Der NSU Prozess - Annette Ramelsberger - E-Book

Der NSU Prozess E-Book

Annette Ramelsberger

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Beschreibung

Am 6. Mai 2013 beginnt in München der größte Strafprozess in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Am 11. Juli 2018 wird das Urteil gesprochen. Eine Frau und vier Männer werden beschuldigt, die Terrororganisation NSU gegründet oder unterstützt zu haben – eine rechtsradikale Gruppe, die zehn Menschen ermordet, drei Sprengstoffanschläge verübt einen Brandstiftung und 15 Raubüberfälle begangen haben soll. Das Verfahren wird mehr als fünf Jahre dauern, mehr als 600 Zeugen und Sachverständige kommen zu Wort, über 60 Anwälte vertreten die fünf Angeklagten und 93 Nebenkläger an 437 Prozesstagen. Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz und Rainer Stadler gehören zu den wenigen Journalisten, die Zutritt zum Gerichtssaal hatten und die Verhandlung vom ersten Tag an lückenlos verfolgt haben. Aus ihren täglichen Mitschriften ist ein umfangreiches Protokoll entstanden, das in diesen fünf Büchern dokumentiert wird: Ein Stück deutscher Geschichte. Es handelt sich um Originaltöne aus der Verhandlung, die gekürzt, aber sonst unverändert wiedergegeben werden. Durch die Stimmen des Richters, der Zeugen, der Sachverständigen, der Anwälte und der Angeklagten entsteht ein Gesamtbild von zehn Jahren Terror, dem nicht endenden Schmerz der Opfer, dem eiskalten Vorgehen der Täter, dem Dilettantismus der Ermittler und der schwierigen Suche nach der Wahrheit, die doch so offensichtlich zu sein scheint. Band 1-3: Beweisaufnahme Band 4: Plädoyers und Urteil Band 5: Materialien (Register, Chronologie und kurze Portraits der Beteiligten)

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Seitenzahl: 3713

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Zum Buch

Am 6. Mai 2013 beginnt in München der größte Strafprozess in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Am 11. Juli 2018 wird das Urteil gesprochen. Eine Frau und vier Männer werden beschuldigt, die Terrororganisation NSU gegründet oder unterstützt zu haben – eine rechtsradikale Gruppe, die zehn Menschen ermordet, drei Sprengstoffanschläge verübt einen Brandstiftung und 15 Raubüberfälle begangen haben soll. Das Verfahren wird mehr als fünf Jahre dauern, mehr als 600 Zeugen und Sachverständige kommen zu Wort, über 60 Anwälte vertreten die fünf Angeklagten und 93 Nebenkläger an 437 Prozesstagen.

Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz und Rainer Stadler gehören zu den wenigen Journalisten, die Zutritt zum Gerichtssaal hatten und die Verhandlung vom ersten Tag an lückenlos verfolgt haben. Aus ihren täglichen Mitschriften ist ein umfangreiches Protokoll entstanden, das in diesen fünf Büchern dokumentiert wird: Ein Stück deutscher Geschichte.

Es handelt sich um Originaltöne aus der Verhandlung, die gekürzt, aber sonst unverändert wiedergegeben werden. Durch die Stimmen des Richters, der Zeugen, der Sachverständigen, der Anwälte und der Angeklagten entsteht ein Gesamtbild von zehn Jahren Terror, dem nicht endenden Schmerz der Opfer, dem eiskalten Vorgehen der Täter, dem Dilettantismus der Ermittler und der schwierigen Suche nach der Wahrheit, die doch so offensichtlich zu sein scheint.

Über die Autoren

Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung, hat die Deutsche Journalistenschule besucht und Jura, Politik und Journalistik studiert. Sie war Redakteurin des Spiegel und der Berliner Zeitung in München und Berlin und DDR-Korrespondentin der Nachrichtenagentur AP zur Zeit des Mauerfalls. Seit 1997 ist sie bei der Süddeutschen Zeitung als Ressortleiterin und politische Reporterin. In der Berliner Parlamentsredaktion war sie jahrelang die Expertin für politischen Extremismus und Terrorismus.

Wiebke Ramm, geboren 1976 in Hamburg, hat Psychologie in Berlin mit Schwerpunkt Rechtspsychologie am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité studiert. Nach Diplom und Volontariat arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin. Seit 2011 schreibt sie als freie Journalistin über bedeutsame Strafprozesse in ganz Deutschland. Über den NSU-Prozess berichtete sie unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin und Spiegel Online.

Tanjev Schultz, geb. 1974, ist Professor für Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor war er innenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Für seine journalistischen Arbeiten ist er mit etlichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Goethe-Medienpreis und dem Universitas-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem über Bildungspolitik und über die Plagiatsaffäre des Politikers Karl-Theodor zu Guttenberg.

Rainer Stadler, geboren 1967, studierte Informatik und absolvierte die Journalistenschule in München. Er arbeitete als freier Journalist und Auslandskorrespondent (Los Angeles) und schrieb u.a. für die Süddeutsche Zeitung, den Focus und den Spiegel. Seit 2001 ist er Redakteur beim SZ-Magazin.

Ramelsberger | Ramm | Schultz | Stadler

DER NSU-PROZESS

DAS PROTOKOLL

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Vorwort

 

Der NSU-Prozess. Das Protokoll

Beweisaufnahme Tag 1–374

Plädoyers und Urteil Tag 375–438

 

Materialien

DER NSU-PROZESS

Das Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund ist einer der wichtigsten Prozesse der Nachkriegsgeschichte und gleichzeitig eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft. Die Protokolle sind ein historisches Dokument.

Der Prozess gegen die rechtsradikale Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) war einer der größten und längsten Prozesse der Nachkriegszeit. Doch das ist nicht der Grund, warum er nun in einer Reihe mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, dem Auschwitz-Prozess und den RAF-Verfahren steht, die alle Abgründe einer Epoche aufgearbeitet haben. Nicht seine Länge von 438 Verhandlungstagen war dafür ausschlaggebend und auch nicht die bloßen Zahlen: fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, rund 90 Nebenkläger und mehr als 600 Zeugen. Das, was das Verfahren von München zu einem wirklich historischen Prozess machte, war etwas anderes.

Dieser Prozess war ein Lehrstück deutscher Geschichte. Eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft, die gefährliche Sedimente unter der Oberfläche wirtschaftlich blühender Landschaften und einer scheinbar gefestigten Demokratie zutage förderte: brave Bürger, die im Keller unterm Hitlerbild sitzen; fleißige Angestellte, die nichts dabei finden, ihren Pass und ihren Führerschein untergetauchten Neonazis zu überlassen; eifrige Verfassungsschützer, die ihre rechtsextremistischen V-Männer mit Steuergeld unterstützen, ohne wirklich Wichtiges zu erfahren; Polizisten, die die Witwe eines türkischen Opfers anlogen und sagten, ihr toter Mann habe eine deutsche Geliebte gehabt – nur um ihr angeblich verstocktes Schweigen zu brechen. Vor Gericht traten dann die wirklich Verstockten auf: eine Phalanx schweigender Rechtsradikaler, die auch durch zehn heimtückische Morde nicht zu erschüttern war.

Der NSU-Prozess sollte zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle klären und die individuelle Schuld der fünf Angeklagten. Doch er gab auch den Blick frei in die Seele von Demokratiefeinden, legte die Fehler des deutsch-deutschen Zusammenwachsens bloß und sezierte die Verwerfungen nach dem 9. November 1989. Wie unter einem Brennglas zeigte er die dunklen Seiten von fast 30 Jahren Nachwendezeit.

Als der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) sich im November 2011 selbst enttarnte, da blickte die scheinbar wohlgeordnete Republik plötzlich in einen Abgrund, den sie nicht für möglich gehalten hatte. Über Nacht wurde klar, dass eine bis dahin unbekannte rechtsradikale Terrorzelle für viele Verbrechen im Land verantwortlich war, die seit dem Jahr 2000 für Aufsehen gesorgt hatten, aber nicht aufgeklärt werden konnten: für die Morde an acht Männern mit türkischen und an einem mit griechischen Wurzeln in München, Nürnberg, Hamburg, Rostock, Dortmund und Kassel, auch für den ungeklärten Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße und einen Anschlag auf einen Lebensmittelladen in der Kölner Probsteigasse, zuletzt für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn. Für alle diese Taten hatte die Terrorzelle NSU die Verantwortung übernommen – mit einem Bekennervideo. Dieses über Jahre hinweg immer wieder überarbeitete Video zeigte die toten und sterbenden Opfer des NSU aus nächster Nähe, die Trickfilmfigur Paulchen Panther machte dazu menschenverachtende Witze. Die Republik war entsetzt.

Bundespräsident Christian Wulff traf sich mit den Opferfamilien, sein Nachfolger Joachim Gauck lud sie in seinen Amtssitz Bellevue. Arbeitgeber und Gewerkschaften verabredeten eine Schweigeminute in den Betrieben. Bundeskanzlerin Angela Merkel lud die Angehörigen der Ermordeten zur Trauerfeier nach Berlin. Dort bat sie um Verzeihung dafür, dass die Terrorzelle so lange nicht gefunden worden war. Die Morde des NSU seien ein Anschlag auf die Grundwerte Deutschlands, sie seien »ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land.«

Und Merkel verpflichtete sich und die Regierung: »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Nach Ende des Prozesses bleibt das Fazit: Das ist nicht gelungen.

Politische Konsequenzen

Selten hat ein Verbrechen das Land so aufgewühlt wie die Mordserie des NSU. Denn der NSU stellte auch alle Gewissheiten der Sicherheitsbehörden infrage. Die hatten jahrelang die Überzeugung zur Schau gestellt, dass es in Deutschland keinen Terror von rechts gibt. Die Taten, so erklärten sie wiederholt, mussten auf die türkische Mafia zurückgehen oder auf Revierkämpfe im Rauschgiftmilieu. Die Medien nannten die Morde an den neun Migranten auch abfällig »Dönermorde« – allein dieses Wort zeigte schon, wer im Verdacht stand. Die immer drängenderen Fragen der Angehörigen, ihre Hinweise, dass es sich bei dem Serienmörder um einen »Türkenhasser« handeln musste, wurden nicht ernst genommen.

Der Verfassungsschutz hatte Fragen nach der Existenz einer braunen RAF (der linksextremen Rote Armee Fraktion, die in den 70er, 80er und 90er Jahren mordete) stets abgetan: Zu dumm seien die Rechten, zu sehr seien sie von Staatsspitzeln umstellt, als dass sich Terrorzellen unbemerkt entwickeln könnten. Zu sehr fehle es ihnen auch an einer intelligenten Führungsfigur. Dabei brauchten die Radikalen gar keinen Führer mehr. In der rechten Szene kursierte längst das Buch »Die Turner Tagebücher« des amerikanischen Rechtsradikalen William L. Pierce, wonach es zu einem Kampf der Rassen gegeneinander kommen werde und die Weißen Terrorzellen bilden müssten, um »leaderless resistance« (führerlosen Widerstand) zu leisten – aber das hatten die Verfassungsschützer nicht ernst genommen. Auch auf den Computern etlicher Angeklagter im NSU-Prozess wurden die »Turner Tagebücher« gefunden.

Auf die Selbstenttarnung des NSU folgte in den Monaten darauf der Rücktritt des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes und der Präsidenten der Landesverfassungsschutzämter von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Berlin. Fast ein Dutzend Untersuchungsausschüsse machten sich an die Arbeit, Behördenleiter wurden vernommen, Verantwortlichkeiten hinterfragt, Beamte ins Kreuzverhör genommen. Entdeckt wurden: lähmende Bürokratie, Dienst nach Vorschrift, ein Gegeneinander in den Ämtern, Abschottung der Dienste, gravierende Fehleinschätzungen. Und der nach Aufklärung drängende Verdacht, dass bei manchem Verfassungsschützer auch das rechte Auge zugedrückt wurde. So erklärte zum Beispiel ein Verfassungsschützer aus Thüringen noch vor Gericht, er habe seinen Spitzel »gut im Griff« gehabt – er meinte jenen V-Mann, der einen Großteil seines Honorars von rund 200 000 Mark an seine Neonazi-Freunde weitergeleitet hatte. Und ein Beamter des Bundesverfassungsschutzes schredderte noch nach der Enttarnung des NSU geheime Akten zur rechten Szene in Thüringen. Er wusste, wie viele V-Leute sein Dienst dort hatte und wollte, so sagte er, unbequeme Nachfragen dazu verhindern, warum die Geheimdienste dennoch nichts über den NSU wussten. Der Mann wurde in eine andere Behörde versetzt, ein Verfahren gegen ihn nach einer Geldzahlung eingestellt.

Am Ende des zweiten Untersuchungsausschusses des Bundestags im Sommer 2017 waren sich viele Prozessbeobachter sicher: Polizei und Verfassungsschutz hätten die Morde verhindern können, wenn sie die Hinweise ihrer V-Leute ernst genommen und schnell eingegriffen hätten.

Viele Stunden parlamentarischer Kontrollarbeit, Tausende Seiten Papier. Aber nirgendwo gelang die Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft so präzise wie im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts München. Nirgendwo kam man den Tätern, ihren Helfern, ihren Sympathisanten und ihren Motiven so nah wie hier.

Die Angeklagten

Auf der Anklagebank saßen eine Frau und vier Männer: Beate Zschäpe (geboren 1975), Ralf Wohlleben (1975), Carsten Schultze (1980), Holger Gerlach (1974) und André Eminger (1979). Die Bundesanwaltschaft warf den Männern vor, Waffen, Wohnungen, Geld oder Ausweise für die Terrorzelle besorgt zu haben. Die Anklage gegen Beate Zschäpe lautete, sie sei gleichberechtigtes Mitglied des NSU gewesen, und habe – obwohl sie wohl an keinem Tatort war – die Morde ihrer Gefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erst möglich gemacht. Als sie am 4. November 2011 erfuhr, dass sich ihre Freunde nach einem Banküberfall in ihrem Wohnmobil erschossen hatten, verschickte sie das Bekennervideo für die Morde. Sie zündete den gemeinsamen Unterschlupf in Zwickau an und stellte sich nach einer tagelangen Odyssee durch die Republik in ihrer Heimatstadt Jena der Polizei. Seitdem saß sie in Haft.

Die Angeklagten zeigten geradezu exemplarisch die verschiedenen Spielarten des deutschen Rechtsradikalismus: Ralf Wohlleben, der politische Funktionär, der eine Karriere in der NPD anstrebte und sich als treusorgender Familienvater und friedliebender Patriot gab, der nur Angst vor Überfremdung habe; Holger Gerlach, der fleißige, aber spielsüchtige, etwas naive Lagerarbeiter, der wie ein Handlanger seinen Freunden bis zuletzt Pässe und Führerscheine zur Verfügung stellte, aber vorgab, nichts von deren Morden gewusst zu haben. André Eminger, der überzeugte Neonazi, der seinen Körper über und über mit Hass-Parolen tätowiert hat, Weihnachtskarten mit germanischen Runen verschickte und im Prozess kein Wort sagte – selbst als er im September 2017 im Gerichtssaal überraschend in Haft genommen wurde. Und Carsten Schultze, der als junger Mann von der rechten Gemeinschaft und dem Männlichkeitskult angezogen war und dann merkte, dass Homosexuelle wie er dort abgelehnt wurden. Schultze stieg schon im Herbst 2000 aus der Szene aus. Zuvor hatte er dem NSU noch die Tatwaffe für neun Morde überbracht. Seine Tat holte ihn elf Jahre später wieder ein.

Beate Zschäpe

Im Mittelpunkt des Prozesses aber stand die Hauptangeklagte. Je nach Sichtweise ist Beate Zschäpe die rechtsextreme Terroristin. Oder die Stellvertreterin, die nur für ihre toten Neonazi-Freunde vor Gericht stand. Oder das verführte, abhängige Mädchen. Oder gar die Marionette der Geheimdienste, so eine beliebte Deutung rechtsextremer Kreise. Es gab viele Prozessbeteiligte, die sagten, es sei doch klar, dass Zschäpe nicht die Geisel des NSU war, sondern eher die Kraft, die alles zusammenhielt. Dass ein heimliches Leben, bei dem man so aufeinander angewiesen ist wie Zschäpe und ihre Männer, nur aufrechtzuerhalten ist, wenn ein gemeinsames Ziel die drei zusammenschweißte. Geselliges Prosecco-Trinken mit den Nachbarn oder Radfahren im Urlaub, so wie Zschäpe das erzählte, konnte es kaum gewesen sein, so sah es auch der psychiatrische Gutachter Henning Saß, der Zschäpe vier Jahre lang beobachtet und ihr Verhalten analysiert hat. Er hielt sie für eine selbstbewusste, eigenständige Frau, die andere manipulieren konnte. Saß sah sie als voll schuldfähig an und sagte, sie sei auch noch immer gefährlich.

Der von der Verteidigung Zschäpes aufgebotene psychiatrische Gutachter Joachim Bauer dagegen diagnostizierte bei ihr eine Persönlichkeitsstörung, die sie krankhaft abhängig von ihren Gefährten gemacht habe und deswegen auch unfähig, sich von ihnen zu lösen, obwohl sie immer wieder von ihrem Freund Uwe Böhnhardt geschlagen worden sei. Psychiater Bauer sah Zschäpe als vermindert schuldfähig an und erklärte sogar, sie habe 13 Jahre lang in »verschärfter Geiselhaft« bei ihren Freunden gelebt. In einer E-Mail an eine Zeitung verglich er das Verfahren und dessen mediale Begleitung mit einer Hexenverbrennung und erklärte, man wolle in Zschäpe »das nackte Böse in einem weiblichen Körper« sehen. Die Nebenkläger beantragten, den Psychiater für befangen zu erklären. Das Gericht erklärte ihn tatsächlich für befangen – es war der einzige Befangenheitsantrag im gesamten Prozess, der Erfolg hatte.

Die Anklage sah die Rolle von Zschäpe völlig anders. Die 1975 geborene Frau aus Jena war für die Bundesanwaltschaft ein unverzichtbarer Teil der Terrorzelle – weil sie die Tarnung für die Männer lieferte. Weil bei ihr der sichere Rückzugsort war, an den Mundlos und Böhnhardt nach den Morden zurückkehren konnten. Für den Generalbundesanwalt galt: Die Frau war nicht nur Helferin, sie war gleichberechtigte Mittäterin ihrer Männer, selbst wenn sie nicht selbst getötet hatte und an keinem Tatort beobachtet worden war. Das ist nichts wirklich Neues: Bereits in etlichen Prozessen gegen die RAF hatten Gerichte Angehörige der Terrororganisation wegen der Mittäterschaft bei Anschlägen verurteilt, obwohl sie nicht selbst geschossen hatten. Sie galten als Mittäter, weil sie einem Kommando angehört und den Anschlag gewollt hatten. Um als Mörder verurteilt zu werden, muss man nicht selbst den Finger am Abzug gehabt haben – das hat die Rechtsprechung gegen die Kommandos der Rote Armee Fraktion gezeigt.

Das Gericht hat das am Ende ähnlich gesehen und Zschäpe zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt – für die Richter war sie gleichberechtigte Mittäterin ihrer Männer. Götzl zeichnete in seinem Urteil das Bild einer Terrorbande, die sich von Anfang an dazu verabredet hatte, eine Mordserie gegen Ausländer und Repräsentanten des Staates zu begehen, um eine Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus zu schaffen. Die Taten sollten aber verübt werden, ohne sich dazu zu bekennen. Und zwar aus einem besonderen Grund: Man wollte erst später ein Bekennervideo veröffentlichen, weil die Gruppe »die Machtlosigkeit des Sicherheitsapparats und die Schutzlosigkeit der angegriffenen Bevölkerungsgruppe zeigen wollte.« Richter Götzl erklärte, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hätten von vorneherein die Absicht gehabt, im Untergrund eine terroristische Vereinigung zu bilden und ihre ausländerfeindliche Gesinnung durch Gewalttaten zum Ausdruck zu bringen. Zschäpe hatte nach Überzeugung des Gerichts die Aufgabe, die Videos nach dem Auffliegen der Bande zu verschicken und die Hinweise auf die Taten und mögliche Helfer im gemeinsamen Unterschlupf zu vernichten, indem sie in der Wohnung Feuer legen sollte. Um diesen Auftrag zu erfüllen, musste sie sich während der Straftaten ihrer Freunde in der Nähe der Wohnung aufhalten.

Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts München bestätigen, stehen Beate Zschäpe noch mindestens 20 Jahre Haft bevor – zusätzlich zu den sechseinhalb Jahren, die sie bis zum Urteil bereits abgesessen hatte. Denn die besondere Schwere der Schuld bedeutet, dass sie nicht schon nach 15 Jahren im Gefängnis Aussicht auf ein Leben in Freiheit hat. Das Gericht blieb bei Zschäpe nur in einem Punkt hinter den Forderungen der Bundesanwaltschaft zurück: Es verhängte nicht die Sicherungsverwahrung gegen sie. Das fand Richter Götzl »nicht unerlässlich«.

Die lebenslange Haftstrafe für Beate Zschäpe überdeckte zunächst die aus Sicht vieler Prozessbeobachter erstaunlich milden Strafen für die anderen Angeklagten. Ralf Wohlleben, der den NSU wie die Spinne im Netz unterstützt und die Tatwaffe für neun Morde vermittelt hatte, erhielt zehn Jahre – zwei Jahre weniger als von der Bundesanwaltschaft gefordert. Er hatte schon sechs Jahre und acht Monate abgesessen und kam bereits eine Woche nach dem Urteil vorläufig frei. Der bekennende Neonazi André Eminger, für den die Bundesanwaltschaft ebenfalls zwölf Jahre Haft gefordert hatte, wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Das Gericht hob seinen Haftbefehl auf, er verließ das Gericht als freier Mann. Seine Freunde und Unterstützer, die am Tag der Verkündung auf der Besuchertribüne saßen, klatschten und johlten dazu. Auch Holger Gerlach, der seinen Freunden jahrelang den Pass und seinen Führerschein überlassen hatte, bekam drei Jahre Haft – zwei weniger als gefordert. Nur der Angeklagte, der seine Taten offen bereut hatte, der Aussteiger Carsten Schultze, erhielt keine mildere Strafe als von der Anklage beantragt. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren Jugendhaft. Er war der einzige, der auf alle Fragen geantwortet und sich selbst schwer belastet hatte. Einige Familien der Opfer hatten das Gericht gebeten, ihn milde zu bestrafen, weil sein Gewissen ihn schon genug strafe.

Viele Angehörige der Opfer hatten bereits zu Beginn des Prozesses betont, es gehe ihnen nicht um eine möglichst hohe Strafe für die Angeklagten. Was sich aber die Angehörigen unbedingt erhofften – dies machten ihre Anwälte immer wieder deutlich – war die Antwort auf eine quälende Frage: die Frage, warum ausgerechnet ihr Mann, ihr Bruder, ihr Sohn getötet wurde. Doch Zschäpe hatte als Angeklagte das Recht, zu schweigen. Dieses Recht hat sie 248 Tage lang in Anspruch genommen. Am 249. Tag hat sie eine Erklärung abgegeben, 54 Seiten lang, vorgelesen von ihren Anwälten. Darin stellte sie sich als Opfer des NSU dar, emotional erpresst von ihren Freunden, die damit drohten, sich zu erschießen, wenn Zschäpe sie verließe. Sie selbst habe die Morde abgelehnt und auch immer erst hinterher davon erfahren, ließ sie vortragen. Das Motiv für die Taten: Mundlos und Böhnhardt hätten gesagt, ihr Leben sei ohnehin »verkackt« gewesen. Für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter hat es laut Zschäpe nur einen Grund gegeben: Die Männer wollten eine moderne Polizeipistole erbeuten. Und die Raubüberfälle – die habe sie in Kauf genommen, ließ Zschäpe erklären, schließlich habe die Gruppe während der mehr als 13 Jahre im Untergrund ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Die Bekennervideos habe sie nach dem Tod ihrer Gefährten nur deswegen verschickt, weil sie es den beiden einst versprochen hatte.

Im Herbst 2016 hatte Zschäpe schließlich selbst das Wort ergriffen und erklärt, sie verurteile die Taten von Mundlos und Böhnhardt. Sie beurteile Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder ihrer politischen Einstellung, sondern nach ihrem »Benehmen«. Sie bedauere ihr eigenes Fehlverhalten. Dann schwieg sie erneut fast zwei Jahre – bis zu ihrem letzten Wort am 3. Juli 2018. Bei dieser Gelegenheit äußerte sie, ihr täten die Taten ihrer Freunde leid, sie empfinde Mitleid mit den Angehörigen der Opfer und habe sich von der rechten Szene abgewandt. Gleichzeitig erklärte sie, sie akzeptiere die politische Gesinnung ihrer Mitangeklagten. Sie ignorierte dabei, dass genau diese Gesinnung erst das Leid verursacht hatte, das sie nun beklagte.

Zschäpes Worten stehen Aussagen Hunderter Zeugen entgegen, die im Gerichtssaal gehört wurden. Sie sprachen darüber, wie Zschäpe mit ihnen über »Germanenkunde« debattierte, mit ihnen ihr selbstgemachtes rassistisches Spiel »Pogromly« spielte, in dem auf die Gräber von Juden »gekackt« wurde, wie sie ihnen ihre Schreckschusswaffe zeigte, die sie liebevoll »Wally« nannte. Im Gerichtssaal traten auch Nachbarn und Freundinnen auf, mit denen sie sich zum Prosecco zusammengesetzt hat, unter einem Hitlerbild im Keller. Urlaubsfreunde berichteten als Zeugen von ungetrübter Harmonie unter den drei Freunden Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Und ihr Cousin, mit dem Zschäpe aufgewachsen war, erklärte, seine Cousine habe ihre Jungs »im Griff« gehabt. Sie selbst hat sich während des Prozesses mit ihren drei ursprünglichen Verteidigern zerstritten und sich einen neuen, vierten Pflichtverteidiger vom Gericht erkämpft, der sie seit Sommer 2015 vertrat. Zusätzlich wurde sie von einem Wahlverteidiger beraten. Ihre alten Verteidiger grüßte sie nicht, beachtete sie nicht, schwieg sie an, obwohl die sich weiter für ihre Rechte einsetzten. Sie hielt das drei Jahre lang durch, bis zum Urteil.

Doch vor dem Oberlandesgericht München ging es nicht nur um Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten. Es ging um die Republik. Um ihre Sicherheitsbehörden. Um die Justiz. Um die Demokratie. Es ging um Hass und Gewalt und die Grundfesten des Staates.

Die Erkenntnisse aus dem NSU-Prozess

Je nachdem, wie man den Scheinwerfer in diesem Prozess ausrichtete, konnte man sehen, wie der Staat, der behauptet, für die Sicherheit seiner Bürger sorgen zu können, blind war gegenüber dem Terror von rechts. Tino Brandt, ein V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes, hatte die rechte Szene finanziert und ermuntert, viele andere V-Leute hatten in der Szene mitgemischt. Doch Verfassungsschutz, Polizei und Justiz erkannten trotz ihrer Quellen nicht, was sich da zusammenbraute.

Der Prozess hat gezeigt, dass sich viele Vertreter aus Polizei und Verfassungsschutz bis heute damit schwertun, sich und anderen ihr Versagen einzugestehen. Ein Polizist lobte sich, wie freundlich er mit einer Opferfamilie Tee getrunken hatte und erzählte erst auf Nachfrage, dass diese Familie gleichzeitig abgehört wurde. Ein Ermittler erklärte zur Frage, warum die Polizei so lange gegen die Familien der Opfer ermittelt und alle Hinweise auf einen rechtsextremistischen Ursprung der Taten ignoriert hatte, ungerührt: Man solle doch nicht so tun, als wenn es keine türkische Mafia gäbe. Polizeizeugen sagten vor Gericht immer wieder, sie selbst hätten alles richtig gemacht, als sie allein die Angehörigen der türkischstämmigen Opfer für verdächtig hielten.

Der Prozess hat vorgeführt, wie Rechtsradikale immer noch verniedlicht werden – wie schon seit den 1990er Jahren, als der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf sagte, die Menschen in Sachsen seien »immun gegen Rechtsextremismus«. In einer paternalistischen Geste taten viele West-Politiker damals das offen zur Schau getragene rechtsradikale Gedankengut in den neuen Ländern als Kinderei ab, die sich schon auswachsen werde. Bis heute verharmlost die Gesellschaft rechte Übergriffe als Dumme-Jungs-Streiche und redet rassistische Morde als Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten klein. Erst wenn, wie in Dresden, der Rassismus die Touristenzahlen dezimiert, wird die antidemokratische Haltung weiter Kreise der Bevölkerung als Problem wahrgenommen.

Im Prozess konnte man sehen, wie die Helfer und Sympathisanten des NSU noch immer eine verschworene Gemeinschaft bilden. Es traten alte Freunde von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vor Gericht auf, die mit den dreien über Gewalt geredet, fremdenfeindliche Straftaten vorbereitet und begangen, ihnen beim Untertauchen geholfen hatten. Doch vor Gericht konnten sie sich angeblich an nichts mehr erinnern.

Im Prozess wurde klar, dass all die Menschen im Umfeld des NSU – die Nachbarn, die Freundinnen, der Hausmeister – nichts bemerkt haben wollten vom Treiben der Bande, aber auch von all dem rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Gedankengut, das in Ostdeutschland nach der Wende verbreitet und offen zur Schau gestellt wurde. Alles sei ganz normal gewesen, berichteten die Zeugen vor Gericht. Es war für sie normal, dass der Ehemann auf seinem Bauch »Skinhead« tätowiert hat. Es war für sie normal, dass der Mann der Nachbarin auf seinem Facebook-Account das Gedicht stehen hatte: »Der Ali hat Kohle, der Hassan hat Drogen, wir Deutschen zahlen und werden betrogen.« Nein, deswegen seien sie doch nicht rechtsradikal, sagte die Nachbarin. Auch Beate Zschäpe sei »ganz normal« gewesen. »So wie alle.« Die vietnamesische Schwägerin eines Bewohners traute sich dann irgendwann nicht mehr ins Treppenhaus, das an der Wohnung von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos vorbeiführte.

Vor Gericht wurde nicht nur der Werdegang der Angeklagten seziert, da wurden die Biographien von Unternehmern aus Chemnitz, von Personalsachbearbeitern aus München, Baggerführern aus Jena, Handwerkern aus Zwickau erhellt, vermeintlich unbescholtene Bürger – bis hinter der wohlanständigen Fassade ihre braune Vergangenheit und ihre Gegenwart als Demokratie-Verächter hervorblickten. Man sah, aus welchem Reservoir sich Gruppen wie Pegida und Parteien wie die rechte AfD ihre Anhänger schöpfen.

Man konnte aber auch erkennen, dass es Menschen gibt, die sich trotz ihrer Verstrickung aus der Szene lösten wie der Angeklagte Carsten Schultze, der gestanden hat, dem NSU die Tatwaffe für neun Morde überbracht zu haben, aber dann mit der rechten Szene brach, sein Coming-Out hatte und ein neues Leben anfing: Er studierte Sozialpädagogik und arbeitete in Düsseldorf bei der Aidshilfe. Vor Gericht würgte er Stück für Stück seiner Erinnerungen heraus und belastete sich selbst schwer. Als ihm die Familie eines Getöteten im Gerichtssaal vergab, brach er in Tränen aus.

In diesem Prozess schieben sich verschiedene Schichten übereinander – all die Fehler, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung gemacht worden sind. Die Einsamkeit der Jugendlichen, deren Eltern mit der Wende so viel zu tun hatten, dass sie keine Zeit mehr hatten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die Kinder, die dann gegen die Eltern revoltierten – mit der größtmöglichen Provokation, dem Bekenntnis zum Rechtsradikalismus. Vieles kam zusammen: die bröckelnden Autoritäten der DDR, deren frühere Volkspolizisten von den Jungen nur noch mit Spott bedacht wurden. Die West-Importe, die die Behörden in den neuen Bundesländern aufbauen sollten und doch oft nur in den Osten weggelobt worden waren. Die Verunsicherung in den Behörden, was denn nun noch galt und was nicht mehr. Die Nachsicht der Justiz gegenüber den jungen Leuten, die sich doch erst finden mussten in der neuen Welt und die doch klare Ansagen gebraucht hätten. Und all jene Lokalpolitiker, die Rechtsradikale nie bei sich im Ort entdeckten, sondern höchstens im Nachbardorf. Aber dort ging es sie ja nichts an.

Die gefriergetrocknete Welt des Gerichts

Mit großer Präzision, aber mit einem Mindestmaß an Emotion leuchtete das Gericht in München einen Abgrund an Hass, Gewalt und Versagen aus. Die Welt des Münchner Gerichtssaals war eine sehr eigene Welt. Eine Welt wie gefriergetrocknet, in der die Gefühle der Zeugen, der Opfer, der Angehörigen, der Angeklagten durch den Richter sorgfältig extrahiert und dann juristisch vakuumverpackt wurden, so dass nichts mehr stören konnte bei der Suche nach den Fakten. Gefühle waren im Gerichtssaal A101 nicht vorgesehen, sie wurden kurz abgefragt, notiert, dann ins Regal gelegt, zu den anderen Akten. Dieser Prozess verwandelte Hass in Schweigen, Wut in Fragen, Verzweiflung in Beweisanträge. Ein Raum der Regeln. Aseptisch. Wie unter dem grellen Licht über einem Operationstisch wurde im fensterlosen Gerichtssaal eine monströse Reihe von Verbrechen seziert, unter denen Opfer und Hinterbliebene noch immer leiden. Und so sehr die Strafprozessordnung die Regeln vorgibt, so sehr das Gericht versuchte, die Gefühle zu bannen – sie kamen doch beklemmend nahe.

»Reden Sie«, beschwor die Mutter des getöteten Halit Yozgat die Angeklagte. Eindringlich sah die Frau mit dem blauen Kopftuch Beate Zschäpe an. Seit dem Tag, als ihr Sohn im April 2006 getötet wurde, könne sie keine Nacht mehr schlafen. »Sie sind auch eine Dame«, sagte die Mutter zu Zschäpe. »Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann.« Zschäpe schaute die Frau nicht an. Erst in ihrem Schlusswort wurde klar, dass die Worte der Mutter sie berührt hatten. Sie sei »ein mitfühlender Mensch«, sagte Zschäpe im Juli 2018 zu Mutter Yozgat. Einmal stürzte der Vater von Halit Yozgat nach vorn, warf sich auf den Boden des Gerichtssaals, direkt vor Zschäpe, und zeigte, wie er sein »Lämmchen« gefunden hat. Zschäpe erschrak, senkte den Blick in ihren Laptop. Der Vater am Boden schluchzte auf. Der Sohn, gerade 21, war damals in seinen Armen gestorben.

Es waren Zeugenaussagen wie diese, die für die regelmäßigen Beobachter und Besucher des Prozesses zu den eindringlichsten Ereignissen gehörten. Da gab es die verstörte Witwe eines Opfers, die nicht verstand, was sie noch vor Gericht sagen sollte – nachdem ihr Leben vor 14 Jahren zerstört worden war. Sie herrschte den Richter an, er solle doch Zschäpe fragen, »diese Frau« – sie selbst sei wie eine Verdächtige behandelt worden. Da war der Kollege der getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter, der sich in den Gerichtssaal tastete, weil er seit dem Anschlag des NSU das Gleichgewicht nicht mehr halten kann. Er hatte durch den Schuss der Täter schwerste Kopfverletzungen erlitten, sich dennoch danach durch ein Studium gekämpft, um weiter als Polizist arbeiten zu können – im Innendienst. Jedes Mal, wenn er einen Streifenwagen sehe, so gab er zu Protokoll, bange er nun, ob die Besatzung heil nach Hause kommen werde.

Und da war die junge Frau, die als 19-Jährige kurz vor dem Abitur im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern in der Kölner Probsteigasse aushalf. Ein Kunde hatte scheinbar eine Christstollendose im Laden vergessen, seit Wochen stand sie unberührt da. Das Mädchen öffnete die Dose. Als die Bombe explodierte, verbrannte sie die Haare der jungen Frau, zerschnitt ihr Gesicht, schweißte ihr die Augen zu und zerfetzte die Trommelfelle. Aber sie überlebte. Und machte noch im gleichen Jahr das Abitur nach. Sie hat dann studiert und ist heute Chirurgin. Auch ihre Geschwister haben studiert, längst sind alle Deutsche geworden. Die Eltern waren vor Jahren aus dem Iran geflohen. Als die junge Chirurgin am 118. Verhandlungstag als Zeugin vor Gericht aussagte, wurde sie gefragt, ob sie nach dem Anschlag daran gedacht habe, Deutschland zu verlassen. Sie antwortete: Ja, kurz. Doch dann habe sie überlegt, dass die Attentäter genau das bewirken wollten. Und sie sagte: »Nein, jetzt erst recht! Ich lasse mich mit Sicherheit nicht aus Deutschland rausjagen.«

Der NSU-Prozess war auch geprägt von Einsilbigkeit und Schweigen. Vor allem dann, wenn Zeugen aus der rechten Szene vor Gericht erschienen waren. Es waren viele. Sie ließen die Fragen des Gerichts abtropfen an ihren Lederwesten und Szene-T-Shirts, auf denen ständig von »Freedom« die Rede war und auf denen Adler prangten. Über Stunden gaben sie nur Wortfetzen von sich: »Nein«, »nicht dass ich wüsste«, »kann mich nicht erinnern«, »keine Ahnung«. Es waren zermürbende Tage, vor allem für die Opfer-Angehörigen. Sie mussten erleben, wie viele dieser Zeugen den Morden an ihren Männern und Vätern mit demonstrativer Gleichgültigkeit begegneten und kaum Bereitschaft zeigten, ihren Teil zur Aufklärung der Straftaten beizutragen.

Zermürbung

Über mehr als fünf Jahre zog sich dieser Prozess der Erkenntnis – und er trat vom Stadium der Hoffnung auf Aufklärung allmählich in das Stadium der Zermürbung ein. Anfangs hofften noch alle darauf, dass die Hauptangeklagte Zschäpe ihr Schweigen brechen und die Hintergründe der Mordserie preisgeben werde. Dann brachten einzelne Angeklagte mit ihren Geständnissen Bewegung in den Prozess, die Hintergründe des NSU wurden sichtbar. Ein Brandgutachter führte mit mehr als 1000 Fotografien durch den ausgebrannten Unterschlupf und in den Alltag der Terrorzelle. Er führte das Gericht Bild für Bild von der Küche, wo im Kühlschrank noch der Prosecco stand, bis zum Katzenzimmer mit dem Kratzbaum für die zwei Katzen. Und er zeigte Fotos vom Wandtresor, in dem die Handschellen der getöteten Polizistin Kiesewetter lagen, davor im Brandschutt mehrere Waffen.

Auf die Zeit der erschütternden Berichte der Opferfamilien über ihr Leid und ihre Diskriminierung durch die Ermittlungsbehörden folgte die Zeit der juristischen Ränke, der Streit um Zschäpes Verteidiger, die sie ablehnte, aber nicht loswurde. Es begann ein ewiges Hin und Her, Befangenheitsanträge, Gegenvorstellungen, Fragenkataloge, Gutachter, Gegengutachter, Anträge zu Anträgen. Das Gericht ließ sich auf ein zeitraubendes Frage- und Antwort-Spiel mit Zschäpe ein. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl stellte ihr mündlich Fragen, ihr Anwalt schrieb alles mit. Nach drei, manchmal nach sechs Wochen präsentierte der Anwalt dann Zschäpes Antworten auf die Fragen. Dann schrieben die Richter mit. Dann folgten wieder Nachfragen, wieder drei Wochen Zeit, wieder die ausgefeilten Antworten. Spontane Reaktionen der Angeklagten waren so ausgeschlossen, dafür gab es juristisch ausgefeilte Erklärungen.

Als der Prozess begann, stöhnten die Verantwortlichen am Oberlandesgericht (OLG) München. Die Opferfamilien wollten am Prozess teilnehmen, doch der größte Saal war zu klein. Also baute das OLG den Saal aufwändig um, verbannte die Journalisten und die Besucher auf die Tribüne, schuf Platz für rund 60 Nebenklagevertreter, baute Leinwände ein, auf die die Zeugen projiziert werden konnten, damit auch alle sie sehen konnten. Und das Gericht begrenzte den Zugang zum Gerichtssaal: 51 Besucher hatten dort Platz und 50 Journalisten. In einem sogenannten Windhundverfahren mussten sich die Medienvertreter um die Plätze bewerben – wer als erster kam, hatte einen Platz. Innerhalb kürzester Zeit waren alle Plätze weg. Das war zu schnell für ausländische Medien. Erst das Bundesverfassungsgericht sorgte dafür, dass auch türkische Journalisten zum Zug kamen. Das Akkreditierungsverfahren wurde neu aufgerollt. Der Prozess begann holprig, der Beginn wurde um zwei Wochen verschoben.

So einen Prozess hatte es noch nie gegeben: fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, 600 Zeugen, 500 000 Blatt Ermittlungsakten. Das Oberlandesgericht München trieb vor allem die Sorge um, die mehr als 60 Nebenklagevertreter würden das Verfahren unübersichtlich und undurchführbar machen. Doch die Sorge erwies sich als unbegründet. Die Anwälte der Nebenklage waren sehr diszipliniert und arbeiteten zielorientiert und konstruktiv. Es bildeten sich Teams, die sich arbeitsteilig an die Begleitung des Prozesses machten: Die Berliner um Sebastian Scharmer, Peer Stolle und Antonia von der Behrens, die Frankfurterin Seda Başay, die mit Mehmet Daimagüler aus Berlin zusammenarbeitete. Die Hamburger Thomas Bliwier, Doris Dierbach und Alexander Kienzle. Eberhard Reinecke und Edith Lunnebach aus Köln. Und die Münchner Yavuz Narin und vor allem Angelika Lex, die bis zu ihrem frühen Tod im Dezember 2015 die Nebenklagearbeit koordinierte. Zu ihrer Beerdigung kam auch Richter Götzl.

Manche der Nebenkläger machten sich selbst auf die Suche nach Beweisen, die das Bundeskriminalamt übersehen hatte. Und wurden fündig. Manche von ihnen schürften tief in der rechten Szene nach Mitwissern und Unterstützern des NSU und brachten erstaunliche Fakten zutage. Manche von ihnen fragten so pointiert, dass Widersprüche bei den Aussagen der Zeugen offen zutage traten. Aber es gab auch viele Nebenklage-Anwälte, die ihre Zeit im Gerichtssaal nur absaßen und die Sitzungsgelder einstrichen. Und einer vertrat gar eine Mandantin, die es gar nicht gab. Das flog auf, als diese Frau vor Gericht erscheinen sollte.

Die Nebenkläger trieben den Prozess voran, dagegen hielt der Streit um die Verteidiger von Beate Zschäpe das Verfahren über Monate auf. Im Sommer 2015 hatte Zschäpe plötzlich einem Justizwachtmeister mitgeteilt, sie habe kein Vertrauen mehr in ihre drei, von ihr selbst ausgewählten Verteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm. Sie wollte zwei neue. Ihre alten überzog sie mit einer Strafanzeige und blickte sie von diesem Moment an nicht mehr an. Kein Gruß, kein Wort, obwohl sie Ellenbogen an Ellenbogen saßen. Das Gericht gestand ihr am Ende einen neuen Anwalt zu, Mathias Grasel. Ihren zweiten, Hermann Borchert, zahlte das Gericht nicht. Borchert erschien deswegen nur hin und wieder im Gerichtssaal, war aber gleichwohl der Mann, der Zschäpes Verteidigung lenkte. Weil er im Urlaub war, musste das Gericht im Herbst 2015 drei Wochen lang auf die avisierte Erklärung von Zschäpe warten. Gleichwohl mussten die alten drei Verteidiger weitermachen – das Gericht lehnte es ab, sie aus der Pflicht zu entlassen. Sie versuchten, Zschäpe zu verteidigen – obwohl ihre Mandantin das nicht wollte. Viele ihrer Anträge wirkten nach Ansicht von Prozessbeteiligten recht formalistisch. Einen Befangenheitsantrag stellten sie, weil ihnen das Gericht angeblich nicht genügend Vorschuss zahlte, einen anderen, weil auf dem Aktenordner eines Richters das Wort NSU stand – wo doch ihrer Ansicht nach noch nicht erwiesen war, dass es den NSU überhaupt gab. Alle diese Befangenheitsanträge wurden abgelehnt. Am Schluss war Heer, Stahl und Sturm wichtig zu beweisen, dass sie auch unter widrigen Umständen professionell weiterarbeiten. Schließlich stand auch ihre Reputation auf dem Spiel.

Andere Verteidiger wie die des früheren NPD-Funktionärs Ralf Wohlleben versuchten offensichtlich, mit deutlich rechts konnotierten Anträgen bei ihrer Klientel zu punkten. So beantragten sie zum Beispiel einen Demografie-Wissenschaftler zu hören. Er sollte erklären, dass der Begriff »Volkstod«, den Rechtsradikale häufig benutzen, nichts anderes als eine demografische Zwangsläufigkeit sei, wenn weiter Ausländer zuwanderten. Das Gericht lehnte diesen wie auch viele andere Anträge dieser Art ab. Im Plädoyer eines Wohlleben-Verteidigers bekam das Gericht dann sogar reihenweise Hitler- und Göring-Zitate zu hören. Die Anwälte von André Eminger schwiegen fast durchgängig, auch die von Holger Gerlach hielten sich sehr zurück. Und die Anwälte Johannes Pausch und Jacob Hösl, die den Aussteiger Carsten Schultze vertraten, begleiteten ihren Mandanten zu einem frühen und umfassenden Geständnis. Schultze belastete den Angeklagten Wohlleben schwer, deswegen versuchten dessen Anwälte, Schultzes Glaubwürdigkeit zu untergraben. Weder die Bundesanwaltschaft noch das Gericht ließen sich dadurch beeindrucken, der Angeklagte Schultze war mit seinen Aussagen einer der wichtigsten Zeugen des ganzen Prozesses.

Die Angehörigen

Immer wieder wurde in diesem Prozess deutlich, wie sehr sich die Jahre voll ungerechtfertigter Verdächtigungen bei den Angehörigen der Opfer eingegraben haben: Die Ermittler hielten sie für verstockt, für eingesponnen in Mafia-Kreise, in den Drogenhandel. Ihre Nachbarn wurden befragt, ob sie von Liebschaften, Spiel- oder Sex-Sucht der Getöteten wüssten. Die Hinterbliebenen waren beschämt und trauten sich jahrelang nicht mehr auf die Straße. Der Witwe des ersten Mordopfers Enver Şimşek hatten Polizeibeamte ein Bild mit einer blonden Frau gezeigt und erklärt, das sei die heimliche Geliebte ihres Mannes. Er habe zwei Kinder mit ihr. Kein Wort war wahr. Die Witwe war schon dankbar, als ihr ein Polizist nach Monaten sagte, das sei nur eine Finte gewesen, man habe gehofft, so das »Schweigekartell« der Familie zu erschüttern. Auf die Familie Yozgat, deren Sohn in Kassel ermordet worden war, wurde ein verdeckter Ermittler angesetzt, die Anschlüsse von Eltern und Geschwistern wurden monatelang überwacht. Die Witwe eines Mordopfers in München sollte auf Drängen anderer Eltern ihre Tochter von der Schule nehmen. Die Eltern hatten Angst, der Täter aus »türkischem Milieu« könnte auch ihre Kinder treffen, wenn sie in der Pause auf dem Schulhof spielten.

Die Opferfamilien empfanden die Enttarnung des NSU geradezu als Befreiung von einem Alpdruck. Sie erschienen immer wieder im Prozess, um mehr zu erfahren. Sie erlebten, wie das Gericht herausdestillierte, dass die Mordwaffe, eine Česká 83, von einem Waffenhändler in der Schweiz über einen krebskranken Zwischenhändler und einen ostdeutschen Freund in die rechte Szene von Jena gelangte und schließlich dort im Szeneladen Madley an Carsten Schultze übergeben wurde. Und wie der sie dann nach Chemnitz zum NSU brachte. Die Angehörigen hörten im Gerichtssaal, welches Unterstützernetzwerk die drei Untergetauchten hatten. Sie erfuhren, wie rechte Kameraden und Kameradinnen den dreien Wohnungen und Pässe besorgten, für sie Apartments anmieteten, dass der Angeklagte André Eminger Beate Zschäpe sogar als seine Frau ausgab, als sie einmal nach einem Wasserschaden in der Wohnung als Zeugin bei der Polizei aussagen musste.

Viele Angehörige konnten nicht fassen, wie nah Polizei und Verfassungsschutz den drei Untergetauchten immer wieder gewesen waren. Einmal, nach dem Wasserschaden, war Beate Zschäpe sogar im Polizeirevier Zwickau gesessen. Kühn hatte sie behauptet, sie habe in der Wohnung nur die Blumen gegossen. Der Polizist glaubte ihr.

Angeblich wusste keiner, wo sich die drei aufhielten. Dabei war der NSU geradezu umstellt von Spitzeln. Tino Brandt, bestbezahlter V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes, telefonierte sogar mit den untergetauchten Neonazis. Er berichtete darüber dem Verfassungsschutz. Aber Konsequenzen folgten nicht. Auch andere Dienste hatten Spitzel in der Szene, die davon berichteten, die drei wollten nach Südafrika gehen. Auf die Spur aber kamen ihnen die Dienste nicht. Wichtige Informationen wurden nicht beachtet, nicht weitergegeben oder falsch bewertet, V-Leute wurden vor Polizeiaktionen gewarnt. Nicht nur den Angehörigen der Opfer drängte sich angesichts der vom Gericht befragten Verfassungsschutzmitarbeiter und deren V-Männer der Eindruck auf, dass Polizei und Verfassungsschutz fatale Fehler gemacht hatten – auf allen Ebenen und immer wieder.

Obwohl diese Versäumnisse im Prozess offen zu Tage traten, die Fehler der Ermittler vom Gericht ausführlich mitprotokolliert wurden und den Angehörigen der Opfer viel Zeit eingeräumt wurde, um den Schmerz über den Verlust der Ermordeten zu schildern, hinterließ der Prozess bei vielen Nebenklägern einen bitteren Nachgeschmack. Sie hatten dieses Mammutverfahren über all die Jahre verfolgt, waren immer wieder von weit her angereist, hatten Zeit und Kraft geopfert, um dabei zu sein. Sie hatten sich erhofft, dass das Gericht am Ende das Unrecht, das ihnen angetan worden ist, die Unzulänglichkeiten der Behörden und die vielen offenen Fragen im Zusammenhang mit den NSU-Morden zumindest erwähnt. Sie wurden enttäuscht. Richter Manfred Götzl beschränkte sich in seinem nur vier Stunden umfassenden mündlichen Vortrag auf eine knappe, fast kursorische Beweiswürdigung. Kein Wort an die Angehörigen, kein Satz über das Versagen des Staates, nichts zur gesellschaftlichen Bedeutung dieses Verfahrens.

Ein Nebenklage-Anwalt hatte noch wenige Monate vor dem Urteil das Gericht gemahnt: »Ich bin überzeugt davon, dass dieser Senat ein Urteil fällen wird, das der Revision standhält. Ich darf an Sie appellieren: Sprechen Sie ein Urteil, das auch vor der Geschichte Bestand hat.« Er hatte damit vielen Opferfamilien aus der Seele gesprochen. Nach der Urteilsverkündung verließen viele Angehörige das Gerichtsgebäude fassungslos.

Verschwörungstheorien

Aus dem Versagen staatlicher Behörden ist geradezu ein Wald an Verschwörungstheorien gewachsen. Mit jedem neuen Kriminalroman, mit jedem neuen Film, der sich an den NSU-Komplex anlehnt, wächst dieser Wald weiter. Da taucht in vorgeblich authentischen Fernsehfilmen ein V-Mann auf, der berichten kann, wie alles im Innersten zusammenhing – und kurz, bevor er sein Wissen der Polizei preisgeben will, als er mit dem Auto schon auf dem Weg zum Revier ist, jagt jemand den Wagen in die Luft. So einen Vorfall hat es nie gegeben, dennoch ist er bis heute Gegenstand wilder Spekulationen, und das nicht nur auf einschlägigen Internetseiten. In den Geschichten über den NSU wimmelt es von Dunkelmännern, die an Beate Zschäpe nur wie an der Marionette einer Staatsverschwörung ziehen. Gerade Rechtsextremisten versuchen, die gesamte Schuld auf die Behörden abzuwälzen und den NSU als bloße Erfindung des Staates darzustellen. Und ständig wird vom unheimlichen Zeugensterben im Fall NSU geraunt. Dabei haben nachträgliche Ermittlungen sehr viele dieser Verschwörungstheorien widerlegt.

Exemplarisch dafür steht der Fall Florian H. Der 21-Jährige verbrannte 2013 in seinem Auto in Stuttgart. Er wollte schon vor dem Auffliegen des NSU etwas über eine Neonazi-Organisation mit dem Namen NSU gehört haben. Er wurde vernommen, es wurde ermittelt, danach glaubte man ihm nicht mehr: Er nannte den NSU eine der größten Neonazi-Vereinigungen in Deutschland und konnte auch den Ort in seiner kleinen Gemeinde nicht mehr wiederfinden, wo er den NSU angeblich getroffen hatte. Dennoch sollte der Zeuge erneut vernommen werden, doch am Morgen der Vernehmung verbrannte er in seinem Auto. Die Polizei geht von Selbstmord aus. Am Tatort gab es Zeugen, die niemanden sahen außer Florian H. Der hatte sich kurz zuvor an der Tankstelle Benzin gekauft, das er dann entzündete. Der NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg hat sich intensiv mit dem Fall beschäftigt und kam zu dem Ergebnis, dass es keine Anhaltspunkte für einen Mord gibt. Dennoch lebt diese Theorie hartnäckig weiter.

Die Ignoranz, die Schlamperei und die Abschottung der Geheimdienste haben den Argwohn wachsen lassen. Manche Bürger trauen den Sicherheitsbehörden mittlerweile alles zu. Sie haben den Eindruck gewonnen, staatliche Stellen hätten den Terror bewusst und vorsätzlich gedeckt oder sogar gefördert. Solide Belege dafür fehlen. Gut belegt ist aber, dass sich der Staat mit dubiosen Spitzeln aus der rechtsextremen Szene eingelassen hat, die er oft nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und dass er bei der Besetzung von Führungspositionen in den Sicherheitsbehörden geradezu fahrlässig vorging. So galt der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes Helmut Roewer im Kreis seiner Kollegen im Bund und in den Ländern schon lange als Skandalfigur. Als der NSU aufflog, war er schon im Ruhestand, die Versäumnisse seines Amtes in Sachen NSU fielen in seine Zeit.

Der Versuch, die Untergetauchten zu finden, indem man die rechte Szene mit Spitzeln durchdringt, ist im NSU-Fall gescheitert. Rund um den NSU hatte der Verfassungsschutz etliche V-Leute platziert, die angeblich alle nicht genau gewusst haben wollen, wo sich das untergetauchte Trio aufhielt und was es tat. Einige V-Männer, wie Tino Brandt, waren den Gesuchten dicht auf der Spur, zugleich beteiligten sie sich an Hilfsaktionen für das Trio und spendeten sogar Geld – Geld des Steuerzahlers.

Vor Gericht sind einige dieser Spitzel als Zeugen aufgetreten, aber längst nicht alle, die sich rund um den NSU bewegt hatten. Einige V-Männer hielt das Gericht für die strafrechtliche Aufklärung nicht für wichtig genug, so auch den Neonazi mit dem Decknamen »Primus«, der jahrelang in Zwickau gelebt hatte und nachweislich den Angeklagten André Eminger kannte. Es gibt Zeugen, die bekunden, Uwe Mundlos habe nach dem Untertauchen für eine Baufirma dieses V-Mannes gearbeitet – und Beate Zschäpe womöglich in einem von dessen Läden. Erwiesen ist das nicht, vom Gericht aufgeklärt allerdings auch nicht. Die Richter hielten es für die Schuldfrage für irrelevant.

Viele Vertreter der Nebenkläger haben im Prozess immer wieder versucht, mehr Licht in die Aktionen der Behörden und das Treiben der V-Leute zu bringen. Manchmal führte dies zu ungewöhnlichen Koalitionen, denn auch einige Verteidiger drängten zur Aufklärung der Rolle des Staates – um ihre Mandanten zu entlasten. Aus Sicht der Bundesanwaltschaft war die Aufklärung der Staatsverwicklung jedoch die Aufgabe der Untersuchungsausschüsse und nicht des Strafverfahrens in München. Bundesanwalt Herbert Diemer hat solche Anträge fast immer blockiert. Und auch die rechtsradikale Gesinnung von Zeugen tat für ihn nicht wirklich etwas zur Sache. Legendär ist sein Satz: »Wir sind nicht das Jüngste Gericht.«

Ein wunder Punkt bei der Aufklärung ist der Mord an Halit Yozgat in Kassel. Als der 21-Jährige im April 2006 in seinem Internetcafé erschossen wurde, waren mehrere Kunden in dem Laden. Einer von ihnen war Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Er geriet damals unter Mordverdacht, weil er sich nicht als Zeuge gemeldet hatte. Die Ermittlungen gegen ihn wurden jedoch eingestellt. Nach dem Auffliegen des NSU wurde er erneut überprüft. Temme beteuerte stets, vom Mord nichts mitbekommen und auch die Leiche in dem engen Laden nicht gesehen zu haben. Das klingt selbst für einige Polizisten, die in diesem Fall ermittelten, unglaubhaft. Manche Kritiker der Ermittlungen haben sogar über eine Komplizenschaft des Beamten mit den Tätern spekuliert oder suggeriert, er sei selbst der Mörder gewesen. Temme wurde gleich sechs Mal im NSU-Prozess gehört. Am Ende glaubte ihm das Gericht. Die Familie Yozgat sieht es anders und hat das vor Gericht wiederholt geäußert. Und der detaillierte Nachbau des Internetcafés durch ein britisches Expertenteam der Gruppe »Forensic Architecture« auf der Documenta in Kassel hat ergeben, dass Temme den Schuss gehört und die Leiche gesehen haben muss – bis auf ein sehr unwahrscheinliches Zeitfenster von circa 40 Sekunden, in dem er schon weg gewesen sein könnte und die Mörder noch nicht da. Dass er aber Kontakte zum NSU gehabt hat, das konnten auch diese Experten nicht belegen.

Rund um den NSU ranken noch viele Gerüchte. So sollen Zschäpe, Mundlos oder Böhnhardt selbst V-Leute des Geheimdiensts gewesen sein – Belege dafür existieren nicht. Mundlos und Böhnhardt sollen sich nicht selbst im Wohnmobil getötet haben, sondern von einem geheimnisvollen Dritten exekutiert worden sein – auch dafür fehlen Belege. Erleichtert werden die Spekulationen aber dadurch, dass die Behörden bei der Spurensicherung geschlampt haben. So ist das Wohnmobil, in dem die Leichen von Mundlos und Böhnhardt gefunden wurden, frühzeitig vom Tatort weggeschleppt und erst danach durchsucht worden. Dadurch könnten die Spuren im Inneren des Wohnmobils verändert worden sein.

Verschwörungstheorien ranken sich auch um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn getötet wurde. Als Schützen gelten Mundlos und Böhnhardt, das Blut von Kiesewetter wurde an einer Hose von Mundlos im Katzenzimmer in Zwickau gefunden. Auch Zschäpe hat erklärt, ihre Gefährten seien die Täter gewesen. Doch noch immer wird von der Verwicklung eines amerikanischen Geheimdienstes geraunt. Das lässt sich bisher allerdings in keiner Weise belegen. Der einzige Bezugspunkt zum NSU ist, dass die getötete Polizistin wie Mundlos und Böhnhardt aus Thüringen stammte. Belastbare Hinweise, dass sie sich kannten, gibt es nicht.

Manchmal führen spektakuläre neue Spuren nur in die Irre. So wurde im Herbst 2016 plötzlich eine DNA-Spur entdeckt, die Uwe Böhnhardt mit dem Mord an der neunjährigen Peggy aus Oberfranken in Verbindung brachte. Das Kind war im Jahr 2001 spurlos verschwunden, seine Überreste im Sommer 2016 gefunden worden. Direkt am Fundort der Leiche wurde DNA von Uwe Böhnhardt gefunden. Erst Monate später stellte sich heraus, dass die Thüringer Polizei das identische Gerät am Fundort von Peggy und bei der Bergung der Leiche von Böhnhardt eingesetzt – und offenbar DNA übertragen hatte. Es war nur einer von vielen Fehlern, die den Behörden unterliefen – so wie bei der Phantomspur in Heilbronn, als verunreinigte Wattestäbchen die Polizei nach dem Mord an Michèle Kiesewetter auf eine falsche Fährte führten.

Auch nach dem Urteil im NSU-Prozess quält viele die Unsicherheit, ob entscheidende Zusammenhänge noch gar nicht erkannt worden sind. So ist die Herkunft der vielen Waffen des NSU immer noch weitgehend ungeklärt. Und auch die Frage, ob es Komplizen, Mitwisser oder Mittäter gab, die bisher nicht bekannt sind, ist unbeantwortet. Es bleibt nach fünf Jahren NSU-Prozess die Erkenntnis: Auch juristische Wahrheit kann immer nur eine Annäherung an die Wahrheit sein.

Das Gericht jedoch hat die Strafverfolgung weiterer Verdächtiger durch sein Urteil zumindest erschwert. Denn es hat André Eminger geglaubt, dem engsten Vertrauten des NSU, wonach er trotz seiner Nähe nicht wusste, dass Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe Morde begingen. Deswegen wurde er auch von der Beihilfe zum versuchten Mord freigesprochen. Nun ist aber auch den anderen Beschuldigten, die nah am NSU dran waren, aber nicht so nah wie Eminger, nur noch schwer der Prozess zu machen. Gerade bei Emingers Frau Susann, der ehemals besten Freundin von Beate Zschäpe, hatten sich die Ermittler zuvor noch einen Erfolg versprochen.

Die Protokolle

Gerade um die Transparenz in diesem Mammut-Verfahren zu gewährleisten, sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass der Prozess per Video oder mit Tonband aufgenommen oder zumindest mitstenografiert wird – so wie das auch bei Debatten im Bundestag geschieht, die man dann auf der Homepage des Bundestags nachlesen kann. Oder wie am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, in dem zusätzlich zum Protokollanten sogar acht Kameras das Prozessgeschehen aufnehmen. Doch eine solche Dokumentation über den NSU-Prozess existiert nicht. Es gibt kein offizielles Protokoll dieses Prozesses, ein Umstand, der selbst vielen interessierten Beobachtern des Verfahrens nicht bewusst war und immer wieder ungläubiges Kopfschütteln erregte.

Es ist in Deutschland – ganz anders als in den USA – bisher verboten, Gerichtsverhandlungen in Ton oder Film aufzunehmen. Und der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat gleich zu Beginn einen entsprechenden Antrag der Verteidigung abgelehnt – damit, wie er sagte, die Zeugen nicht beeinflusst werden und frei aussagen könnten.

Im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts München saßen zwar Protokollanten, aber sie schrieben nur auf, ob Zeugen erschienen und Angaben zur Sache machten. Was die Zeugen aussagten, lässt sich offiziell nirgendwo nachlesen – deswegen kam es bei der Bewertung von Zeugenaussagen schon während des Prozesses wiederholt zu Diskussionen. Verteidiger, Ankläger, auch die Richter schrieben zwar eifrig für sich mit, aber alle nur das, was für ihre eigenen Bedürfnisse wichtig erschien. Und jeder erinnerte sich anders. Schon im Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, wurde beklagt, dass es kein offizielles Protokoll gab. Das Gericht selbst hat dann »zur Stützung des Gedächtnisses« Tonaufnahmen fertigen lassen. Zunächst sollten sie vernichtet werden, erst auf Protest jüdischer KZ-Opfer wurden sie aufbewahrt und später für die Wissenschaft freigegeben, mittlerweile hat sie die UNESCO als Quelle von welthistorischem Rang anerkannt. Aus dieser Erfahrung haben die deutschen Gerichte jedoch bisher kaum Lehren gezogen.

Wer sich später exakt erinnern will, was im wichtigsten Prozess der vergangenen Jahrzehnte wirklich passiert ist, welcher Zeuge gelogen und wer die Wahrheit gesagt hat, der musste sich die Mühe machen, Tag für Tag persönlich im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts an der Nymphenburger Straße in München zu erscheinen und per Hand oder auf dem Laptop mitzuschreiben. Doch schon der Zugang zum Gericht war beschränkt: Die 50 Plätze für Journalisten wurden unter vielen Interessenten verlost. Dem Magazin der Süddeutschen Zeitung ist es gelungen, einen Platz zu erhalten. Daraufhin haben die Autoren Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz und Rainer Stadler die Protokolle Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit dem Laptop auf den Knien tagsüber mitgeschrieben und anschließend an langen Abenden sortiert, geglättet und verdichtet. Das Team hat keinen einzigen der Prozesstage versäumt, vom Beginn am 6. Mai 2013 bis zum Ende am 11. Juli 2018. So sind die NSU-Protokolle entstanden – eine Sammlung von Original-Zitaten und Dialogen als Dokumentation eines in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Prozesses.

Die Protokolle sind nicht durch die interessengeleitete Sichtweise von Anklägern, Verteidigern oder Nebenklägern bestimmt, sie zeigen – soweit das möglich ist – ein unparteiisches, authentisches, weitgehend unkommentiertes Gesamtbild des Prozesses, die Essenz von Hunderten Verhandlungstagen. Redundantes wurde weggelassen, juristische Feinheiten auf das zum Verständnis unbedingt Nötige reduziert, stundenlange Befragungen von wortkargen Zeugen, die alle im Gerichtssaal als quälend empfunden haben, sind auf zentrale Aussagen und Dialoge reduziert. Wegen der historischen Bedeutung des Prozesses war den Autoren von Anfang an bewusst, dass sich die Protokolle nicht nur ans Fachpublikum wenden, sondern auch interessierten Laien zugänglich sein sollten. Allein deshalb erwies sich eine gewisse Straffung der Mitschriften als unumgänglich. Gleichzeitig war es natürlich das Ziel, alle für das Verständnis und die Bewertung des Verfahrens relevanten Inhalte zu dokumentieren, So wurde ein Umfang von knapp 2000 Seiten erreicht. Mehr wären nicht mehr lesbar gewesen, weniger hätten zu viele Lücken gelassen.

Wegen der Persönlichkeitsrechte mussten manche Namen von Zeugen abgekürzt werden, ihre Aussagen, auch ihr Sprachduktus aber blieben unverändert. Aus den Protokollen ertönt ein Chor unterschiedlichster Stimmen: Der Brandsachverständige redet nicht von Ruß, sondern von »thermischer Beaufschlagung«. Die Polizistin sagt, das Opfer sei »ex« gewesen, wenn sie erklären will, dass der Mensch schon tot war, als sie kam. Neonazis sprechen von »national« oder »normal«, wenn sie rechtsradikal meinen. Alle diese Facetten bilden die Protokolle ab. Diese Protokolle sind im wahrsten Sinne Mit-Schriften. Das Gericht hat den Audio-Mitschnitt des Verfahrens verboten. Die Inhalte der Protokolle wurden nach journalistischen Kriterien ausgewählt, nicht nach juristischen. Deswegen ist nicht jeder einzelne Antrag, der für Juristen interessant sein könnte, mit aufgenommen, dafür aber finden sich darin Dialoge, die die Dynamik der Beziehungen unter den Prozessbeteiligten zeigen.

Besonders wichtig war dem Autorenteam, die lebhafte Auseinandersetzung in diesem Prozess zu zeigen: die Wortwechsel zwischen Richter und Verteidigung, die Originaltöne der Zeugen, die beklemmenden Auftritte der Eltern von Opfern und Tätern, kurz: die akribische Suche nach der Wahrheit. So ist dieses Werk entstanden, das gewährleisten will, was eigentlich Aufgabe des Rechtsstaats wäre: jeder interessierten Leserin, jedem interessierten Leser die Möglichkeit zu geben, die Geschehnisse dieses fünf Jahre dauernden Verfahrens nachzulesen und sich anhand dessen ein eigenes Urteil zu bilden.

Die Lehren aus dem Prozess

Der NSU-Prozess hat gezeigt, dass Hass und Gewalt nicht auf die Terrorzelle aus Zwickau beschränkt sind. Wer den NSU-Prozess verfolgt hat, der wundert sich nicht mehr darüber, wie viele »besorgte Bürger« während der Flüchtlingskrise in Clausnitz, Freital und Dresden aufmarschierten, randalierten, einen Bus mit Flüchtlingen umstellten und in Dresden bei der Einheitsfeier den Bundespräsidenten niedergrölten oder kleine Galgen für Kanzlerin Merkel herumtrugen. Der Hass, aus dem die NSU-Morde verübt wurden, ist eingedrungen in die Gesellschaft.

Als der NSU nach zehn Morden, drei Sprengstoffattentaten und 15 Raubüberfällen im November 2011 aufgeflogen war, beschwichtigten etliche Sicherheitsverantwortliche: So eine Terrorserie könne sich in Deutschland nicht wiederholen. Nach diesem Prozess ist klar: Dafür gibt es keine Garantie.

Längst sind neue rechtsradikale Täter aufgetreten. Egal, ob in Salzhemmendorf bei Hannover bis dahin unbescholtene Bürger eine Whatsapp-Gruppe namens »Garage Hakenkreuz« gründeten und dann Molotowcocktails in das Kinderzimmer einer Flüchtlingsfamilie warfen. Egal, ob in Freital in Sachsen sich Busfahrer und Handwerker zu einer Kampfgruppe gegen linke Politiker, Bürgerrechtlerinnen und Flüchtlinge zusammenrotteten – direkt gegenüber der Polizeiwache. Egal, ob Rechtsradikale in einer »Oldschool Society« genannten Terrortruppe Attentate planten. Überall sind ähnliche Denkmuster, Strukturen, Unterstützernetzwerke zu finden wie man sie beim NSU beobachten konnte.

Im NSU-Prozess war die Ursuppe all dieser Ressentiments, dieser Geheimbündelei, dieser sich gegenseitig aufhetzenden Rassisten zu finden – genauso wie die Prototypen der wegschauenden, versagenden Staatsvertreter. In den Protokollen kann nun jede und jeder nachlesen, wie der O-Ton Rechts sich anhört. Mit welchen Worten, welchen Argumenten sich Staatsschützer herauswinden und Terror-Helfer und -Unterstützerinnen abwiegeln. Auch diesen Blick auf die Realität will dieses Werk bieten.

Der Prozess hat gezeigt, dass es eben nicht gereicht hat, wegzusehen, damit rechte Umtriebe verschwinden. Sondern, dass Rechtsradikale durch Verharmlosung stark gemacht wurden und sich sogar stillschweigend unterstützt fühlten, weil ihnen niemand entschlossen entgegentrat. Aus dieser Erkenntnis kann die Gesellschaft Lehren ziehen – für die Gegenwart und für die Zukunft.

ANNETTE RAMELSBERGERWIEBKE RAMMTANJEV SCHULTZRAINER STADLER

DER NSU-PROZESS

DAS PROTOKOLL

BEWEISAUFNAHME

TAG 1–374

Tag 1

6. Mai 2013

Manfred Götzl, 59, Richter. Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl, Verteidiger von Beate Zschäpe.

(Alle Plätze im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München sind belegt, die ersten Besucher standen um zwei Uhr morgens an. Beate Zschäpe wird um 9.56 Uhr in den Saal geführt. Sie steht zwischen ihren Anwälten und dreht den Kameras der Fotografen und Fernsehleute, die bis kurz vor Prozessbeginn Aufnahmen im Gerichtssaal machen dürfen, den Rücken zu. Die anderen Angeklagten sitzen in ihren Bänken, neben ihren Anwälten. Der Angeklagte Carsten Schultze, der im Zeugen schutzprogramm ist, versteckt sein Gesicht unter einem Kapuzenpulli. Nur Ralf Wohl leben und Beate Zschäpe sind in Haft, die anderen drei Angeklagten sind auf freiem Fuß. Kurz vor 10.30 Uhr treten die drei Richter ein, Manfred Götzl, Peter Lang, Konstantin Kuchenbauer, sowie die Richterinnen Michaela Odersky und Renate Fischer, begleitet von drei Ergänzungsrichtern, Gabriele Feistkorn, Peter Prechsl, Axel Kramer. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl ergreift das Wort.)

Götzl(zu den Angeklagten und deren Verteidigern) Guten Morgen! (zu den Vertretern der Bundesanwaltschaft) Guten Morgen! (zu den Nebenklägern) Guten Morgen! (zur Besuchertribüne) Guten Morgen! Bitte nehmen Sie Platz! Ich eröffne die Sitzung des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München. Es kommt zum Aufruf das Verfahren gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze. Ich stelle zunächst die Präsenz fest: die Angeklagte Zschäpe mit ihren Verteidigern Herrn Heer, Herrn Stahl und Frau Sturm. Der Angeklagte Eminger mit seinen Verteidigern Herrn Kaiser und Herrn Hedrich, der Angeklagte Wohlleben mit seinen Verteidigern Frau Schneiders und Herrn Klemke, der Angeklagte Carsten Schultze mit seinen Verteidigern Herrn Hösl und Herrn Pausch, der Angeklagte Gerlach mit seinen Verteidigern Herrn Hachmeister und Herrn Rokni-Yazdi. Die Vertreter der Bundesanwaltschaft Herr Diemer, Frau Greger, Herr Weingarten, Herr Schmidt.

(Dann nennt Götzl die Namen der rund 60 Nebenklagevertreter mit ihren Mandanten. Die meisten Angehörigen der Opfer sind im Saal vertreten, unter anderem die Familie Yozgat aus Kassel, Semiya Şimşek, deren Vater in Nürnberg ermordet wurde, Gamze Kubaşık aus Dortmund, Mustafa Turgut, dessen Bruder Mehmet in Rostock erschossen wurde. Auch Yvonne Boulgarides, die Witwe des einzigen griechischstämmigen Mordopfers. Sie werden mit ihren Anwälten auf zwei großen Leinwänden im Saal gezeigt. Götzl begrüßt den psychiatrischen Sachverständigen Henning Saß von der Universität Aachen. Dann vereidigt der Richter drei Dolmetscher, die ins Türkische übersetzen sollen.

Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl ergreift das Wort. Er will wissen, was aus dem Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Götzl geworden ist, den die Zschäpe-Verteidigung zwei Tage zuvor, am Samstagabend, an das Gericht gefaxt hat. Götzl sieht keine Dringlichkeit, Stahl fordert eine Unterbrechung. Danach einigen sie sich darauf, dass Stahl den 16 Seiten langen Befangenheitsantrag vorliest. Es geht darum, dass Götzl angeordnet hat, dass die Verteidiger beim Betreten des Gerichtssaals durchsucht werden, die Vertreter des Generalbundesanwalts aber nicht.)

Verteidiger Stahl Mit sitzungspolizeilicher Anordnung vom 4.3.2013 hat der abgelehnte Vorsitzende zur störungsfreien Abwicklung der Hauptverhandlung sowie zur Sicherheit der Angeklagten und der übrigen Prozessbeteiligten angeordnet, dass sich sowohl Verteidiger als auch Nebenklagevertreter einer Zugangskontrolle zu unterziehen haben. Das Vorliegen einer allgemeinen Gefährdungslage wird selbstverständlich nicht verkannt. Angesichts der Tatsache, dass Vertreter des Gerichts, der Bundesanwaltschaft, der Polizei und der Justizbeamten nicht durchsucht werden, ist die angeordnete Durchsuchung der Rechtsanwälte aus sich heraus nicht nachvollziehbar. Das Gericht argumentiert, den Verteidigern könnten wegen ihres »besonderen Näheverhältnisses« zur Mandantin unerlaubte Dinge zugesteckt werden. Aber auch andere Prozessbeteiligte sind nicht immun dagegen, unter Druck gesetzt zu werden.

Warum werden die Verteidiger durchsucht, nicht aber die Staatsanwälte, die Richter, die Polizisten? Wenn schon, dann sollten alle durchsucht werden. Sonst ist das diskriminierend gegenüber den Verteidigern. Das Gericht hält die Verteidiger offenbar für zu dumm, als dass sie erkennen könnten, wenn ihnen jemand unerlaubte Dinge zusteckt.

Die angeordnete Durchsuchung stellt einen nicht unerheblichen Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen der betroffenen Rechtsanwälte dar. Das Gericht zeigt eine diskriminierende Haltung gegenüber den Verteidigern. Animositäten zwischen Richtern und Verteidigung sind geeignet, bei unserer Mandantin Misstrauen zu säen, ob die Verteidigung sachgerecht erfolgen kann. Deswegen lehnt unsere Mandantin den Vorsitzenden Richter ab.

(Der Senat beschließt, die Verhandlung dennoch zunächst fortzusetzen. Dann stellt auch Ralf Wohlleben über seine Verteidiger einen umfangreichen Befangenheitsantrag gegen das Gericht.)

Götzl Gibt es noch unaufschiebbare Anträge?

Verteidiger Heer Nicht unaufschiebbar, aber vordringlicher als andere Anträge. (Heer kündigt nun einen Antrag auf Aussetzung der Verhandlung und Verlegung in einen anderen Sitzungssaal an. Die Richter ziehen sich zur Beratung zurück. Als sie wieder im Saal erscheinen, ist Verteidiger Heer noch nicht an seinem Platz. Daraufhin verlassen die Richter wieder den Saal.)

Götzl(zu einem Justizwachtmeister) Läuten Sie erst, wenn alle Prozessbeteiligten da sind.

(Heer erscheint wieder im Saal, kurze Zeit später kehren auch die Richter zurück.)

Götzl Noch irgendwelche Befangenheitsanträge von Ihrer Seite? (Er schaut in die Runde. Alle schweigen.

Dann beendet Götzl den ersten Verhandlungstag. Damit über die Befangenheitsanträge von Zschäpe und Wohlleben entschieden werden kann, streicht das Gericht die für den 7. und 8. Mai vorgesehenen Verhandlungstage.)

Tag 2

14. Mai 2013

Manfred Götzl, Richter. Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Angeklagte. Herbert Diemer, Vertreter der Bundesanwaltschaft. Wolfgang Heer, Anja Sturm, Verteidiger von Beate Zschäpe. Nicole Schneiders, Olaf Klemke, Verteidiger von Ralf Wohlleben. Thomas Bliwier, Sebastian Scharmer