Der neue Kalte Krieg - Julia Berghofer - E-Book

Der neue Kalte Krieg E-Book

Julia Berghofer

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Beschreibung

Der Krieg in der Ukraine hat tiefgreifende Folgen für unsere Sicherheit. Von der nuklearen Eskalation und der Zerstörung wichtiger Infrastruktur bis zu Desinformationskampagnen: Wir stecken mitten in einem neuen Kalten Krieg. Obwohl sich Deutschland und die EU dieser Gefahr bewusst sind, fehlt es an geeigneten Verteidigungsstrategien. Wie groß ist die nukleare Bedrohung? Steht uns ein neues Zeitalter der Aufrüstung bevor? Und wie sollte sich Europa künftig gegen globale Aggressoren rüsten? Sicherheitsexpertin Julia Berghofer beschreibt, wie die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen in Zukunft aussehen wird. Und sie fordert dringend eine neue Sicherheitspolitik.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungVorwortKapitel 1 | House on Fire: Ein Kalter Krieg 2.0?Ein neuer Kalter Krieg?Die öffentliche Wahrnehmung: Verkürzte Debatte und konträre BeurteilungenDie Krise in der euro-atlantischen Region: Vertane Chancen und rote LinienWer trägt die Schuld?Kalter Krieg unter neuen VorzeichenKapitel 2 | The Bomb: Umdenken in der nuklearen AbschreckungDeutschland und die nukleare Abschreckung im ersten Kalten KriegNukleare DilemmataDer Krieg in der Ukraine und die Rückkehr des AbschreckungsdenkensDeutschland und die Zukunft der nuklearen Abschreckung in EuropaResümee: Neues strategisches Denken und konstruktiver Umgang mit Abschreckung im europäischen und euro-atlantischen RaumKapitel 3 | Few Problems? Herausforderungen für die Aufrüstung der BundeswehrDie deutsche Zeitenwende: War da was?Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr im WandelDas Sondervermögen und seine Implementierung: Ein Blick hinter die KulissenDas Zwei-Prozent-Ziel: Deutschland tut sich mit der NATO-Quote schwerResümee: Der Zeitenwende mehr Leben einhauchenKapitel 4 | Map of the Problematique: Russlands hybride und politische KriegsführungHybride Kriegsführung: Eine AnnäherungHybride Kriegsführung in der Praxis: BeispieleRusslands hybride Aktivitäten im Kontext des Krieges in der Ukraine: »Cybergeddon«?Resümee: Aufbau von mehr Resilienz in den europäischen StaatenKapitel 5 | Broken Glass: Europäische Sicherheit und Verteidigung nach dem russischen AngriffskriegNATO und EU im Spannungsfeld zwischen Russland und ChinaStrategisches Update: EU und NATO definieren ihr Verhältnis zu Russland neuResümee: Europa braucht Einigkeit, Expertise und nukleare KontinuitätKapitel 6 | Time is Running Out: Perspektiven für strategische Risikoreduktion und nukleare RüstungskontrolleDer neue Kalte Krieg: Schlechte Nachrichten für Rüstungskontrolle und AbrüstungDer »kleinste gemeinsame Nenner« zwischen West und Ost: Strategische Risikoreduktion und KrisenmanagementWas genau bedeutet Risikoreduktion und wie kann sie das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen sicherer machen?Resümee: Mögliche Maßnahmen im neuen Kalten KriegKapitel 7 | (No) Man’s World? Die Rolle der feministischen Außen- und SicherheitspolitikWarum feministische Außen- und Sicherheitspolitik?Die deutsche Strategie zu einer feministischen Außen- und EntwicklungspolitikKrieg und das klassische FrauenbildResümee: Frauen stärken … auf allen EbenenKapitel 8 | No Future? Die Kooperation mit der jüngeren Generation von Russ:innenWeshalb noch mit russischen Expert:innen reden?Extrempositionen helfen nichtGrenzgänger:innenReflexionen junger ukrainischer und russischer Expert:innenFazitDanksagungGlossarAnmerkungen

Über dieses Buch

Der Krieg in der Ukraine hat tiefgreifende Folgen für unsere Sicherheit. Von der nuklearen Eskalation und der Zerstörung wichtiger Infrastruktur bis zu Desinformationskampagnen: Wir stecken mitten in einem neuen Kalten Krieg. Obwohl sich Deutschland und die EU dieser Gefahr bewusst sind, fehlt es an geeigneten Verteidigungsstrategien. Wie groß ist die nukleare Bedrohung? Steht uns ein neues Zeitalter der Aufrüstung bevor? Und wie sollte sich Europa künftig gegen globale Aggressoren rüsten? Sicherheitsexpertin Julia Berghofer beschreibt, wie die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen in Zukunft aussehen wird. Und sie fordert dringend eine neue Sicherheitspolitik.

Über die Autorin

Julia Berghofer ist Expertin für die Bereiche Sicherheitspolitik, euroatlantische Sicherheit und nukleare Rüstungskontrolle. Sie arbeitet als Senior Policy Fellow beim EUROPEAN LEADERSHIP NETWORK (ELN) und ist aktiv im FORUM NEUE SICHERHEIT der HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG und im RÉSEAU NUCLÉAIRE ET STRATÉGIE. Dabei publiziert sie regelmäßig in verschiedenen Medien, moderiert Diskussionsveranstaltungen und ist gefragte Interviewpartnerin wichtiger Leitmedien.

J U L I A B E R G H O F E R

Atomwaffen, Cyberattacken,hybride Gefahren

Wie der Westen der neuen Bedrohungbegegnen muss

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG,

Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Jan W. Haas, Berlin

Umschlaggestaltung: © SO YEAH Design, Gabi Braununter der Verwendung von Motiven von© shutterstock.com: Adam Radosavljevic | helloRuby

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4846-9

quadriga-verlag.de

lesejury.de

Für Margrit und Carolinund Werner und Franziska

Vorwort

Dieses Buch habe ich zwischen Mitte 2022 und Anfang 2023 geschrieben. Die Idee hierzu entstand kurz nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine – zu dieser Zeit wurde ich vermehrt von Medien als Interviewpartnerin, aber auch vom Deutschen Bundestag als Sachverständige zum Sondervermögen für die Bundeswehr und für diverse Formate als Sprecherin und Moderatorin angefragt. Der Bereich, in dem ich arbeite – nukleare Abschreckung, Rüstungskontrolle und Abrüstung –, war insbesondere im deutschen Kontext in den letzten Jahren ein Orchideenthema, mit dem sich nur eine Handvoll Expert:innen befassten. In der Öffentlichkeit kam der nuklearen Abschreckung, trotz der deutschen Rolle in der nuklearen Teilhabe der NATO – der Einbindung von Mitgliedstaaten ohne eigene Atomwaffen in die Abschreckungspolitik des Bündnisses –, wenig Beachtung zu. Es handelte sich um ein Thema, mit dem sich selbst Entscheidungsträger:innen nicht gern beschäftigten: zu technisch, zu komplex, zu wenig relevant oder zu ideologisch aufgeladen.

Mit dem brutalen Angriffskrieg des Kremls, der nicht nur die ukrainische territoriale Integrität infrage stellt, sondern auch westliche Werte attackiert, ist die Wahrnehmung nuklearer Gefahren zu einem allgemein präsenten Thema avanciert. Zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion herrscht in Deutschland wieder Angst vor einem Atomkrieg. Von Tageszeitungen bis in die Talkshows diskutierten Kommentator:innen und Expert:innen, ob die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine Präsident Wladimir Putin zu einem Atomschlag bewegen könnten. Die Öffentlichkeit interessierte sich plötzlich für den Unterschied zwischen taktischen und strategischen Nuklearwaffen. Und Leute wie ich waren als Gesprächspartner:innen zunehmend gefragt.

Ich habe zunächst gezögert, als mir vorgeschlagen wurde, dieses Buch zu schreiben. Kann ich als Autorin, die den ersten Kalten Krieg nicht miterlebt hat, einen wertvollen Beitrag leisten, indem ich über den neuen Kalten Krieg schreibe? Derartige Zweifel sind in meinem Umfeld nicht unüblich – sowohl in der jüngeren als auch der erfahreneren Generation. Die meisten meiner Kolleg:innen, die im nuklearen Bereich arbeiten, legen eine große Bescheidenheit an den Tag, wenn es um die Beurteilung nuklearer Gefahren geht, um Aussagen über Abschreckung und Rüstungskontrolle. Denn das Thema steckt voller heikler moralischer und logischer Fragezeichen. Es ist keines, über das leicht allgemeingültige Aussagen getroffen werden können. Man gewöhnt sich beim »Fischen im Graubereich« eine gewisse Demut vor der Komplexität der Materie an.

Dennoch habe ich mich – glücklicherweise – überzeugen lassen, dass ich etwas Substanzielles zur Debatte beitragen kann. Nicht nur wegen meines fachlichen Hintergrundes, sondern auch aufgrund der Netzwerke, zu denen ich Zugang habe, sowie dank der Tatsache, dass mein Arbeitgeber, das European Leadership Network (ELN), ein paneuropäischer Thinktank mit Hauptsitz in London, auch nach Beginn des Krieges Gespräche mit ukrainischen, russischen und belarussischen Expert:innen initiierte. Ich habe in diesem Kontext seit dem 24. Februar 2022 wöchentliche Online-Formate mit jüngeren ukrainischen und russischen Teilnehmer:innen sowie drei Präsenztreffen organisiert. Diese Treffen waren frei von Propaganda, und die Teilnehmer:innen, die sich teilweise bereits seit Jahren kennen, diskutierten stets konstruktiv und respektvoll. Diese Erfahrungen sind insbesondere in Kapitel 8 eingeflossen.

Mir ist bewusst, dass diese Form des Austausches heute immer mehr zur Ausnahme geworden ist. Aus vollkommen nachvollziehbaren Gründen gibt es kaum noch Initiativen, die russische und ukrainische Expert:innen zusammenbringen. Dennoch sind diese Formate wertvoll und liefern aufschlussreiche Erkenntnisse darüber, wie jüngere Kreml-Gegner:innen in Russland und im Ausland denken und wie sie ihre Zukunft sehen.

Dieses Buch ist nicht zuletzt eine Kombination von teilweise sehr persönlichen Einblicken, Erkenntnissen aus Gesprächen mit ehemaligen hochrangigen Entscheidungsträger:innen und Diplomat:innen sowie theoretischen Gedanken zum neuen Kalten Krieg. Mehr noch als die ebenfalls sehr wichtige Frage, wie die euro-atlantische Region in eine Situation geraten konnte, in der die europäische Sicherheitsarchitektur bedroht ist, stehen Gedanken dazu im Mittelpunkt, wie sich Staaten in Europa – insbesondere Deutschland – außen- und sicherheitspolitisch neu aufstellen müssen.

In jedem Kapitel schwingen Erfahrungen mit, die ich in unterschiedlichen Formaten machen durfte – beispielsweise als zivilgesellschaftliche Vertreterin bei UN-Konferenzen wie den beiden Überprüfungskonferenzen zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), als Mitglied von Netzwerken wie dem französischen Netzwerk Réseau nucléaire et stratégie – nouvelle génération (RNS-NG), das sich an Nachwuchsexpert:innen im nuklearen Bereich richtet, dem Forum Neue Sicherheitspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung und ganz besonders dem Younger Generation Leaders Network (YGLN), in dem ich seit 2017 Mitglied bin und das ich seit 2018 koordiniere. Es spielen aber auch Erlebnisse aus meiner Zeit als Aktivistin bei der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und als Mitarbeiterin bei der Münchener Sicherheitskonferenz mit hinein. Die unterschiedlichen Gesprächsformate mit aktuellen und ehemaligen Entscheidungsträger:innen, Politiker:innen und Expert:innen aus der gesamten euro-atlantischen Region, die ELN organisiert, haben mich zu vielen meiner Gedanken inspiriert.

Natürlich sind alle Ansichten, die ich in diesem Buch formuliert habe, ausschließlich meine eigenen. Sie spiegeln nicht die Haltung des European Leadership Network oder eines anderen Netzwerkes, in dem ich aktiv bin, wider. Gleichzeitig hat mich der Austausch mit meinen Kolleg:innen aus Europa, den USA, der Ukraine und Russland maßgeblich dazu inspiriert, dieses Buch zu schreiben.

Kapitel 1 |House on Fire: Ein Kalter Krieg 2.0?

Ein neuer Kalter Krieg?

Steuern wir, steuert die euro-atlantische Gemeinschaft auf einen neuen Kalten Krieg zu? Und was bedeutet das? Inwiefern wird sich der neue Kalte Krieg, wenn es ihn gibt, vom »ersten« Kalten Krieg unterscheiden? Und was können die europäischen Staaten gemeinsam tun, um sich auf die neue Situation einzustellen und die europäische Verteidigung zu stärken? Vor welchen Aufgaben stehen die NATO und die EU? Und wie kann sich Deutschland – genauer gesagt: die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik – besser aufstellen?

Mit diesen Fragen ringen die westlichen Staaten, und es kann keine einfachen Antworten geben. Sie ringen insbesondere deswegen, weil sich ein Großteil der westlichen Staatengemeinschaft lange Zeit damit schwergetan hat, Russland als echtes Sicherheitsproblem für die gesamte euro-atlantische Region wahrzunehmen. Deutschland war bei den Zögerern ganz vorne dabei. Dadurch sind die europäischen Staaten und ihr wichtigstes Verteidigungsbündnis, die NATO, in eine Situation geraten, in der sie seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine geradezu von den Geschehnissen getrieben werden, auch wenn Russland zum jetzigen Zeitpunkt (Stand April 2023) auf dem Schlachtfeld konventionell nicht überlegen ist. Die Lücken in der westlichen Verteidigungsfähigkeit sind offensichtlich geworden, insbesondere der Mangel an Ausrüstung, strategischem Denken und einem grundlegenden Verständnis der russischen Ziele in Europa.

Gleichzeitig hat Russlands Angriffskrieg die europäischen Staaten vehement aus einem sicherheits- und verteidigungspolitischen Dornröschenschlaf gerissen und für einen ungeahnten Zusammenhalt in der NATO gesorgt, von dem Moskau sicherlich überrascht wurde: Statt die Allianz zu spalten, hat der Kreml sie näher zusammenrücken lassen. Wie lange dieser Trend anhält, hängt von den Mitgliedstaaten selbst ab und von deren Bereitschaft, Russland und seine militärischen und nichtmilitärischen Aggressionen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie in anderen europäischen Ländern langfristig ganz hoch auf ihre Agenda zu setzen.

Der russische Überfall auf ein souveränes Nachbarland stellt in jedem Fall eine Zäsur in den euro-atlantischen Beziehungen dar. Er geht einher mit einem Abgesang auf jegliche Form von Kooperation, Stabilität in Europa und Respekt gegenüber der territorialen Integrität derjenigen Staaten, die Russland als Bestandteil seiner Einflusssphäre betrachtet. Der Westen kann sich daher einer langfristigen Konfrontation mit Moskau nicht entziehen: Der Krieg in der Ukraine geht uns alle an – und das nicht erst durch die westlichen Waffenlieferungen, sondern weil Russland die europäische Sicherheit an sich zur Disposition gestellt hat. Die Führung im Kreml hat sich damit endgültig in die Position eines Außenseiters katapultiert, und es ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht absehbar, wie sich das Verhältnis zwischen den europäischen Staaten und Russland mittel- und langfristig gestalten wird.

Der Krieg in der Ukraine: Ungewisser Ausgang

Vieles hängt vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab: Dass der Kreml eine Niederlage einräumt und seine Truppen zurückzieht, seine genozidalen Verbrechen eingesteht und in Verhandlungen mit Kiew neuen Sicherheitsgarantien für die Ukraine zustimmt, wäre ein begrüßenswertes Szenario, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Ein begrenzter Atomwaffeneinsatz vonseiten Moskaus würde die Bereitschaft der Ukraine, sich zu verteidigen, nicht schwächen, und auf dem Schlachtfeld lassen sich aufgrund der Streuung der ukrainischen Truppen keine signifikanten Ergebnisse erzielen. Zudem muss Moskau immer mit einer massiven Antwort seitens der NATO rechnen – und die Befürchtungen davor sind in Moskau groß. Nicht umsonst hat der Kreml nach dem Niedergang einer ukrainischen Rakete jenseits der polnischen Grenze sofort klargestellt, dass es sich nicht um einen russischen Angriff auf NATO-Territorium gehandelt habe.

Das wahrscheinlichste kurz- und mittelfristige Szenario ist vermutlich ein zäher Abnutzungskrieg. Der Kreml spielt auf Zeit und hofft auf die schwindende Bereitschaft der westlichen Staaten, Kiew weiterhin mit Waffen- und Munitionslieferungen zu unterstützen. Leider war und ist es ebenjenes Zögern, das einen Sieg der ukrainischen Truppen bisher verhindert hat. Mit dem Argument, dass man Moskau nicht provozieren wolle, wurden schwere Waffen zu spät geliefert und gab es immer wieder allzu langwierige Debatten unter anderem in der deutschen Politik, welche Kiew kostbare Zeit gekostet haben. Diskussionen wie jene, die prominent um mögliche Panzerlieferungen an die Ukraine in 2022 geführt wurden, wiederholen sich 2023 mit Blick auf Kampfjets. Man kann die Ukraine nur bewundern für den Humor, den sich das Verteidigungsministerium erhalten hat (und der natürlich auch eine taktische PR-Maßnahme ist). Mit einem satirischen Video auf seinem Twitter-Kanal »bewirbt« das Ministerium den »modernen« F-16-Kampfjet »made in the 80s«, passend unterlegt mit der 80er-Jahre-Hymne »Take My Breath Away« der US-amerikanischen Band »Berlin«.1 Denn die Lieferung von modernen Kampfjets wird als weitere rote Linie in der Waffenlieferungsdiskussion dargestellt, die Staaten wie die USA und Deutschland bisher nicht überschreiten wollen.

Gelegentlich wird in der öffentlichen Debatte das Argument angeführt, ein Mehr an westlichen Waffenlieferungen würde nur zu mehr Blutvergießen führen, und Waffen könnten keine Kriege beenden oder gar verhindern. Dies ist eine ebenso scheinheilige wie ignorante Behauptung: Leider gibt es in der Geschichte nur allzu viele Beispiele, in denen es Waffengewalt brauchte, um Aggressoren zu stoppen. Das prominenteste hiervon ist Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Natürlich ist dies keine simple Logik, die auf jeden Krieg oder Konflikt zutrifft, und eine Pauschalisierung verbietet sich. Doch in einem Konflikt, in dem so offenkundig ist, dass eine Partei sich eines illegalen Angriffskrieges und Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat, sollte die Unterstützung des angegriffenen Staates mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln außer Frage stehen. Und nicht zuletzt ist ungewiss, wanndas Blutvergießen russischer Truppen auf ukrainischem Boden tatsächlich enden würde: Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall eines Stopps westlicher Waffenlieferungen und einer ukrainischen Kapitulation wäre das Risiko sehr hoch, dass russische Truppen weiter mordend und marodierend durch das Land zögen.

Der neue Kalte Krieg hat keine Blaupause

Wir können uns der Logik des neuen Kalten Krieges als euro-atlantische Gemeinschaft nicht entziehen, selbst wenn wir die Ukraine langfristig ihrem eigenen Schicksal überlassen würden. Russland und die europäischen Staaten teilen einen Kontinent, und ihr Schicksal war selbst zu Zeiten des Eisernen Vorhangs eng verbunden. Moskau mag heute ökonomisch schwach und zumindest in einigen Bereichen durch westliche Sanktionen geschwächt sein. Nach dem Ende der Sowjetunion hat Moskau drei Staaten in seiner selbst definierten Einflusssphäre an die NATO »verloren«, und die restlichen postsowjetischen Staaten im europäischen Raum haben, mit prominenter Ausnahme von Belarus, mehrheitlich engere oder sogar enge Beziehungen mit Westeuropa angestrebt. Doch Russland bleibt trotz – oder vielmehr: gerade aufgrund – seiner ökonomischen und politischen Schwächung eine Gefahr. Die konventionell-militärische Abnutzung in der Ukraine katapultiert nukleare Abschreckung und aggressive nukleare Rhetorik ganz nach oben auf die Agenda des Kremls. Auch wenn ein Atomwaffeneinsatz vonseiten Moskaus dennoch unwahrscheinlich ist, gelingt es Russland durch seine mal subtilen, mal sehr offenherzigen Drohungen aus einem breit gefächerten nuklearen Spektrum, die NATO-Staaten zu verunsichern.

Ungünstigerweise lenkt das nukleare Schreckgespenst zu sehr von den viel handhabbareren Instrumenten ab, die Russland zur Verfügung stehen. Moskau versteht sich meisterhaft auf alle Aspekte hybrider Kriegsführung, von Cyberangriffen über Informationskrieg und das Einsetzen von Recht als Druckmittel (»Lawfare«) bis hin zur Instrumentalisierung von russischen Landsleuten im Ausland, um dort prorussische Narrative zu verbreiten (Näheres zu diesen Themen in Kapitel 4). So kleinteilig und vergleichsweise harmlos es erscheinen mag, wenn Moskau »Kulturzentren« in den europäischen Hauptstädten betreibt oder hier und da einmal die Webseite einer Fluglinie hackt – all diese Aktivitäten sind nur der Anfang dessen, worauf wir uns in einer langwierigen Konfrontation mit einem in die Enge gedrängten Staat, der dennoch über einen gut bestückten Instrumentenkasten an malignen Mitteln verfügt, einstellen müssen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der autoritäre Staat, der sich immer mehr zu einem totalitären Regime entwickelt,2 von einem mächtigen Partner unterstützt wird: China. Mithilfe dieses Bündnisses kann das Putin-Regime einige seiner Schwächen ausgleichen. Insbesondere auf internationaler Ebene ist es schwierig, Russland zu einem echten Paria zu machen. Die Koalition derjenigen, die Russlands Verhalten verurteilen, umfasst circa 61 Prozent der Weltwirtschaft, aber nur 16 Prozent der globalen Population, wobei China und Indien einen Großteil der verbleibenden 84 Prozent ausmachen. Das Verhältnis der westlichen Staaten zum Globalen Süden wird daher eine herausragende Rolle im neuen Kalten Krieg spielen. Und das Narrativ des Westens, auf der Seite von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stehen, wird nicht ausreichen, um den Globalen Süden für seine Sicht der Dinge zu gewinnen.

Die hier genannten Aspekte zeigen bereits, dass sich der neue Kalte Krieg, auf den wir uns zubewegen, vom ersten Kalten Krieg maßgeblich unterscheidet. Letzterer kann daher nicht als Blaupause für die kommende Konfrontation mit Russland dienen, auch wenn manche Lektionen aus den drei Jahrzehnten des ersten Kalten Kriegs auch heute noch gültig sind: beispielsweise, dass nukleare Risiken in Zeiten der Konfrontation, wenn schon nicht durch formale Rüstungskontrolle, dann doch durch risikominimierende Maßnahmen eingehegt werden müssen. Denn der Verlauf des neuen Kalten Krieges ist nicht alternativlos: Die Staaten stehen vor der Option einer unregulierten und hoch gefährlichen Konfrontation oder einer, die zumindest in einzelnen Bereichen entschärft oder weniger anfällig für Eskalationen gestaltet werden kann.

Unter weltanschaulichen Gesichtspunkten unterscheidet sich das heutige Russland von der Sowjetunion durch das Fehlen einer kohärenten Ideologie, welche Russlands Platz in der Welt rechtfertigen und seine außen- und machtpolitische Strategie mit Bedeutung unterfüttern würde. Stattdessen fungiert das vage gehaltene Konzept der »Russkiy Mir«, der »Russischen Welt«, als pseudo-ideologischer Kitt, der die Bevölkerung derjenigen Staaten, die in Moskaus »Einflusssphäre« liegen, als Teil einer eigenständigen Gruppe definiert, die sich scharf vom Rest Europas abgrenzt. Um diese imaginierte homogene Gruppe herum konstruiert Russland das Narrativ, diese würde von liberalen westlichen Werten unterminiert. Es wird unterstellt, dass der Westen die russische Kultur, russische Werte und die russische Sprache eliminieren will. Daraus leitet sich ein staatlich verordneter Hass gegen potenziell alles ab, was der Kreml als »westlich« deklariert – von der freien Nutzung des Internets bis hin zu Patchwork-Familien. So wahnwitzig dieses Ansinnen klingt, so sehr fruchtet es: Selbst durch Familien mit in der Ukraine und in Russland lebenden Angehörigen verlaufen heute tiefe Gräben.

Die öffentliche Wahrnehmung: Verkürzte Debatte und konträre Beurteilungen

In den Monaten nach dem 24. Februar 2022 konnte man eine deutliche Zuspitzung der Debatte in den Medien beobachten. Auch wenn ein großer Teil der Kommentator:innen, Politiker:innen und Expert:innen sich einig war, dass der Westen die Gefahr, die vom Kreml ausgeht, falsch eingeschätzt hatte, gab es auch prominente Stimmen, die zwar ein aggressives Vorgehen Russlands in der Ukraine einräumten, dabei einen Teil der Schuld jedoch im Westen verorteten. Es ist unter anderem der Schnelllebigkeit der Debatte und der Logik der Medien (Dinge schnell auf den Punkt bringen, ohne die Leser:innen auf halber Strecke zu verlieren) geschuldet, dass einige komplexe Aspekte der Beziehungen Russlands zum Westen trotz zahlloser Talkshow-Diskussionen unterbelichtet blieben. Allein mit einer eingehenden Debatte über Präsident Wladimir Putins Reden im Bundestag 2001 und auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 könnte man einen ganzen Markus-Lanz-Abend füllen. Doch wer hat schon die Muße und die Lust dazu?

Ich unterstelle dem Leser oder der Leserin dieses Buches tatsächlich ein Interesse an einigen dieser weniger diskutierten Aspekte, die dazu beigetragen haben, dass sich der Westen und Russland heute wieder in einer ernsthaften Konfrontation gegenüberstehen. Eine kompakte Übersicht über einige dieser Kernelemente erleichtert das Verständnis der folgenden Kapitel. Natürlich können in einem Buch, das den neuen Kalten Krieg aus einem breiteren Blickwinkel beleuchtet, nicht alle wichtigen Fragen erschöpfend diskutiert werden. Ich werde dennoch versuchen, einige hoffentlich hilfreiche Denkanstöße zu geben.

Bevor ich auf die unterschiedlichen Phasen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nach 1990 sowie auf die Fehleinschätzungen, die der Westen aus meiner Sicht getroffen hat, eingehe, möchte ich einen Gedanken voranstellen. Wie die meisten Menschen, die sich in der Debatte öffentlich zu Wort melden, vertrete ich eine dezidierte Meinung: nämlich, dass Moskau den Hauptteil der Verantwortung dafür trägt, dass die europäische Sicherheitsarchitektur (so es sie in Ansätzen gab) erodiert ist, und dass der Westen die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen muss. Und natürlich gehe ich davon aus, dass diese Ansicht zutreffend ist. Doch mir ist es auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass Vertreter:innen abweichender Meinungen nicht ungebildet sind oder keine Kenntnis von Russland haben. In der deutschen Debatte werden Vertreter:innen einer anderen Meinung oftmals als verblendet oder unwissend hingestellt. Sicherlich gibt es Menschen, die sich öffentlich zu Wort melden, nachdem sie sich eingehend von russischen Bots auf Twitter haben »informieren« lassen. Doch selbst Russlandkenner:innen mit einem ähnlichen Lebenslauf, die nicht zum typischen Social-Media-Zielpublikum gehören, können zu sehr unterschiedlichen Ansichten über den Krieg gelangen.

Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die beiden ehemaligen britischen Karrierediplomaten Sir Roderic Lyne und Sir Tony Brenton. Obwohl beide sich in Alter und Werdegang ähneln und über ein exzellentes Verständnis von russischer Geschichte und der Entwicklung Russlands seit den Sowjetzeiten verfügen, kommen sie zu divergierenden Auffassungen darüber, weshalb sich Russland auf einen Pfad der Eskalation begeben hat. Während Roderic Lyne die Verantwortung beim Kreml sieht, stehen bei Tony Brenton die Fehler des Westens im Umgang mit Russland im Vordergrund.

Sir Roderic, 1948 geboren und Oxford-Absolvent, trat mit 22 Jahren in den diplomatischen Dienst ein und wurde zwei Jahre später als dritter Sekretär an die Botschaft in Moskau berufen. Von 2000 bis 2004 war er britischer Botschafter in Moskau.3 Sir Tony, Jahrgang 1950, begann 1975 seine diplomatische Karriere und wurde 1994 zum ersten Mal an die britische Botschaft in Moskau berufen. 2004 übernahm er von Sir Roderic den Posten als Botschafter in Russland.4 Heute sind beide Ex-Botschafter über siebzig und im Ruhestand.

In einem Interview5 über seine Zeit in Moskau berichtet Roderic Lyne über die schwierigen Arbeitsbedingungen für westliche Diplomat:innen während der Sowjetzeit. Diese seien ständig von KGB-Mitarbeiter:innen umgeben gewesen. Nachdem die britische Regierung Anfang der 1970er-Jahre 105 Sowjetbürger:innen aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen hatte, habe Moskau mit der Ausweisung zahlreicher britischer Diplomat:innen geantwortet, sodass die Botschaft völlig unterbesetzt war. Auch später, in seiner Zeit als Botschafter in Russland, sah sich Sir Roderic nach eigenen Aussagen mit schwierigen Bedingungen konfrontiert, insbesondere im Jahr 2004. Wieder seien es der KGB, FSB und antiwestliche Kräfte in Regierungskreisen gewesen, die den britischen Diplomat:innen das Leben schwer machten. Seine Erfahrungen mit der sowjetischen und später mit der russischen Führungsriege haben vermutlich dazu geführt, dass Sir Roderic die russischen Intentionen anders beurteilt als sein Nachfolger. Den Georgienkrieg 2008 sieht Sir Roderic beispielsweise als Folge einer russischen Paranoia dem Westen gegenüber, während Sir Tony Georgien bezichtigt, Russland bewusst herausgefordert zu haben – Ähnliches unterstellt er der Ukraine und der NATO –, und hieraus die Gründe für Russlands Invasion ableitet.6

Es ist schwer zu ermessen, warumzwei Botschafter mit einem formal ähnlichen Lebensweg Russlands Absichten so unterschiedlich beurteilen. Waren es die unterschiedlichen ersten Eindrücke, die beide im Abstand von mehr als zwei Jahrzehnten in Moskau gesammelt hatten, die sie zu unterschiedlichen Einschätzungen brachten? Roderic Lyne hat Moskau zu den Hochzeiten des Kalten Krieges Anfang der 1970er-Jahre kennengelernt, während Tony Brenton erst nach dem Ende der Sowjetunion seinen ersten Posten in Russland antrat und sich dort auf ökonomische Reformen konzentrierte. In jedem Fall zeigt sich, dass divergierende Einschätzungen bezüglich Russlands nicht unbedingt eine Frage von Expertentum oder Intellekt sein müssen.

Die Krise in der euro-atlantischen Region: Vertane Chancen und rote Linien

1990–2001: Schrumpfende nukleare Arsenale

Die erste Dekade nach dem Kalten Krieg stellte eine Phase der Annäherung in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen und eine Ära der nuklearen Abrüstung dar. Die Blockkonfrontation mit ihrem Konzept der »mutual assured destruction (MAD)«7 – der permanenten Androhung der gegenseitigen völligen Vernichtung – wich dem Willen zur Kooperation und Verkleinerung der nuklearen Arsenale auf beiden Seiten. Auch wenn sowohl Moskau als auch Washington bereits vor 1990 damit begonnen hatten, ihre Arsenale zahlenmäßig zu verkleinern, besaß die Sowjetunion am Ende des Kalten Krieges noch fast 33.000 Sprengköpfe, die USA etwas über 21.000.8 Beiden Hauptakteuren des Kalten Krieges waren die irrsinnigen Dimensionen, in denen sich ihre Arsenale bewegten, bewusst. Diese waren groß genug, um nicht nur den Gegner von der Landkarte zu fegen, sondern theoretisch den gesamten Erdball mehrmals in die Luft zu jagen. Diese Konstellation – die gegenseitige Angst vor dem Nuklearkrieg – wird von manchen Expert:innen als eine Form von strategischer Stabilität zwischen den Supermächten im ersten Kalten Krieg betrachtet. Da wir nur diejenige Version der Geschichte kennen, in der gefährliche Zwischenfälle wie die Kubakrise nicht zu einer nuklearen Eskalation geführt haben, lässt sich diese Annahme weder bestätigen noch widerlegen.

Unumstritten ist, dass beide Seiten nach dem Ende der Blockkonfrontation ein Interesse an einer Reduzierung ihrer nuklearen Arsenale hatten: Diese beanspruchten immense personelle und finanzielle Ressourcen. Atomwaffen verursachen, wenn sie einmal produziert sind, sehr viel Arbeit. Ihre Funktionstüchtigkeit muss jederzeit sichergestellt sein. Sie müssen modernisiert werden, wenn sie diese verloren haben. Die technologischen Fortschritte des Gegners müssen beobachtet und das eigene Arsenal gegebenenfalls dementsprechend aufgerüstet werden. Es werden Unmengen an Geldern für Forschung, strategische Planungen, Kommando-, Kontroll- und Kommunikationsstrukturen benötigt. Und selbst der technische Vorgang der Abrüstung – das Auseinanderbauen einer Atombombe, um sie wirkunfähig zu machen – ist teuer.

In den 1980er-Jahren gaben die USA über sechs Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) für das Militär aus. In den 1960er-Jahren lagen die Ausgaben teilweise sogar bei über neun Prozent.9 Die Ausgaben auf sowjetischer Seite sind dagegen schwieriger zu kalkulieren. Die Geheimhaltung der gesamten Verteidigungsausgaben Moskaus ist ein Trend, der bis heute anhält. In Sowjetzeiten wurden beispielsweise die Ausgaben für Forschung an neuen Waffensystemen sowie für Waffenproduktion und Ausbildung teilweise den Budgets anderer Ministerien und Komitees zugeordnet, sodass das Volumen des Verteidigungshaushalts von außen schwer abzuschätzen war. Michail Gorbatschow verkündete 1987 zwar öffentlich, das Verteidigungsbudget der Sowjetunion belaufe sich auf 77 Milliarden Rubel, doch westliche Beobachter:innen vermuteten, dass die tatsächliche Zahl mindestens doppelt so hoch war.10

Ab der Jahrtausendwende bewegten sich die USA und Russland hinsichtlich ihrer Nuklearwaffenarsenale in vergleichbaren Dimensionen (zwischen 10.000 und 12.000), und 2004 unterschritten beide Staaten zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Marke von 10.000 Sprengköpfen.11 Moskau und Washington gelangten nicht nur durch aktive Abrüstung, sondern auch durch das Ausrangieren veralteter Systeme zu einer erheblichen Reduzierung ihrer Arsenale.12 Unilaterale Entscheidungen Washingtons und Moskaus spielten hierbei ebenso eine Rolle wie formelle Abkommen. Unter Erstere fallen zum Beispiel die von Präsident George H. W. Bush gestarteten und von Präsident Michail Gorbatschow weitergeführten Presidential Nuclear Initiatives (PNI). Im Zuge dieser Initiativen verpflichteten sich beide Seiten in den 1990er-Jahren unter anderem zur Verkleinerung ihrer Arsenale an taktischen Nuklearwaffen – also derjenigen Kurzstrecken-Fähigkeiten, die weniger dem strategischen Zweck einer Abschreckung zwischen den USA und Russland als vielmehr der Abschreckung innerhalb Europas dienten.13

Zu den Fähigkeiten, die im Zuge der PNI eliminiert wurden, gehörten beispielsweise nukleare Artillerie, nukleare Minen und bodengestützte Kurzstreckenraketen mit nuklearen Sprengköpfen. Beide Seiten einigten sich auf diese unilateralen, aber aufeinander abgestimmten (reziproken) Abrüstungsschritte im Herbst 1991, als der Ostblock im Begriff war zu zerfallen. Gorbatschows Nachfolger, Präsident Boris Jelzin, führte 1992 die Initiativen weiter, die fortan auf die Abrüstung strategischer Langstreckenraketen ausgeweitet wurden. Ein besonders wichtiger Aspekt der PNI war die Übergabe der in Kasachstan, Belarus und der Ukraine stationierten Atomwaffen an Russland – ein Prozess, der Mitte der 1990er-Jahre abgeschlossen wurde. Auf diese Weise wurden einige Tausend Nuklearwaffen aus den amerikanischen und russischen Arsenalen eliminiert. Gleichzeitig wurde verhindert, dass es nach dem Ende der Sowjetunion drei neue Atomwaffenstaaten gab.

Parallel dazu standen auch in unterschiedlichen multilateralen Foren die Zeichen auf Annäherung zwischen West und Ost. Die NATO, deren primäre Daseinsberechtigung, die Blockkonfrontation, nach 1990 wegfiel, beschrieb in ihrem Strategischen Konzept von 1999 Russlands Rolle in der euro-atlantischen Sicherheit als »einzigartig«. Sie betonte außerdem das gemeinsame Interesse der NATO und Russlands, ein stabiles, friedliches und ungeteiltes Europa aufzubauen.14 Die konstruktiven Beziehungen zwischen der NATO und Russland sowie die langsame Annäherung resultierten zudem 1997 in der Verabschiedung der NATO-Russland-Grundakte. Diese war ein wichtiger Baustein für die sich normalisierenden Beziehungen zwischen den einstigen Antagonisten, ihr Wert wird heute im Kontext des Krieges jedoch angezweifelt. Die Grundakte definierte eine Reihe an Feldern, in denen die NATO und Russland künftig zusammenarbeiten wollten. Dazu gehörten die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Konfliktprävention, Peacekeeping sowie der Austausch von Informationen zu nationalen Sicherheitsdokumenten.15 Außerdem wurden nochmals Kernprinzipien der Beziehungen zwischen Russland und der NATO betont, die bereits in den 1970er-Jahren in der Schlussakte von Helsinki formuliert worden waren.16 Dazu zählt insbesondere der gegenseitige Respekt für die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität von Staaten.17 Zudem war die Grundakte die Basis für die Etablierung des NATO-Russland-Rates. Dieser gab Moskau die Möglichkeit, mit der Allianz direkt und in einem formellen Umfeld in Kontakt zu treten, und baute auf dem Willen zum gegenseitigen Verständnis und dem Bewusstsein für die Sicherheitsinteressen beider Seiten auf. Nach der illegalen Annexion der Krim 2014 fanden noch gelegentlich Zusammenkünfte des NATO-Russland-Rates statt, doch zu einer echten Kooperation kam es nicht mehr. Spätestens seit die Allianz 2021 als russische Diplomat:innen getarnte Geheimdienstmitarbeiter:innen aus dem Brüsseler Verbindungsbüro auswies,18 ist das Image des Rates massiv beschädigt.

2001: Putins Rede und Thierses »Zeitenwende«

Doch zurück zu der hoffnungsvollen Dekade nach dem Ende der Sowjetunion: Gerade Deutschland sah damals ein neues Zeitalter anbrechen. Die Chance, dass Russland und die (anderen) europäischen Staaten in nicht allzu ferner Zukunft ein »gemeinsames europäisches Haus« im Sinne Gorbatschows vollenden würden, in dem die Sicherheitsinteressen aller Seiten gewahrt wären, erschien Berlin als realistisch. Viele aus der älteren Generation erinnern sich noch heute gut an die Rede, die Präsident Putin 2001 vor dem Bundestag hielt19 – und nicht wenige wundern sich, was aus dem friedliebenden Putin geworden ist, dem Demokraten und Progressiven, der den europäischen Humanismus beschwor und beteuerte, dass Russland die Vergangenheit hinter sich gelassen habe.

Liest man diese Rede heute aufmerksam, kommt man nicht umhin, die Zwischentöne zu hören, und die Worte Putins bekommen einen bitteren Beigeschmack. Die Seitenhiebe gegen die USA und die NATO waren subtil, doch präsent. Es wurde deutlich, dass der russische Präsident ein Europa anstrebte, aus dem sich die USA weitgehend heraushalten und in dem stattdessen die europäischen Gesellschaften sich der russischen annähern sollten.20 Weder gegen die Idee einer größeren militärischen Eigenverantwortung Europas noch gegen mehr Kooperation zwischen der russischen und den europäischen Gesellschaften war (zumindest zum damaligen Zeitpunkt) etwas einzuwenden. Doch spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine ist offensichtlich, dass Europa von Putin nicht als gleichgesinnte Partnerin, sondern als potenzielles Mittel zum Zweck angesehen wurde, um sein Ziel zu fördern, die russische Position gegenüber den USA zu stärken.

Zudem fand Putins Reise zu einem heiklen Zeitpunkt statt. Seit 1999 befand sich Russland im zweiten Tschetschenien-Krieg. Nachdem Europa im ersten Tschetschenien-Krieg den damaligen Präsidenten Boris Jelzin unterstützt hatte, um dessen Machterhalt zu sichern, war Putin daran gelegen, sein brutales Vorgehen gegen den »Terrorismus« zu rechtfertigen und den Rückhalt Europas zu gewinnen. Um die europäische Öffentlichkeit emotional auf die Seite des Kremls zu ziehen, zog Putin in seiner Rede Parallelen zum Attentat vom 11. September, das sich nur zwei Wochen vorher ereignet hatte. Weiterhin bettete er sein Werben um die deutsche Billigung in allgemeine Ausführungen über das gegenseitige Vertrauen in den internationalen Beziehungen, über Marktwirtschaft und demokratische Werte, kombiniert mit Klagen darüber, dass Russland noch immer nicht als richtiger Partner anerkannt werde, und garniert mit Versprechungen, dass Moskau sich stärker im Umweltschutz engagieren wolle. Zuletzt betonte der Präsident die engen historischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland und erheiterte die Abgeordneten mit ein paar launigen Bemerkungen.

Rhetorisch war Putins Rede ein Glanzstück. Sie hatte alles, was eine gute Ansprache benötigt: Fakten, Emotionen, Versprechungen und glühende Plädoyers für Veränderung. Dementsprechend gut kam sie bei den Abgeordneten an: Es gab minutenlangen Beifall.21 Der Appell Putins, die Bundeswehr stehe »nicht mehr vor der Aufgabe, das Land gegen anstürmende Panzerdivisionen aus dem Osten zu verteidigen, die durch das Fulda-Gap brechen«, wie es der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch am nächsten Tag im Bundestag zusammenfasste, stieß auf offene Ohren. Der russische Präsident als Chefstratege der Bundeswehr?

Auch beim Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse kam Putins Rede gut an. Thierse wandte sich seinerseits am 25. September 2001 mit einer Rede anlässlich des Putin-Besuchs an die Öffentlichkeit,22 in der sich eine große Sympathie für die Worte des russischen Präsidenten widerspiegelte. Moskau erfuhr damit eine Bestätigung, dass Putins Ansprache in Berlin eine positive Resonanz hervorgerufen hatte. Thierse betonte, man sei dabei, das »europäische Haus umzubauen«, in dem Bewusstsein, dass es dieses Haus nicht »ohne intensive und gute Nachbarschaft, ohne enge Zusammenarbeit mit Russland geben kann«. Er lobte den demokratischen Weg, auf dem sich Russland befinde, seinen Beitritt zum Europarat und zur Europäischen Menschenrechtskommission ebenso wie Moskaus Solidarität mit den USA nach dem Attentat vom 11. September. Auch sah Thierse eine »Zeitenwende« kommen: Durch das Voranschreiten Moskaus sei eine Koalition zwischen Russland, China, Deutschland und anderen NATO-Staaten, den USA sowie der arabischen Welt möglich, um den »islamistischen Terror in die Knie zu zwingen« – eine Koalition, die zwei Wochen zuvor noch undenkbar gewesen sei.

Es gibt kein besseres Indiz dafür, dass Putins Rede den Bundestag euphorisierte und Hoffnungen auf eine neue Ära mit einem demokratischen Russland in dem von Gorbatschow einst ausgerufenen »gemeinsamen europäischen Haus« weckte. Man kann es den Abgeordneten und der deutschen Öffentlichkeit kaum verdenken, dass sie das Hauptanliegen Moskaus, nämlich die Rechtfertigung einer »als ›Anti-Terrorismus‹ präsentierten Gewaltausübung«23, großzügig ignorierten. Der Tschetschenienkrieg stellte ein derart verworrenes Problem mit Gewaltexzessen und Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten dar, dass viele ihn nur allzu gerne als innenpolitische Angelegenheit Russlands betrachteten und dabei die internationalen Konsequenzen ignorierten. Im Interesse einer guten Zusammenarbeit – nicht zuletzt im globalen Kampf gegen den Terrorismus – wurde das Thema im Dialog mit Russland ausgeklammert und damit auch der innenpolitische Terror gegen die Zivilbevölkerung zu einer Angelegenheit, aus der sich der Westen heraushielt. Doch damit wurden bereits in den frühen 2000er-Jahren besondere Maßstäbe an Russland angelegt, die ein Wegschauen rechtfertigten, selbst wenn es gegenüber der Zivilbevölkerung Gewalt ausübte und Menschenrechtsverletzungen beging. Problematisch aus Sicht des Westens wurde Russlands gewaltvolles Vorgehen erst, als es die Grenzen der Russischen Föderation überschritt: nämlich im Georgienkrieg 2008. Doch selbst in diesem Fall spielten westliche Beobachter:innen die Ereignisse herunter: Sie seien das Resultat von Präsident Micheil Saakaschwilis unklugen Provokationen gegenüber Moskau.

Die NATO-Osterweiterung 2004: Russlands »Einflusssphäre« schrumpft

Die Deutschen konnte Putin in den frühen 2000er-Jahren geschickt umgarnen. Doch die Bedrohungswahrnehmung der baltischen und osteuropäischen Staaten unterschied sich erheblich von der deutschen. 2004 fand die fünfte Erweiterungsrunde der NATO statt, infolge derer sieben neue Länder in die Allianz aufgenommen wurden.24 Anlässlich der offiziellen Beitrittszeremonie am 2. April 2004 betonte der damalige Außenminister Litauens, Antanas Valionis, im Nordatlantikrat: »Felsenfeste Sicherheitsgarantien sind es, die mein Land braucht.«25 Seine Amtskollegin, die ehemalige estnische Außenministerin Kristiina Ojuland, sagte ihrerseits, Estland fühle sich einer »fähigen NATO verpflichtet, die sich der Sicherheitsherausforderungen von heute annimmt, alter wie neuer«.26 Der lettische Außenminister wiederum wies in seiner Rede mit dem emotionalen Titel »Ein Traum wird wahr« darauf hin, dass sein Land in der Vergangenheit den »Verlust der Freiheit« habe hinnehmen müssen, da es auf sich allein gestellt gewesen sei.27

Linas Linkevičius, der von 1993 bis 1996 und von 2000 bis 2004 Verteidigungsminister Litauens war, fasst die NATO-Ambitionen der drei baltischen Staaten nach dem Ende der Sowjetunion folgendermaßen zusammen: »In Litauen herrschte praktisch seit der Wiedererlangung unserer Unabhängigkeit am 11. März 1990 die Ansicht vor, dass wir in einem gefährlichen, instabilen geopolitischen Umfeld leben. Russland hat niemals eine Gelegenheit ausgelassen, uns daran zu erinnern, dass die baltischen Staaten Teil seiner ›vitalen Interessen‹ sind … Litauen hat ohne NATO-Garantien keine sichere Zukunft gesehen.«28 Linkevičius sprach damit offen aus, was die drei Außenminister:innen im Nordatlantikrat angedeutet hatten: Russland, das Estland, Lettland und Litauen gerne als »near abroad« – als »nahes Ausland« – bezeichnet, ließ auch nach dem Ende der Sowjetunion keinen Zweifel daran, dass sich das Baltikum in seiner unmittelbaren Einflusssphäre befindet, und machte die drei Länder damit zu einem potenziellen Ziel von politischer Beeinflussung oder gar militärischen Aggressionen. Daher habe der damalige litauische Präsident Algirdas Brazauskas bereits 1994 ein formelles Beitrittsgesuch an den damaligen NATO-Generalsekretär Manfred Wörner gesandt, wie Linkevičius betont. Zu diesem Zeitpunkt war Russland ökonomisch sehr schwach und an einer Kooperation mit dem Westen interessiert. Doch als die baltischen Staaten zehn Jahre später der NATO beitraten, hatte Russland wirtschaftlich aufgeholt und sah sich in Konkurrenz mit der EU, den USA und der NATO um Einfluss in der postsowjetischen Region. Seit den 2010er-Jahren ist Russlands Außenpolitik noch mehr bestrebt, den postsowjetischen Raum im Sinne einer eurasischen Einflusszone zu sichern, was die Besorgnis in den baltischen Staaten zusätzlich angeheizt hat.29

Die Bedrohungswahrnehmung gegenüber Russland und seinen Interessen im »nahen Ausland« stieß in Westeuropa auf begrenztes Verständnis. Eine militärische Aggression gegen die baltischen Staaten wurde meist als wenig realistisches Szenario abgetan. Ebenso wurde der politischen Beeinflussung, der die baltischen Staaten ausgesetzt waren, wenig Beachtung geschenkt. Erst mit dem Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze näherten sich die Sichtweisen der europäischen Staaten langsam an. Den NATO-Staaten ist zwar schon zuvor bewusst gewesen, dass sie Ziel russischer Einflussnahme auf unterschiedlichen Ebenen sind – von (Cyber-)Spionage, Manipulation von Wahlen und Instrumentalisierung rechter Parteien bis hin zu breit angelegten antiwestlichen Kampagnen im Internet. Doch während insbesondere die baltischen Staaten und Polen in Russland eine unmittelbare Gefahr – auch im militärischen Sinne – sahen, hielt sich die Besorgnis in Ländern wie Deutschland oder Frankreich in Grenzen. Auch trug das insgesamt radikale Auftreten der rechtspopulistischen PiS-Partei in Polen dazu bei, dass die polnische Bedrohungswahrnehmung anderenorts nicht im gleichen Ausmaß geteilt wurde.

So konzentrierten sich etwa die südeuropäischen Staaten auch nach der illegalen Annexion der Krim vornehmlich auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen im Bereich der Migration, des internationalen Terrorismus und der Destabilisierung in Nordafrika und der Sahelzone. Hinzu kamen interne Zwistigkeiten in der EU und NATO, etwa aufgrund des Austritts der Briten aus der EU und der damit zusammenhängenden Frage nach der künftigen Einbettung des Vereinigten Königreiches in europäische Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen außerhalb der NATO. Der Putsch in der Türkei im Jahr 2016 stellte die NATO vor ganz eigene Herausforderungen, ebenso wie der Abschuss einer russischen Su-24 durch die Türkei im Jahr 2015 und der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 im Jahr 2020. Diese »Nabelschau« hielt die NATO-Alliierten sowohl auf Trab als auch bis vor Kurzem davon ab, eine kohärente Bedrohungswahrnehmung zu entwickeln, die sich abseits nationaler Interessen bewegt.

Die NATO-Erweiterung an sichist zudem ein weiteres heikles Thema, dem sich viele Expert:innen ausführlich gewidmet haben. Ob die NATO nach 1990 überhauptneue Mitglieder hätte aufnehmen sollen, insbesondere im osteuropäischen Raum, wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Die Tatsache, dass nach dem Ende des Kalten Krieges innerhalb von 14 Jahren zehn neue Staaten in die Allianz aufgenommen wurden,30 ist oft als Grund dafür angeführt worden, dass Moskau seine Sicherheitsinteressen verletzt und die NATO »bedrohlich« nah an die eigenen Grenzen heranrücken sah. Die Allianz selbst bekräftigte auf ihrem Gipfeltreffen 1994 ihre Politik der »offenen Tür«, wie sie in Artikel 10 des Nordatlantikvertrags von 1949 festgelegt ist. Auch weiterhin sollte demnach anderen europäischen Ländern – sofern sie die Kriterien für eine Mitgliedschaft erfüllen und die bestehenden NATO-Mitglieder sich einstimmig dafür entscheiden – diese Tür offen stehen.31 Die NATO-Politik der offenen Tür steht dabei nicht zuletzt in Einklang mit der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975, in der Russland sowie die anderen teilnehmenden europäischen Staaten zugestimmt haben, dass jedes Land frei wählen kann, ob es einer internationalen Organisation angehört oder nicht und ob es Vertragspartei eines Bündnisses wird oder nicht.32

Diese Prämisse der »uneingeschränkten gegenseitigen Achtung der Entscheidungsfreiheit« bekräftigte die in Auflösung befindliche Sowjetunion im November 1990 mit ihrer Unterschrift unter der Charta von Paris.33 Zu diesem Zeitpunkt hatten Litauen und Lettland ihre Unabhängigkeit bereits wiedererlangt,34 und die Charta gestand den ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Paktes zu, ihren eigenen und unabhängigen Weg zu gehen, was die freie Wahl von Bündnissen miteinschloss. Weiterhin hatte die NATO niemals ein Versprechen gegenüber Russland abgegeben, keine neuen Mitglieder in Zentral- oder Osteuropa aufzunehmen, und die Erweiterungsrunden 1999 und 2004 fanden nach vorherigen Konsultationen mit Moskau statt. Parallel zur Aufnahme der neuen Mitglieder fanden zudem vertrauensbildende Maßnahmen aufseiten der NATO statt, zum Beispiel Reduktionen in den Truppenstärken der neuen Mitgliedsländer, sodass diese keine offensive Bedrohung an der russischen Grenze darstellten.35

Ebenso stellte die NATO zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für Russland dar. Auch wenn in der russischen Propaganda die Übungen der NATO als feindliche Akte dargestellt werden, halten sich die europäischen Staaten im Gegensatz zu Moskau an die existierenden Abkommen über Truppenobergrenzen, Transparenz etc. Der Kreml dagegen gab bei seinen vier großen militärischen Übungen36 regelmäßig falsche Truppenstärken an und hat damit bereits seit Längerem das Vertrauen zwischen dem Westen und Russland beschädigt. Laut einer Aufstellung der NATO überstiegen die tatsächlichen Truppenstärken dieser vier Übungen, die in den jeweiligen militärischen Distrikten (Osten, Westen, Kaukasus und an der ukrainischen Grenze) stattgefunden haben, die von Russland deklarierten Zahlen um das Fünf-, Sechs- oder sogar Zehnfache.37

Und schließlich hat die Ukraine nach dem Beginn des Krieges zunächst angeboten, neutral zu bleiben und der NATO nicht beizutreten, sofern der Westen Kiew bestimmte Sicherheitsgarantien gibt.38 Diese Idee war zu dem Zeitpunkt, als die Ukraine sie ins Gespräch brachte, zwar noch nicht ganz ausgereift, doch die russische Seite gab zu keinem Zeitpunkt zu verstehen, dass sie das Gesprächsangebot der Ukraine auch nur ansatzweise ernst nahm. Auch wurde Russland 1994 in das »Partnership for Peace«-Programm der NATO aufgenommen, mit dem Ziel, das Land näher an die Allianz heranzuführen. Entgegen landläufiger Annahme wurde Russland niemals die Aufnahme in die NATO verwehrt. Die Voraussetzung wäre lediglich gewesen, dass ein interner Reformprozess in Russland stattgefunden hätte, um beispielsweise die demokratische Kontrolle über die Streitkräfte zu stärken – so wie es auch bei allen anderen Aspiranten der Fall war.39

Der NATO-Gipfel 2008: Eine emotionale Angela Merkel und ein schlechter Kompromiss

Das Gipfeltreffen der NATO im Jahr 2008 in der rumänischen Hauptstadt gehört zu denjenigen Ereignissen, die viele heute rückblickend als den eigentlichen Einschnitt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen definieren – als Zeitpunkt, ab dem sich das Verhältnis eindeutig und unaufhaltsam verschlechtert hat. Doch tatsächlich waren der Gipfel und die Lage, in welche die NATO sowohl die Ukraine als auch Georgien damals brachte, bis 2021 ein weitgehend vergessenes Thema. Weder der Krieg in Georgien im selben Jahr noch die Situation in den abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien erhielten die Aufmerksamkeit, die angebracht gewesen wäre. Gleiches gilt für die separatistische Region Transnistrien in Moldau, in der das russische Militär das Sagen hat und für die sich allenfalls Abenteuerreisende und Kaukasus-Expert:innen interessierten. Der Beginn der Krise in der Ukraine sowie die illegale Annexion der Krim im Jahr 2014 wären ein guter Moment für den Westen gewesen, sich diesen oft als eingefroren bezeichneten Konflikten erneut zu widmen. Doch der Westen war zu sehr mit der Situation in der Ukraine beschäftigt und versäumte es, sich auf die größeren Zusammenhänge zu konzentrieren. Dies war ein großer Fehler, denn das Muster, das diese latenten Konflikte aufweisen, zeichnet ein sehr klares Bild von Moskaus Ambitionen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Nach der illegalen Annexion der Krim und Russlands destabilisierenden Aktivitäten im Donbas hätte viel früher die Erkenntnis einsetzen müssen, dass die Krim und der Donbas, dass Südossetien, Abchasien und Transnistrien zusammenhängen und ein spezifisches Bild von russischer Außenpolitik – also Russlands Interessen im »nahen Ausland« – formen, das für Europa zutiefst beunruhigend ist. Doch selbst die Faktenfindungsmission der EU kam zu dem Ergebnis, dass der damalige georgische Präsident Saakaschwili den Krieg herausgefordert hatte, ohne jedoch den Kontext zu beleuchten – insbesondere die Frage, warum es überhaupt dazu kam, dass sich russische Truppen in Südossetien und Abchasien befanden. Auch die Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens durch Russland und einige wenige verbündete Staaten wie Nicaragua und Venezuela fand wenig Beachtung, und dasselbe galt für die Auswirkung dieser eingefrorenen Konflikte auf der Ebene der multilateralen Verträge.40 Im Rückblick zeigt sich jedoch, dass die Probleme im euro-atlantischen Raum spätestens 2008 sehr offensichtlich wurden.

Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde Georgien und der Ukraine die Mitgliedschaft im Bündnis zugesagt, ohne den beiden Staaten jedoch etwas Konkreteres als ein Versprechen an die Hand zu geben. In der Gipfel-Erklärung heißt es: »Wir haben uns heute darauf geeinigt, dass diese Länder NATO-Mitglieder werden.«41 Allerdings wurde Tiflis und Kiew kein Membership Action Plan (MAP) angeboten – ein formales Programm, das Aspiranten auf ihre Mitgliedschaft in der Allianz vorbereitet – und damit auch keine klare Perspektive. Beide Länder wurden in eine Art NATO