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Beschreibung

NEUE BEZIEHUNGEN IN EINER NEUEN GESELLSCHAFT Unsere Gesellschaft wird beherrscht von Rüpeln, Egoisten und Ignoranten? Falsch! Nie war die Solidarität lebendiger als heute. Sie wird täglich tausendfach neu erfunden. In den kreativen Netzwerken und Bündnissen von Bürgern, denen der Gemeinsinn genauso am Herzen liegt wie die eigene Lebensqualität. Dieses Buch zeigt die ganze Vielfalt des neuen Zusammenhalts und widerlegt konsequent alle Mythen der Panikmacher und Untergangspropheten. Von wegen Ellenbogen-Denken! Selten standen die sozialen Werte höher im Kurs als heute. Engagierte Frauen und Männer entwickeln neue Ideen für das Zusammenleben von Jung und Alt, von Migranten und Alteingesessenen, von Wohlhabenden und sozial Schwachen. Gemeinsam machen sie aus Problem-Stadtteilen hippe Großstadtquartiere, bringen sie frisches Leben auf das abgeschiedene Land, revolutionieren sie die Energieversorgung und verbinden sie Unternehmen, Politik und Gesellschaft in nie gekannter Weise.

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1. Auflage 2014

© 2014 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen und elektronischen Wiedergabe. Dieses Buch will keine spezifischen Anlageempfehlungen geben und enthält lediglich allgemeine Hinweise. Autor, Herausgeber und die zitierten Quellen haften nicht für etwaige Verluste, die aufgrund der Umsetzung ihrer Gedanken und Ideen entstehen.

Redaktion: Marion Reuter

Umschlagabbildung: iStockphoto

Satz: Carsten Klein, München

E-Book: Grafikstudio Foerster, Belgern

ISBN Print 978-3-86881-508-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-463-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-464-6

Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter

www.redline-verlag.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort: Wider den Kulturpessimismus
1. Warum Werte uns in Bewegung setzen
2. Warum wir das Gemeinwohl selbst in die Hand nehmen
3. Warum uns die Wutbürger die Sicht verstellen
4. Warum die Politiker nicht an uns Bürgern verzweifeln müssen
5. Warum wir nicht am Kapitalismus verzweifeln müssen
6. Warum wir den Ballast im Besitz erkennen
7. Warum das Engagement nicht mehr ins Ehrenamt passt
8. Warum uns die neue Urbanität nicht einsam macht
9. Warum wir die Heimat nicht den Spießern überlassen
10. Warum wir keine bloßen Konsumenten mehr sind
11. Warum wir an guten Unternehmen partizipieren
12. Warum wir künftig gemeinsam mobil sind
13. Warum wir unsere Energiewende nicht den Technokraten überlassen dürfen
14. Warum wir nicht mehr in Isolationshaft leben wollen
15. Warum der Hausaltar für unsere Spiritualität zu klein ist
16. Wie wir die Klassengesellschaft auflösen
17. Wie wir den Generationen­vertrag neu aufsetzen
Über die Autoren 

Vorwort: Wider den Kulturpessimismus

Deutschland im Sommer 2013: Die Deutschen sind in Urlaubs- und Einkaufslaune. Die Konsumforscher vermelden die besten Werte seit Beginn der Finanzkrise vor fünf Jahren. Endlich wird das Wirtschaftswachstum nicht nur vom Export, sondern auch vom Binnenmarkt getragen. Die gute Stimmung ist eigentlich erstaunlich, denn Deutschland wirkt von der tiefen Krise der Euro-Zone seltsam unberührt. Ob die Bundesbürger nach Spanien in Urlaub fahren oder nach Italien, Griechenland oder Portugal, überall treffen sie auf Gesellschaften, die mit wirtschaftlichen Rückschritten und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Vor allem die junge Generation trifft es, jeder Zweite oder Dritte unter 25 Jahren hat keinen Job. Vor diesem Hintergrund scheint Deutschland eine Insel der Glückseligen zu sein.

Was verleiht der Bundesrepublik diese einzigartige Stabilität? Wir sind der Meinung: Wer nur auf wirtschaftliche Faktoren blickt, der übersieht das wichtigste Potenzial unseres Landes. Abseits von Staat und traditionellen Organisationen hat sich nämlich inzwischen ein dichtes Geflecht von Netzwerken gebildet, die mit hoher Schlagzahl pulsieren. Die Bürger entwickeln neue Ideen für das Zusammenleben von Jung und Alt, von Migranten und Alteingesessenen, von Wohlhabenden und sozial Schwachen. Sie machen aus Problem-Stadtteilen hippe Großstadtquartiere. Sie bringen neues Leben auf das abgeschiedene Land. Sie brechen die Isolationshaft unserer Wohnghettos auf. Sie rasen nicht mehr einsam über den Asphalt, sondern sind gemeinsam mobil. Sie revolutionieren die Energieversorgung. Sie krempeln die Wirtschaftsstruktur um. Und sie verbinden Unternehmen, Politik und Gesellschaft in nie gekannter Weise. Gewiss, das Engagement ist oftmals alles andere als konfliktfrei – aber verhärmte Wutbürger sind die wenigsten der engagierten Menschen. Denn sie wollen nicht verhindern, sondern Dinge in Bewegung setzen für das Gemeinwohl.

Es ist jedoch kein Zufall, dass diese positiven Entwicklungen, dieser neue Zusammenhalt bislang vom Mainstream der Medien nicht zur Kenntnis genommen wird. Einen »reluctant hegemon«, einen widerwilligen Hegemon, nennt der Economist in diesen Tagen Deutschland. Das Titelbild des wohl einflussreichsten Wirtschaftsmagazins der Welt zeigt einen Bundesadler, der sich abwehrend einen Flügel über den Kopf hält. Das Blatt schildert fast schon euphorisch die Stärken der Bundesrepublik – und die Probleme, die eigene Bedeutung anzuerkennen. Dieser Analyse mag ein angelsächsisches Verständnis von Führung zugrunde liegen und sie mag ein mangelndes Verständnis für die schwierige europäische Rolle Deutschlands zeigen, die noch immer von der Weltkriegsvergangenheit belastet ist. Doch erklärt sich damit wirklich restlos die defensive Stimmung im Land?

Kulturpessimismus ist kein neues Phänomen. Schon in einer assyrischen Keilinschrift war zu lesen: »Die Welt ist heruntergekommen in diesen letzten Tagen, Bestechung und Korruption sind weit verbreitet, Kinder gehorchen ihren Eltern nicht mehr ... Das Ende der Welt kommt wohl auf uns zu.«1 Wie wir wissen, ging die Welt nicht unter. Ähnliche Stellen finden wir dann aber in der Bibel und bei den römischen Klassikern. Familie, Staat, Ökonomie – alles geht den Bach hinunter. Fast nie ist die Diagnose lösungsorientiert, so gut wie immer mündet sie in die Prophezeiung der Katastrophe. Es hat sich also seit Jahrtausenden nichts an der Lust am Untergang geändert.

Ego. Das Spiel des Lebens, heißt einer der Bestseller dieses Jahres. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher beschreibt darin das Heranwachsen eines »sozialen Monsters, das aus Egoismus, Misstrauen und Angst zusammengesetzt ist und gar nicht anders kann, als im anderen immer das Schlechteste zu vermuten«2. Jenes Ungeheuer sei ein bösartiges Menschenbild, das dank eines ausgeklügelten »Systems der Indoktrination«3, geschaffen von der IT-Industrie, unausweichlich unser Denken erobere. Unser gesamtes gesellschaftliches Leben werde sich in »ein Spiel nach den Regeln des Egoismus«4 verwandeln.

Andere deutsche Autoren gehen weniger verschwörungstheoretisch zu Werke, doch auch sie zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die zunehmend von Egoismus und Ellenbogendenken beherrscht wird. Jörg Schindler fragt in Die Rüpel-Republik verzweifelt, warum wir nur so unsozial geworden sind.5 Andere Autoren beschimpfen angebliche Ober- und Unterschichten als »Asoziale«6 oder sie sehen gleich ganz Deutschland – Land unter!7 – im Strudel der Probleme versinken.

Und Fernsehen, Zeitungen und Magazine reproduzieren beständig die Untergangsstimmung. »Leben die Alten auf Kosten der Jungen?«, fragt Frank Plasberg in seiner TV-Talkshow. »Sind wir alle Ausländerfeinde?«, hakt Sandra Maischberger nach. Der Spiegel warnt – »Achtung! Eltern!« – vor Familien, die zur Gefahr für Kinder werden. Und in der Bild-Zeitung wie in vielen anderen Boulevardmedien wird jedes Verbrechen zum zügellosen »Gewaltexzess«, was tagtäglich die Angst vor einer Zukunft schürt, in der angeblich niemand mehr seiner Habe und seiner körperlichen Unversehrtheit sicher sein kann.

Wir aber bleiben dabei: In Deutschland gibt es gegenwärtig mehr Anlass, mit Optimismus statt mit düsteren Ahnungen auf die Gesellschaft zu blicken. Nein, wir wollen hier nicht leugnen, dass es erschreckende Armut in unserem Land gibt. Dass die Arbeitslosigkeit alles andere als besiegt ist. Dass Chancengleichheit immer noch ein Postulat und keine Realität ist. Und dass viel zu viele Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres sozialen Status, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung tagtäglich ausgegrenzt werden. Deutschland ist gewiss kein Paradies auf Erden. Die Herausforderungen sind nach wie vor groß – aber die Voraussetzungen, sie zu bewältigen, sind so gut wie selten zuvor.

Das Anliegen dieses Buches ist es, den Blick auf die neue Vielfalt und Kreativität des Zusammenhalts in Deutschland zu werfen. Dies keineswegs deshalb, weil wir der Meinung wären, dass gesellschaftliche Initiativen staatliches Handeln ersetzen könnten. Ganz im Gegenteil: Der Wille und die Bereitschaft zur Mitwirkung und Übernahme von Verantwortung fordert Politik wie Wirtschaft zu einer neuen Offenheit auf. Je größer und flexibler die Beteiligungsmöglichkeiten, desto zielgenauer und innovativer die Lösungsmöglichkeiten, die sich gemeinsam mit den Bürgern entwickeln lassen.

Selten sprudelten mehr Ideen in diesem Land, selten gab es mehr Engagement. Denn die Gesellschaft ist kommunikativer und besser vernetzt denn je. Wie immer, wenn es bunt zugeht, sind die Formen des neuen Zusammenhalts spontan, überraschend und unkonventionell. Das mag manche dazu verleiten, die positiven Entwicklungen zu übersehen. Andere mögen Angst vor einer derart beweglichen Gesellschaft empfinden, weil alte Gewissheiten nicht mehr gelten. Doch die neue Dynamik der Bürger bleibt die größte Chance Deutschlands in einer globalisierten Welt, in der es mit der Entwicklungsgeschwindigkeit junger Länder und Volkswirtschaften mitzuhalten gilt.

Reiner App

und

Martin Messingschlager

1 Vgl. Homer, Sidney: A History of Interest Rates. Vierte Auflage, Hoboken: 2005, Seite 12.

2 Vgl. Schirrmacher, Frank: Ego. Das Spiel des Lebens. München: 2013, Text auf Buchrücken.

3 Ebda., Seite 27.

4 Ebda., Seite 283.

5 Vgl. Schindler, Jörg: Die Rüpel-Republik. Warum sind wir so unsozial. Frankfurt: 2013.

6 Vgl. Wüllenweber, Walter: Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren und wer davon profitiert. München: 2012.

7 Vgl. Weimer, Wolfram: Land unter. Ein Pamphlet zur Lage der Nation. Gütersloh: 2012.

1. Warum Werte uns in Bewegung setzen

Werte – das klang in den neunziger Jahren nach finanziellem Ertrag statt nach Moral. Doch spätestens die weltweite Finanz- und die Eurokrise haben uns gelehrt, wie zerbrechlich der Erfolg qua Gewinnmaximierung ist. Noch lastet der Skandal um hinterzogene Steuern in Liechtenstein, Schweiz und Co. wie eine böse Erinnerung an die vergangenen Zeiten auf uns. Doch dass einige Reiche die gesellschaftliche Solidarität verlassen hatten, sollte uns nicht zu Fehlschlüssen verleiten. Unsere Gesellschaft wird nicht egoistischer und materialistischer. Ganz im Gegenteil: Für immer mehr Menschen, aber auch Unternehmen und Organisationen wird deutlich, dass die authentische Orientierung an einer gemeinsamen Ethik sich am Ende für uns alle auszahlt. Denn Werte sind Energielieferanten ersten Ranges.

April 2013: Ein Denkmal des deutschen Fußballs stürzt krachend in sich zusammen. Dabei scheint Uli Hoeneß doch gerade auf dem Höhepunkt seines Ruhmes anzukommen. Er, der scheinbar allmächtige Präsident des FC Bayern, steht kurz davor, seinen Club zum Triple zu führen, zum Triumph in der nationalen Meisterschaft, im DFB-Pokal und in der Champions League. Doch seit Monaten bereits plagen den Erfolgsfußballmanager und Wurstfabrikanten ganz andere Sorgen: Ein ganzes Jahrzehnt lang hat er an der Börse spekuliert und dafür ein heimliches Konto bei der Vontobel Bank in Zürich unterhalten. Der deutsche Fiskus erfuhr nichts von den Geschäften. Doch die Illegalität der Finanzgeschäfte lastete offenbar auf Hoeneß’ Gewissen. Im Dezember 2012 will er das geplante deutsch-schweizerische Steuerabkommen nutzen, um reinen Tisch zu machen. Doch das Abkommen scheitert und so entschließt sich Hoeneß zur Selbstanzeige. Doch plötzlich drängt die Zeit, ein Journalist verfolgt eine heiße Spur zur Vontobel Bank. Und so wird die Meldung bei der Staatsanwaltschaft zur hektischen Nacht-und-Nebel-Aktion. Wochen später wird der Vorgang publik. Das Presse-Echo ist desaströs: »Fall aus maximaler Höhe«, titelt Spiegel Online. Hoeneß sei einst erfolgreich gewesen, ohne die kleinen Leute aus den Augen zu verlieren. Er habe Missstände in Sport und Politik angeprangert und persönlich viel Gutes getan. Manchmal habe man gar den Eindruck gehabt, »der gute Mensch vom Tegernsee« habe nicht als Bayern-Präsident, sondern als deutscher Bundespräsident amtiert. »Hoeneß hat sich selbst die Fallhöhe geschaffen, aus der er stürzen würde. Es gibt keine größere im deutschen Fußball.«8

Zählen für die Vorbilder nur noch materielle Werte?

Der Skandal ließ die Republik erbeben. Viele Bürger stellten sich die beängstigende Frage:

Gibt es noch echte Vorbilder in diesem Land? Haben unsere Wohlhabenden und Autoritäten ganz und gar aus dem Auge verloren, wer sie groß gemacht hat? Zählen in unserer Gesellschaft keine moralischen, sondern nur noch materielle Werte? Im Bundestag beantragten die Grünen eine Aktuelle Stunde. Es kam zu einem in aller Härte geführten Schlagabtausch. Die Opposition warf der Regierung »geistige Beihilfe zur Steuerhinterziehung« vor, umgekehrt wurde von einer »schäbigen, dreisten und unverschämten Schmutzkampagne« gesprochen. Eine Tonart, die nicht dazu angetan war, das erschütterte Vertrauen in Führungsfiguren zurückzubringen. Hintergrund der hitzigen Debatte war eine nie gekannte Flut von Selbstanzeigen. Wie Die Zeit berichtete, beichteten allein im ersten Halbjahr 2013 mehr als 14 000 Steuerhinterzieher ihre Vergehen.9 Erstmals hatte ein Informant den deutschen Steuerbehörden im Jahr 2006 CDs mit den Namen und Kontodaten mutmaßlicher Steuerbetrüger angeboten. 2008 war es zu einem ersten Aufschrei gekommen, als das Anwesen eines prominenten Steuersünders durchsucht wurde. Es war das Anwesen von Post-Chef Klaus Zumwinkel. TV-Sender hatten davon erfahren und ihre Kameras direkt vor dem Gartenzaun Zumwinkels postiert. Der Ethik-Verband der deutschen Wirtschaft sah einen erheblichen Imageschaden für das deutsche Management, zahlreiche Ethik-Experten und Politiker sprachen von »hemmungsloser Gier«, von »Führungsversagen« und der »Selbstdemontage der Vorbilder«. Zumwinkel trat von seinen Führungspositionen zurück und wurde im Folgejahr zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dann folgten Ankäufe von Datensätzen aus dem Bestand von Bankhäusern aus Luxemburg und der Schweiz. Razzien bei Tausenden Besitzern von Schwarzgeldkonten folgten. Doch erst mit dem Hoeneß-Skandal erreichte die Affäre ihren Höhepunkt. Der Elite schlug geballtes Misstrauen entgegen.

»Wer Steuern hinterzieht, verhält sich verantwortungslos oder gar asozial«, warnte Bundespräsident Joachim Gauck.10 Doch nicht nur viele Wohlhabende, sondern weite Teile der Bevölkerung schienen infiziert. Eine Umfrage von Forsa im Auftrag der Essener Minijob-Zentrale ergab zum Beispiel, dass fast jeder fünfte Bürger schon einmal Schwarzarbeit genutzt hatte. Fast 40 Prozent der Befragten sagten, dass sie niemanden verurteilten, der durch kleine Tricks zum Beispiel bei der Steuererklärung Geld sparen wolle. Die Deutschen – ein Volk der Steuerbetrüger und Wirtschaftskriminellen? Vielleicht sogar noch schlimmer: In derselben Umfrage prangerten 99 Prozent Steuerhinterziehung bei Reichen an. Zahlreiche Medien interpretierten die Zahlen als klares Indiz für eine weit verbreitete Doppelmoral.11

Überwältigendes Vertrauen in den Mittelstand

Doch Vorsicht – in Wirklichkeit ist es mit den ethischen Grundsätzen in Sachen Steuern keineswegs so schlecht bestellt, wie der Tenor der Berichterstattung vermuten lässt. Wenn jemand in seiner Steuererklärung die Entfernung zum Arbeitsplatz zu seinen Gunsten um ein, zwei Kilometer verlängert, dann ist diese Unkorrektheit wohl kaum im selben Zusammenhang wie Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zu sehen. Wobei hinzukommt, dass der Fiskus nicht wenige Aufwendungen als nicht abzugsberechtigt anerkennt, die für berufliche Zwecke unternommen wurden. Hier geht es nicht um die Verletzung von Steuermoral durch den Steuerbürger, sondern um die Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens der Bürger durch den Staat. Und in bestimmten anderen Fällen leiden die Bürger durchaus darunter, sich in steuerlicher Hinsicht unethisch zu verhalten – doch sie fühlen sich dadurch aus anderen, zum Teil auch ethischen Beweggründen gezwungen. So entscheiden sich nicht wenige Familien dafür, Schwarzarbeit für die Pflege ihrer älteren Familienangehörigen zu nutzen. Die Caritas hat dieses Dilemma zu Recht beklagt und vereinfachte steuerliche Lösungsmöglichkeiten von der Politik gefordert.12

Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist zudem ganz und gar nicht der Ansicht, dass sich die Wohlhabenden pauschal vom Gemeinsinn verabschiedet haben. Vor allem das Vertrauen in den Mittelstand ist stark ausgeprägt. Im Roland-Rechtsreport 2010 des Allensbacher Instituts für Demoskopie erklärten 71 Prozent der Bürger, dass sie Vertrauen in mittlere und kleinere Unternehmen haben.13 Mehr Vertrauen bringen die Deutschen nur der Polizei (74 Prozent) entgegen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Während der Finanzkrise kam es in zahlreichen Ländern ab 2013 zum massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen, insgesamt gingen laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD 13 Millionen Arbeitsplätze verloren.14 Nicht so in der Bundesrepu­blik. Hier setzten die Unternehmen darauf, ihre Stammbelegschaften trotz drastischer Auftragseinbrüche zu halten – das Kurzarbeitergeld half ihnen freilich dabei. Diese Investition zahlte sich nicht nur beim späteren Aufschwung aus, sondern vor allem beim Vertrauensaufbau in der Gesellschaft: Während das Vertrauen in die Banken dahinschmolz wie Eis in der Frühjahrssonne und seither jeder Zweite seinem Finanzberater Misstrauen entgegenbringt, erreichte die gesellschaftliche Stellung der mittelständischen Wirtschaft hervorragende Werte. Die Bürger empfanden es als ein Zeichen der Solidarität, dass die Firmen ihren Arbeitnehmern die Treue hielten.

Das neoliberale Gespenst der neunziger Jahre

Wie passte aber der Steuerskandal in eine Atmosphäre, in der Unternehmen und Angestellte gemeinsam gegen die Folgen einer globalen Krise kämpften? Die Antwort ist einfach: Weite Teile der Finanzwelt waren aus der Zeit gefallen – in ihr regierte im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft noch immer der hemmungslose neoliberale Geist der neunziger Jahre. Damals hatte der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten so richtig Fahrt aufgenommen. Zahlreiche Firmen hatten Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagert. In den Bankhäusern übernahmen die Investmentbanker das Ruder und entkoppelten die Geldgeschäfte von der Realwirtschaft. Und viele Bundesbürger – wie zum Beispiel Uli Hoeneß – hatten sich entschieden, sich mit Aktienspekulationen an diesem Spiel zu beteiligen und den deutschen Fiskus davon nicht profitieren zu lassen. Das Dumme war nur: Wer erst einmal in der Illegalität gelandet war, für den war die Abwicklung seiner Konten nicht ganz einfach. Als in der Gesellschaft die Rückbesinnung auf ethische Werte längst stattgefunden hatte, setzte schließlich mit erheblicher Verzögerung die Rückwanderung materieller Werte ein. Der Steuerfluchtskandal sagt also nichts über die Steuer- und Wirtschaftsmoral unserer Tage aus. Er lässt die Profitgier einer vergangenen Ära wie ein Gespenst unter uns erscheinen.

Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, zeigt sich in der langen Reihe der so genannten Shitstorms, die auf Online- und anderen Medienkanälen über Unternehmen hereinbrechen: Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé wurde wegen der Verwendung von Pflanzenfett aus Plantagen angeprangert, für die Regenwald-Biotope weichen mussten. Die Kaffeehauskette Starbucks sah sich wie zahlreiche andere Firmen aufgrund von Steuervermeidungsstrategien mit einem Boykott konfrontiert. Als Konsumenten und Bürger verfügen wir heute über entschiedene Haltungen. Wir sind nicht mehr gewillt, ethisches Fehlverhalten in der Wirtschaft zu akzeptieren. Wo immer wir Missstände beobachten, werden wir aktiv: Wir beteiligen uns in den sozialen Medien an Diskussionen, wir unterzeichnen Petitionen und wir wandern scharenweise als Kunden zu verantwortungsvolleren Unternehmen.

Wir sind nicht nur kritischer, sondern auch selbstkritischer

Gut, wir klopfen den Konzernen auf die Finger. Doch wie sieht es mit unserem eigenen Verhalten aus? Legen wir an unseren Lebensstil ebenfalls derart strenge Maßstäbe an? Ja, genau das versuchen wir zumindest, lautet die Mut machende Antwort. Wir sind nicht nur kritischer, sondern auch selbstkritischer als früher. Entgegen dem Bild einer Gesellschaft, in der das Ellenbogendenken dominiert, sind immer mehr Menschen bemüht, ihre Verhaltensweisen an ethischen Maßstäben zu orientieren. Denn Werte sind nicht nur Ausdruck eines bestimmten Lebensstils, sie sind für uns Energielieferanten ersten Ranges. Nirgends zeigt sich das deutlicher als bei Jugendlichen. Die Baden-Württemberg-Stiftung hatte bereits 2003, 2004 und 2005 12- bis 17-Jährige zu ihren Werten und Zukunftsvorstellungen befragt.15 Dabei wurde deutlich, dass die Motivation zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung stark werteabhängig ist. »Je mehr sich Jugendliche Gedanken über die eigene Zukunft machen«, so schreiben die Verantwortlichen der Studie, »desto wichtiger ist ihnen auch ein soziales Miteinander.«16 Die Orientierung am Gemeinwohl liefert also die entscheidenden Impulse, das eigene Leben nicht irgendwelchen Zufällen zu überlassen, sondern es selbst in die Hand zu nehmen. Je mehr wir an das Miteinander denken, desto mehr profitieren wir selbst.

Lebensglück – aufs Vertrauen in die Mitmenschen kommt es an

»Ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt!« So klang es noch in den achtziger Jahren in einem Hit der Band Geier Sturzflug. Tatsächlich hatte die in Geldwert gemessene Wertschöpfung für Deutschland lange einen zentralen Stellenwert. Wohl kaum eine andere Nation setzte bei ihrer Selbstdefinition so stark auf den wirtschaftlichen Erfolg wie Deutschland. Inzwischen aber hat unter vielen Ökonomen ein Umdenken eingesetzt. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) will künftig auf umfassende Weise das Wohlbefinden der Menschen messen. Der Deutsche Bundestag beschloss 2013 den Nationalen Wohlfahrtindex als Gesamtschau von 12 Indizes aus wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökologischen Größen. Plötzlich spielen im internationalen Vergleich neben Einkommen und Arbeit auch die sozialen Bindungen eine Rolle – genauso wie eine lebenswerte Umwelt und die Möglichkeiten, Berufs- und Familienleben miteinander zu vereinbaren. Entsprechende sozioökonomische Untersuchungen gibt es bereits weltweit vielfach und sie nehmen einen immer größeren Stellenwert ein. Ein Beispiel dafür ist der »Glücksatlas« der Deutschen Post. Darin wird die Lebenszufriedenheit in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands verglichen. Die wohlhabenden Hamburger und Bayern nahmen in dem Ranking 2012 die vorderen Plätze ein, doch die ebenfalls im Schnitt gut situierten Hessen oder Baden-Württemberger rangierten relativ weit hinten*. Im Großen und Ganzen aber präsentieren sich die Bundesbürger als ziemlich zufrieden. Ausschlaggebend dafür ist neben der empfundenen Gesundheit vor allem die Einschätzung der sozialen Bindungen sowie das Maß an Vertrauen in die Mitmenschen und das demokratische System.

* Vgl. http://www.gluecksatlas.de/cms/2012/index.jsp

Motivation kommt von Moral, nicht von Mammon

In der Wirtschaft vertraut man beim Thema Mitarbeitermotivation noch immer auf sogenannte Incentives: Die Top-Arbeitskräfte sollen mit eindrucksvollen Geschäftswagen oder mit Gutscheinen für einen Wellness-Aufenthalt, einen Kochkurs oder ein Sportevent bei Laune gehalten werden. Noch 2012 setzte fast jedes zweite Unternehmen laut einer Umfrage im Auftrag der Edenred Incentives & Rewards GmbH entsprechende Anreize ein.17 Daraus hat sich eine gut gehende Branche von Agenturen entwickelt, die Konzerne bei der Entwicklung von Belohnungssystemen unterstützen. Doch schon 2009 beklagten laut dem Magazin Focus drei von vier Arbeitgebern, dass die Geld- oder Sachprämien einfach verpuffen, statt ihr Ziel zu erreichen.18 Darüber zu wundern braucht sich niemand. »Die Bonus-Praxis in den Unternehmen ist die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält«19, erklärt der Management-Experte Reinhard K. Sprenger. Denn hinter den Incentives verberge sich der Verdacht, dass Mitarbeiter ohne zusätzliche Anreize nicht ihre volle Leistung abrufen. Doch Geld und Geschenke taugen – zumindest ab einer bestimmten Einkommenshöhe – genauso wenig wie falsches Lob dazu, uns bei unserer Arbeit, aber auch bei unseren privaten und gesellschaftlichen Aktivitäten zu beflügeln. Doch was ist es dann, was uns zu Höchstleistungen antreibt? Es ist unsere Identifikation mit den Werten, die wir mit anderen Menschen teilen. Motivation kommt von Moral, nicht von Mammon. Die Sinnstiftung entscheidet darüber, ob wir etwas mit ganzem oder nur halbem Herzen tun.

Noch einmal zurück zum Fußball: Der SV Werder Bremen ist für alle Fans eine legendäre Macht im Norden der Republik. Zigtausende identifizieren sich mit dem Club, der seit den achtziger Jahren zu einem Spitzenteam reifte. Doch dann kommt das Jahr 2012: Werder stellt ausgerechnet den Geflügelzüchter Wiesenhof als neuen Sponsor vor. Binnen kürzester Zeit baut sich ein wahrer Protest-Tsunami in der treuen Anhängergemeinde auf. Denn der Massentierhalter steht wegen Vorwürfen des Antibiotikamissbrauchs und der Tierquälerei immer wieder in den Schlagzeilen. »Kein Blut auf Werder T-Shirts!«, »Keine Hühnerbrüste!«, »Schande über euch!« – mit solchen Parolen machen die Fans in den Internetforen ihrer Empörung Luft. Denn über eine Marke wie Werder lassen wir heute nicht mehr einige wenige Manager oder gewählte Repräsentanten bestimmen. Ein Fußballverein ist ein Netzwerk, das nicht von bloßer Sportbegeisterung, sondern von gemeinsamen Werten zusammengehalten und angetrieben wird. Der Club hatte zahlreiche Kampagnen für das ehrenamtliche Engagement, sozial Benachteiligte, ältere Menschen und Jugendliche lanciert. Er war bekannt als der etwas andere Club der Liga, der langfristig an Vereinsführung, Spielern und Trainern festhielt. Nun wurden diese Werte verletzt – und sofort stotterte der Motor des Vereins.

Die Gemeinschaft zählt mehr als das Budget

Kicker lautet der Name des ältesten deutschen Fußball-Magazins, das 1920 gegründet wurde. Elf Freunde heißt der neue erfolgreiche Wettbewerber, der seit 2000 eine begeisterte Lesergemeinde gewonnen hat. Die kontrastierenden Titel dokumentieren einen Wertewandel: Der Fußball lebt heute nicht mehr allein von Zweikämpfen, Siegen und Niederlagen. Die spielerische Konfrontation ist zwar geblieben, doch der Zusammenhalt, die Wertegemeinschaft von Freunden ist in den Vordergrund getreten. Denn was motiviert uns, ein Regionalliga-Spiel genauso wie Bundesliga-Begegnungen oder Weltmeisterschaften zu besuchen und uns dafür zu begeistern? Es ist der Zusammenhalt, das gemeinsame Erlebnis.

Uli Hoeneß, der legendäre Boss der Bayern, hatte das einst begriffen. Sein steuerliches Vergehen erwies sich gerade deswegen als so fatal, weil seine Lebensleistung von einer ganz anderen Botschaft getragen wurde. Unter seiner Führung wurde der Zusammenhalt des mitgliederstärksten deutschen Fußballvereins zum stärksten im ganzen Land – und mutmaßlich sogar in der ganzen Welt. Das britische Beratungshaus Brand Finance attestierte dem FC Bayern 2013 den weltweit höchsten Markenwert aller Fußballclubs – obwohl das Budget anderer Vereine um ein Vielfaches höher lag. Ethik ist für uns kein Luxus mehr, den man sich leisten können muss. Sondern genau das, was sich für unser Leben und unsere Gesellschaft langfristig auszahlt. Darauf vertrauen immer mehr von uns auch jenseits des Fußballs. Und zwar gerade deswegen, weil uns die Skandale das Scheitern aller anderen Haltungen so deutlich vor Augen führen.

8 http://www.spiegel.de/sport/fussball/fc-bayern-gegen-hoeness-wird-wegen-steuerhinterziehung-ermittelt-a-895583.html

9 Vgl. http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-07/steuerbetrug-selbstanzeige-anstieg

10 Vgl. http://www.stern.de/politik/deutschland/joachim-gauck-im-stern-interview-wer-steuern-hinterzieht-verhaelt-sich-asozial-2004725.html

11 Vgl. http://www.rp-online.de/wirtschaft/finanzen/deutsche-pflegen-doppelmoral-bei-steuerhinterziehung-1.3416685

12 Vgl. http://www.derwesten.de

13 Vgl. http://www.marktundmittelstand.de

14 Vgl. http://www.wiwo.de/politik/konjunktur/finanzkrise-krisengewinner-deutschland/5224066.html

15 Vgl. Landesstiftung Baden-Württemberg (Hg.): Jugend.Werte.Zukunft. Wertvorstellungen, Zukunftsper­spektiven und soziales Engagement im Jugendalter. Stuttgart: 2005.

16 Ebda., Seite 35.

17 Eine repräsentative Studie von Forsa. Befragt wurden im Mai und Juni 2012 300 Entscheider aus Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern.

18 Vgl. http://www.focus.de/finanzen/karriere/management/tid-15624/mitarbeitermotivation-geld-wird-ueberschaetzt_aid_438595.html

19 Vgl. Sprenger, Reinhard K.: Mythos Motivation. Wege aus der Sackgasse. Frankfurt: 2005, Seite 93.

2. Warum wir das Gemeinwohl selbst in die Hand nehmen

Sozialer Zusammenhalt? Dafür muss der Staat Sorge tragen, da ist sich in Deutschland und in Europa eine Mehrheit einig. Und diese Antwort ist zum Teil durchaus richtig. Gesellschaften profitieren außerordentlich davon, wenn staatliche Institutionen integrativ wirken. Doch allzu häufig übernimmt sich die Politik mit dieser Aufgabenstellung. Ob im Familienbereich, bei der Alterssicherung oder der Energiepolitik – überall erleben wir, dass die Möglichkeiten staatlichen Handelns an Grenzen stoßen. Je vielfältiger unsere Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es auch, allgemein gültige Lösungen zu präsentieren. Immer mehr Menschen erkennen das – und wollen sich dennoch nicht mit einer auseinanderdriftenden Gesellschaft abfinden. Sie nehmen das Gemeinwohl selbst in die Hand und werden damit zur größten Zukunftschance in der historischen Umbruchsituation, die wir erleben.

Herbst 2009: Es wird kühl in Deutschland. Bilder von Suppenküchen in Berlin und von aus ihrem Eigenheim vertriebenen US-Bewohnern flimmern über die Bildschirme. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert höhere Löhne, um der Spaltung der Gesellschaft zu begegnen. Es ist Krisenzeit, die Zukunftsangst sitzt vielen im Nacken und deswegen steigt die Sparquote auf ein Rekordhoch von mehr als elf Prozent. Man sieht Banken am Rande des Bankrotts stehen und um Staatshilfe flehen. Gleichzeitig droht Staaten an der europäischen Peripherie der finanzielle Kollaps.

Die Ängste grassieren – und das heißt, dass die Hoffnungen auf den Staat boomen. Darf es etwas mehr sein an von oben organisierter Absicherung? Ja, gerne! Das fordern immerhin 61 Prozent laut einer Umfrage des Bundesverbands deutscher Banken.20 Genauso viele klagen darüber, dass der Zusammenhalt abnimmt. Und fast drei Viertel finden, dass es in unserer Gesellschaft nicht gerecht zugeht. Gleichzeitig sinkt allerdings das Vertrauen auf die Handlungsfähigkeit der Politik. Nur noch gut jeder Zweite glaubt, dass sie die wirtschaftlichen Probleme lösen kann. Denn die Krisensituation führt deutlich vor Augen, dass die staatliche Leistungsfähigkeit an harte Grenzen stößt.

Familien, Rente und Energie – der Staat handelt ineffizient

Die Zweifel der Bürger bestehen zu Recht. Beispiel Familienpolitik: Mitten im Krisenjahr 2009 hatte das Bundesfamilienministerium Experten damit beauftragt, die Leistungen zu bewerten. Als knapp vier Jahre später im Frühjahr 2013 erste Ergebnisse vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel veröffentlicht werden, bleiben vielen Parlamentariern die Münder offen stehen: Das Ehegattensplitting sei »ziemlich unwirksam« und die beitragsfreie Mitversicherung der Ehepartner in der gesetzlichen Krankenversicherung sogar »besonders unwirksam«.21 Am besten schnitt noch der Aufbau der Betreuungsplätze ab. Das traurige Fazit lautete jedoch: Verschwendung, ein großer Teil der jährlich insgesamt 200 Milliarden Euro an Geldtransfers sei äußerst ineffizient. Doch das Erschrecken der Politik fängt sich rasch wieder. Rasch werden neue Ausgaben wie das Betreuungsgeld beschlossen und im Wahlkampf versprechen die Parteien weitere Leistungen. Eine neue »Milliardenverschwendung« drohe, empört sich der Spiegel.

Auch in der Rentenpolitik herrscht wenig Effizienz. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum im Auftrag der Bertelsmann Stiftung kommt im März 2013 zum dramatischen Befund, dass das deutsche System der staatlichen Alterssicherung wenig standfest ist. Demnach reichen die Rentenreformen der vergangenen Jahre nicht aus, um das bereits deutlich abgesenkte Rentenniveau zu sichern.22 Als Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen Pläne für eine Zuschussrente präsentiert, mit der die Altersbezüge von Geringverdienern abgesichert werden sollen, geht der Paritätische Wohlfahrtsverband auf die Barrikaden. Es handle sich um »ineffiziente Symbolpolitik«23, kritisiert die Organisation. »Hier werden Ressourcen zum Aufbau neuer Bürokratie verschwendet.« Die besonders von Altersarmut Betroffenen würden aufgrund der restriktiven Voraussetzungen für die Ansprüche kaum profitieren. Die Zuschussrente sei »kein wirksames Mittel gegen Altersarmut, sondern einzig ein großes Beamtenbeschäftigungsprogramm«.

In der Energiepolitik schlagen die Wogen noch viel höher. Die Kosten der Energiewende werden sich bis Mitte des Jahrhunderts auf 550 Milliarden Euro summieren, rechnet die Bundesregierung den Bürgern vor.24 Dem Ziel, die Energiewende weiter voranzutreiben, stimmt aber eine überwältigende Mehrheit der Deutschen zu.25 Doch ist das Geld auch gut angelegt? Die Politik laviert, zahlreiche Experten fordern eine radikale Kehrtwende. Unter ihnen die Deutsche Energie-Agentur (Dena), die im Sommer 2013 sogar so weit geht, die komplette Abschaffung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) zu verlangen. Windräder und Solaranlagen sollten nur noch dort zugelassen werden, wo sich die Anlagen problemlos ins System integrieren ließen. So würde der Umbau zu möglichst günstigen Konditionen vollzogen, meint die Dena.

Mechanische Lösungen werden einer dynamischen Gesellschaft nicht gerecht

Das Problem der Planer in den Ministerialbürokratien und Parlamenten ist nicht, dass sie die falschen Ziele anvisieren. Schließlich wissen sie bei der Förderung von Familien, der Stabilisierung der Renten und dem Umbau des Energiesystems eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Selbst hohe Kosten nehmen die meisten Bürger dafür in Kauf. Doch staatliche Programme hängen oftmals Jahre oder sogar Jahrzehnte den aktuellen Entwicklungen hinterher. Vor allem aber stellt sich das Problem, dass die Vorgaben und Regulierungen oftmals einer immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Situation nicht gerecht werden. Jede fünfte Mutter in Deutschland ist alleinerziehend – was hat diese Gruppe vom Ehegattensplitting? Einkommensschwache Familien leben in Miete und finanzieren mit ihrem Strompreis die Energiewende – was haben sie von den satten Renditen der Solaranlagenbesitzer?

Mechanische Lösungen werden modernen Gesellschaften immer weniger gerecht. Die Politik steht deswegen vor der Aufgabe, flexible Förderinstrumente bereitzustellen. Ein genauer Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung ist deswegen essenziell. Denn selbst oder gerade dort, wo nicht oder unzureichend Unterstützung bereitgestellt wird, haben viele Bürger schon mal selbst damit begonnen, ihre dem Gemeinwohl dienenden Ziele umzusetzen.

Senioren mischen eine ganze Stadt auf

Riedlingen an der Donau: Im Garten von Rentner Erwin Bogenschütz geht es heute hoch her. Franz Stützle steht in der Krone eines Apfelbaums und pflegt das alte Gehölz mit einem mustergültigen Baumschnitt. Wenige Meter entfernt kniet Magda Kobisch im Gartenbeet und jätet Unkraut. Anschließend brüht sie in der Küche einen heißen Kaffee für alle auf – die beiden Helfer genießen die Pause mit einem selbstgemachten Zwetschgenkuchen sichtlich. Und Erwin Bogenschütz freut sich nicht nur über die Hilfe, sondern auch über den netten Plausch mit den Helfern. Das Besondere daran: Es geht nicht um reine Solidarität, sondern zugleich um ein Geschäft. Denn Franz, Erwin und Magda sind Mitglieder der örtlichen Seniorengenossenschaft – ein Modell, das es zu weltweiter Bekanntschaft gebracht hat. Sogar aus Japan, das ebenfalls ein massives Demografieproblem hat, reisen Delegationen an.

Die Helfer der Genossenschaft erledigen für andere Besorgungen in den Geschäften des Fachwerkstädtchens, sie reinigen die Wohnung, waschen, bügeln und führen Hunde Gassi. Jede Arbeitsstunde wird genau notiert – und meistens nicht ausbezahlt, sondern angespart auf einem Zeitkonto. Einlösen können sie den Wert ihres Arbeitsvermögens, wenn sie später selbst einmal hilfsbedürftig werden sollten. Josef Martin, der Initiator des Projekts, meint schmunzelnd dazu: »Zeit ist eine Währung, der die Inflation nichts anhaben kann.« Hunderte Mitbürger hat er bereits davon überzeugt mitzumachen. Ihr Ziel ist es, anderen und sich selbst das Wohnen im eigenen Heim möglichst lange zu ermöglichen. Mit ihrem Engagement schließen sie eine wichtige Lücke im staatlichen Transfersystem.

Doch es geht nicht nur um das vordergründige Ziel – die Seniorengenossenschaft hat viel mehr für Riedlingen erreicht: Zahlreiche neue Beziehungen und Freundschaften sind entstanden, ausgerechnet die Älteren haben mit ihrer frischen Idee das Leben und den Zusammenhalt in der Donaustadt gründlich erneuert. Als das örtliche Kino, das auf eine jahrhundertelange Tradition als Theater- und Lichtspielstätte zurückblicken kann, geschlossen werden sollte, griffen ebenfalls Bürger ein. Sie sorgten dafür, dass aus dem historischen Schmuckstück ein Programmkino mit Café wurde, ein echter Anziehungspunkt im Altstadtkern. Und der örtliche Handel führte den Donau-Taler ein, ein regionales Geld in Euro-Gegenwert, das allerdings nur vor Ort zur Bezahlung verwendet werden kann. Das Ziel ist, die regionalen Wirtschaftskreisläufe zu stärken. Und natürlich verfügt die Kommune mit dem mittelalterlichen Stadtbild auch über einen Bürgerenergie-Verein und viele weitere Initiativen. Das Beispiel zeigt, dass Bürgerinitiativen zur Stärkung des Gemeindelebens und der Solidarität vor Ort keineswegs eine Angelegenheit hipper Großstadtquartiere sein müssen – auch wenn sie dort besonders blühen.

Kultur ist nicht mehr elitär, sondern für alle da

Doch auch manche Großstadt kämpft mit gewaltigen Zukunftsproblemen – besonders im Westen Deutschlands. Ein typisches Beispiel ist Dortmund, mit gut 570 000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Westfalens und des Ruhrgebietes. Einst schuf eine boomende Industrie dort über hunderttausend Industrie-Arbeitsplätze, heute haben nicht einmal mehr zehn Prozent der Beschäftigten einen Job unter Fabrikdächern. Das Ausmaß der Deindustrialisierung hat ganze Stadtteile in soziale Not gestürzt. Doch seit dem Jahr 2008 steuert die Kommune um – vor allem dank des Einsatzes ihrer Bürger. In den Brennpunkten entwickelten Bürgerversammlungen, unterstützt vom Rathaus, den »Aktionsplan soziale Stadt«: Es wurden Bürgerparks und Generationengärten gebaut, um die Lebensqualität zu erhöhen und den öffentlichen Raum attraktiv zu gestalten. Elternvereine wurden gegründet, Kinderstuben wurden geschaffen und die ehrenamtliche Seniorenarbeit wurde ausgebaut. Integrationsprogramme für Migranten wurden auf die Beine gestellt. Und Unternehmer und ihre Verbände unterstützen Existenzgründer beim Unternehmensaufbau und der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das Erfolgsprinzip: Die Kommunalpolitik agiert nicht isoliert, sie versteht sich als Unterstützerin des Bürgerwillens und -engagements zur erfolgreichen Umgestaltung der Stadt.

Auf dem Land kann Mobilität zu einem schwerwiegenden Problem werden. Betroffen davon waren auch neun Dörfchen im Umfeld Bremens, die einst bei der Gemeindereform der siebziger Jahre zur Gemeinde Weyhe vereint wurden. Am Rande der Hansestadt lebt es sich bestens – Kindertagesstätten, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, alles ist vorhanden. Nur ein Problem gibt es: Der öffentliche Nahverkehr ist in vielen Ecken nur über relativ weit entfernte Haltestellen erreichbar. Das wollten rege Bürger nicht länger hinnehmen und so gründeten sie im Jahr 2000 einen Bürgerbus-Verein. Ehrenamtliche Fahrer durchkreuzen die Gemeinde nun auf mehreren Linien mit ihrem Transporter und schaffen so eine ständige Verbindung zwischen den Orten. Inzwischen gibt es Dutzende vergleichbare Initiativen in ganz Deutschland. Sämtliche Projekte verstehen sich nicht als Konkurrenz zum öffentlichen Nahverkehr, sondern fügen sich nahtlos in ihn ein. Das zeigt, dass staatliches und bürgerschaftliches Handeln im Sinne des Gemeinwohls keine Konkurrenz darstellen, sondern sich wechselseitig ergänzen.

Geld anlegen mit der Weisheit der vielen