sich bisher einzig Piergiovanni DEVOTO in seiner an der Lateranuniversität eingereichten Dissertation Il Neocatecumenato. Un ’iniziazione cristiana per adulti (Neapel 2004) mit Identität, Spiritualität und Mission des Neokatechumenalen Weges auseinandergesetzt. Bemerkenswert ist dabei, dass ihm der „Weg“ die vom Neokatechumenalen Zentrum „Servo di Jahvè“ in Rom für den internen Gebrauch herausgegebenen Orientamenti alle équipes di catechisti per la fase di conversione von 1972 (vgl. hierzu Anm. 383) sowie verschiedene Briefe Argüellos v.a. aus den 1970er Jahren zur Verfügung gestellt hat. Ob Devoto selbst dem „Weg“ angehört und dieser seine Darstellung autorisiert hat (so MAGISTER, Bad History, o.S.), lässt sich nicht belegen. Allerdings steht seine Arbeit früheren Publikationen aus dem Umfeld des „Weges“ inhaltlich wie stilistisch auffallend nahe. Mit dem zweiten Hauptteil ist fast die Hälfte der Untersuchung dem Verhältnis des „Weges“ zu Papst Johannes Paul II. gewidmet (S. 133-251). Zudem hat der deutsche Kurienerzbischof Paul Josef Cordes, Präsident des Päpstlichen Rates „Cor Unum“ und dem Neokatechumenalen Weg seit langem eng verbunden, Devotos Publikation mit einem Geleitwort versehen. Kritiker sehen in der Arbeit daher eine „offene Apologie“ in Reaktion auf die nicht verstummende Kritik am Neokatechumenalen Weg (vgl. MAGISTER, Bad History, o.S.). – Davon unabhängig ist Devotos Publikation auch inhaltlich in verschiedener Hinsicht unzureichend: Die verarbeitete Literatur stammt überwiegend aus den 1970er und 1980er Jahren. Jüngere (Selbst-)Darstellungen des „Weges“ wie auch die im Herbst 2002 zusammen mit dessen Statut veröffentlichen Stellungnahmen, Artikel und Kommentare bleiben unberücksichtigt. Die Darstellung des Neokatechumenates entspricht dessen Entwicklungsstand Ende der 1970er Jahre, wobei Devoto der zweimonatigen kerygmatischen Phase (S. 40-80) gegenüber dem weiteren Verlauf des Neokatechumenates (S. 81-92) unverhältnismäßig viel Raum und Aufmerksamkeit schenkt. Grundlage seiner Darstellung sind allein die o.g. „Orientierungen“. Die Modifikationen und Präzisierungen durch das Statut vom 29. Juni 2002 werden nicht berücksichtigt. Dem neokatechumenalen Selbstverständnis entsprechend finden zudem die internen Strukturen des „Weges“ bei Devoto keine Beachtung. Auch eine kritische Diskussion der verschiedenen Konflikte mit dem und um den Neokatechumenalen Weg findet nicht statt.

Unvoreingenommener hat sich im spanischen Sprachraum Jesús BOGARÍN DÍAZ in seinem Artikel La institucionalización del camino neocatecumenal. Comentario a sus estatutos (in: REDC 59 [2002] 705-825) mit dem Neokatechumenalen Weg beschäftigt und einen Überblick zu seiner Geschichte und Entwicklung sowie kanonistischen Beurteilung vorgelegt. Allerdings bleiben auch hier wesentliche Fragen in Bezug auf Eigenart und Rechtscharakter des „Weges“ unbeantwortet.

19 Vgl. CORDES, Neue geistliche Bewegungen, 3: „Wenn man von Rom aus den deutschen ‘Markt’ theologischer Publikationen und pastoraler Initiativen beobachtet, so kann man nicht umhin, beidem ein hohes Reflexionsniveau einzuräumen. Allerdings schlägt auch ungewöhnlich häufig Kritiksucht und Besserwisserei durch.“

1 ENTSTEHUNG DES NEOKATECHUMENALEN WEGES UND AUSFORMUNG SEINES SELBSTVERSTÄNDNISSES BIS ZUM ENDE DER 1970er JAHRE

Für Ricardo Blázquez, den Bischof von Bilbao, Vorsitzenden der Spanischen Bischofskonferenz und ersten „Biographen“ des Neokatechumenalen Weges20 , tragen dessen Anfänge „die Züge einer göttlichen Initiative, eines kostbaren Geschenkes Gottes.“21  Als seine Gründer oder „Initiatoren“ gelten der spanische Maler Francisco José Gómez Argüello Wirtz, genannt Kiko22 , und die ebenfalls aus Spanien stammende Naturwissenschaftlerin und Theologin Carmen Hernández. Mit Blázquez beschreiben die meisten Texte neokatechumenaler Autor(inn)en Argüello als den Gründer bzw. maßgeblichen Initiator des „Weges“, dem gegenüber Carmen Hernández zurückstehe. Argüello selbst hat jedoch 1999 klargestellt:

„Ich fühle mich selbst nicht als ein Gründer von irgendetwas. […] Carmen Hernández […] hat für die Gestaltung des Neokatechumenalen Weges mehr Bedeutung als ich. Ich fühle mich vielmehr als ein Initiator, zusammen mit Carmen Hernández, mit einigen Priestern und anderen Personen.“23 

Um wen es sich bei den letztgenannten „Priestern und anderen Personen“ handelt, die Argüello hier zum erweiterten Kreis der „Initiatoren“ des Neokatechumenalen Weges zählt, ist unklar.24  Als „Initiatoren“ gelten in der Tradition und im Sprachgebrauch des „Weges“ nur Argüello und Hernández.25  Der ehemalige Ordensmann und römische Diözesanpriester Mario Pezzi26 , der den Neokatechumenalen Weg heute zusammen mit Argüello und Hernández leitet, versteht sich selbst und gilt innerhalb des „Weges“ ausdrücklich nicht als Initiator.27  Unter welchen Umständen er den Neokatechumenalen Weg 1970 kennenlernte28  und später als Priester an die Seite von Argüello und Hernández in das Internationale Verantwortlichen-Team des „Weges“ berufen wurde, geht aus den Quellen nicht hervor.29  Bei der Entstehung des Neokatechumenalen Weges und seiner anfänglichen Entwicklung und Ausbreitung hat er jedenfalls keine erkennbare Rolle gespielt.

1.1 PERSON UND CHARISMA DER „INITIATOREN“ DES NEOKATECHUMENALEN WEGES

1.1.1 Francisco „Kiko“ Argüello

Im Jahre 1964 bildete sich in der Barackensiedlung Palomeras Altas, einem Elendsviertel von Madrid, die erste der später „neokatechumenal“ genannten Gemeinschaften. Mit ihr, so das Selbstverständnis des Neokatechumenalen Weges, entstand auch der „Weg“ als solcher. Die (Vor-)Geschichte dieser Ursprünge ist eng verknüpft mit der Lebens- und Glaubensgeschichte des spanischen Malers Francisco „Kiko“ Argüello, den Zevini 1979 beschreibt als „schmächtige[n] Mann mit schwarzem Bart, in den vielfältigsten Lebenserfahrungen gereift und mit der Gabe des Wortes, das er mit Hilfe seiner Guitarre und seiner starken Persönlichkeit weitergibt, ausgestattet“30 . Bis zur offiziösen Namensgebung im Jahr 1974 und teilweise auch darüber hinaus waren die Gemeinschaften des „Weges“ nach dem Spitz- bzw. Künstlernamen ihres Initiators als „Kiko-Familien“ bzw. „Kiko-Gemeinschaften“ bekannt.31 

Francisco Argüello wurde am 9. Januar 1939 in Léon in Spanien geboren32  und wuchs in einem wohlhabenden katholischen Elternhaus auf. Er studierte Kunst an der Akademie S. Fernando in Madrid und erhielt nach eigener Auskunft 1959 den außerordentlichen Nationalen Preis für Malerei.33  Von der traditionellen Religiosität seiner Eltern distanzierte sich Argüello bald34  und bekannte sich – so Blázquez – zu einem „Atheismus existentialistischer Prägung“35 . Argüello selbst spricht rückblickend von einer „tiefgehenden existenziellen Krise“, nach der ihn Gott „mit seiner Gnade eingeholt“ habe.36  Diese Bekehrungserfahrung37  ist dabei nicht gleichzusetzen mit jener verschiedentlich bezeugten marianischen Offenbarung, die Argüello im Dezember 1959 empfangen haben soll.38  Zum einen betont er selbst ausdrücklich, dass es „der Herr“ war, der ihn nach seiner existenziellen Krise „aus dem Abgrund einer ‘Kenosis’ herausgezogen“39  habe. Zum anderen weiß Ansgar Puff zu berichten, die am „Tag der Unbefleckten Empfängnis Marias 1959“40  von der Gottesmutter empfangene „Inspiration“ Argüellos sei „im Laufe der Jahre vergessen“41  worden. Argüellos Bekehrung müsste sich demnach – geht man von Puffs Datierung aus – vor dem 8. Dezember 1959 ereignet haben. Ihr genaues Datum bleibt jedoch im Dunkeln.42 

Von dem konkreten biographischen Kontext der Bekehrung Argüellos ist in nur wenigen seiner Selbstzeugnisse die Rede.43  Die meisten Autor(inn)en, auch solche, die dem Neokatechumenalen Weg angehören bzw. seinem direkten Umfeld zuzurechnen sind, sprechen in der Regel allgemein von einer „tiefen existentiellen Krise“44 . Dessen ungeachtet gehören die Erlebnisse des jungen Argüello, die zum Auslöser seiner Bekehrung wurden, fest zum Traditionsgut des Neokatechumenalen Weges45  und werden zum Beispiel bei Informationsabenden des „Weges“ sehr detailliert zitiert. Argüello selbst berichtet wie folgt:

„Als ich in einem Jahr zu Weihnachten nach Hause kam, fand ich in der Küche unsere Köchin in Tränen aufgelöst. Ich fragte sie: ‘Berta, was ist mit Ihnen los?’ Und sie erzählte mir, daß ihr Mann ein Trinker ist, daß er den Sohn umbringen will, daß der Sohn gegen ihn aufbegehrt … Ihre Geschichte erschütterte mich. Und ich verspürte in mir den Ruf Gottes, ihr zu helfen.

Ich wollte sehen, wo sie wohnte: eine schreckliche Baracke, eine unter vielen anderen. Diese arme Frau stand morgens in aller Frühe auf und ging zur Arbeit; sie hatte neun Kinder. Und sie war verheiratet mit einem hinkenden und schielenden Mann, der fast ständig betrunken war. Der schlug die Kinder mit dem Stock und schrie sie an: ‘Verteidige gefälligst deinen Vater!’ Manchmal, wenn er total betrunken war, urinierte er auf die Mädchen. Die Frau, die recht hübsch war und im besten Alter, erzählte mir haarsträubende Dinge …

Ich nahm diesen Mann mit und brachte ihn dazu, einen ‘Cursillo’ mitzumachen. Er hörte mir zu und war mehr als beeindruckt. Für einige Monate gab er das Trinken auf, aber dann hatte er einen Rückfall, und es gab wieder eine Katastrophe. Die Frau rief mich an: ‘Herr Kiko, kommen Sie bitte, mein Mann will alle umbringen! Rufen Sie die Polizei!’ Sie ließen mir keine Ruhe. Schließlich kam mir der Gedanke: ‘Und wenn Gott selbst mir damit sagen will, daß ich alles lassen und dorthin gehen soll, um mit denen zu leben und ihnen zu helfen?’ Ich habe alles zurückgelassen und habe bei dieser Familie gewohnt. Mein Schlafzimmer war eine winzige Küche, in der schon viele Katzen hausten.

Ich habe also dort kampiert, und das ganze Ambiente hat einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen. Es gab dort unheimlich viele Leute, die in schrecklichen Verhältnissen lebten. Vielleicht kennen Sie das Buch ‘Die Pest’; es handelt von dem Problem des Leidens der Unschuldigen. Diese Frau, Berta, erzählte mir, daß ihr Mann, der ja hinkte und deshalb viele Demütigungen einzustecken hatte, aus Rache überall angegeben hatte, daß er sie heiraten würde. Sie war das schönste Mädchen im ganzen Viertel. Alle lachten ihn aus. Aber wissen Sie, wie er sie geheiratet hat? Er hielt ihr ein Messer an die Kehle und drohte ihr: ‘Wenn du mich nicht heiratest, schneide ich deinem Vater den Hals ab!’ Und er hätte es sicher getan. Ihr Vater aber war Witwer, und sie selbst war allein und schrecklich schüchtern und verängstigt.

Ich fragte mich: ‘Was hat diese Frau denn getan, welche Sünden hat sie begangen, daß sie ein solches Leben verdient? Warum geht es nicht mir so?’ Und sie war keineswegs die einzige. In ihrer Nähe wohnte eine andere Frau, die an Parkinson erkrankt war, und der Mann hatte sie verlassen und lebte von Almosen. Und dann noch einer … und noch eine … Es gab für das alles nur zwei mögliche Antworten. Sie kennen den berühmten Satz von Nietzsche: ‘Entweder ist Gott gut, aber er kann nichts für diese armen Leute tun: dann ist er nicht Gott; oder Gott kann ihnen helfen und tut es nicht: dann ist er ein Scheusal.’ Dieser Satz ist Gift. Kann Gott dieser Frau helfen, oder kann er es nicht … ?

In dieser Situation erlebte ich etwas Unerwartetes. Wissen Sie, was ich da mit einem Mal sah? Nicht das, was Nietzsche sagt, ob Gott helfen kann oder nicht; ich sah: Christus den Gekreuzigten. Ich habe Christus erkannt in Berta, in der Frau mit dem Parkinson, in den anderen … Ich sah das Geheimnis, das Geheimnis des Kreuzes Christi. Ich war unsagbar erschüttert. Das sage ich ganz ehrlich.“46 

Die wenigen konkreten Daten und Fakten, die für die Jahre zwischen Argüellos Bekehrung und dem Entstehen des „Weges“ vorliegen, reichen für eine detaillierte „Vor-Geschichte“ des Neokatechumenalen Weges nicht aus. Ein klares Bild lässt sich von der Phase vor dem Einzug Argüellos in die Armensiedlung Palomeras Altas nicht zeichnen. Die Informationen bleiben bruchstückhaft. Bekannt ist, dass Argüello als Antwort auf die in seiner Bekehrung erfahrene Gnade Gottes beschloss, sein Leben „ganz Ihm und der Kirche zur Verfügung“47  zu stellen. Er tat dies „vor allem als Lehrer der ‘Cursillos de Cristianidad’“ und „begann mit ‘Cursillos’ in Céuta (Nordafrika), in Cáceres, Madrid und in anderen Gegenden Spaniens.“48  Wie lange sein Einsatz für die Cursillo-Bewegung dauerte und ob die angesprochene Tätigkeit in Nordafrika zeitlich mit seinem ebenfalls in Afrika geleisteten Militärdienst49  zusammenfällt, muss offen bleiben.

Nach seiner Rückkehr aus Afrika reifte in Argüello die Einsicht, „daß man in die sozialen Niederungen hinabsteigen müsse, um diesen Leuten dort das Evangelium zu verkündigen, ihnen helfen und ein Wort des Trostes geben müsse“50 . So wurde er in Madrid zum Mitbegründer einer Gruppe, die sich in den Slums der Stadt „den Homosexuellen widmete, den Prostituierten, usw.“51 . Nach einiger Zeit empfand Argüello diese Form einer von außen in die Elendsviertel getragenen Mildtätigkeit jedoch als nicht mehr ausreichend: Er wurde sich, wie er es einmal ausgedrückt hat, „klar darüber, daß wir in dieser Gruppe alles ein bißchen als ‘Hobby’ taten.“52 

Argüello fühlte sich von Gott berufen, ganz unter den Armen zu leben. Er gab sein bürgerliches Leben auf und zog in eine leerstehende Hütte des Slums von Palomeras Altas, auf die ihn ein Bekannter aufmerksam gemacht habe. Dort – so Argüello – „hat alles seinen Anfang genommen.“53  Ausgestattet nur „mit einer Bibel, einem Kreuz und einer Gitarre“54  wollte er hier nach dem Vorbild Charles de Foucaulds still und „im Verborgenen leben, so wie Jesus von Nazareth, mitten unter diesen Leuten.“55  An eine über das schlichte Zeugnis seines Leben hinausgehende Verkündigung dachte Argüello dabei nach eigener Auskunft nicht.56 

Die Frage, warum er sich für ein solches Leben als Armer unter Armen und damit gegen ein soziales Engagement zugunsten dieser Menschen entschieden habe, beantwortet Argüello, indem er eine Geschichte erzählt und deutet. Die Passage gehört nicht nur fest zum Traditionsgut des Neokatechumenalen Weges, sie vermittelt sachlich wie stilistisch auch einen prägnanten Einblick in die Spiritualität Argüellos:

„In einem Buch habe ich etwas gelesen über die Nazizeit, wovon ich sehr beeindruckt war. Es handelte sich um ein geschichtliches Faktum aus dem KZ Auschwitz. Einem Gestapo-Chef war bewußt geworden, welche Greueltaten im Völkermord an den Juden verübt wurden. Eines Tages, während er sein Lager inspizierte, sah er eine Kolonne von Männern und Frauen vorüberziehen, alle nackt, auf dem Weg in die Gaskammern. In seinem Herzen verspürte er einen tiefen Schmerz. Und er fragte sich: ‘Was muß ich tun, um ihnen jetzt zu helfen, und um in mir selbst Frieden zu haben?’ Wissen Sie, was für eine Antwort ihm aus seinem eigenen Innern gegeben wurde? (Die Väter sprechen von Christus, der in dir spricht. Das ist etwas sehr Tiefes.) Das Buch erzählt, daß er spürte, er muß sich wie die anderen entkleiden und sich in ihre Kolonne einreihen. Fragen wir uns: Woher kam diese Stimme, die er in sich hörte? War das Suggestion? War das Wirklichkeit? Kam sie von Gott? Wäre es nicht besser gewesen, die ganze Gruppe zu stoppen und diese Leute zu befreien? Vielleicht konnte er das nicht. Warum aber bestand die Wahrheit für ihn darin, sich zu entkleiden und sich in ihre Kolonne einzureihen? Eine mögliche Antwort ist die: Ein Mensch, der in dieser Reihe steht, trifft auf die dramatische Frage, daß es vielleicht keinen Gott gibt; daß es keine Liebe in der Welt gibt. Und wenn es keine Liebe in der Welt gibt, dann existiert auch kein Gott, dann ist das Leben eine Ungeheuerlichkeit, und wir sterben in der Gewißheit des Absurden. Aber wenn einer mit dir geht, wird Christus selbst Mensch und stellt sich aus Liebe in die Reihe neben dich; dann existiert die Liebe. Dann existiert Gott! Man kann leben. Man kann sterben. Leben und Tod haben dann einen Sinn.“57 

Wann genau Argüello den für seine persönliche Geschichte wie auch für die Entstehung des Neokatechumenalen Weges so entscheidenden Schritt tat und nach Palomeras Altas zog, ist nicht belegt. Während einige Indizien für das Jahr 1962 sprechen58 , äußert Argüello in einem 1997 mit Bischof Paul Josef Cordes geführten Interview, er habe 1962 „zusammen mit dem Bildhauer Coomontes und dem Maler und Glaskünstler Muñoz de Pablos eine Forschungsgruppe für religiöse Kunst ‘Gremio 62’ begründet.“59  Das spricht gegen eine Datierung des fraglichen Schrittes in dasselbe Jahr. Zudem berichtet Argüello von mehreren Europareisen, die er in den Jahren 1962/63 unternahm, finanziert durch ein Stipendium, das „im Hinblick auf das II. Vatikanische Konzil vergeben wurde, um Kontakte zwischen der protestantischen und katholischen religiösen Kunst zu schaffen“60 . Cordes nennt deshalb das Jahr 1964 als Datum für den Umzug Argüellos nach Palomeras Altas.61 

Die stark divergierenden, zum Teil sogar widersprüchlichen Angaben lassen es nicht zu, den Beginn von Argüellos Leben und Wirken in Palomeras Altas sicher zu datieren.62  Dass hierfür weder im engsten Umfeld des Neokatechumenalen Weges noch im „Weg“ selbst ein Termin überliefert wird, mag u.a. in seinem Selbstverständnis begründet sein: Wie Argüello nicht „Gründer“, sondern lediglich „Initiator“ des Neokatechumenalen Weges sein will, schreibt man auch kein Gründungsdatum fest, das sich wie ein Geburtstag feiern ließe.63  Aus der Sicht des „Weges“ kommt es im Hinblick auf den eigenen Ursprung weniger auf historische Daten als vielmehr auf den Inhalt bzw. die religiöse Dimension des Geschehens an. Ganz in diesem Sinne versteht auch Argüello selbst seinen Lebensweg maßgeblich als gelenkt und geprägt von der Gnade Gottes, wenn er sich über die Zeit bis zum Einzug in Palomeras Altas äußert:

„Der Herr hat mir erlaubt, eine Erfahrung des Absurden, des Atheismus zu machen, bis er Erbarmen hatte; er hat mich gedemütigt, um mich demütig genug zu machen, ihn um Hilfe zu bitten, und danach hat er mich dazu gebracht, unter den Armen zu leben, ohne daß ich wußte[,] was wirklich der Weg des Herrn war. Ich bin gegangen, um unter den Armen zu leben, unter den Barackenbewohnern von Madrid, ohne zu wissen, daß Gott einen Plan damit hatte, worüber ich heute selbst erstaunt bin.“64 

Argüellos ursprünglich angestrebte Zurückgezogenheit und Kontemplation inmitten des Elendsviertels war nur von kurzer Dauer. Schon bald, so berichtet Blázquez, wurde er „zu einem lebendigen Fragezeichen für die Nachbarn, die ihn aufforderten, ihnen von Jesus Christus zu erzählen.“65  Argüello erinnert die entscheidenden Begegnungen mit den Menschen in seiner Umgebung so:

„Es kam wie es immer kommt. An einem Wintertag war es lausekalt und schneite; ich versuchte gerade, mich aufzuwärmen und mit mir auch die herrenlosen Hunde, die bei mir hausten, da kam auf einmal ein Nachbar herein und sagte: ‘Ich habe dir ein Kohlenbecken mitgebracht, weil ich gedacht habe, du stirbst sicher vor Kälte!’ Nach und nach kamen auch die andern: ‘Was ist das für einer, der mit dem Bart und der Gitarre?’ Einige hielten mich für einen, der ein Gelübde gemacht hat; für andere war ich so eine Art Protestant, weil sie mich immer mit der Bibel sahen. Einige Zigeuner kamen zu mir wegen der Gitarre … Sie wussten nicht, wer ich bin – aber vor allem war ich ein Fragezeichen!“66 

Argüello beantwortete die Fragen seiner Nachbarn und der Menschen, die aus anderen Teilen des Viertels zu ihm kamen, indem er ihnen von Jesus Christus erzählte. Diese spontanen Glaubensunterweisungen bewirkten, so die Überlieferung des Neokatechumenalen Weges, „dass unter den Zigeunern, die in Kikos Baracke kamen, um improvisierte Katechesen zu hören, ein Band tiefer Brüderlichkeit entstand.“67  So bildete sich schon bald eine feste Gruppe, die nicht nur Argüellos Katechesen hörte, sondern auch gemeinsam betete und die Eucharistie feierte.68  Neben Argüello und den in der neokatechumenalen Literatur zumeist „Zigeuner“ genannten Bewohnern von Palomeras Altas gehörten dieser Gruppe auch weitere „Laien“69  oder „Brüder“70  an, die nicht aus dem Elendsviertel stammten.71  Über Namen oder Herkunft dieser ersten Begleiter des jungen Argüello ist gleichwohl wenig bekannt.72  Auch Carmen Hernández hat nicht von Anfang an zu dieser Gruppe gehört, sondern muss sich ihr zu einem späteren, nicht näher belegten Zeitpunkt angeschlossen haben.

1.1.2 Carmen Hernández

Carmen Hernández sollte „für die weitere Entwicklung des neokatechumenalen Weges noch von großer Bedeutung werden […], indem sie Kiko mit der Erneuerung der Liturgie des Zweiten Vatikanischen Konzils vertraut machte“73 . Gleichwohl war über ihre Person und über die Umstände, unter denen sie Argüello kennenlernte, lange Zeit wenig bekannt. Konkrete und z.T. sehr detaillierte Informationen finden sich erstmals in Hernández’ Ansprache beim Festakt zur Überreichung des Approbationsdekretes am 28. Juni 2002.

Carmen Hernández aus dem spanischen Soria entstammt einer reichen Industriellenfamilie.74  Auf Wunsch des Vaters studierte sie Chemie, erwarb aber auch ein Lizenziat in Katholischer Theologie.75  Die Auskunft Gennarinis, Hernández sei „im Institut ‘Misioneras de Cristo Jesús’ geistlich geformt worden“76 , kann bedeuten, dass sie zumindest für gewisse Zeit tatsächlich Mitglied eines (missionarischen) Ordensinstitutes war, wie einige Autoren berichten.77  Hernández selbst und die Mehrzahl der neokatechumenalen Texte geben hierüber keine Auskunft. Sicher ist, dass sie sich berufen fühlte, als Missionarin nach Indien zu gehen, im Jahr 1961 aber, wie sie selbst es formuliert, „durch eine Flugroutenänderung, die der Herr an mir bewirkt hat,“78  (ungewollt) nach Barcelona gelangte. Dort lernte sie den Liturgiker Pedro Farnés Scherer kennen und durch ihn die liturgische Erneuerungsbewegung im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils.79  – Von Barcelona aus ging Hernández 1962 nach Israel, wo sie die Heiligen Stätten besuchte und das Land durchwanderte.80  Noch immer wollte sie als Missionarin nach Indien und trug sich mit dem Gedanken, „eine neue Vereinigung zu gründen, eine Bewegung“81 . Dass es dazu nicht kam, schreibt Hernández einer Eingebung durch die Gottesmutter zu. Von ihr habe sie in Ein Karem gehört: „‘Nein! … die Kirche ist es: gebenedeit unter den Frauen wird die Kirche sein’.“82 

Argüello begegnete Hernández 1964, nach ihrer Rückkehr aus Israel und immer noch auf der Suche nach ihrer Berufung83 , eher zufällig. Carmens Schwester Pilar Hernández, die Argüello durch das gemeinsame Engagement in den Madrider Elendsvierteln kannte84 , vermittelte den Kontakt.85  Nach Argüellos Angaben war Carmen Hernández zu dieser Zeit in Madrid, um auf Einladung des Bischofs von Oruro „eine Gruppe zu bilden für die Evangelisierung der Armen, die in den Minen von Oruro in Brasilien arbeiteten“86 . Hernández selbst sagt, sie habe „mit Freundinnen eine neue Stiftung gründen“ wollen.87  Wiederum kam es weder zu einem Missionseinsatz, noch zu einer Neugründung. Die Begegnung mit Argüello und seiner Gruppe in Palomeras Altas veranlassten Hernández zu bleiben.88  Sie zog in eine der Baracken und wurde bald zur zweiten Katechetin der Gemeinschaft. Dabei trug Hernández maßgeblich dazu bei, Argüello mit den liturgischen Impulsen den II. Vatikanischen Konzils vertraut zu machen.89  Gemeinsam, so heißt es, lebten sie auf diese Weise ein „Experiment alltäglicher Nähe“90  mit den Armen von Palomeras Altas.

1.1.3 Entstehung einer „neokatechumenalen“ Gemeinschaft

Welche Entwicklungen und Prozesse in dieser Gruppe abliefen, bis es 1964 zur Bildung der ersten der später „neokatechumenal“ genannten kleinen Gemeinschaften des „Weges“ kam91 , lässt sich nicht genau sagen. Argüello beschreibt das Geschehene zehn Jahre später so:

„Dieses Wort, das schwach und stotternd hervorkam wegen der Schwierigkeit, das Evangelium unter Menschen zu verkünden, die weder Kultur noch Erziehung irgendwelcher Art mitbekommen hatten, fing an, die Gestalt einer katechetischen Synthese anzunehmen: Ein mächtiges KERYGMA, das in dem Maße, wie es auf die Armen herabstieg, die Geburt einer neuen Wirklichkeit herbeiführte: die KOINONIA“92 .

Und weiter heißt es:

„Voll Staunen […] wurden wir Zeuge davon, daß ein Wort Fleisch wurde bei so armen Leuten, die es voll Freude aufnahmen, so daß eine Gemeinschaft im Gebet und eine Liturgie entstanden. Eine Liturgie, die so überraschend war, weil sie die Antwort vieler Brüder war, die in ihrer Sündhaftigkeit den Herrn lobten, der sich ihrer erinnert hatte. So sahen wir im Laufe von drei Jahren vor unseren Augen einen wahren Weg einer Einweisung in den Glauben auftauchen, eine Art Katechumenat, das Schritt für Schritt eine Kirche hervorbrachte und eine brüderliche Kommunion bewirkte.“93 

In jedem Fall – dies betont neben Argüellos Selbstzeugnissen auch die neokatechumenale Literatur – gilt die Bildung der Gemeinschaft nicht als geplanter Akt oder gar gezielter Schritt zur Gründung einer wie auch immer gearteten „Bewegung“. Der „Weg“ sei, so Blázquez, „nicht das Ergebnis einer pastoralen Planung“. Er trage vielmehr „die Züge einer göttlichen Initiative, eines kostbaren Geschenkes Gottes.“94  Und auch Argüello schreibt den Beginn des Neokatechumenalen Weges im Entstehen jener ersten Gemeinschaft weniger seiner Initiative zu als vielmehr der Tatsache, „daß Gott einen Plan damit hatte“95 . Während die so verstandene göttliche „Urheberschaft“ des „Weges“ wiederholt akzentuiert wird96 , bleiben konkrete Fragen, z.B. nach den Inhalten der von Argüello gehaltenen Katechesen wie auch den Umständen, die dazu führten, dass aus der zunächst offenen Gruppe Neugieriger bzw. Interessierter eine strukturierte und verbindliche Gemeinschaft wurde, weitgehend im Dunkeln. Blázquez sieht hierin eine Parallele zu Phänomenen in der Urkirche und konstatiert: „Wie immer im Christentum erscheint zuerst das Leben, dann folgt das Nachdenken und gegebenenfalls die Organisation“97 .

Obgleich sich 1964 bei der Entstehung der ersten Gemeinschaft unter den Armen von Palomeras Altas nach dem Selbstverständnis des Neokatechumenalen Weges die am 8. Dezember 1959 von Argüello empfangene marianische Offenbarung „konkretisierte“98 , gilt diese Inspiration innerhalb des „Weges“ nicht als Anlass für die „Gründung“ der Gemeinschaft. Puff berichtet gar, die Offenbarung sei nach 1959 zunächst vergessen worden.99  Den Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass aus der alltäglichen katechetischen Praxis eine feste Gemeinschaft erwachsen war, und jener fünf Jahre zuvor erfahrenen Inspiration, „kleine Gemeinschaften wie die Heilige Familie von Nazaret zu bilden“100 , hätten Argüello, Hernández und ihre Begleiter(innen) demnach erst rückblickend hergestellt. Dem steht allerdings Hernández’ Auskunft entgegen, Argüello habe ihr bei ihrem zweiten Treffen im Jahr 1964 von der o.g. Eingebung berichtet und auch schon vor Palomeras Altas versucht, solch „kleine Gemeinschaften“ zu gründen.101  Ungeachtet dieser Spannung versteht sich der Neokatechumenale Weg durch die an Argüello ergangene Offenbarung als von der Gottesmutter inspiriert.102  Ihren vollen Wortlaut hat Argüello auf einer Marien-Ikone fixiert, die er 1973 gemalt hat.103  Sowohl die Ikone als auch der Text der Inspiration sind fester Bestandteil des neokatechumenalen Traditionsgutes.104 

1.2 ENTWICKLUNG UND AUSBREITUNG DES NEOKATECHUMENALEN WEGESX

Schon bald nach dem Entstehen der ersten Gemeinschaft unter den Armen von Palomeras Altas fasste der Neokatechumenale Weg auch außerhalb der Barackensiedlung Fuß, nachdem Argüello und Hernández ihre Katechesen in einigen Pfarreien Madrids und der näheren Umgebung gehalten hatten. Dieser Schritt aus dem Elendsviertel in das städtisch geprägte Umfeld der Pfarreien, den die Verantwortlichen des „Weges“ 1965 vollzogen105 , leitete rückblickend die in den Folgejahren und -jahrzehnten beständig fortschreitende, weltweite Ausbreitung des Neokatechumenalen Weges ein. Gleichwohl werden die Initiatoren des „Weges“ nicht müde zu betonen, es sei nicht ihre Entscheidung gewesen, den „Weg“ auch in den Pfarreien zu beginnen. Argüello versichert: „Wir haben nichts entschieden. Der Herr hat uns durch Tatsachen aus den Baracken in die Pfarreien geführt. Der damalige Erzbischof von Madrid und die Pfarreien hatten uns darum gebeten.“106 

Tatsächlich war der damalige Erzbischof von Madrid, Casimiro Morcillo, für die Entwicklung des Neokatechumenalen Weges nach 1964 von maßgeblicher Bedeutung. Obgleich Entstehen und geistliches Leben jener ersten Gemeinschaft um Argüello und Hernández in Palomeras Altas auch bei Teilen des Klerus Aufmerksamkeit erregt haben – einige Pfarrer aus der Umgebung sollen konkretes Interesse an dieser Art der Verkündigung bekundet haben107  –, ging Argüello zufolge die entscheidende Initiative zur Ausweitung des „Weges“ von Erzbischof Morcillo aus.108 

Zu einer ersten Begegnung Morcillos mit der neokatechumenalen Gemeinschaft in Palomeras Altas kam es, so Argüello, aufgrund eines Hilferufs, den er an den Erzbischof richtete.109  Als Teilen der Barackensiedlung von staatlicher Seite der Abriss drohte, wandte sich Argüello Hilfe suchend an Morcillo, den er aus seiner Zeit als Katechist der Cursillos de Cristianidad persönlich kannte.110  Der Erzbischof kam Argüellos Bitte nach, besuchte Palomeras Altas und lernte hier die Gemeinschaft kennen, die sich um Argüello und Hernández gebildet hatte.111  Argüello berichtet verschiedentlich: Als er „mit dieser Wirklichkeit in Berührung kam, unterstützte er sie mit Enthusiasmus.“112  Konkret bestand diese Unterstützung zunächst und vor allem darin, dass Erzbischof Morcillo Argüello und Hernández von 1965 an113  in Pfarreien seiner Erzdiözese sandte: Wo ein Pfarrer dies für seine Pfarrei wünschte, sollten sie ihre Katechesen halten und, wenn sich danach eine Gemeinschaft bildete, den Neokatechumenalen Weg in der Pfarrei beginnen.114  Argüello zufolge hatten bis zu diesem Zeitpunkt weder er noch Hernández die Absicht, „irgendetwas zu initiieren“.115 

Soweit bekannt, verlief das Experiment, die neokatechumenalen Katechesen auch in den Pfarreien außerhalb der Slums anzubieten, überaus erfolgreich. Zwar kam es vereinzelt auch zu Konflikten; nach Zevini handelte es sich dabei allerdings nur um die „unvermeidlichen Schwierigkeiten, die dem Unverständnis und der Neuheit zuzuschreiben waren“116 . Davon abgesehen trug das Engagement von Argüello, Hernández und ihren Mitarbeiter(inne)n schon bald erste konkrete Früchte: 1966 bildete sich in der Madrider Pfarrei Christo Rey die erste neokatechumenale Gemeinschaft außerhalb von Palomeras Altas117 , und innerhalb von nur zwei Jahren fasste der „Weg“ in weiteren Pfarreien der Erzdiözese Madrid wie auch in anderen spanischen (Erz-)Diözesen bis hin nach Barcelona Fuß.118 

Die bis dato nur in den Barackenvierteln erprobten Katechesen Argüellos hatten sich insoweit bewährt: Sowohl in den städtisch geprägten Pfarreien Madrids wie auch in einigen ländlichen Gemeinden der Umgebung waren kleine Gemeinschaften entstanden, deren Mitglieder sich auf einen gemeinsamen Weg der Bekehrung machten, ein Erfolg, der angesichts der gegenüber den Slums so anderen „soziologischen Struktur“ der Pfarreien nach eigenem Bekunden auch Argüello selbst überrascht hat.119  Gleichwohl veränderte der erste Einsatz der neokatechumenalen „Methode“ außerhalb von Palomeras Altas auch den Neokatechumenalen Weg selbst: Die Begegnung und Auseinandersetzung mit der von Argüello so genannten anderen „soziologischen Struktur“ einer städtischen Pfarrei – verglichen mit den Entstehungsbedingungen des „Weges“ – zwang die Verantwortlichen, Anliegen und Zielrichtung ihrer Katechesen zu überdenken und zum Teil neu zu definieren.120  In den Pfarreien fanden Argüello und Hernández nicht nur einen in Bezug auf die (religiöse) Bildung oder soziale Stellung gänzlich „neuen“ Adressatenkreis vor; auch in ihrem christlichen Selbstverständnis und -bild unterschieden sich die Pfarrchrist(inn)en maßgeblich von den Bewohner(inne)n der Elendsviertel, denn – so Argüello – „während sich die Armen des Elendsviertels bewusst waren, dass sie einer Bekehrung bedurften […], fühlten sich die Leute in den Pfarreien bereits bekehrt.“121 

Es war nicht zuletzt die Konfrontation mit solchen, ihres Erachtens „falschen Vorstellungen von Christentum“122 , die Argüello und Hernández in den Pfarreien vorfanden, welche dazu führte, dass jene „theologisch-katechetische Synthese“123 , die aus ihrem missionarisch geprägten katechetischen Wirken unter den Armen von Palomeras Altas entstanden war, zunehmend die Form eines Katechumenates annahm. Seinen letzten „Schliff“ und die später ja auch namengebende Prägung erhielt der „Weg“ insofern erst durch seine Anwendung in den Pfarreien: Erst hier wurde er im engeren Sinne zu einem neo-katechumenalen Weg, das heißt zu einem postbaptismalen Katechumenat für Erwachsene zur Wieder- bzw. Neuentdeckung der eigenen Taufe und zur Einführung in einen erwachsenen christlichen Glauben.124 

Mit dem erstmaligen Überschreiten der spanischen Landesgrenze begann ein neuer und richtungsweisender Abschnitt in der Geschichte des Neokatechumenalen Weges. Im Sommer des Jahres 1968 siedelten Argüello und Hernández nach Rom über, um ihre Katechesen auch dort anzubieten und neokatechumenale Gemeinschaften zu gründen. De facto verlegten die beiden Initiatoren mit ihrem Wohnsitz auch die „Zentrale“ des Neokatechumenalen Weges nach Rom125 , obgleich es eine solche zu dieser Zeit offiziell noch gar nicht gab. Zugleich markiert dieser Wechsel von Madrid nach Rom den Beginn einer Entwicklung, die den „Weg“ in den Folgejahren von einem spanischen Regionalphänomen zu einer international agierenden „Bewegung“ innerhalb der römisch-katholischen Kirche werden ließ. Gleichwohl funktionierte die Eröffnung des Neokatechumenalen Weges in Italien nicht reibungslos. Zwar suggerieren neokatechumenale Darstellungen, erste Anfragen aus dem europäischen Ausland seien angesichts der pastoralen Erfolge, die der „Weg“ in Spanien realisieren konnte, gewissermaßen zwangsläufig eingegangen. Argüello und Hernández wären demnach nach Rom gereist, um einer von außen an sie herangetragenen Bitte nachzukommen.126  Dieser falsche Eindruck resultiert aus einer zwar gängigen, jedoch unsachgemäß verkürzten Darstellung in den meisten Texten aus dem und über den Neokatechumenalen Weg. Argüello und Hernández selbst schildern den ausführlichen Gang der Ereignisse so127 :

Der italienische Priester Msgr. Dino Torregiani, der Argüello und Hernández bei neokatechumenalen Katechesen in Avila erlebt hatte, bewegte die Verantwortlichen des „Weges“, mit ihm nach zu Rom zu gehen. Sie folgten demnach keiner konkreten Einladung eines römischen Pfarrers. Ausgestattet mit einem Empfehlungsschreiben des Erzbischofs von Madrid128  trafen Argüello und Hernández Mitte Juni 1968 in Rom ein.129  Dort zogen sie, unterstützt von Msgr. Torregiani, von Pfarrei zu Pfarrei und boten den Pfarrern ihre Katechesen an. Als sie damit keinen Erfolg hatten, ließen sie sich – wie schon in Madrid – in einer Barackensiedlung nieder, dem Borghetto Latino am Rande Roms130 , wo sie jungen Christen begegneten, die sich für die Armen des Viertels einsetzten. Über diese Gruppe entstand der Kontakt zu Christen aus der römischen Pfarrei „Unserer lieben Frau vom allerheiligsten Sakrament und der heiligen Märtyrer von Kanada“ (kurz: Pfarrei der Kanadischen Märtyrer), die sie von der Notwendigkeit überzeugten, einen gemeinschaftlichen Weg der Neuevangelisierung zu beginnen. Mit der Erlaubnis des Kardinals Dell’Acqua, des damaligen päpstlichen Generalvikars für die Stadt und den Bezirk Rom, und der Zustimmung des Pfarrers begannen sie Ende 1968 zusammen mit Francesco Cuppini, einem Priester der Diözese Bologna131 , in der Pfarrei der Kanadischen Märtyrer mit den eröffnenden Katechesen des „Weges“.132  „Von diesem Zeitpunkt an“, so formuliert es der Päpstliche Rat für die Laien in seinem Approbationsdekret vom 29. Juni 2002, habe „sich der Weg in Diözesen der ganzen Welt und sogar in Missionsländer[n] ausgebreitet.“133 

Am Ende der zweimonatigen Verkündigung durch das Katechisten-Team des Neokatechumenalen Weges bildeten 50 Gläubige der Pfarrei der Kanadischen Märtyrer die erste neokatechumenale Gemeinschaft Roms.134  Innerhalb von nur fünf Jahren nach seiner Entstehung im Armenviertel Palomeras Altas bei Madrid hatte der „Weg“ damit auch in Italien Fuß gefasst. Allerdings scheint es vor diesem Erfolg der Entstehung einer ersten Gemeinschaft – anders als bei der Ausbreitung des Neokatechumenalen Weges in Spanien – in Rom erstmals auch einen ernsthaften Konflikt zwischen Katechisten und Pfarrer gegeben zu haben: Obgleich der Pfarrer selbst den „Weg“ befürwortet und Argüello und Hernández gestattet hatte, in der Pfarrei der Kanadischen Märtyrer ihre Katechesen zu halten, führte ihr Auftreten in der Pfarrei zu einer Auseinandersetzung, die so gravierend war, dass der Pfarrer die Katechesen abbrechen wollte. Argüello zufolge resultierte der Konflikt aus einem Missverständnis, wog aber dennoch so schwer, dass er erst durch eine persönliche Intervention des Erzbischofs von Madrid ausgeräumt werden konnte.135  Mit diesem konsequenten Eintreten für den Neokatechumenalen Weg auch außerhalb seiner eigenen Diözese erwies sich Erzbischof Morcillo zum wiederholten Male als engagierter Beschützer und Förderer des „Weges“.136 

Nachdem anfängliche Schwierigkeiten auf diese Weise ausgeräumt waren und sich in der Pfarrei der Kanadischen Märtyrer die erste neokatechumenale Gemeinschaft gebildet hatte, verbreitete sich der „Weg“ in Rom und darüber hinaus.137  Diese fortschreitende Expansion erforderte den Einsatz einer immer größeren Zahl von Katechisten. Hielten in Madrid und Umgebung ebenso wie anfangs in Rom noch Argüello, Hernández und ein Priester die jeweils ersten Katechesen des „Weges“, so wurde diese Aufgabe angesichts der steigenden Nachfrage zunehmend auch von Mitgliedern schon bestehender neokatechumenaler Gemeinschaften übernommen.138  Diese örtlichen Katechisten wurden von ihren Gemeinschaften durch Wahl bestimmt und autorisiert. Zum einen sollten sie in ihrer jeweiligen Pfarrei neue Gemeinschaften gründen, zum anderen aber auch dazu beitragen, den Neokatechumenalen Weg in anderen Pfarreien der eigenen oder einer benachbarten Diözese zu verwurzeln.

Die von 1972 an, möglicherweise bedingt durch die Veröffentlichung des neuen Ordo Initiationis Christianae Adultorum (OICA)139 , deutlich wachsende Zahl der Anfragen von Bischöfen und Pfarrern aus dem europäischen sowie lateinamerikanischen Ausland140  führte – so die Darstellung des Neokatechumenalen Weges – zudem „zur Entdeckung des Charismas der ‘reisenden Katechisten’ (Itineranten)“141 . Diese „Itineranten-Katechisten“, die für einige Wochen, Monate oder auch Jahre ihr bisheriges privates wie berufliches Lebensumfeld aufgaben und sich im Dienste der neokatechumenalen Sache auf Wanderschaft („Itineranz“) begaben, ermöglichten es dem „Weg“, auch Anfragen aus dem Ausland nachzukommen.142  Auf diese Weise trugen die Itineranten-Katechisten von 1972 an wesentlich dazu bei, den Neokatechumenalen Weg auch in anderen europäischen Nationen, allen voran Frankreich143 , sowie in zahlreichen Ländern Lateinamerikas zu verwurzeln.144  – Schon wenige Jahre später resümiert Argüello:

„Es ist nicht möglich, alle Wunder zu erzählen, deren Zeuge wir wurden: von Leuten, die ihr weltliches, sündiges Leben verlassen haben, ihr Leben voll von Ehebruch, Diebstahl, Gewalttat, Atheismus, tiefem Egoismus; von den zerstörten Ehen und getrennten Familien, die Christus wieder zusammengeführt hat; von den verwirrten Jugendlichen, die den Sinn des Lebens gefunden haben; von der Kommunion, die unter Leuten jeden Alters und der verschiedensten sozialen und kulturellen Bedingungen entstanden ist. [… ] Wir wollen nur unterstreichen, dass diese Wunder – wie auch die schnelle und so überraschende Ausbreitung der Gemeinschaften über die ganze Erde – Frucht der Taufe sind, die allmählich durch das Neokatechumenat entdeckt wird und die der Herr uns als ein ungeschuldetes Geschenk leben liess [sic!].“145 

1.3 ÜBERPRÜFUNG UND BELOBIGUNG DURCH DIE KONGREGATION FÜR DEN GOTTESDIENST UND NAMENSGEBUNG ALS „NEOKATECHUMENAT“ BZW. „NEOKATECHUMENALE GEMEINSCHAFTEN“

Noch bevor die weltweite Ausbreitung des Neokatechumenalen Weges einsetzte, kam es zu einer ersten Überprüfung neokatechumenaler Riten durch die Kongregation für den Gottesdienst: Wie Argüello und Hernández berichten146 , wurden sie zu Beginn des Jahres 1972147  vor eine Kommission der Gottesdienst-Kongregation geladen. Ein römischer Weihbischof hatte bezüglich der beim ersten Skrutinium des „Weges“ durchgeführten Exorzismen Zweifel geäußert und damit die kirchenamtliche Befragung veranlasst. Die Kommission unter Vorsitz des damaligen Sekretärs der Kongregation, Msgr. Annibale Bugnini, sei mit jenen Experten besetzt gewesen, die bis Ende 1971 am neuen Ordo Initiationis Christianae Adultorum gearbeitet hätten.148  Vor ihnen sollten Argüello und Hernández Rechenschaft über Methode und Ziel des Neokatechumenalen Weges ablegen, insbesondere über die beargwöhnten Exorzismen. Verlauf und Ergebnis dieser Befragung sind von Seiten der Kongregation nicht dokumentiert. Die Verantwortlichen des „Weges“ erinnern die fragliche Kommissionssitzung wie folgt:

„Als wir erklärten, dass wir nichts anderes taten, als die Menschen mit dem ersten Teil der Taufe zu konfrontieren, die sie empfangen hatten und zu der die Exorzismen als ein wichtiger Bestandteil gehörten, und nachdem wir erklärt hatten, wie der Weg geboren worden war, woraus er bestand und so weiter, waren sie verblüfft und schauten sich gegenseitig an. Es war die praktische Erfüllung dessen in den Pfarreien, was sie über die Jahre im Ordo für die Initiation Erwachsener ausgearbeitet hatten.“149