Wasser - Terje Tvedt - E-Book

Wasser E-Book

Terje Tvedt

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Beschreibung

Die Zukunft des Wassers ist die Zukunft der Menschheit. Leben wir in einem Jahrhundert der Dürren oder der Überflutungen? Oder beides? Der Zugriff auf Wasser wird einen großen Einfluss haben auf die globalen Kräfteverhältnisse, die Umwelt und das Gleichgewicht zwischen Arm und Reich. Wasser wird über Krieg oder Frieden entscheiden und die Entwicklung der Länder und Kontinente bestimmen. Anders als andere Rohstoffe entzieht sich das Wasser der totalen Kontrolle.
In 25 Ländern auf allen Kontinenten sucht Terje Tvedt Antworten auf diese Fragen. Er folgt dem Lauf der großen Flüsse, besucht gigantische Wasserbauprojekte wie das MOSE-Projekt in Venedig, den Drei-Schluchten-Staudamm in China und den größten unterirdischen Ozean, spricht mit Experten über ihre Beobachtungen und Prognosen. Spannungsreich berichtet er von den Bemühungen der einzelnen Länder, den Herausforderungen zu begegnen und Lösungen für die Zukunft zu finden.

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Seitenzahl: 342

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Terje Tvedt · Wasser

Terje Tvedt

Wasser

Eine Reise in die Zukunft

Aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann

Diese Übersetzung wird veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung von NORLA (Norwegian Literature Abroad), Oslo.

Titel des norwegischen Originals: EN REISE I VANNETS FREMTID

© Kagge Forlag AS, Oslo 2007 Die deutsche Ausgabe wird veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Hagen Agency, Oslo.

Die Übersetzung basiert auf dem vom Autor 2009 durchgesehenen und aktualisierten norwegischen Text. Für die deutsche Ausgabe 2013 wurde der Epilog aktualisiert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2013) © der deutschen Ausgabe: Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Wim Westfield (Vorderseite) und eines Fotos vom Elbe-Hochwasser 2013 in Meißen von Claudia Hübschmann / Sächsische Zeitung (Rückseite) Satz: typegerecht, Berlin

Inhalt

Prolog: Eine Reise in die Welt des Wassers

Die neue Wasserunsicherheit

Zu den Flüssen des Himmels und an den Mittelpunkt der Erde

Auf Pumpentour in den Niederlanden

Die Eiswüste als Hotspot der Welt

Von der Acqua Vergine in die Stadt, die nicht untergehen will

Das aztekische »Land am Wasser« und die unterirdische Wasserwelt der Maya

Das Zeitalter der Wasserfürsten

Sun City und Südafrikas kurzer »Wasserkrieg« mit Lesotho

Wüste, Wasserfest und Wassergericht in Spanien

Eine Reise zum Nil und in einen verletzbaren Staat stromabwärts

Am Zusammenfluss von Blauem und Weißem Nil

Dämme und Taufen in Äthiopien

Private Wasserfälle an der skandinavischen Regenküste

Der Staat, der den Monsun entmachten will

Eine Flussebene im Griff des Wassers

Himalaja und der »Krieg im Himmel«

Gift im heiligsten Fluss

Auf dem Dach der Welt

»Cooles« Wasser in Paris und heiliges Wasser in Lourdes

Ein neues Wasserzeitalter

Wasserüberfluss in der Wüste, Wasserfabriken in Florida

Ein künstliches Niltal in der Sahara

Das größte Ingenieurprojekt der Geschichte und Gedanken an Kaiser Yu

Ändert den Lauf der sibirischen Flüsse!

Das unterirdische »große Wasser« im alten Indianerland

Eine »geheimnisvolle Insel« im Zeitalter des Wassers

Epilog: Die Macht des Wassers

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Dank

Geografisches Register

Prolog: Eine Reise in die Welt des Wassers

Eigentlich ist unsere Erde ein Planet des Wassers. Das wird ganz deutlich, wenn man sich die aus dem Weltraum aufgenommenen Bilder der Erde ansieht. Mir wurde das bereits 1968 bewusst, als ein Astronaut der Apollo 8 – des ersten Raumschiffs, das den Mond umkreiste – eine Aufnahme von unserem gesamten Himmelskörper anfertigte. Darauf ist klar zu erkennen, dass die Erde im Gegensatz zu allen anderen Planeten überwiegend aus Wasser besteht.

Wir sehen blaue Meere, die zwei Drittel der Erdoberfläche bedecken, weiße Pole und riesige Wolkenformationen. All dieses Wasser prägt die Besonderheit des Planeten und bildete über Millionen von Jahren die Grundlage für die Entstehung des Lebens. Wie sich das Wasser in der Erde, in Pflanzen und Organismen bewegte, hat die Evolution der Arten und den Charakter der Landschaften geformt. Im Laufe der letzten hunderttausend Jahre hat das Wasser auch die Geschichte der Gesellschaften entscheidend beeinflusst, bis hin zu ihren religiösen Zeremonien, kulturellen Ritualen und politischen Verhältnissen. Dennoch hat sich die soziale Bedeutung des Wassers nur in erstaunlich geringem Maße im gesellschaftlichen Bewusstsein niedergeschlagen, ja ich möchte fast von einer »Wasserblindheit« bei der bisherigen Behandlung von Geschichte sprechen.

Mich dagegen hat das Wasser immer fasziniert, und meine Studien befassen sich seit Jahrzehnten vor allem mit diesem Element. Dabei geht es mir besonders darum, wie sich das Verhältnis von Wasser und Gesellschaft in unserem Globalzeitalter verändert hat und sich der Mensch selbst veränderte, indem er versuchte, Herr über das Wasser zu werden. Was ich auch immer zu diesem Thema finden konnte, habe ich gelesen: 3000 Jahre alte chinesische Traktate über den Charakter des Wassers, Herodots wegweisende Berichte aus Ägypten und dem antiken Griechenland, die Schilderungen in den Texten der Weltreligionen über Gottes Erschaffung der Welt mithilfe des Wassers, unzählige trockene Ingenieurrapporte über die Kontrolle verschiedenster Wasserläufe sowie die Szenarien heutiger Klimaforscher über künftige Überschwemmungen und Dürren. In verstaubten Archiven von Khartoum bis Kansas habe ich mir die entsprechenden Dokumente angesehen. Und schließlich bin ich in über 70 Länder gereist – um die Vielfalt des Wassers zu sehen, die verschiedenen Bauten zu seiner Beherrschung kennenzulernen und die kulturellen und religiösen Mythen über das Wasser begreifen zu können. Dieses Buch ist ein Bericht über einige dieser Reisen in die faszinierende Welt des Wassers.

Das Wasser und der Kampf um seine Kontrolle und Nutzung haben alle Gesellschaften geformt – angefangen bei der Entstehung der ersten Zivilisationen im Mittleren Osten und in Asien vor 5000 Jahren bis hin zu den modernen städtischen Gesellschaften. Deshalb will ich meine Reiseeindrücke auch in eine historische Entwicklungslinie einordnen.1 Das betrifft sowohl die unterschiedlichen Arten des Wassermanagements und der dazugehörigen Bauten – Kanäle, Rohre, große und kleine Staudämme, veränderte Wasserläufe – als auch die verschiedenen Denkstrukturen, die mit dem Wasserumgang verbunden sind. Die Geschichte ist der einzige Schlüssel zur Zukunft, und die Prognosen – auch im Hinblick auf Wasser und Gesellschaft – sind abhängig von einem Wissen, das aus der Vergangenheit gespeist ist.

In diesem Buch soll daher das Scheinwerferlicht auf Flussufer, Staudämme und Springbrunnen gerichtet werden und nicht auf Reiserouten und touristische Anziehungspunkte. Es geht mir darum, das Gewohnte und Alltägliche mit neuen Augen zu sehen.

Bis Ende der 1990er Jahre haben sich nur wenige Wissenschaftler dafür interessiert, welche Rolle das Wasser bei der Ausformung der heutigen Gesellschaften spielte und wie es die Zukunft beeinflussen wird. Seitdem ist Wasser eine Art Hauptdarsteller in den gesellschaftlichen Horrorszenarien über die Zukunft geworden. Die Hurrikane in den USA, die Überschwemmungen in Europa und die Dürren in Afrika haben Wasser plötzlich ins Rampenlicht geholt – genährt von der neuen Angst vor globaler Erwärmung und Klimaveränderung. Die Diskussionen über den Klimawandel und seine Folgen drehen sich in erster Linie um mögliche Veränderungen der Wasserlandschaft, um Menge und Form des Wassers. Schmilzt das Eis an den Polen, auf Grönland und im Himalaja, in den Alpen und den Anden, und wird daher mehr Wasser ins Meer fließen? Führt dies zu einer deutlichen Erhöhung des Meeresspiegels? Sind massive Überschwemmungen in Europa, den Südstaaten der USA und in Indien nur Vorboten künftiger Extremwetterlagen? Oder wird es, wie einige Wissenschaftler behaupten, weniger Regen geben und sich ein Drittel der Erde bis zum Jahr 2100 in eine Wüste verwandeln? Werden in Zukunft Kriege um das Wasser geführt, weil der Mensch ohne Wasser nicht existieren kann? Grundlegende und tagesaktuelle Fragen über die Zukunft der Menschheit werden überall gestellt, und zum ersten Mal in der Geschichte drehen sich diese um die Rolle des Wassers und unsere Fähigkeit, es zu kontrollieren.

Wenn es darum geht, die Rolle des Wassers in der Gesellschaft und die Folgen für die soziale Entwicklung zu begreifen, ist das Reisen unumgänglich. Johann Wolfgang von Goethe sagte, dass den Geruch Chinas kennen müsse, wer das Land verstehen wolle. Mit weitaus größerem Recht ließe sich sagen, dass es zweckdienlich ist, mit eigenen Augen – und offenen Sinnen – zu betrachten, wie die Flüsse sich ihren Weg bahnen, wie der Niederschlag die Vegetation prägt und wie die Menschen versuchen, ihr Leben dem vorhandenen Wasser anzupassen und es möglichst zu kontrollieren. Reisen ist meine Methode, um die Besonderheiten des Wassers zu erfassen und um zu begreifen, dass es sich dabei sowohl um Natur als auch um Kultur handelt.

Die großen klassischen Flussreisen sind noch immer von einer märchenhaften Aura umgeben. Man denke zum Beispiel an die Flussexpedition in Joseph Conrads Erzählung »Herz der Finsternis« (1899) – eine den Kongo hinaufführende Reise, die zugleich eine Fahrt ins Zentrum des Bösen symbolisiert. Oder an Mark Twains Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn (1876/84), die mit ihrem Floß den Mississippi hinunterfuhren. Ganze Regale werden von Reisebeschreibungen über die großen Ströme der Welt wie den Amazonas, den Jangtse, den Ganges oder den Rhein gefüllt. Flussreisen sind noch immer äußerst faszinierend – und da die Hälfte der Menschheit an irgendeinem Flusslauf lebt, der mehr als nur ein Land durchschneidet, kann das »Sich-mit-dem-Stromtreiben-Lassen« durchaus Wichtiges über die Welt vermitteln.

Die Wasserreisen in meinem Buch hingegen haben einen anderen Ansatz. Sie folgen durchaus nicht nur einem Fluss, lassen diesen nicht Rahmen und Verlauf der Geschichte bestimmen, sondern orientieren sich an Kontrasten, die durch Reibungen zwischen der Geografie des Wassers und dem Charakter von Gesellschaften erkennbar werden. Von Las Vegas und dem Wasserlauf des Colorado bis zu den Quellen des Brahmaputra in Tibet und dem DreiSchluchten-Damm in China, von verarmten Nomadengesellschaften in Afrika und Asien zu den europäischen und amerikanischen Großstädten, von der Regenküste Skandinaviens bis zur Sahara und den Wüsten in Oman, von den die Schönheit des Wassers preisenden Fontänen bis zu den größten Staudämmen der Welt: In all seinen Formen habe ich das Wasser aufgesucht, bin durch große Flusstäler gewatet, habe mit Wasserexperten und Politikern auf der ganzen Welt gesprochen. Besessen von der Vielfalt und Schönheit des Wasser bin ich umhergereist, fasziniert von seinen charakteristischen Eigenheiten: ewig pulsierend, mehr oder weniger unaufhaltbar in eine Richtung fließend, jedoch mit scheinbarer Ehrfurcht allen Hindernissen ausweichend.

Ich beginne diese Reise so trivial wie möglich, auf einer Bank im Londoner Hyde Park. Seine Speakers’ Corner hat ihn weltberühmt gemacht, doch heute sind es vor allem die Rasenflächen, die Bäume und sein See, der Serpentine, welche die Menschen anziehen. Obwohl die Wolken regenschwer über den Baumwipfeln hängen und die Tauben leicht verfroren über den Asphalt trippeln, bin ich nicht der Einzige, der hier sitzt und gedankenverloren den Blick über das Gewässer schweifen lässt. Angelegt wurde der 11,34 Hektar große Serpentine im Jahre 1730, ursprünglich um den River Westbourne einzudämmen, einen Nebenfluss der Themse, der nun jedoch durch unterirdische Rohre verläuft und circa 300 Meter oberhalb der Chelsea Bridge in die Themse mündet. Alle im Park scheinen sich von dem Wasser angezogen zu fühlen. Ich weiß nicht, ob es an der ruhigen Oberfläche liegt, in der sich Wolken und Bäume spiegeln, oder an den sich wiederholenden, aber niemals identischen Bewegungen der Wasserstrahlen im Springbrunnen. Zu allen Zeiten und an allen Orten fühlten sich die Menschen zum Wasser hingezogen, dichteten Verse darüber oder besangen es, wiesen ihm zentrale Rollen in der religiösen Kosmologie und in kulturellen Ritualen zu. Während ich hier sitze, gibt es wahrscheinlich rund um die Erde Millionen von Menschen, die einen Brunnen, eine Quelle, einen Fluss oder einen Wasserfall bestaunen. Liegt die Ausstrahlung des Wassers darin, dass es uns wieder und wieder mit seiner Wirkung daran erinnert, wie es Land, Meere, Luft und Menschen in einem lebendigen, endlosen Kreis vereint – mehr, als jedes andere Element auf der Erde?

Das Wasser in meinem Café Latte könnte vor einem Jahr in einem klaren Gebirgsbach geflossen sein oder im nächsten Jahr – hoffentlich gut gereinigt – in einem See wieder auftauchen, es kann ein Bestandteil des Gifts in Sokrates’ Becher oder im Bad der chinesischen Kaiser gewesen sein oder demnächst von der Fontäne inmitten des Sepentine in die Luft gewirbelt werden.2 Auf ganz besondere Art verbindet es daher alle Menschen zu allen Zeiten. Das Wasser, das sich in ewiger Bewegung befindet, ist sowohl das Eigentum aller als auch das einer bestimmten Person, es ist ganz es selbst, weist zugleich über sich hinaus, als Voraussetzung allen Lebens. Diese Variationen über ein Thema, das genuin universell ist, machen meine Reisen so erforderlich.

Mit der Rolltreppe fahre ich später hinunter zu den Zügen der Victoria Station. Der Bahnhof ist voller Menschen, ein Straßenmusikant spielt Songs von Neil Young in einem Durchgang zwischen den Bahnsteigen, ein Bobby grüßt mich freundlich. Ein ganz gewöhnlicher Tag also, und ich bin sehr wahrscheinlich der Einzige, der den Kopf voller Gedanken an Wasser hat, während wir in die Tiefe hinunter und an Reklameplakaten für Theateraufführungen im West End vorbeifahren.

Zweifellos wäre die Atmosphäre wohl weniger angenehm, ja klaustrophobisch, wenn ich ausriefe: »Der Bahnhof ist in Gefahr, überschwemmt zu werden!« Die Menschen auf den Bahnsteigen würden vermutlich von ihrer Zeitung aufblicken und einen Moment nervös werden. Doch ich könnte sie sogleich wieder beruhigen: »Aber es gibt Pumpen, die das Wasser abhalten. Sie sehen sie nicht, aber sie retten Ihnen das Leben.« Wahrscheinlich würden mir die Leute einen misstrauischen Blick zuwerfen, sich wieder ihrer Zeitung zuwenden und mit den Schultern zucken – noch eines von diesen Originalen, die die Londoner Unterwelt bevölkern.

Doch in Victoria Station gibt es tatsächlich Pumpen, die Stunde um Stunde, Tag für Tag circa 35 Liter Wasser pro Sekunde abführen. Ein absolut erforderlicher Vorgang, der verhindert, dass Wasser durch die Wände dringt und den Untergrund überschwemmt. Während Menschen über die Bahnsteige hasten und sich Zugtüren öffnen, arbeiten diese Pumpen. Und ebenso, wenn der Zug die Station verlässt und in den nächsten Tunnel einfährt. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass es heute in London mehr regnet als früher oder das Meer von Osten her in die Stadt dringt, sondern dass der Grundwasserspiegel unter London steigt. Die Brauereien und die Papierindustrie, die hier während und nach der industriellen Revolution entstanden, verließen in den 1960er Jahren den Stadtkern. Dadurch hat sich der Wasserverbrauch reduziert, und infolgedessen ist das Wasser gestiegen – unerbittlich. Tatsächlich liegt Victoria Station heute unter Wasser. Sollten die Pumpen jemals aufhören zu arbeiten, würde das Wasser auf Bahnsteige und in Züge laufen und große Teile der Londoner Untergrundbahn überschwemmen.3

Die graue und langweilige Victoria Station zeigt daher in ihrer alltäglichen Trivialität eine Wahrheit über das Wasser, die große theoretische wie praktische Konsequenzen hat: Der Mensch kann es zeitweilig kontrollieren, es in Rohre zwingen und hinter Staudämme sperren, er kann es konsumieren, doch er kann es nicht gänzlich beherrschen. Im Gegensatz zu allen anderen natürlichen Ressourcen entzieht sich Wasser letztlich immer wieder dem Zugriff des Menschen. Alle Gesellschaften sind darauf angewiesen, das Wasser zu kontrollieren. Zu jeder Zeit haben das Gesellschaften auf unterschiedliche Art und Weise getan und werden es auch weiterhin tun. Doch jede Gesellschaft muss im Laufe ihrer Geschichte feststellen, dass sich das Gleichgewicht, welches irgendwann zwischen Wasser und Gesellschaft geschaffen wurde, zu einem anderen Zeitpunkt in ein Ungleichgewicht wandelt. Der Kampf um die Beherrschung des Wassers wird somit niemals enden.

Das Grundwasser in London steigt aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, aber die Stadt und die Themse sind gleichzeitig ein anschauliches Beispiel dafür, wie Veränderungen in der Natur auch die Wasserlandschaft beeinflussen. Jahrhundertelang bildete die Themse die Grundlage für Londons Stellung als Zentrum des Welthandels. Die Lastensegler konnten vom offenen Meer aus weit ins Land hineinfahren. Insofern erschuf der Fluss auch ein Stück Weltgeschichte. Doch sollte der Fluss bei verändertem Meeresgeschehen schiffbar bleiben und die Stadt nicht gefährden, waren Veränderungen notwendig. Ein wenig stromabwärts von London hat man quer über den Fluss eine fantastische hydraulische Konstruktion errichtet, die ich mir viele Male angesehen habe. Die Thames Barrier wurde in den 1970er Jahren zum Schutz gegen jene physischen Eigenschaften des Flusses erbaut, die in vormodernen Zeiten einen großen strategischen und handelsbezogenen Vorteil ausmachten. Eine versenkbare, beschützende Wand aus Stahl zwischen der Stadt und dem Meer entstand. Zwischen neun schneckenförmigen Kuppeln, jede an die dreißig Meter hoch, kann innerhalb weniger Minuten die gesamte Themse abgesperrt und so das weitere Eindringen des Meerwassers in den Fluss verhindert werden. Aufgrund des steigenden Meeresspiegels und weil sich England neigt – die südlichen Landstriche der Insel sinken infolge der letzten Eiszeit jedes Jahr ein bis zwei Millimeter tiefer ins Meer – steigt die Gefahr von Überschwemmungen. In den ersten zehn Jahren seit ihrer Inbetriebnahme musste die Thames Barrier elf Mal wegen Sturmflutgefahr geschlossen werden. Im Jahrzehnt darauf, zwischen 1993 und 2003, musste sie den Fluss 79 Mal absperren. Das große Unsicherheitsmoment ist die Frage, ob die Barriere ausreichen wird, wenn der Meeresspiegel stärker ansteigt als vorausberechnet. Manche meinen, dass die Thames Barrier bereits in 20 bis 25 Jahren nicht mehr in der Lage sein wird, die Stadt zu schützen. Trifft diese Annahme zu, würde sich die Thames Barrier von einem regionalen Symbol der menschlichen Fähigkeit zur Kontrolle des Wassers in ein universelles Mahnmal verwandeln, das von der Unzulänglichkeit des Menschen zeugt, diese fließende und stets variierende Ressource vollständig zu beherrschen.

Als ich aus England abfliege und den Atlantik und den Ärmelkanal unter mir sehe, wird mir einmal mehr bewusst, wie paradox der Name unseres Planeten ist. Im Englischen wird er the earth genannt, auf Afrikaans spricht man von aarde, im Arabischen heißt es al-ard (das Land oder die Erde), auf Hebräisch ertz, im Deutschen Erde und in den skandinavischen Sprachen jord. Das Wort Earth entwickelte sich aus dem altenglischen eorðe, was Grund, Boden, trockenes Land bedeutet. Die Erde erhielt also ihren Namen, indem sie als Widerpart des nassen Elementes definiert wurde – ein natürlicher Vorgang, denn als der Planet vor vielen hundert Jahren seinen Namen erhielt, war das menschliche Verständnis von der Erde noch äußerst begrenzt, hatte sie niemand aus der Luft betrachtet und war sie keineswegs komplett erkundet. Heute ist uns klar, dass die Einseitigkeit des Namens unseren Blick auf die große Besonderheit unseres Planeten – das ewige und veränderliche Verhältnis zwischen Erde und Wasser, Gesellschaft und Wasser, Mensch und Wasser – lange Zeit verstellt hat.

Das Buch besteht aus drei Kapiteln. Das erste handelt vom neuen Zeitalter der Unsicherheit – einer Unsicherheit sowohl in Bezug auf die weitere Entwicklung des Klimas, als auch auf die künftigen Wasserkreisläufe. Das zweite beschäftigt sich mit dem Kampf um die Herrschaft über das Wasser. Unsere Existenz in einem Zeitalter der Wasserunsicherheit wird dazu führen, dass sich die Auseinandersetzung um die Herrschaft über das Wasser zu einer zentralen Frage der Zukunft entwickeln wird. Da alle Menschen Wasser benötigen, resultiert daraus ein Machtkampf, dem sich niemand wird entziehen können. Das dritte Kapitel beschreibt, wie große Teile der Erde in den nächsten Jahren radikal von Wasserprojekten verändert werden, die umfassender und folgenreicher sind als jedes andere Projekt in der Geschichte der Menschheit. Hier geht es um Chancen und Risiken zugleich. Im aktualisierten Epilog gehe ich kurz auf die jüngsten Überschwemmungen in Mitteleuropa ein und greife die daraus resultierenden Anforderungen für die Zukunft auf.

Die neue Wasserunsicherheit

Die Art und Weise, wie die Menschen heute überall auf der Welt vom »Wetter« reden, hat sich radikal verändert. Als ich Mitte der 1990er Jahre für eine Forschungsarbeit und eine Fernsehserie über die historische Rolle des Wassers umherreiste, redete so gut wie niemand über globale Erwärmung. Mittlerweile deuten die Menschen überall ungewöhnliche Wetterlagen als Ausdruck drohender Klimaveränderungen. Zwischen afrikanischen Lehmhütten in Lesotho, fast 3000 Meter über dem Meeresspiegel, begegne ich einer alten Frau, die über das schlechte Wetter der letzten Zeit redet und dieses mit »globaler Erwärmung« erklärt. An der Rezeption eines Strandhotels im mexikanischen Cancún beklagt sich ein Elvis-Imitator darüber, dass das Wetter heute aufgrund von zu viel Kohlendioxid in der Atmosphäre anders sei als früher. Und am Ufer des völlig zugrundegerichteten Bagmati-Flusses in Nepal steht ein alter Ingenieur, der sich entschieden hat, die letzten Jahre seines Lebens damit zu verbringen, den heiligsten Strom des Landes vor weiterer Verunreinigung und somit dem Sterben zu retten. Mit großen, traurigen Augen steht er da und verkündet: Der bescheidene Wasserstand des Flusses in diesem Jahr ist der globalen Erwärmung geschuldet. Überall, wohin ich komme, werden die unzähligen Meinungsumfragen bestätigt: Die neue Unsicherheit über künftige Niederschläge, Dürren, den Zustand der Gletscher und des Meeresspiegels hat sich in das kollektive Bewusstsein unserer globalisierten Welt eingebrannt.

Innerhalb weniger Jahre ist die klimawissenschaftliche Sprache in den Alltag der Menschen eingezogen und werden überall Spekulationen über die Zukunft der Erde angestellt. Kaum je zuvor in der Geschichte haben so viele Menschen ihre Ansichten über derart fundamentale Fragen wie das Klima in so kurzer Zeit geändert. Am meisten diskutiert wird die Frage, wie sich der Wasserfluss in Zukunft gestalten wird4. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass die Menschheit in das Zeitalter der Wasserunsicherheit eingetreten ist.

Dieses Zeitalter wird von der Unsicherheit und dem Kampf um die Gestaltung der künftigen Wasserlandschaft geprägt sein. Stehen wir am Beginn eines Jahrhunderts der Dürren? Wird sich ein Drittel des Planeten in hundert Jahren in eine Wüste verwandelt haben? Oder leben wir in einem Jahrhundert der Überschwemmungen und der Eisschmelze? Wird der Spiegel der Weltmeere um mehrere Meter ansteigen? Und wenn ja, wann wird dies geschehen? Die Unberechenbarkeit des Wassers ist zu einem zentralen Thema der Menschheit geworden.

Zwischen meinen Reisen lese ich immer wieder die alten Flut- und Überschwemmungsmythen: das Gilgamesch-Epos über das Land zwischen Euphrat und Tigris, die Geschichte von Noahs Arche in der Bibel, den durch eine Flut verursachten Weltuntergang in buddhistischen Schilderungen und zahlreiche weitere Varianten in beinahe allen Religionen der Welt.5 Auch mit künstlerischen Darstellungen habe ich mich beschäftigt, und hier nicht nur mit den bekannten Zeichnungen und Gemälden Leonardo da Vincis oder Michelangelos über die Sintflut. Mein Favorit ist Gustave Dorés 1865 entstandene Grafik »Die Sintflut – das Steigen der Gewässer«, ein widersprüchliches, von existenzieller Düsternis geprägtes Bild, das jedoch gleichzeitig verdeutlicht, wie die Katastrophe das Beste im Menschen hervorbringt. Die ungefähr siebzig abgebildeten Personen versuchen verzweifelt, sich vor der ansteigenden Flut zu retten. Ein Mann bemüht sich, seine Frau und sein Kind über Wasser zu halten. Direkt über ihm versucht ein Elternpaar, seine Kinder auf sicheren Grund zu bringen. Im Zentrum des Bildes sieht man die Arme einer Mutter oder eines Vaters bei dem Versuch, im Ertrinken das Kind noch für einen Moment am Leben zu halten. Die Schuldigen opfern sich, um die Unschuldigen zu retten. Diese Endzeitschilderungen sind erschütternd, erscheinen jedoch überholt, weil ihnen fehlt, worauf sich heutige Prophezeiungen stützen: die moderne Wissenschaft.

Im Dogonland in Mali, am Rande der Sahara, haben sich die Menschen über Generationen hinweg einem Leben mit wenig Wasser und stark variierenden Niederschlägen angepasst. Das Stabile am Kreislauf des Wassers ist hier das Instabile, das Normale ist die Gewissheit des Unnormalen: dass die Katastrophe kommen und die Gesellschaft treffen wird. Ein jährlich wiederkehrendes Phänomen ist das Entstehen und Verschwinden von Seen – was ein natürliches Barometer für das Klima darstellt.

Einmal pro Jahr ist der Antogo-See Schauplatz eines ganz besonderen Ereignisses: Von weither reisen die Menschen an, um an einem traditionellen Fischfang teilzunehmen. Die Ortsansässigen glauben, dass die Fische aus dem Nachbargebirge kommen. Wenn der jährliche Regen fällt, steigt das Wasser und bildet den See. Die Fische werden aus den verborgenen unterirdischen Reservoirs in den Bergen herausgepült und landen im Antogo-See. Am großen Tag versammeln sich Tausende um das kleine Gewässer. Schweigend sitzen sie auf den niedrigen Hügeln, die den See umgeben. Alle warten auf das Signal, das gegeben wird, wenn der Wasserstand optimal ist und die Fische mit den Händen gefangen werden können. Zu Tausenden stürzen die Menschen ins Wasser und stehen dicht an dicht. Im Laufe weniger Minuten ist kein einziger Fisch mehr im See. Die Menschen klettern ans Ufer zurück, und mitunter ist nach einer Stunde auch der See wieder verschwunden.

Aus klimahistorischer Perspektive kann dieser kurze Fischfang die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber dem Kreislauf des Wassers symbolisieren. Mögen auch die klimatischen Bedingungen der letzten zehntausend Jahre einen einzigartigen paradiesischen Zustand darstellen, dessen Fortbestehen überaus zweifelhaft ist, befindet sich die Menschheit insgesamt doch in derselben Situation wie die Fischer am Antogo-See, wenn der ideale Wasserstand erreicht ist. Dieser festliche Fischfang ist ein Fruchtbarkeitsritual, das ein weiteres Paradox der Geschichte zusammenfasst: die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Macht des Wassers und der Natur. Auch wenn der See zeitweilig verschwindet, ist die Existenz der dortigen Gesellschaft nicht gefährdet. Die Menschen können schlicht etwas anderes tun oder mit ihren wenigen Habseligkeiten an einen anderen Ort ziehen. Die moderne Gesellschaft mit ihren Millionenstädten hat diese Möglichkeit hingegen nicht.

Zu den Flüssen des Himmels und an den Mittelpunkt der Erde

»Ganz sicher«, sagt er, ohne zu zögern und mit festem, etwas düsterem Blick. Es sei unzweifelhaft, dass viele der Gletscher in Tibet schmelzen werden. Ich sitze mit Yao Tandong zusammen, einem der führenden Glaziologen Chinas. Wir befinden uns in seinem Büro in Peking, etwas außerhalb des Stadtzentrums. Seine Freundlichkeit und seine angenehme Ausstrahlung verstärken nur die Dramatik seiner Forschungsergebnisse. Er weiß sicherlich – so denke ich, während ich einige seiner Berichte ansehe –, dass seine Analysen die Zukunft von drei Milliarden Menschen beeinflussen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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