Der Nil - Terje Tvedt - E-Book
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Der Nil E-Book

Terje Tvedt

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Beschreibung

Kaum ein Fluss hat die Menschen derart in den Bann gezogen wie Der Nil. Schon aufgrund seiner gewaltigen Länge stellte er Anwohner und Reisende bis ins 19. Jahrhundert hinein vor Rätsel: 6800 Kilometer windet er sich durch Regenwälder, Sumpfgebiete und schließlich die Wüsten Ägyptens, wo man sich wunderte, woher all das Wasser kam.

An den Ufern des Nils herrschten Pharaonen, osmanische Kalifen und britische Gouverneure, er wurde zum Rückgrat der kolonialen Erschließung Afrikas und zu einem Schauplatz des Kalten Krieges. In den letzten Jahren wiederum hat sich das Flussbecken so schnell und radikal verändert wie nie zuvor in seiner Geschichte – mit unabsehbaren Auswirkungen auf Natur und Gesellschaften.

Terje Tvedt, einer der besten Kenner des Nils, nimmt uns mit auf eine historische und geografische Reise von der Mündung ins Mittelmeer über den Äquator bis zu den Quellen im Herzen Afrikas. So entsteht die faszinierende Biografie eines Flusses, ohne die auch aktuelle Konflikte wie der Staudammbau in Äthiopien nicht zu verstehen sind.

»Dieses Buch hat das Zeug zum Klassiker.« Klassekampen (Oslo).

»Eine fabelhafte Reise auf einem wunderschönen Fluss.« VG (Oslo).

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Seitenzahl: 985

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TERJE TVEDT

DER NIL

FLUSS DERGESCHICHTE

Ins Deutsche übertragenvon Andreas Brunstermann,Gabriele Haefsund Nils Hinnerk Schulz

Ch. Links Verlag, Berlin

Diese Übersetzung wird mit finanzieller Unterstützung von NORLA veröffentlicht.

Copyright © Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo 2012/2018

Die norwegische Ausgabe ist 2012/2018 unter dem Titel NILEN – HISTORIENS ELV bei Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo, erschienen.

Die deutsche Ausgabe wird mit freundlicher Genehmigung von Hagen Agency, Oslo, veröffentlicht.

Die Übersetzung basiert auf der norwegischen Originalausgabe und der vom Autor durchgesehenen und aktualisierten englischen Übersetzung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2020

entspricht der 1. Druckauflage vom Oktober 2020

© Christoph Links Verlag GmbH

Prinzenstraße 85 D, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Nadja Caspar, unter Verwendung eines Fotos

vom Nilmosaik in Palestrina, 2. bis 1. Jahrhundert v. Chr.

(Museo Archeologico Nazionale di Palestrina e Santuario

della Fortuna Primigenia, Palestrina, Italien/Bridgeman Images)

Satz: Marina Siegemund, Berlin

ISBN 978-3-96289-098-8

eISBN 978-3-86284-484-5

INHALT

EINLEITUNG

Das Mosaik außerhalb von Rom

Fluss der Geschichte

DIE WÜSTE UND DAS DELTA – ÄGYPTEN

Das Wüstenparadies

Skarabäen, Wiedergeburt und des Todes und des Lebens Strom

Der Rhythmus des Flusses und der Gesellschaft

Die verschwundenen Städte und Flüsse

Die Nilstadt Alexanders des Großen

Die Anfänge der Philosophie

Cäsars und Kleopatras Reise auf dem Nil

Die Flucht von Jesus und Maria durch das Niltal

Gott straft die, welche behaupten, den Nil zu besitzen

Der Islam erobert das Nildelta

Der Brief des Kalifen an den Nil

Napoleon im Anmarsch

Kritik des Orientalismus

»Die Schlacht um den Nil«: Paris gegen London

Die Schlacht um den Rosettastein: Diebe gegen Diebe

Der Soldat, der den Nil reformieren sollte

Die Giraffe, die den Fluss hinabsegelte und nach Paris reiste

Der norwegische Langläufer, der auf dem Weg zur Nilquelle umkam

Der Kanal zwischen den Meeren

Gustave Flaubert und Henrik Ibsen »von Kairo den Nil hinauf«

Aktien und Besatzung

Wo die Ägypter Wasser als Kriegswaffe verwendeten

Am Schnittpunkt von Geschichte, Fluss und Meer

NACH KARNAK UND ZU DEN KATARAKTEN DES NILS

Von den Arabern gegründet, von den Briten eingenommen

Ein Nilometer, der nichts mehr misst

Konservative Kolonialisten als Vortrupp der Revolution

Ein Fluss als Zuckerbrot und Peitsche

Die Muslimbruderschaft will die »Quellen des Nils« sichern

Eine Rolle für einen Helden

Die Suezkrise und der Damm

Die Sowjetunion als Modernisiererin des Nils

»The Lady of the Nile«

»Das Hausboot am Nil« und ein Nobelpreisträger

Ein Wasserfall in der Wüste

Theben und Karnak in Gefahr

Das Tal der Könige und Schönheitsideale

Wo die Reiseliteratur entstand

Das alte Assuan als Symbol der Modernität

Der »Stromabkomplex«

Ägyptische Götter und ewiges Leben

Die Großprojekte von heute und die von gestern

NUBIEN UND DAS LAND, WO SICH DIE FLÜSSE TREFFEN – SUDAN

500 Kilometer durch die Wüste auf einem künstlichen See

Nubien – Gold und Katarakte

Muhammad Alis Flusskrieg

Die Politik der Geografie

Die verschollenen Entdecker

Wanderungen und Sandschlösser

Am Treffpunkt der großen Ströme

Der Fackelträger von Khartum

Tanz im Sand

Die Zeit und die Tochter des Flussvolks

Queen Victorias Flusskrieg

Britische Massaker am Ufer des Nils

Der unbekannte Ingenieur und ein historischer Rapport

Der Blaue Nil und der Entdecker aus Larvik

Die Möglichkeiten des Sudan und die Geburt eines hydraulischen Staates

Ein weiß gesprenkelter Gekko und der Prophet

Winston Churchill: »München liegt am Nil«

Der Sudan und Ägypten teilen den Nil

»Kippt den Whisky in den Fluss!«

Ein islamistischer Putsch

Osama bin Laden als Unternehmer am Nil

Eine neue Stadt inmitten des längsten Kusses der Welt

Der Sudan rasselt mit dem Nilsäbel

Allah sei Dank für den Damm (und den Haftbefehl sollen sie aufessen)

Nubien und die Kontrolle des Nils

Der Löwenanteil

Die Kornkammer des Nahen Ostens und eine Zuckerfirma

DER SUMPF UND DER NEUE STAAT – SÜDSUDAN

Das Land der Entfernungen

Ein diktatorischer Fluss

Die nilotische Wasserwelt und ein Flusshäuptling

Ein Faden, der in alle Richtungen weist

Arabische Invasoren aus dem Norden

Europäische Abenteurer in den Sümpfen

Europa am Rande eines Krieges im Süden des Sudan

Ein heiliger See

Reisen durch den Sumpf und Theorien über die Entwicklung Afrikas

Jonglei – ein neues Aquädukt nach Norden

Razzien und Frieden

»Ein Menschenzoo zum Studium für Völkerkundler«

Koloniale Forschung der Weltklasse in den Sümpfen

Der Traum von der »Nilrepublik«

»Stoppt den Kanal!«

Im Schatten des Regenwalds

Der neue Nilstaat und George W. Bush

Noch eine Kornkammer am Nil?

Staatsbildung und Hydrodiplomatie

DAS LAND DER GROSSEN SEEN – UGANDA

Wettlauf zur Quelle

Der Abenteurer, der eine Sklavin ehelichte

Entdecker oder »Entdecker«?

Schiere Entschlossenheit und wissenschaftlicher Evangelismus

Das afrikanische Königreich an der Nilquelle

Das Eintreffen der Missionare

Entscheidend für Ägyptens Zukunft

London reißt die Kontrolle über die Nilseen an sich

Wo die Tiere herrschen (durch der Menschen Gnade)

Wasserfälle und Bilder von »den Anderen« und »uns«

»The Baker of the Nile«

Winston Churchill im Dschungel

Bogart, Hepburn und Hemingway an den Nilfällen

Ein Nilimperium voll innerer Widersprüche

Die Owenfälle – »Ugandas Anfang«

Ein britischer Premierminister als »Wasserkrieger«

Idi Amin applaudiert satten Krokodilen am Nil

Die Frau und das Wasser, das unverwundbar machen sollte

Geschichten über das heilige Wasser

Der Zauberer vom Nil und die Lord’s Resistance Army

Neue Entdeckungen – Öl im Nil!

Zentralafrikas Binnensee

Darwins Teich, die Lehren der Evolution und Massensterben

Das Speke Resort, Museveni und der Nil

Die industrielle Revolution kommt nach Uganda

Die größten Insektenschwärme der Welt und die Nilzeit

ÖSTLICH DES BINNENMEERS – KENIA UND TANSANIA

Die Bahn durch das Land an der Quelle des Weißen Nils

Schlafkrankheit und Kolonialismus

Die Eisenbahnlinie, die ein Land erschuf

Asiatische Migranten und zionistische Projekte

Der weiße Stamm auf den Hochebenen

Ein Nilstaat ohne Nation

Olympische Meister vom »Stony River«

Masai Mara

Die Luo und Barack Obamas Reise

Kenia und die Nilfrage

Die Wiege der Menschheit

Bismarck und der Felsen am Rande des Wassers

Eine unbekannte europäische Seeschlacht auf einem Nilsee

Koloniale Abkommen und die Gegenwart des Nils

Das Land der Geschenkökonomie

Der Zug der Gnus

Was ist der Nil?

Den See anzapfen und Ägypten trotzen

ZU DEN NILQUELLEN IN ZENTRALAFRIKA – RUANDA, DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO UND BURUNDI

Wo der Fluss spaltet und sammelt

Plastiktüten und Feuerlöscher

Hotel Ruanda und die Straße am Fluss

Ein Brief vom Ground Zero

Was ist Ethnizität?

Eine Metamorphose

Ein amerikanischer Pastor an der Quelle des Nils

Eine neue Ära, derweil die Grenze sich verschiebt

Gorillas im Nebel

Die Nilquelle im Regenwald

»Herz der Finsternis« – Conrad und eine Biografie über den Nil

Schneebedeckte Mondberge am Äquator

König Leopold II., ein Schurkenstaat und die Nildiplomatie

Der Kongonil

Albertsee oder Mobutusee?

Eine fließende Grenze

»Dr. Livingstone, nehme ich an?«

Königreich und Kolonie

Selbstreflexion und Masken

Rivalität an allen Fronten

Der Guerillaführer, der von einem Norweger erlöst wurde

Umwerben, Teppiche und Wasser

Die Pyramide an der Quelle

DER WASSERTURM IM OSTEN – ERITREA UND ÄTHIOPIEN

Eine Eisenbahnfahrt und eine Art-déco-Hauptstadt am Horn von Afrika

Italien als Nilmacht

Eritrea im Austausch gegen einen Nildamm

Der Fluss als Metapher und Grenze

Ein Wechselbalg unter den Nationen

Unruhestifter oder Friedensmakler?

Ein Überraschungsbesuch in Asmara

Zum Wasserturm des Nils

Aksum und das Hochland

Die Begrenzung des Augenblicks

Die Klosterinsel, das Meer und das Ende der Welt

Ein äthiopischer Philosoph und Höhlenbewohner

Massentaufen in Bahir Dar

Der heilige Nil und der Schotte, der sich als Entdecker der Quelle ausgab

Der Priesterkönig Johannes und die Jungfrau Maria beherrschen den Nil

Besatzung oder Übereinkunft?

Roms und Londons heimlicher Plan

Mussolini am See

Ein Staudamm und das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg

Der Kalte Krieg und Hydropolitik

Der Wasserturm erkennt sein Schicksal

Tiefenökologie, Spiegel und das Zeichen des Flusses

Bob Geldofs Äthiopien – ein Land ohne Flüsse

Die Große Talsperre der äthiopischen Wiedergeburt

Wird Donald Trump das rote Band durchschneiden?

ZUM ABSCHLUSS

Das Ende der Reise

Der Fluss der Geschichte und seine Zukunft

Die Statue in Rom

ANHANG

Über dieses Buch

Zeitleiste

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register

Abbildungsnachweis

Der Autor und die Übersetzer

Was geschieht mit Buchrollen, wenn sie vor Schmutz zusammenkleben, das ist mir widerfahren, spüre ich: entfaltet werden muss der Geist, und was immer in ihm niedergelegt worden ist, muss von Zeit zu Zeit durchgerüttelt werden, damit es zur Verfügung steht, sooft der Bedarf es fordert.

Seneca, Epistulae morales, Brief 72

EINLEITUNG

Das Mosaik außerhalb von Rom

Im dritten Stockwerk eines bescheidenen archäologischen Museums etwa 35 Kilometer außerhalb von Rom befindet sich das weltbekannte Nilmosaik. Es ist rund 2000 Jahre alt, fast sechs Meter breit und mehr als vier Meter hoch. In bunten Farben und aus verschiedenen Blickwinkeln schildert es den Fluss und das Leben an seinen Ufern. Am Oberlauf werden afrikanische Motive wiedergegeben, an der Mündung sind Mittelmeerszenen erkennbar. Das ungewöhnlich farbenfrohe und klare Bild wurde aus bunten Steinen zusammengesetzt, die mit einer Art Mörtel befestigt wurden. Was dieses Mosaik in Palestrina aber besonders und zu einem Teil der Kunstgeschichte macht, ist die Tatsache, dass der Fluss und das Leben der Menschen dort aus einer ganz und gar modernen Perspektive geschildert werden: Es wirkt, als hätte der Künstler den Nil aus einem Flugzeug betrachtet. Zudem stellt das Werk eine äußerst beredte historische Quelle dar; es unterstreicht die Zeitlosigkeit des Flusses als Zentrum und Lebensader der Gesellschaft und zeigt, wie das Mittelmeer gleichsam die in Wasser geschriebene Geschichte eines Kontinents in sich aufnimmt.

Das Mosaik bildet den Nil als zentralen Ort im Leben der Menschen ab, bringt aber ebenso zum Ausdruck, dass der Fluss stets ein Teil der kulturellen und religiösen Geschichte Europas gewesen ist. Es erinnert uns an eine ferne Vorzeit, in der der Nil als heilig verehrt wurde, nicht nur von Priestern in riesigen Tempeln entlang des Flusses in Ägypten, sondern auch in Europa. Das Kunstwerk stammt aus einer Epoche, in der sich der Nil- oder Isiskult von Ägypten aus in der hellenischen und römischen Welt verbreitete. Dieser Kult war eine neue, selbstständige Religion – eine Mysterienreligion, die von Tod und Auferstehung handelte und um eindrucksvolle Prozessionen und Rituale kreiste, in denen der Nil im Zentrum stand. Im British Museum in London befindet sich eine der zahlreichen Statuen der Fruchtbarkeitsgöttin Isis. In der linken Hand hält sie einen Krug mit heiligem Wasser des Nils, dem Mittel, das Erlösung bringen sollte. Vor 2000 Jahren konnten nördlich des Mittelmeers immer wieder Gläubige beobachtet werden, die solche Krüge mit Nilwasser über Bergkämme und durch Täler trugen, und es besteht eine tief gehende geschichtliche Verbindung zwischen den Krügen mit Nilwasser und den späteren Taufbecken in europäischen Kirchen.1

Das Kunstwerk wurde einige hundert Jahre vor jener Zeit erschaffen, als dieser Nil- und Isiskult von einer ernsten Konkurrenz bedroht wurde, nämlich dem Christentum, der neuen Religion, die sich vom Nahen Osten her ausbreitete. Die Verehrung des Nils und seiner Götter wurde weit in die christliche Ära hinein fortgesetzt. Es waren Isisanhänger, die den Evangelisten Markus an einem Osterfest einige Jahrzehnte nach Jesu Tod in Alexandria niedermetzelten; mit einem Strick um den Hals wurde er durch die Straßen gezogen und schließlich geköpft. Erst als das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion aufstieg, wurde der Kult um Isis und den Nil zerschlagen. Vom Geburtsort eines expansiven Mysterienkults wurde das Nildelta nun zu einem Zentrum des frühen Christentums.

Das Nilmosaik außerhalb von Rom repräsentiert eine lange historische Linie, die durch spätere, zwischen Kontinenten und Nationen gezogene Grenzen und Trennungen unscharf geworden ist. Sogar der Name des Flusses ist mit Europa verbunden, durch den griechischen Dichter Hesiod, der im 7. Jahrhundert v. Chr. lebte, als Ägypten, das Nildelta und Griechenland Bestandteile einer gemeinsamen mediterranen Kultur waren. Hesiod nannte den Fluss Νεῖλος – Neilos –, der numerische Wert der dabei verwendeten griechischen Buchstaben ergibt 365, mit anderen Worten also alles – wie um zu unterstreichen, dass der Fluss als alles aufgefasst wurde. Das Mosaik erinnert uns daran, dass es die Menschen in der Nähe des Flusses waren, die sich als Erste aufmachten, um den afrikanischen Kontinent zu verlassen und die Erde zu bevölkern; dass eine der frühesten uns bekannten, auf Landwirtschaft beruhende Gesellschaftsform an den Ufern des Nils entstand und dass die mächtigste und eindrucksvollste aller antiken Zivilisationen dank des Flusses gedeihen konnte.

Das Mosaik ist wie die topografische Schilderung einer religiösen Zeremonie, muss aber auch als Huldigung des Nils als Bestandteil der mediterranen Kultur gedeutet werden. Das Mosaik strahlt dieselbe Faszination für den Fluss aus, die schon Julius Cäsar erspürt haben muss. Der römische Feldherr und Politiker soll geäußert haben, Ägypten sofort aus der Hand geben zu wollen, wenn ihm jemand den Weg zur Nilquelle verraten könnte. Wo kam all das Wasser her, das jeden Sommer – gerade wenn es in Ägypten am heißesten und trockensten war – aus der glühend heißen Wüste heranströmte und eine der fruchtbarsten Gegenden der ganzen Welt erschuf? Bis in das europäische Spätmittelalter war das Rätsel des Flusses von fantasievollen mythischen Vorstellungen geprägt, in der Literatur wurde geschildert, er ströme direkt aus dem Paradies sowie über eine Treppe aus goldenen Stufen. Lange wurde der Nil als eine göttliche Manifestation begriffen. Einer der bekanntesten Chronisten des 14. Jahrhunderts, Jean de Joinville, fasste den herrschenden Glauben in seiner zwischen 1305 und 1309 erschienenen Histoire de Saint Louis so zusammen: »Und man weiß nicht, woher dieses Hochwasser kommt, es sei denn durch den Willen Gottes.«2

Zeichnung einer antiken Isis-Statue von Paolo Alessandro Maffei, 1704. Die Göttin hält einen Krug mit heiligem Nilwasser in der Hand.

Nach dem Triumph der Aufklärung in Europa entstand eine andere, eher wissenschaftlich begründete Nilromantik. Bis ins 19. Jahrhundert gab es nur wenige geografische Fragen, die intensiver diskutiert wurden, als die nach der Lage der Nilquellen. Am Wasserlauf des Nils spielte sich vor 150 Jahren eine der spektakulärsten wissenschaftlichen Vermessungen der Welt ab, als Abenteurer und Entdecker wie Henry Morton Stanley, David Livingstone und John Hanning Speke, die vermögende Niederländerin Alexandrine Tinné sowie ein norwegischer Langlaufmeister nach den Quellen des Nils suchten. Die Geschichte über die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Vermessung des Nils durch europäische Geografen, Entdeckungsreisende, Hydrologen und britische Wasserbauingenieure ist eine Geschichte über koloniale Eroberung und über den Triumphzug der modernen Wissenschaft in Afrika.

Doch der Fluss, den das Mosaik eingefangen hat, festgefroren wie in einer 2000 Jahre alten Momentaufnahme, hat seitdem, in jeder Sekunde, Tag für Tag und Generation für Generation, undurchdringliche Urwälder durchflossen, wo das Sonnenlicht nie den Boden erreicht, ist brüllend und tosend von vulkanischem Hochgebirge gestürzt, hat gigantische Binnenseen und den weltgrößten Sumpf durchquert und sich auf seinem Weg aus dem Inneren Afrikas durch eine der trockensten Wüsten unseres Planeten gekämpft. Die beständige Geografie des Flusses und der pulsierende Rhythmus des Wassers schaffen noch heute die Bedingungen für Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft und waren stets Ursprung sowohl für Mythenbildung als auch für Machtkämpfe.

Bevor das Mosaik erschaffen wurde, war das Nildelta bereits von den Persern, von Alexander dem Großen und auch von Cäsar in Besitz genommen worden. Später eroberten die Araber den Nil. Die Kreuzfahrer kamen an den Fluss. Napoleon ritt an der Spitze seines Heeres das Delta hinauf, um die »Schlacht bei den Pyramiden« zu schlagen. Mit Kairo als Achse etablierten die Briten ihr Nilimperium vom Mittelmeer bis zu den Quellen des Flusses im Herzen Afrikas, und zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte herrschte eine einzige Macht, das britische Empire, über den gesamten Fluss. Die Bewohner an diesem Wasserlauf standen seit dem 7. Jahrhundert im Zentrum des Kampfes zwischen Islam und Christentum in Afrika. Darüber hinaus war der Fluss Zentrum für das Entstehen einiger klassischer Mythen der internationalen Entwicklungshilfepolitik, wobei die Bilder eines hilflosen Afrikas, die dabei entstanden sind, angesichts der jüngeren Entwicklung einzelner Regionen hoffnungslos veraltet erscheinen.

Dieses Buch steht in der gleichen Tradition, die das Mosaik in Palestrina symbolisiert: die europäische Faszination für Rolle und Bedeutung des Flusses. Es handelt sich um ein Geschichtsbuch über die Entwicklung der Zivilisation sowie um eine Reisebeschreibung vom längsten Fluss der Erde. Doch es ist auch eine Studie über moderne Hydropolitik und afrikanische Entwicklung und soll zudem zeigen, wie diese Veränderungen die zentralen Entwicklungen in der modernen Welt widerspiegeln. Zuallererst ist dieses Buch indessen die Biografie einer Lebensader, die mittlerweile fast eine halbe Milliarde Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft vereint, der niemand entkommen kann.

Ich habe bereits zuvor über die Geschichte des Nils geschrieben. Über den Fluss unter britischer Kontrolle (The River Nile in the Age of the British) sowie in der postkolonialen Epoche (The River Nile in the Post-Colonial Age). Dazu habe ich eine fünfbändige Literaturübersicht zur Nilregion sowie Bücher über die Entwicklungshilfepolitik in dieser Region herausgegeben. Dieses Buch hat einen anderen Schwerpunkt und eine wesentlich längere zeitliche Perspektive und versucht zusammenzufassen, was ich auf unzähligen Reisen an diesem Wasserlauf gelernt habe – nach unendlich vielen Gesprächen an Cafétischen zwischen Alexandria und Kigali, nach vielen ausführlichen Interviews mit Experten, Ministern und Staatsführern, und nachdem ich ein ganzes Jahr in Archiven auf drei Kontinenten verbracht habe, auf der Jagd nach Quellen über die Regionen sowie die Geschichte des Flusses.

Was jetzt und in naher Zukunft mit und am Nil geschieht, wird dramatische Folgen für die regionale sowie für die globale Politik haben. Während dieses Buch geschrieben wird, durchläuft der Nil, derweil er sich seinen Weg durch die Natur sucht und zugleich die Entwicklung der Gesellschaften an seinen Ufern beeinflusst, die wohl revolutionärste Veränderung in seiner langen Geschichte. Gerade in einer Zeit, in der die Gegenwart zunehmend dramatischer, unbeständiger und unübersichtlicher wird, sind historische Kenntnisse wichtig. Denn wenn man die Vergangenheit nicht versteht, sind Missverständnisse der Gegenwart unvermeidlich.

Der Erzählstrang dieses Buches ist gegliedert wie eine Reise entlang des Nils, von der Mündung zu den Quellen. Denn nur, wenn man dem Nil flussaufwärts folgt, von Ort zu Ort, wenn man langsam und systematisch dem Pulsschlag des Flusses lauscht, durch die Geschichte hindurch, können seine Geheimnisse und verschiedenen Rollen aufgedeckt und seine Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft verstanden werden.

Fluss der Geschichte

Nach Überquerung des Mittelmeeres sehe ich auf dem Flug von Rom auf kilometerlange Sandstrände hinunter; im Westen endlose braune Wüste, und unter mir ein gigantischer grüner Garten. Wie üblich mit der Stirn am Fenster klebend, fliege ich über das Nildelta und nach Ägypten hinein. Während ich den Fluss als einsame glitzernde Lebensader unter mir sehe, umkränzt von Grün, das sich als lebendiger Protest gegen die Dominanz der Wüste richtet, merke ich, wie meine nordeuropäische Blindheit für die Bedeutung des Wassers allmählich nachlässt. Ich bin nach Ägypten gekommen, um auf einer Konferenz in der Bibliothek von Alexandria den Eröffnungsvortrag über die Bedeutung der Ideengeschichte des Wassers zu halten. Obwohl ich mich schon so lange mit diesem Thema befasse, spüre ich den Druck – ich, ein Mann aus Norwegen, soll im Lande des Nils über Wasser und den Nil sprechen. Ein weiteres Mal blättere ich in einem Klassiker über die geologische Geschichte des Nils, denn obwohl der Fluss Kultur und Mythologie, Romantik und Nostalgie verkörpert, ist er in erster Linie eine physische Struktur, wie Rushdi Said in seinem Buch über den Nil unterstreicht. Die Rolle des Nils für die Gesellschaft ist nicht zu begreifen, solange man seine Hydrologie nicht in Zahlen fasst.3

Mit großen Ziffern notiere ich die wichtigsten Daten auf einem Block, der neben meinem Laptop auf dem Klapptisch liegt. Es ist eine fast rituelle Handlung, wie um mir selbst ins Gedächtnis zu rufen, dass unter der dicken Schicht aus Kultur, Religion und Politik, von der alle Blicke auf den Nil heutzutage geprägt sind, ein realer Fluss mit einem ganz bestimmten geografischen und hydrologischen Charakter fließt. Die Zahlen, die ich notiere, sind von ungewöhnlich starker gesellschaftlicher Bedeutung und heute genauso relevant wie zur Zeit der Entstehung des Mosaiks. Der Nil, wie wir ihn heute kennen, als ganzjährigen Fluss, ist das Resultat relativ neuer geologischer Prozesse. Diese vollzogen sich vor etwa 15 000 bis 25 000 Jahren, als der Wasserlauf vom Viktoriasee mit dem aus Äthiopien heranströmenden Wasserlauf dort zusammentraf, wo sich im heutigen Khartum der Weiße und der Blaue Nil zu einem Fluss vereinen. Der moderne Nil ist das Kind einer der letzten Feuchtphasen in der Geschichte des regionalen Klimas.

Ich falte die Karte über den Nil auseinander, die ich immer bei mir habe, wenn ich hierherkomme. Da ich Historiker und Staatswissenschaftler bin, der darüber hinaus auch Geografie studiert hat, ist das eine Art Reflex – denn Landkarten verdeutlichen Zusammenhänge, für die sich andere Vertreter dieser Geistes- und Sozialwissenschaften häufig nicht interessieren. Der Nil hat eine Länge von mehr als 6800 Kilometern – zöge man ihn mit allen seinen Windungen zu einer Gerade und drehte ihn ab Kairo in die entgegengesetzte Richtung, würde er durch das Mittelmeer und ganz Europa verlaufen, Norwegen der Länge nach durchqueren und Hunderte Kilometer nördlich von Spitzbergen enden. Der Wassereinzugsbereich des Flusses umfasst rund drei Millionen Quadratkilometer, das entspricht etwa einem Zehntel des gesamten afrikanischen Kontinents oder einem Areal von der sechsfachen Größe Frankreichs. Elf Staaten teilen sich den Wasserlauf, etwa 1000 verschiedene Ethnien haben hier über Generationen hinweg ihre verschiedenen Kulturen und Gesellschaften entwickelt. Aufgrund von Größe, klimatischer Variation, Topografie, Flora, Fauna und unterschiedlicher Gesellschaftsformen ist das Nilbecken im Hinblick auf Natur und soziale Verhältnisse der komplexeste und variationsreichste aller großen Wasserläufe.

Die politische Bedeutung des Nils wird von einem gnadenlosen Paradox bestimmt: Was seine Ausdehnung angeht, ist der Fluss riesig, doch führt er nur äußerst wenig Wasser. Der jährliche Durchschnitt beträgt ungefähr 84 Milliarden Kubikmeter, gemessen im ägyptischen Assuan. Dies ist nicht viel – etwa zehn Prozent der Wassermenge des Jangtsekiang, sechs Prozent des Kongo oder etwa ein Prozent dessen, was der Amazonas jährlich ins Meer befördert. Die Ursachen dafür sind in den Besonderheiten des Nils zu finden: Über lange Strecken durchfließt er ein völlig niederschlagsfreies Gebiet. Die jährliche natürliche Wassermenge lag in Oberägypten einmal bei 80 bis 90 Milliarden Kubikmetern. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich reduziert, allerdings nicht aufgrund von Klimaänderungen, sondern weil mehr als zehn Prozent des Wassers in den künstlichen Seen der nubischen Wüste verdampfen. Auf seiner fast 2700 Kilometer langen Reise durch eines der trockensten und heißesten Gebiete der Erde wird dem Nil kein neues Wasser zugeführt. Kein anderer Fluss der Erde strömt ebenso weit durch eine Wüste, ohne dass ein anderer Wasserlauf in ihn mündet.

Die ganzjährige lange Reise des Flusses durch die Wüste ist einzigartig. Auf ihr verbinden sich zwei völlig unterschiedliche Flusssysteme mit ganz verschiedenen hydrologischen Profilen. Der Nil besitzt zwei große Quellflüsse, den Weißen Nil und den Blauen Nil, die sich nahe der sudanesischen Hauptstadt Khartum vereinen. Hier vollzieht sich ein bemerkenswerter hydrologischer Prozess, der darüber hinaus erklärt, weshalb der Weiße Nil bis 1971 für Ägypten der wichtigere Fluss war. Führt der Blaue Nil im Herbst viel Wasser, wirkt er auf den viel kleineren Weißen Nil wie ein Damm. Wenn sich die Wassermenge in diesem aus Äthiopien kommenden Fluss dann im Laufe des Frühjahrs verringert, strömt das aufgestaute Wasser des Weißen Nils nach Ägypten hinunter. Allein dieses Phänomen ermöglicht es, auch im Sommer an diesem Fluss zu wohnen und Landwirtschaft zu betreiben.

Bei Assuan im südlichen Ägypten sieht man deutlich, durch was für eine Landschaft der Nil fließt: Wüste.

Von seiner bescheidenen heiligen Quelle in der äthiopischen Hochgebirgsebene legt der Blaue Nil eine Strecke von etwa 2500 Kilometern zurück, ehe er Khartum erreicht. Aus diesem Fluss sowie aus anderen Nebenflüssen, die den Regen in Äthiopien in sich aufnehmen, wie etwa der Atbara (auch Schwarzer Nil genannt) oder der Sobat (der vor dem Zusammenfluss mit dem Pibor in Äthiopien Baro heißt), stammen fast 90 Prozent der gesamten Wassermenge des Nils. In der Flutsaison im Herbst dominiert der Blaue Nil zur Gänze. Er allein steht für rund 80 Prozent allen Wassers, das nach Ägypten hineinfließt. Die saisonbedingten Schwankungen bei diesen Flüssen sind dramatisch. Der Atbara ist im Sommer fast ausgetrocknet, und beim Blauen Nil fließen 90 Prozent der gesamten Wassermenge, die er im Laufe eines ganzen Jahres transportiert, in den drei Herbsmonaten durch sein Bett.

Der Weiße Nil ist ein gänzlich anderer Fluss. Zwischen Khartum und den südlichsten Teilen der Sümpfe – eine Distanz von 1800 Kilometern – hat der Fluss ein phänomenal geringes Gefälle von einem Meter auf 24 Kilometer, und die Wassermenge schwankt wesentlich weniger zwischen den verschiedenen Jahreszeiten. Auf dem ganzen südlichen Abschnitt bis Malakal gibt es keine Zuflüsse. Von Osten aus Äthiopien kommt schließlich der Sobat, der eine ganze Reihe kleinerer Nebenflüsse in sich aufgenommen hat. Folgt man dem Fluss weiter aufwärts, knickt dessen Verlauf scharf nach Westen ab und durchquert den Nosee, einen gigantischen Sumpfsee, der nördlich des Sudd, des weltweit größten Sumpfgebiets liegt.

Der Sudd stellt das eindrucksvollste hydrologische Phänomen am Weißen Nil dar: Etwa 50 Prozent des Wassers im Bahr al-Jabal, wie der Weiße Nil hier genannt wird, verdunsten dort. Einige Kilometer nördlich von Juba, der Hauptstadt des Südsudan, beginnen die Sümpfe. Der Bahr al-Jabal (auf Deutsch Bergfluss; er kommt von den Bergen in Zentralafrika) wandelt sich zu einem riesigen, sanft dahinfließenden See in der völlig flachen Tiefebene des Südsudan. Der See breitet sich in alle Himmelsrichtungen aus, sein Umfang variiert mit den Jahreszeiten und der Wassermenge des Nils. Andere große Flüsse im Südsudan wie etwa der Bahr al-Arab oder der Bahr al-Ghazal (oder Gazellenfluss, weil er durch riesige, parkähnliche Gebiete mit großen Gazellenkolonien fließt) versickern in den Sümpfen.

Von Juba aus muss der Weiße Nil noch 4787 Kilometer zurücklegen, ehe er das Meer erreicht. 168 Kilometer weiter stromaufwärts überquert er die Grenze zwischen Sudan und Uganda bei den Folafällen, zuvor strömt er aus dem Albertsee heraus, hat den Sumpfsee Kyoga passiert und sich bei Jinja aus dem Viktoriasee herausgewälzt, unweit der Stelle, wo Ugandas erstes Wasserkraftwerk liegt, das auch unter dem Namen »Ugandas Anfang« bekannt ist.

Diese großen Seen in Zentralafrika bilden das riesige natürliche Reservoir des Weißen Nils. Parallel zum Rückzug der Gletscher während der letzten Eiszeit begann es im Gebiet der äquatorialen Seen des heutigen Uganda zu regnen. Extreme Wetterlagen führten dazu, dass der Viktoriasee und der Albertsee überliefen; dieses Wasser begann, nach Norden abzufließen, und bildete so den modernen Nil. Die Wassermassen flossen ungehindert durch die einstmals trockene Region, die heute ein großes Sumpfgebiet ist, und erreichten Ägypten. Über einen Zeitraum von etwa 500 Jahren hinweg gab es regelmäßige und enorme Überschwemmungen, welche schließlich das Nildelta mit seinen ursprünglich vielen Flussläufen entstehen ließen.

In den letzten 10 000 Jahren ist der Wasserspiegel des Viktoriasees im Großen und Ganzen stabil geblieben; heute handelt es sich bei dem Gewässer um den weltweit drittgrößten Binnensee. Aufgrund der Verdampfung von seiner gigantischen Oberfläche verursacht er selbst enorme Niederschlagsmengen und nimmt darüber hinaus Wasser von Flüssen auf, die aus Burundi, Ruanda, Tansania, Uganda und insbesondere Kenia kommen. Immer wieder wird der Viktoriasee sowohl in Lexika als auch in Touristenbroschüren als Quelle des Nils bezeichnet, obgleich dieser doch viele Quellen hat, sowohl im Osten in Kenia als auch im Süden in Burundi sowie im Westen in Ruanda und im Kongo. Die westlichen Bergketten, wo einige der wichtigsten Zuflüsse herkommen, gehören zu den feuchtesten Gebieten der Erde, wo es an 360 Tagen im Jahr regnet und dabei durchschnittlich fünf Meter Niederschlag pro Quadratmeter fallen. Die Kombination dieser meteorologischen und geologischen Verhältnisse ermöglicht eine kontinuierliche Wassermenge im Nil auch in den Perioden des Jahres, wenn die aus Äthiopien kommenden Flüsse so gut wie austrocknen.

All diese Zahlen können deplatziert auf Menschen wirken, die meinen, dass die Beschäftigung mit dem Menschlichen auf das Menschliche beschränkt bleiben soll – oder anders ausgedrückt, dass eine lebendige, auf den Menschen ausgerichtete Geschichtsschreibung solche Zahlen vermeiden müsse, weil es sich dabei um naturwissenschaftliche Ablenkungen handele. Tatsächlich jedoch trifft das Gegenteil zu: Diese Zahlen fassen nicht nur auf entscheidende Weise die Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Entwicklung zusammen, sondern beschreiben darüber hinaus eine wichtige Achse und ein Zentrum der gesellschaftlichen Existenz. Diese messbaren geografischen Gegebenheiten verleihen dem Fluss seine besondere regionale und lokale Identität. Sie haben dazu beigetragen, an seinen Ufern verschiedenartige Gemeinschaften zu formen und verschiedene regionale Nutzungsmöglichkeiten zu erschaffen. Ebenso wenig ist es möglich, Entstehung und Untergang des europäischen Kolonialismus, Äthiopiens zentrale Rolle im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs, das heutige Schicksal des Südsudan oder Ägyptens Vergangenheit und Zukunft zu verstehen, ohne die Hydrologie des Nils zu kennen.

DIE WÜSTE UND DAS DELTA – ÄGYPTEN

Das Wüstenparadies

Will man erfassen, welche Bedeutung der Nil für Ägypten hat – das Land ganz unten am Flusslauf, das immer die Großmacht am Nil war –, muss man begreifen, was dieses Wüstenland ohne den Fluss gewesen wäre. Auch den Wert des Wassers versteht man ja erst, wenn man erlebt hat, dass der Brunnen austrocknet, und was Licht ist, weiß man erst, nachdem man die Dunkelheit gesehen hat.

Diese Biografie des Nils beginnt deshalb mit Fayyum, der klassischen Oase in der Wüste auf dem Westufer des Flusses. In der Sahara sind manche Gegenden so trocken, dass Archäologen Zigarettenblättchen gefunden haben, die alliierte Soldaten im Zweiten Weltkrieg während des Wüstenkriegs gegen Deutschland weggeworfen haben. Dort, wo die Wüste ihre Farbe ändert, von braun und fleckig zu weiß und rein, öffne ich die Autotür und spüre, wie mir die Hitze entgegenschlägt. Ich brauche nur einige Minuten, um über die nächstgelegene Sanddüne zu laufen, fort von der asphaltierten Straße, die sich durch die durch und durch karge Landschaft zieht, und ich sehe nur Wüste und bin ganz allein. Absolut allein. Hier gibt es nichts. Und was vielleicht besonders außergewöhnlich ist: Es riecht nach nichts. Zwar erinnern die endlosen Sandwellen in gewisser Weise an das Meer, gleichwohl ist die Wüste ein Ort ohne Gerüche. Der einsam wehende Wind verstärkt noch das Gefühl der Leere. Näher können wir der Wahrheit über Ägypten nicht kommen.

Wenn eine fantasievolle, von Wüstenfilmen inspirierte Stadtseele wie meine dann wieder im Auto sitzt und zu hören glaubt, dass der Motor wegen der Hitze streikt, kann sie anfangen, romantische Vorstellungen zu entwickeln. Der Wagen, der aufgrund eines Motorschadens liegen bleibt, und der Wind, der das Auto langsam, aber sicher bedeckt, während man in seinem Windschatten Zuflucht sucht. Die Wasserflaschen, die immer leerer werden … Und dann tauchen die Wegweiser nach Fayyum auf.

Fayyum ist seit Jahrtausenden bekannt als »Ägpytens Garten« und wird auch »Wüstenparadies« genannt.4 Es ist eine pulsierende Oase – mit prachtvollen Moscheen, alten Kirchen und antiken Sehenswürdigkeiten. Wenn man im Zentrum dieses 692 Quadratkilometer großen Beckens steht und Palmen sieht, die sich allesamt in dieselbe Richtung beugen, wenn man Esel sieht, die viel zu schwer aussehende Lasten von Getreide und Obst tragen, oder einige Wasserbüffel, die nachdenklich die Vorüberkommenden mustern, und Bauern, ja, überall Bauern, die auf den kleinen grünen Feldern arbeiten, ist es nicht leicht zu begreifen, dass es hier niemals regnet.

Fayyum ist deshalb so interessant für alle, die sich für die frühe Geschichte der Menschheit interessieren, weil es auch in prähistorischer Zeit bereits ein fruchtbares Paradies war. Die ersten festen Wohnsiedlungen in Ägypten entstanden vor etwa 7000 Jahren, und sie entstanden in Fayyum – als Ergebnis eines Wanderungsprozesses mit ungewöhnlich weitreichenden Konsequenzen. Als die Sahara langsam zur Wüste wurde, suchten die »Klimaflüchtlinge«, wie wir heute sagen würden, nach permanentem Zugang zu Wasser. Schrittweise bevölkerten sie deshalb die Gegenden in östlicher Richtung und erreichten schließlich den großen Fluss, der die Sahara das ganze Jahr über durchquert.

Fayyum entwickelte sich rasch zu einer der allerersten Landwirtschaftsregionen der Weltgeschichte. Die Position dieser Oase ist allein darauf zurückzuführen, dass der Nil jedes Jahr die niedrigen Hügel überflutete, die den Fluss von der Senke trennen. Ursprünglich war das fruchtbare Fayyum also das Werk der Natur. Aber der Fluss zeigte den Menschen, wie die Wunder der Natur funktionierten, oder die Wunder der Götter, was für viele dasselbe war, und sie setzten sich zum Ziel, diese zu kopieren, wenn auch in kleinerem Maßstab.

Vor fast 4000 Jahren, unter Amenemhet I. in der 12. Dynastie, kamen die Ägypter auf die geniale Idee, die Flut mithilfe des natürlichen Fayyumsees als regulierendem Reservoir unter Kontrolle zu bringen.5 Der Binnensee, später von zahllosen Reisenden beschrieben als eine Art göttliches oder auch natürliches Wunder, wurde zu einem frühen Nil-Stausee und zu vermutlich einer der ersten Anlagen dieser Art in der Geschichte der Menschheit. Der fast 4000 Jahre alte Regulierungsdamm in Ägyptens zentraler Oase war somit ein Vorläufer für die Zehntausende ähnlicher Bauwerke, die eine moderne Gesellschaft erst möglich machen. Sie waren die Voraussetzung für die enorme Steigerung der Nahrungsmittelproduktion seit 1900 und damit die Bedingung dafür, dass Millionen von Menschen sich irgendwann in den Ansiedlungen, die wir Städte nennen, niederlassen und dort leben konnten. Heute hat sich der See zu einem gewaltigen, in trägem Blau funkelnden Binnensee mitten in der Wüste entwickelt, aber sein Wasser ist zu leblos, um abkühlend zu wirken. Wenn man am Südufer steht, dehnt er sich ungefähr so weit aus, wie das Auge reicht; hier ist die Luft diesig, sie flimmert in der Hitze, und ganz in der Ferne erheben einige trockene Hügel gewissermaßen ihr Haupt aus dem See, mit einer gelbroten Wüstenfarbe vor dem fast weißen Himmel.

Alte Mythen berichten, dass es der biblische Josef war, der den über die Ufer tretenden Flusslauf an der Stelle erweiterte, wo dieser sich aus dem eigentlichen Niltal losreißt, und ihn ein Stück südlich von Fayyum nach Westen leitete. Dieser Kanal wird deshalb Josefskanal genannt. Das Wassersystem, von dem die vielen Dattelzüchter, Ladenbesitzer, Restaurantbesucher und Gläubigen in den Moscheen in Fayyum vollständig abhängig sind, ist also sowohl ein Produkt der Natur als auch der menschlichen Fähigkeit, diese zu kopieren und weiterzuentwickeln. Wenn man an den sich durch die Oase schlängelnden Kanälen entlangwandert, ist es schwer zu sagen, wo das eine endet und das andere beginnt. Fayyum ist insofern ein verdichtetes, konzentriertes Bild Ägyptens – ungeheuer fruchtbar und auf allen Seiten von Wüste umgeben, entstanden durch eine Kombination aus der Natur des Nils und einem von Menschen geschaffenen und von Menschen kontrollierten Wassersystem.

Fayyum ist noch auf eine andere Weise das Spiegelbild Ägyptens. Während der Oase vom Staat immer mehr Wasser zugeführt wurde, stieg die Wasserknappheit, und die Bevölkerung bekundete ihre Unzufriedenheit. Die Kontrolle über das Wasser ist im Wüstenklima immer ein zweischneidiges Schwert, ökologisch wie politisch, denn die Bedürfnisse steigen die ganze Zeit entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist unbestreitbar: Je mehr sich Ägypten vom Wasser des Nils abhängig gemacht hat, umso verletzlicher wurde es für natürliche und vom Menschen verursachte Veränderungen des Flusses. In einer Langzeitperspektive lässt sich das als das hydraulische Paradoxon beschreiben, um das sich die ägyptische Geschichte dreht.

Skarabäen, Wiedergeburt und des Todes und des Lebens Strom

Die Wüste zwischen Fayyum und Alexandria besteht nur aus Sand und Wind. Keine Spur von Leben, abgesehen von einem Käfer, einem Skarabäus, der eine Kugel aus feuchter Erde einen kleinen Hang im Wüstensand hochrollt. Manchmal wird die Kugel zu schwer und kullert wieder nach unten. Dann fängt der Käfer von vorn an und schiebt sie wieder aufwärts, Zentimeter für Zentimeter. Normalerweise rollt das Männchen die Kugel. Das Weibchen läuft hinterher. Es legt die Eier in feuchter Erde oder Exkrementen ab, welche die Eier beschützen können. Dann wird die Kugel an eine sichere Stelle gerollt, im Sand vergraben, und wenn auf diese Weise die Nachkommenschaft gesichert ist, sterben die beiden zufrieden.

Diese Wüstenkäfer genossen im alten Ägypten einen heiligen Status. Der Skarabäus verkörperte und konkretisierte eine altägyptische Vorstellung von Transformation, Erneuerung und Auferstehung. In der ägyptischen Mythologie hieß der Gott, der die Fähigkeit zur Selbsterschaffung symbolisierte, Chepre – »der, der das Sein wird«. Auf Darstellungen ist er meistens zu sehen, wie er jeden Tag die Sonne über den Himmel schiebt, nachdem er sie über Nacht sorgsam durch die ägyptische Unterwelt gerollt hat. Chepre wurde meistens als Skarabäus dargestellt. In einzelnen Grabmalereien ist der Gott, der die Fähigkeit des Erschaffens darstellte, als Mann mit Menschenleib und Wüstenkäferkopf zu sehen.

Die alten Ägypter glaubten, der Käfer sei, ebenso wie Chepre, aus dem Nichts entstanden. Sie glaubten, es gebe nur männliche Skarabäen, weshalb die Käfer, die aus den Kugeln krochen, im wahrsten Sinne des Wortes von nichts kämen. Die Skarabäen symbolisierten sowohl schöpferische Kraft als auch ewiges Leben.

Die Skarabäen und Chepre konnten dazu beitragen, die Prozesse in der Natur zu erklären, die die Ägypter immer wieder erlebten: die Auferstehung des Lebens vom Tode, die Erneuerung der Erde von totem Braun zu lebendem Grün, die Pflanzen, die aus dem Wüstensand auftauchten, als erwüchsen sie aus dem Nichts. Jedes Jahr erlebten der ägyptische Bauer und die gesamte ägyptische Gesellschaft solche Wunder. Das Delta verwandelte sich aus einem Ort, an dem nichts wachsen konnte, in die fruchtbarste Region der Welt. Und dahinter steckte die Natur selbst. Nach den damaligen Kenntnissen über die Funktionsweise der Natur gab es keine andere Möglichkeit, als die Wunder des Nils der Macht der Götter oder später der Pharaonen oder Gottkönige zuzuschreiben. Für die Ägypter wirkte es aufgrund dieser alljährlichen Beobachtungen logisch, den Tod einfach für das Tor zu neuem Leben zu halten.6

Der Skarabäus, der unbeirrbar seine Kugel aus Exkrementen oder feuchtem Schlamm den seichten Hang in der Wüste hochrollt, ist der Geschichtslehrer der Natur und der Bote der Mythen. Er ist eine Erinnerung und eine Versinnbildlichung der Vorstellungen von Tod und Leben, die das Denken in Ägypten prägten, ein Denken, das die Weltanschauung der Menschen über einen viel längeren Zeitraum bestimmte und formte als die durch Christentum und Islam verbreitete Vorstellung von Tod und Leben die Vorstellungswelt in Europa und dem Nahen Osten. Die alljährlichen Wunder des Nils haben in vielen Bereichen die Grundlage für zentrale religiöse Vorstellung in den Wüstenreligionen gelegt, die später in diesem Gebiet entstehen und schließlich die ganze Welt beeinflussen sollten. Der Käfer ist der Ausgangspunkt der ersten Mythen und erinnert uns zugleich daran, dass der Nil die Vorstellungen über ewiges Leben geprägt hat und als Schöpfer der Gesellschaft galt.

Sowohl im alten Ägypten wie an Euphrat und Tigris entstanden religiöse Traditionen bei Völkern, die ihr Leben buchstäblich am Ufer der großen Flüsse verbrachten. Das Leben dort stimulierte den Aufbau eines breit gefächerten Verwaltungssystems, und das Bedürfnis, Steuern festzusetzen, die auf dem Umfang der Nilflut basierten, beschleunigte die Entwicklung von festen Maßeinheiten und der Mathematik überhaupt. Da ägyptische Wissenschaftler nicht das Wetter – das war immer gleich –, sondern das Eintreffen der Flut vorhersagen mussten, wurden sie zu Pionieren in der Entwicklung der Astronomie. Aber der Nil nahm auch im kosmischen Universum der Menschen einen zentralen Platz ein. Er war der Lehrmeister, der die Rätsel der Natur enthüllte und die großen Zusammenhänge erklärte, und er bestimmte die Erfahrungen der Menschen, zu denen die Götter sprechen mussten, wenn ihre Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen sollte. Die alluviale Geografie – die ewige Zweideutigkeit der Flüsse sowohl als Lebensspender wie als Bote des Todes, als Quell von erntesegnenden Berieselungen wie von zerstörerischen Überschwemmungen – formte die Vorstellungen der Menschen am Fluss über Leben und Tod.

Texte aus den Pyramiden berichten vom Glauben der alten Ägypter, den Nil zu überqueren gleiche der Überquerung der Grenze zwischen zwei Daseinsformen. Das gesellschaftliche, das diesseitige Leben spielte sich auf dem Ostufer ab. Indem der Pharao unmittelbar nach seinem Tod auf das Westufer gebracht wurde, konnte er von den Toten auferstehen, und deshalb liegen dort die Pyramiden, diese gewaltigen Grabmonumente.

Die Pyramiden sind enorme Grabkammern, die immer am Westufer des Nils angelegt wurden. Um ewiges Leben zu erlangen, musste der Tote unmittelbar über den Fluss gebracht werden, der die mythische Scheide zwischen Leben und Tod war. Nachdem der Nil in Ägypten durch Menschenhand zu einem Bewässerungskanal geworden ist, reicht der Fluss nicht länger bis zum Fuß der Pyramiden. Das Bild stammt wahrscheinlich aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Der Glaube, dass der Nil der vom Tod beherrschten Unterwelt entstamme, zeigt ein weiteres Mal, wie die ägyptische Kosmologie das die Menschen umgebende ökologische Universum widerspiegelte. Die Welt wurde von klaren Widersprüchen gebildet: zwischen Dürre und wasserspendendem Fluss, zwischen Wüste und Zivilisation, zwischen Licht und Finsternis, zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Flussufer, zwischen dem irdischen Fluss und dem Fluss des Himmels und der Unterwelt. Die Texte aus den Pyramiden beschreiben, wie der Fluss Ägypten zwischen dem Reich des Lebens und dem des Todes teilte. Der Tote wandte sich nach Westen, durchquerte die Unterwelt und erstand im Morgengrauen im Osten auf, überquerte am Himmel den Nil und endete abermals im Westen, und das bis in die Unendlichkeit. Diese Wanderung gab in der himmlischen Welt das wieder, was sich jeden Tag am Nil abspielte. Die Sonne stieg auf, Boote überquerten den Fluss, und das Wasser wechselte zwischen Flut und Rückzug, zwischen Andrang und Zurückweichen.

Der Nil stellte die traditionelle Grenze und zugleich die Verbindungslinie zwischen den beiden Daseinsformen dar. Deshalb war es auch logisch, dass auf einem solchen Fluss ein übernatürliches Wesen navigieren musste. Dieses Wesen war Mahaf, der mythische Fährmann, der die Toten übersetzte. Der Fluss erscheint in den ägyptischen Texten gleichermaßen als Schranke und Treffpunkt zwischen den Menschen und zwischen Leben und Tod.7 Da sie sich dermaßen für die Unsterblichkeit interessierten, hatten die alten Ägypter eine optimistische Religion: Das irdische Leben war nur der Anfang vom Leben nach dem Tode, gewissermaßen ein Übergang zum nächsten Leben – so, wie die wasserarme Jahreszeit ein Übergang war, eine Zwischenstation zwischen Ernte und den Arbeiten, die die nächste Nilflut mit sich brachte.

Erst gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts musste sich der Nil nach und nach dem Willen der Menschen unterwerfen, eignete sich immer weniger als Rohmaterial für diese Art von religiösen Mythen. Nun entstanden mächtige Dämme und Stauseen sowie gewaltige wasserreiche Kanäle, die das ganze Jahr über Wasser führten, und diese Entwicklung wurde zur Grundlage einer ganz neuen Art von Weltbild, die auf Erzählungen über den Triumph der Moderne und dem Sieg von Mensch und Technologie über die Natur aufbaute.

Der Rhythmus des Flusses und der Gesellschaft

Ein Buch, das ich stets bei mir habe, wenn ich am Nil bin, sind die Historien, jenes Geschichtswerk, das vor 2500 Jahren von dem Griechen Herodot geschrieben wurde. Wie jedes Werk großer Literatur enthüllt das Buch ständig neue Blickwinkel auf sich selbst, zugleich passt der langsame, etwas umständliche und doch kontrollierte Stil zur Natur des Nils und seiner gesellschaftlichen Rolle. Herodot wird oft als Vater der Geschichtswissenschaft bezeichnet, in erster Linie war er allerdings ein genauer Beobachter. Er besuchte viele Orte der klassischen Antike, bereiste auch den Nil und führte Gespräche mit den einfachen Menschen und den Priestern, die ihm unterwegs begegneten. Er hörte zu, machte sich Notizen; er war eine Art wissbegieriger Romantiker, der sich Wissen um des Wissens willen aneignete. Er begnügte sich auch nicht einfach mit Geschichten, die ihm erzählt wurden oder die als überlieferte Wahrheiten galten, stattdessen wollte er die Dinge selbst ergründen. Herodots Beschreibungen darüber, wie leicht es den Ägyptern aufgrund der natürlichen Bewässerung der Felder durch den Nil fiel, Landwirtschaft zu betreiben, bringt sowohl den Kern als auch die Besonderheiten des alten pharaonischen Ägypten beredt zum Ausdruck:

So haben diese unter allen Menschen, und selbst unter den Ägyptern, die wenigste Mühe, Früchte einzuernten; indem sie weder mit Pflügen noch mit Hacken, noch sonst mit einer Arbeit einige Mühe, wie andere Menschen, mit dem Acker haben. Sondern wenn der Fluß von sich selbst wiederkommt und die Äcker tränket, nachhero sich aber wieder zurückziehet: alsdenn besaet ein jeder seinen Acker, und läßt die Kühe drauf gehen. Wenn nun der Saame von den Kühen eingetreten ist; so erwartet er die Ernte; alsdenn läßt er die Frucht durch die Kühe ausdreschen, und führet sie ein.8

Die Ägypter betrieben Bassin- oder Flutbewässerung. Sie passten sich den natürlichen und äußerst regelmäßigen Schwankungen des Flusses an. Anfang Juni war der Nil ein kleiner bescheidener Fluss. Das Land und die Ackerflächen lagen in der Hitze der Sonne und wurden von den Winden aus der Sahara getrocknet. Die Flächen wirkten wie eine Verlängerung der Wüste. Dann, jedes Jahr im Herbst, kam die Nilschwemme. Einige Wochen lang schwoll der Fluss um das bis zu Vierhundertfache an. Die Dörfer lagen wie Inseln in einem braunen Meer. Nach einiger Zeit zog sich das Wasser zurück, und in der Zwischenzeit hatte der Fluss über 100 Millionen Tonnen fruchtbaren Schlamm hinterlassen, während er sich dick und braun seinen Weg zum Meer bahnte. Jetzt galt es nur noch auszusäen und zu pflanzen und darauf zu warten, dass die Ernte größer ausfiel und schneller kam als irgendwo sonst. Die Ägypter, insbesondere diejenigen, die im Nildelta oder in Unterägypten lebten, brauchten keinen starken Staat, um eine Landwirtschaft zu entwickeln, die effektiver war als an jedem anderen Ort in jener Zeit. In Oberägypten wurde das Wasser, wenn der Fluss seinen höchsten Stand erreicht hatte, in Bassins geleitet, die von massiven Dämmen umgeben waren und ein Gebiet von 40 000 Hektar bedecken konnten. War die Erde ausreichend durchwässert, wurde das Wasser stromabwärts wieder abgelassen.

Die besondere Ökologie und Hydrologie des Nils stellten andere Anforderungen an die Organisation der Gesellschaft, als es andere Flüsse taten. In Ägypten brauchte der Staat nicht Zehntausende oder gar Millionen von Bauern und Sklaven zu mobilisieren, um Schutzdeiche entlang des Flusses zu errichten, wie dies etwa beim chinesischen Feudalsystem am Gelben Fluss der Fall war. Katastrophale Überschwemmungen gab es selten. Wenn der Fluss begann, über das Niveau der Nilometer zu steigen, mit denen jener jährliche Flutpegel markiert wurde, an den die Bevölkerung und die Ökonomie angepasst waren, wurden umfassende Sicherungs- und Überwachungsmaßnahmen eingeleitet. Eine Hochwassermarke auf einer Wand in Luxor zeugt von einer abnorm hohen Flut in der 22. Dynastie (943–746 v. Chr.) in Oberägypten. Die dazu gehörende Inschrift lautet: »Das ganze Tal war wie ein See; kein Damm konnte seiner Wut widerstehen. Die ganze Bevölkerung glich Seevögeln.«9 Die Ägypter setzten große Dammprojekte in Gang, doch waren diese nicht von derselben Bedeutung wie die Bauwerke an Euphrat und Tigris oder entlang der großen Flüsse in China. Einer der weltweit ersten Dämme, der Sadd al-Kefaradamm bei Wadi al-Garawi, wurde etwa 2600 v. Chr. errichtet. Er diente der Kontrolle der Nilschwemme, doch als er einige Zeit später zerstört wurde, wirkte sich dies nicht entscheidend auf die Entwicklung des Landes aus.

Die Gefahr der Bodenversalzung, die den Sumerern zu schaffen gemacht und womöglich ihren Untergang bewirkt hatte, war aufgrund der jährlichen Überschwemmungen weniger akut. Der Fluss selbst spülte das Salz fort, das bei der Verdunstung des Wassers auf den Feldern zurückgeblieben war. Der besondere Charakter des Nils trug auch wesentlich dazu bei, dass die ägyptischen Bauern über weite Teile des Jahres nichts zu tun hatten, weswegen sie einfacher zu öffentlichen Arbeiten wie etwa dem Bau der Pyramiden im Land mobilisiert werden konnten. Lange Zeit herrschte die Vorstellung, dass Sklaven die Pyramiden und die anderen großen Bauwerke hatten errichten müssen. Neueren Forschungen zufolge wurde bei diesen Theorien wahrscheinlich die besondere Hydrologie des Flusses und seine Rolle für die Organisation der Landwirtschaft außer Acht gelassen. Im Sommer war die Erde nicht feucht genug, um die Felder zu bearbeiten. Während alle auf die nächste Flut im Herbst warteten, hatte die Bevölkerung daher »frei«, und in dieser Zeit konnten die Menschen gegen Entlohnung, oder weil sie an die herrschende Religion und die göttliche Rolle des Pharaos glaubten, für andere Arbeiten mobilisiert werden.

Die Ägypter beschäftigten sich auch mit dem Bau von Kanälen, jedoch in kleinerem Umfang als etwa die Chinesen oder die Sumerer. Dass sie dazu imstande waren, hatten sie bereits bewiesen; in dynastischer Zeit wurden lange Kanäle vom Nil zum Roten Meer gebaut, darüber hinaus auch Bewässerungskanäle im Nildelta. Nachdem die Zentralregierung die Kontrolle über das Wasser an sich genommen hatte, war einer der frühesten administrativen Titel, den lokale Gouverneure tragen konnte, Adj-mer, der Kanalgräber. Auf dem Nil ließ sich auch relativ leicht navigieren. Der Strom trieb die Schiffe nach Norden, während der Wind größtenteils in Richtung Süden wehte. Durch die Kontrolle über die Schiffstransporte konnten Staatsmacht und Herrscher den Transport von Waren und Menschen steuern. Im Gegensatz dazu war die Navigation auf den gewaltigen chinesischen Flüssen, insbesondere dem Gelben Fluss, aber auch auf dem Euphrat und dem Tigris wesentlich schwieriger.

Als ich mich aus der im Westen gelegenen Oase dem Delta nähere und die ersten schmalen Ackerstreifen an der Grenze zur Wüste passiere, nehme ich abermals Herodots Buch hervor. Ich lese seinen Text noch einmal und kann es dank seiner Beschreibungen gleichsam vor mir sehen, wie die Ägypter über Jahrtausende hinweg ihr Leben in dem ewigen Versuch verbrachten, sich dem Rhythmus, den Gaben und den Gefahren des Flusses anzupassen.

Die verschwundenen Städte und Flüsse

Geht man an den Stränden von Alexandria entlang, wo die Wellen auf kilometerlange Abschnitte mit weißem Sand treffen und wo die Sonne mit all den typischen Merkmalen eines triumphierenden Sonnenuntergangs im östlichen Mittelmeer hinter der Burg heruntersinkt, wo einst der Pharos-Leuchtturm stand, kommt es einem geradezu unnatürlich vor, dass es sich bei Alexandria um eine Stadt am Nil handelt. Die fünfzehn Kilometer lange Corniche, die berühmte Strandpromenade mit der parallel dazu verlaufenden Autobahn, ist das zum Meer hin gerichtete Gesicht der Stadt. Genauso wie die Entwicklung des städtischen Raums, die Architektur der Straßen, die Ästhetik der Abwasseranlagen oder die sich verändernden Funktionen der Müllhaufen für das Verständnis der Geschichte einer Gesellschaft unabdingbar sind, sofern diese nicht völlig blutleer und letztlich unmenschlich daherkommen soll, muss auch die Geschichte über den Nil mehr enthalten als nur die Ideen und Planungen der Menschen. Eine lebendige Geschichte, die den handelnden Menschen ins Zentrum rückt, muss auch die Natur, die ökologischen Prozesse und die technologische Anpassung berücksichtigen. Sie muss, anders ausgedrückt, Strukturen analysieren, welche permanent verschiedene und sich ändernde Rahmenbedingungen für das handelnde Individuum definieren, die aber auch von diesem beeinflusst werden – sei es ein Heerführer, ein moderner Ingenieur oder ein Politiker.

An einem Julitag im Jahr 1961 begab sich ein Amateurtaucher gleich unterhalb der Promenade von Alexandria in das verunreinigte Hafenbecken. Plötzlich befand er sich in einer Welt des Altertums: Er sah eine von weißen Marmorsäulen gesäumte Treppe, eine lebensgroße römische Statue, eine Goldmünze, einen Sarkophag und, nicht weit entfernt von dem mächtigen Fort, das über Jahrhunderte die Stadt bewachte, zwei kopflose Sphinxen, Marmorsäulen sowie eine massive, in zwei Teile zerbrochene Statue. Kamel Abdul-Saadat, der sein Geld als Speerfischer verdiente, hatte die versunkene Vergangenheit Ägyptens entdeckt.

Nur einen Steinwurf von der Qāitbāy-Zitadelle entfernt, in Sichtweite der Promenade und der modernen Bibliothek, kann man heute in eine stille, versunkene Altertumswelt hinabtauchen. Seltsame Gebilde liegen auf dem Meeresboden verstreut. Die größten Schätze Alexandrias, darunter die Ruinen von Kleopatras Palast, liegen dort sechs bis acht Meter unter der Wasseroberfläche. Erblickt man durch seine Taucherbrille ein schwarzes Gesicht und starrende Augen, ist es eine Sphinx, die hier seit Tausenden von Jahren ungestört ruht.

Auf dem Meeresboden vor dem Nildelta sind bis heute 25 antike Städte entdeckt worden. Diese Städte zeugen von vielen Geschichten und zahlreichen Schicksalen, doch in erster Line verdeutlichen sie, dass der Nil als Fluss seine eigene Geschichte hat, so wie die Menschen, die an seinen Ufern leben, ihre Geschichten haben. Dank Herodot wissen wir heute, dass es zu seinen Lebzeiten drei Nebenarme des Nils gab, die fünf bis 15 Kilometer östlich von Alexandria ins Meer flossen, heute existiert nur noch einer.10 Darüber hinaus gab es vier kleinere Mündungsarme, den Saitischen Arm, den Mendesischen Arm, den Bursurischen Arm sowie den Bolbitinischen Arm, wobei die beiden Letztgenannten teilweise künstlich angelegt waren. Herodots gründliche Sachlichkeit lässt sein Buch noch heute direkt zum Leser sprechen, auch wenn manche Teile davon definitiv einem »fremden Land« mit einer Gedankenwelt angehören, die sich gänzlich von der modernen Rationalität unterscheidet.

Bei Herodot finden wir Beschreibungen des Nilsystems, die sein Buch heute relevanter und aktueller erscheinen lassen als so manche Artikel in den Zeitungen der Gegenwart. Wenn er beschreibt, wie sich der Fluss im Delta verändert hat, spricht er unmittelbar zu unserer modernen Zeit; er spricht die Sprache der Rationalität, auch wenn klar ist, dass der Fluss, den er betrachtet, in einem ganz anderen Gedankenuniversum existiert. Herodot hebt die Rolle des Nils in der Geschichte des Menschen hervor und zeigt zugleich, dass der Fluss seine eigene Geschichte hat.

Als er im Delta umherwanderte, hatte das Flusssystem seit dem 8. Jahrtausend v. Chr. bereits große Veränderungen durchgemacht. Damals war das spätere fruchtbare Nildelta noch eine Sumpflandschaft, die von einem Fluss mit undefinierten Uferlinien durchschnitten wurde; dichte Papyrus-wälder boten großartigen Lebensraum und Schutz für Flusspferde, Krokodile und Vögel. Bis etwa 3000 v. Chr. war das Mittelmeer um circa 20 Meter angestiegen. In vorhistorischer Zeit war das Delta eine gigantische Flussmündung mit vereinzelten Inseln. Im Laufe der Jahrtausende bildeten die Ablagerungen des Nils Landflächen, welche die Mündung in unzählige Verästelungen aufteilten. Der Wissenschaft wird es vermutlich nie gelingen, genau herauszufinden, was sich in diesen Jahrtausenden zutrug. Wir wissen jedoch, dass die Flüsse, welche das Delta kreuzten, ihren Lauf änderten, und dass Teile des Gebiets nach und nach im Meer versanken. Als Herodot um 400 v. Chr. seine Historien schrieb, schilderte er also die Städte im Nildelta nicht nur, als handele es sich dabei um Inseln in der Adria, die inmitten eines sumpfartigen Gebiets lagen und den natürlichen Schwankungen des Flusses angepasst waren. Er beschrieb auch Flüsse und Städte, die bis zum Jahr 1000 v. Chr. bereits verschwunden waren.

Unterwasserarchäologen haben mittlerweile rekonstruiert, wo einer der von Herodot beschriebenen Flussläufe, der Kanobische Arm, ins Meer floss. An seiner Mündung lag Herakleion, benannt nach dem griechischen Götterhelden Herakles, den schon die Griechen (einschließlich des Orakels von Delphi) als Nachkommen des viel älteren ägyptischen Herkules betrachteten. Der griechische Historiker Diodoros erzählt, wie es Herkules gelang, eine Flut einzudämmen und den Fluss in sein natürliches Bett zurückzuzwingen. Daraufhin wurde zu seinen Ehren ein Tempel erbaut und der Ort nach ihm benannt. In Herakleion gab es zudem zahlreiche Tempel zu Ehren der Nilgötter, und als religiöses Zentrum zog es Pilger aus dem gesamten Mittelmeerraum an. In alten Texten wird die Stadt als eine Art Pforte nach Ägypten beschrieben. Von hier aus konnte man den Nil hinaufsegeln und gelangte bis nach Memphis oder Theben.

Der Kanobische Arm war einer von vielen Flussläufen, die verschwanden und dabei die an ihren Ufern liegenden Städte aus der Geschichte tilgten. Schon in pharaonischer Zeit wurden Projekte begonnen, um den Fluss zu kontrollieren, und die Pyramidentexte dokumentieren, dass Kanäle für Transport und Bewässerung gegraben wurden. Diese wurden später zerstört, aber nicht nur durch die dem Fluss eigene unbarmherzige ökologische Logik, sondern weil die Pharaonen etwa 300 v. Chr. den Bolbitinischen Arm erweiterten. Da dieser nun größere Mengen Wasser führte, blieb für den Kanobischen Arm weniger Wasser übrig, was schließlich zu seinem Ende führte. Herakleion ist eine der Städte, die von Unterwasserarchäologen inzwischen entdeckt wurden. Sie wird als intakt beschrieben, wie eingefroren in der Zeit.

Herodots mehr als 2000 Jahre alte Historien haben also eine neue Aktualität gewonnen. Aufgrund seiner Aufzeichnungen über die städtischen Gesellschaften, die er sah, sowie beruhend auf seinen Beschreibungen über ihre Lage an Flussläufen, die es heute nicht mehr gibt, haben Archäologen Material in die Hände bekommen, mit dem sich weiter arbeiten lässt. Ebenso können Menschen, die glauben und fürchten, dass Teile des Deltas im Meer versinken werden, auf Herodots historische Beispiele verweisen. In einer langen ökologischen Perspektive des Nils verweisen sie auf eine möglicherweise alarmierende Zukunft, eine Zukunft, von der einige meinen, sie könnte bereits in diesem Jahrhundert Realität werden. Die uralte Vergangenheit ist dementsprechend auf eine Art und Weise gegenwärtig geworden, die sich den üblichen Methoden zur Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart entzieht: Die Vergangenheit ist nicht länger bloß ein »fremdes Land«.

Die Nilstadt Alexanders des Großen

Nur wenige Städte sind, wie der englische Autor E. M. Forster schrieb, »auf eine so großartige Weise wie Alexandria in die Geschichte eingetreten«. Und nur wenige Städte haben eine großartigere und chaotischere Geschichte und eine unsicherere Vergangenheit.11

Es war Alexander der Große, der den Ort nicht weit vom westlichen Auslauf des Nils gründete, dicht an den Gestaden des Mittelmeers gelegen. Für das soeben eroberte Land brauchte er eine Hauptstadt. 331 v. Chr. befahl er, dafür einen bereits vorhandenen kleinen Fischereihafen auszubauen. Alexandria in Ägypten war die einzige der mindestens 17 von Alexander gegründeten und nach ihm selbst benannten Städte, die nicht zu einer sprichwörtlichen Eintagsfliege in der Geschichte der Urbanisierung wurde. Ihr Erfolg gründete sich auf der Funktion des Flusses als Verkehrsader und der idealen Lage. Die berücksichtigte nämlich nicht nur die vorhandenen Handelsmuster, sondern auch die Prozesse der Natur, insbesondere die Hydrologie des Nils und die Topografie des Deltas. Statt im Delta selbst, wurde die Stadt etwas westlich davon angelegt. So verhinderte man, dass der vom Fluss mitgebrachte Schlamm den Hafen verlanden ließ, zudem lag gleich südlich der Stadt ein versumpfter Binnensee.

Der Kanal, den der junge makedonische Heerführer bauen ließ, ermöglichte es Alexandria, mehrere Jahrhunderte lang das wichtigste Handelszentrum in der sich nun entwickelnden mediterranen Ökonomie zu bleiben. Die Stadt wurde mit zwei leistungsfähigen und geschützten Häfen versehen, die den Handel mit Waren aller Art über zwei unterschiedliche Wassersysteme verbanden. Der eine Hafen war für den Transport von Produkten der ägyptischen Landwirtschaft über den Nil angelegt. Der andere war den neuen, seetüchtigen Schiffen des Mittelmeers angepasst. Die Stadt wurde zu einem Umschlaghafen für Waren aus allen Weltgegenden, die für Ägypten bestimmt waren, und für ägyptische Produkte, die in den Export gehen sollten. Die damalige Mittelmeermetropole wurde bald als schöne Stadt mit angenehmem Klima bekannt. Sie zog viele Griechen und Römer an, da Ägypten ein Teil des hellenischen Kulturraums und später des Römischen Reichs war. Alexander der Große – Plutarch zufolge maß er gerade mal zwischen 1,60 und 1,65 Meter – hinterließ eine Stadt, die vielleicht als erste als wirkliche Metropole bezeichnet werden konnte.

Je erfolgreicher die Stadt Handel betrieb, desto mehr brauchte sie ein Symbol für ihren wachsenden Wohlstand – und ein effektiveres Instrument, um die Schiffe durch die der Küste vorgelagerten Kalksteinriffe zu leiten. Ptolemaios I., der nach Alexanders Tod die makedonische ptolemäische Dynastie gründete, erteilte deshalb im Jahre 209 v. Chr. den Befehl, auf der in der Bucht vor der Stadt gelegenen Insel Pharos einen Leuchtturm zu errichten. Als der Bau 20 Jahre darauf vollendet war, besaß Alexandria nicht nur den ersten Leuchtturm, sondern auch das damals höchste Gebäude der Welt. Der Turm war mehr als 120 Meter hoch. Seine Bedeutung zeigt sich auch darin, dass pharos in den romanischen Sprachen zur Wurzel für das jeweilige Wort für Leuchtturm wurde. Wenn man heute von der Corniche auf das osmanische Fort hinüberblickt, das dort steht, wo einst der Leuchtturm aufragte – ob man nun auf einem Balkon des kolonialen Cecil House Hotels mit phänomenalem Blick aufs Meer steht oder seine Beine von der Mauer baumeln lässt, die sich die Promenade entlangzieht, zusammen mit den Tausenden von Einwohnern der Stadt, die dort quasi ständig sitzen – man kann sich leicht vorstellen, wie stolz der Turm zu Pharos, der als eines der sieben Weltwunder galt, sich einst den Besuchern zeigte.

Unter den Ptolemäern wurde die Stadt zum Zentrum für Handel, Wissenschaft und Gelehrsamkeit der gesamten hellenistischen Welt. Sie war ein kosmopolitischer Schmelztiegel, wo griechisches Denken, die Religionen des alten Ostens und neue mystische Kultbewegungen einander beeinflussten. Im Unterschied zu Athen, wo die Kunst dominierte, spielte in Alexandria die Wissenschaft eine herausragende Rolle. Anatomie, Geografie, Astronomie und Mathematik machten hier einen großen Sprung nach vorn.

Die Bibliothek der Stadt lockte die bedeutendsten griechischen Mathematiker, Ingenieure, Physiker, Architekten und Geografen in die Stadt. Kluge Köpfe zeichneten und diskutierten einige der ersten Weltkarten. Wenn es einen Ort gibt, der die Bezeichnung Zentrum der Gelehrsamkeit verdient hat, dann ist das Alexandria zu jener Zeit. Die Bibliothek baute ihre Position aus, indem sie Alexandrias Rolle als Handelsknotenpunkt nutzte. Die herrschende Dynastie ließ alle Schiffe durchsuchen – nach Büchern. Wenn eines gefunden wurde, musste es der Bibliothek ausgehändigt werden. Dort wurde es kopiert; die Bibliothek behielt das Original. Solche Bücher wurden in einem besonderen Katalog aufgeführt und mit dem Stichwort »von den Schiffen« versehen. Es wurde so umfassend nach Büchern gefahndet, dass irgendwann Fälscher auf den Plan traten und ihre selbst verfassten Werke beispielsweise als Buch von Aristoteles ausgaben. Angeblich verfügte die Bibliothek über mehr als 700 000 Schriftstücke und enthielt »alles Wissen der Welt«. Inzwischen gehen Historiker davon aus, dass diese Behauptungen wohl übertrieben waren. Es kann aber keine Zweifel daran geben, dass Alexandria nicht nur für das Nildelta, sondern für die ganze Welt den Sitz der Gelehrsamkeit darstellte.

Die wirtschaftliche Voraussetzung für die Stadt, vor etwa 2000 Jahren zum Zentrum der Wissenschaft aufzusteigen, war der Umfang des Handels, und die Voraussetzung für diesen blühenden Handel war, dass Alexandria dort angelegt wurde, wo der Nil und die Welt am effektivsten miteinander verbunden waren. Als sich später aus hydrologischen und politischen Gründen die Verbindung zum Nilsystem änderte, die notwendigen und umfassenden Wartungsarbeiten der Kanäle zwischen Stadt und Delta vernachlässigt und die Schiffe zu groß wurden, um die Kanäle zu passieren, verfiel Alexandria und mit ihm die Bibliothek.