Der Oboist des Königs - Olaf Schmidt - E-Book

Der Oboist des Königs E-Book

Olaf Schmidt

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Beschreibung

Von Leipzig bis in die Harems Konstantinopels: Ein opulenter historischer Roman über die Welt und Weltpolitik des Barock und das abenteuerliche Leben des Johann Jacob Bach, Oboist des Königs von Schweden und älterer Bruder von Johann Sebastian Bach. Der frühe Tod der Eltern lässt Johann Jacob Bach mit seinem jungen genialischen Bruder Johann Sebastian als Waisen zurück. Gemeinsam wachsen sie auf und werden zusammenausgebildet. Schneller noch als alle anderen der weitverzweigten Musikerfamilie Bach sichert sich Johann Sebastian eine einträgliche Kantorenstelle – Johann Jacob dagegen schert aus: Er zieht als wandernder Musikant durch die Lande, trifft Händel, Telemann und andere, wird Mitglied des Collegium Musicum in Leipzig. Bis ihn die weltpolitischen Umwälzungen erfassen, die damals ganz Europa erschüttern: Der tollkühne schwedische Abenteurerkönig Karl XII. erobert große Teile Mitteleuropas. Auch Sachsen ist besetzt – und durch eine Fügung des Schicksals verschlägt es Johann Jacob als Regimentsmusiker in dessen Leibgarde.So gerät er mit auf dessen Russlandfeldzug, der nach sagenhaften Anfangserfolgen in russischen Weiten und Wintern scheitert und in der verheerenden Schlacht bei Poltawa endet, bei der die ausgehungerte schwedische Armee fast vollständig vernichtet wird und der verletzte König Karl und seine Leibgarde sich nur mit Müh und Not retten können – in die Türkei, wo der macht- und mittellose Karl auf Vergeltung sinnt und seine Depressionen mit Musik zu heilen sucht; und wo der Musiker Johann Jacob Bach neue musikalische Welten entdeckt.Raffiniert mischt Olaf Schmidt Fakten und Fiktion. Geschichtliche Figuren und Ereignisse sind minutiös recherchiert, biografische Leerstellen werden fiktional gefüllt.Schmidt verarbeitet geschickt Zitate aus Literatur und anderem Schrifttum der Zeit in Passagen und Dialoge seines Romans.

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Seitenzahl: 764

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Olaf Schmidt

Der Oboist des Königs

Das abenteuerliche Leben des Johann Jacob Bach

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Olaf Schmidt

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungErster TeilI. NachtII. Exodus IIII. Der gottlose KantorIV. Stylus PhantasticusV. Eine Frage der EhreVI. Monsieur de SinclairVII. Exodus IIWelthistorisches Intermezzo IVIII. Kapitän Erichson macht eine folgenschwere EntdeckungIX. Eine Kanaille mit HerzX. Der Löwe aus MitternachtZweiter TeilXI. »Komm, Heiliger Geist«XII. Bei den SchomerimXIII. Der falsche JacobXIV. Pogonotomía heroicaXV. Auf dem CymbelsternXVI. Gallensteine, eine Kaninchengeburt und andere hübsche SachenXVII. »Faites vos jeux!«XVIII. Das Abendmahl der TotenXIX. Der Mann mit den eisernen HändenXX. Serafino singtXXI. Im Auge des SturmsWelthistorisches Intermezzo IIXXII. Ein Frühstück unter FreundenXXIII. »Kopf ab!«Dritter TeilXXIV. »Spooß mutt sien«XXV. Alte KameradenXXVI. SarmatienXXVII. »Kein Quartier!«XXVIII. Böse Geister IXXIX. Böse Geister IIXXX. Der Engel auf dem DachXXXI. Bekenntnisse einer verirrten SeeleXXXII. Ordre de batailleXXXIII. Dies iraeWelthistorisches Intermezzo IIIXXXIV. »Wo ist mein Bruder Karl?«Vierter TeilXXXV. Der Schatten Gottes auf ErdenXXXVI. FluchtXXXVII. IsrafilXXXVIII. Der lachende ChristusXXXIX. Den Vogel in der HandXL. Eisenkopfs letzter KampfXLI. Le roi s’amuseXLII. Ecce homoPersonenverzeichnis
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Für Silke, Frederik und Alma

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Erster Teil

In die Ohren könnten wir wohl schreien, aber ein jeglicher muss für sich selber geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich würde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.

Martin Luther, Erste Predigt zum Sonntag Invocavit 1522

I.Nacht

Eisenach1695Sonntag Invocavit

Ein Schrei zerriss die Stille, metallisch-grell, ohrenbetäubend. Sebastian umklammerte Jacobs Hand, so fest, als zöge es ihn in eine grundlose Tiefe hinab. So hatte er sich an ihm festgehalten, als sie letzten Winter beim Eislaufen auf dem Weiher eingebrochen waren. Die Sache war glimpflich ausgegangen, Jacob hatte zuerst sich selbst, dann mit letzter Kraft Sebastian aus dem Wasser gezogen.

Die Brüder kehrten vom Gottesacker heim, wo sie bei der Beerdigung der Witwe Heesemann gesungen hatten. Es war schon dunkel und bitterkalt. Zwar lag kaum noch Schnee, aber der Wind fegte mit schneidender Kälte durch die Straßen und Gassen. Wer irgend konnte, blieb bei solchem Wetter zu Hause. Doch sie, die Söhne des Hof- und Stadtmusikus Johann Ambrosius Bach, zählten nicht zu diesen Glücklichen. Die Musik war ihr Gewerbe, und sie kamen ihm nach, wie der Bauer seinen Acker pflügte, der Bäcker sein Brot buk, der Schuster seine Schuhe flickte.

Vor drei Tagen war die Witwe Heesemann im Armenhaus gestorben. Mancher hätte die Leiche lieber brennen sehen. Denn es bestand kein Zweifel daran, dass die Heesemännin eine Hexe gewesen war. Hatte Anne, ihre Magd, nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sie sich hinter den Kornspeicher gehockt und in eine Grube ihr Wasser gelassen hatte, aus der sogleich Hunderte und Tausende von Mäusen gekrochen waren? Und die Kinder, denen sie auf der Straße Nüsse geschenkt hatte, die sich in Kot verwandelt hatten? Dennoch hatte der Pfarrer darauf bestanden, sie christlich zu bestatten.

Jeder wusste, dass die Leiber der Hexen, wenn sie, um ihren abscheulichen Sabbat zu begehen, auf die Hörselberge flogen, im Bett lagen, als wären sie tot. Und wenn sie ihre zurückgelassenen Körper nicht mehr vorfanden …

Wie ein riesiger schattenhafter Rabe raste die körperlose Unholdin durch die Nacht und goss ihren Fluch über der Stadt aus.

Sebastian zitterte. Jacob legte einen Arm um ihn, suchte nach Trostworten.

Wenn sie einfach losrannten? Aber wohin? Das Schreien und Gellen war überall, der Bruder vor Schreck wie gelähmt.

Da hörte es auf. Plötzlich war es still. So vollkommen still, dass Jacob der geisterhafte Schrei ganz unwirklich vorkam, als habe er ihn sich bloß eingebildet. Aber Sebastian hatte ihn nicht losgelassen. Er hatte es auch gehört.

Jacob öffnete den Mund. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er musste diese Grabesstille durchbrechen.

Da zerfetzte abermals ein mörderischer Lärm das Schweigen, er prasselte wie Rutenstreiche auf sie nieder. Sebastian entriss ihm die Hand und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zu.

Jetzt war Jacob hellwach, und mit einem Male – musste er lachen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, aber das Gelächter brach sich unwiderstehlich Bahn.

Sebastian starrte ihn an, entsetzt, verwundert. Da stimmte er in das Lachen ein. Die beiden Brüder lachten und lachten, bis ihnen die Tränen übers Gesicht liefen.

Unversehens, wie auf Verabredung schwiegen sie still und lauschten.

Der Radau tobte schrecklicher denn je. Aber nicht die Heesemännin heulte ihren Rachegesang, es war die Armsünderglocke der Georgenkirche, die mit ihrem schauderhaft unreinen Des die Passionszeit einläutete. Zwischen dem Sonntag Invocavit und Ostern unterblieb das volle Geläut. In dieser Zeit musste die Glocke ihren Dienst allein verrichten. Umso mehr legte sich Küster Kegenfuß ins Zeug. Er ließ das Glöcklein läuten, als wäre der Jüngste Tag angebrochen.

Jacob stieß den Bruder in die Seite: »Komm, wir gehen heim.«

Keiner von beiden würde zu Hause ein Wort über den Vorfall verlieren.

Über den menschenleeren Frauenplan stolperten Jacob und Sebastian hinüber zur Fleischgasse. Es war finster, und die spiegelglatten Pfützen, die Rillen und niedrigen, aber hart gefrorenen Wälle, die Wagen und Karren im vormals weichen Boden hinterlassen hatten, boten unzählige Gelegenheiten, sich die Beine zu brechen. Die Brüder froren erbärmlich in ihren fadenscheinigen Kurrendemänteln.

Zur Beerdigung der Heesemännin waren nur Pfarrer Heinlein, der Totengräber Stülpnagel mit seinen drei Söhnen und der Chor erschienen, der außer Jacob und Sebastian heute bloß aus dem Präfekten Bienengräber und den Quintanern Schultz, Finke und Schmidt bestand. Schultz war der Einsatz als Strafe für eine unpassende Bemerkung im Religionsunterricht auferlegt worden. Finke und Schmidt waren schwer erkältet und hatten fast keine Stimme, aber sie durften nicht fehlen, weil ihre Familien jeden Pfennig nötig hatten. Vor Kälte bibbernd, hatten sie zwei Choräle heruntergeleiert: O Mensch, bewein dein Sünde groß und O Haupt voll Blut und Wunden. Selbst Pfarrer Heinlein hatte sich kurzgefasst. Die ganze Zeremonie hatte keine Viertelstunde gedauert.

Noch während sie den Friedhof verließen, waren die Stülpnagels an ihre Arbeit gegangen. Die Erde, die sie am Morgen ausgehoben hatten, war längst wieder steinhart gefroren. Wie Bergleute schlugen die Männer mit ihren Spaten Brocken aus dem Haufen und ließen sie Schlag auf Schlag auf den dünnen Sargdeckel krachen, der früher oder später der sich stetig vergrößernden Last nachgeben und einbrechen würde. Gerade bei Armenbegräbnissen passierte das oft. Die Stülpnagels kümmerten sich nicht darum, sie wollten nur die Plackerei hinter sich bringen.

Den Pfarrer Heinlein kümmerte es sehr wohl. Er verlangsamte seine Schritte und schien schon im Begriff, sich umzuwenden. War es nicht seines Amtes, dafür zu sorgen, dass alles ordnungsgemäß und würdig ablief? Aber dann beschleunigte Heinlein wieder seinen Gang. Was würde sein Einschreiten bewirken? Im besten Falle ein gleichgültiges Achselzucken, dazu vielleicht eine gotteslästerliche Bemerkung. Die Stülpnagels waren für ihre Schlagfertigkeit gefürchtet, bei einem etwaigen Wortgefecht konnte er nur den Kürzeren ziehen. Was sollte es? Ohnedem war ja die Seele der Heesemännin längst bei ihrem Schöpfer. Mochte ihr Leib ohne intakten Sargdeckel in der Erde ruhen, er, Leopold Fürchtegott Heinlein, hatte seine Schuldigkeit getan.

Am Friedhofstor musste Finke den Pfarrer an die schuldigen Groschen erinnern. Hastig und scheelen Blickes, als wäre es ein Judaslohn, drückte Heinlein den Schülern die Münzen in die steif gefrorenen Hände. Bienengräber (als Präfekt erhielt er zwei Groschen), Schultz, Finke und Schmidt sagten ihr Dankeschön und machten sich vom Acker.

Als die Reihe an Jacob und Sebastian kam, machte Heinlein keinerlei Anstalten, ihnen den sauer verdienten Groschen auszuzahlen. Schweigend blinzelte er sie mit seinen kurzsichtigen Gelehrtenaugen an. Die Nase in seinem langen blassen Gesicht war gerötet. Der Pfarrer zog ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich umständlich. Nachdem er das Tüchlein sorgfältig wieder eingesteckt hatte, hub er an: »Liebe Kinder, auf ein Wort …«

 

Ein dumpfer Schlag, dann ein Geräusch, das an das Rascheln von Stroh erinnerte: Der Sargdeckel der Heesemännin war unter der steinschweren Last eingebrochen. Die Stülpnagels schürften ungerührt weiter. Das Poltern, mit dem die Erde im Grab landete, klang nun gedämpfter.

Heinlein hatte den Faden verloren. Doch gleich besann er sich. Der Pfarrer kramte in seinen Manteltaschen herum, bis er einige Münzen fand. Er drückte ihnen nacheinander die Hand. Sein Griff war schlaff und feucht, trotz der Kälte schwitzte er.

Dann stülpte sich Fürchtegott Heinlein seinen Kastorhut über die Perücke und stapfte davon.

 

Das Haus in der Fleischgasse stand wie verlassen. Aus den Fenstern schien kein Licht wie sonst. Kein Laut war zu hören. Gewöhnlich ging es hier bis in die Nacht hinein zu wie in einem Taubenschlag: Mägde, Lieferanten, Lehrjungen, Kollegen und Freunde des Vaters gaben sich die Klinke in die Hand. Unablässig ließ sich ein Klopfen, Feilen, Schleifen, Zupfen und Tuten vernehmen. An den Clavichorden, Cembali, den Geigen, Bratschen, Gamben, Kontrabässen, Lauten, den Pommern, Schalmeien, Zinken, den Posaunen und Trompeten war immer etwas zu richten, zu stimmen oder zu polieren. Dazwischen ertönten Tonleitern, Etüden, Rigaudons, Allemanden, Fugen, Improvisationen auf allen Instrumenten und Gesang. Klang füllte jeden Winkel des Stadtmusikerhauses.

Nun war es still.

Als Jacob und Sebastian den Hausflur betraten, stand der Onkel vor ihnen. Er hielt ein Talglicht in der Hand, seine Gesichtszüge waren durch das Flackern der Kerze unheimlich verzerrt. Er sagte nichts, es war, als blicke er durch die Brüder hindurch. Hatte er sie überhaupt bemerkt? Hinter ihm öffnete sich lautlos die Tür. Es war der Kantor Dedekind. Sie erkannten ihn an seiner gedrungenen Gestalt, auf der ein viel zu großer Kopf saß. Langsam trat Dedekind an den Onkel heran, nahm ihm das Licht ab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Johann Christoph Bach nickte kaum merklich, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und kehrte in die Wohnstube zurück.

Dedekind sah ihm kurz nach, dann wandte er sich ihnen zu. Jacob merkte, dass Sebastian und er sich wieder an den Händen hielten. Dedekind sah sie an. »Sebastian, Jacob – der Vater …« Er sprach nicht weiter. Seine Blicke schweiften ziellos im Raum umher. Er musste nicht weitersprechen, sie wussten, was er ihnen zu sagen hatte. Sie hatten es die ganze Zeit über gewusst. Als sie sich zum Friedhof aufgemacht hatten. Als sie am Grab der Heesemännin gesungen hatten. Als Heinlein sie so seltsam angeblinzelt hatte. Als sie sich auf dem Heimweg vor dem Glockengeläut der Georgenkirche gegraust hatten.

Der Vater war gestorben.

 

Seit im verwichenen Jahr sein Zwillingsbruder Christoph, Hof- und Ratsmusiker zu Arnstadt, plötzlich und ohne vorherige Anzeichen von Krankheit das Zeitliche gesegnet hatte, war Johann Ambrosius Bach von der Gewissheit durchdrungen, dass nun auch seine Tage gezählt seien. Nichts und niemand, weder die Mutter noch seine engsten Freunde, der Vetter Johann Christoph Bach und der Kantor Andreas Christian Dedekind, hatten ihn von dieser Überzeugung abzubringen vermocht. Pfarrer Heinlein hatte dem Vater Vorhaltungen gemacht, ein solcher Aberglaube sei eines Christenmenschen unwürdig, ja, er halte es, geradeheraus gesagt, für eine Sünde, sich auf solche Weise selbst dem Tod zu überantworten: Deine Zeit steht in Seinen Händen!

Ambrosius widersprach nicht. Und erwartete den Tod.

Christoph und Ambrosius hatten sich geglichen wie ein Ei dem anderen, selbst ihre Ehefrauen hatten sie mitunter nur schwer auseinanderhalten können. Auch die Art, wie sie sich benahmen und sprachen, ihre Spielweise, ob auf der Geige (beider Lieblingsinstrument) oder dem Zink, war ein und dieselbe. Bei ihren Improvisationen folgten sie denselben Einfällen; Vorhalte, Doppelschläge, Triller, noch die geringste Verzierung führten sie in derselben Manier aus. Ihre ganze Gemütsart war identisch: War einer der Brüder niedergeschlagen, fröhlich, gesund oder krank, so war es der andere auch. Es war, als wäre dieselbe Person zweimal vorhanden. Und wenn Christoph tot war, wie sollte Ambrosius am Leben bleiben?

Der Tod war kein Fremder für sie, er war schon oft bei den Bachs zu Gast gewesen. Die Eheleute Johann Ambrosius und Maria Elisabeth hatten vier Kinder verloren, zuletzt vor vier Jahren Johann Baltasar, der nach der Lehre beim Vater als wandernder Musikergeselle auf der Landstraße zwischen Erfurt und Sangerhausen erschlagen worden war. Die Erfurter Vettern des Vaters, Christian und Nicolaus Bach, waren der Pest zum Opfer gefallen. Christians Sohn, der ebenfalls Johann Jacob hieß, war als Lehrjunge zu Ambrosius gekommen, ein überaus talentierter Violinist, der zu den größten Hoffnungen Anlass gab. Vor zwei Jahren hatte ihn die Kriebelkrankheit, das schreckliche Antoniusfeuer, befallen. Nach einer Woche Qual hatte ihn der Tod erlöst. Und es waren noch mehr, viel mehr. Die Zahl der Toten übertraf diejenige der Lebenden bei weitem.

Wochen vergingen, doch Ambrosius’ letzte Stunde ließ auf sich warten. Hatte der Herr ihn vergessen? Nachts betete er laut: Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen, die des Todes warten, und er kommt nicht? Von seinem Amt hatte sich Johann Ambrosius Bach beurlauben lassen. Musik mochte er nicht einmal mehr hören, die Proben durften nicht mehr im Stadtpfeiferhaus stattfinden. Die Gesellen und Lehrjungen übernahmen seine Aufgaben, so gut sie es vermochten. Aber lange konnte das nicht so weitergehen. Schon ließen Rat und Hof anfragen, wann denn der Herr Stadtmusikus seinen Dienst wieder aufzunehmen gedenke.

Seinen Kindern kam Ambrosius mehr und mehr wie ein Fremder vor. Sie betraten die Schlafkammer nur noch, um Bericht zu erstatteten, wie dieser oder jener Einsatz verlaufen sei. Aber der Vater hörte ihnen nicht zu.

Wie schon früher in Zeiten der Niedergeschlagenheit verließ Ambrosius sein Bett tagelang nicht. Er befahl der Mutter, ihm ein Totenhemd zu nähen, um bereit zu sein, falls Gott ihm doch noch die Gnade des Todes erwiese. Sie tat, was er wollte. Die Mutter pflegte ihn wie einen bettlägerigen Kranken. Sie redete mit Engelszungen auf ihn ein, wenigstens ein paar Bissen zu essen, wachte nächtelang an seinem Bett. Bald sorgten sie sich mehr um die Mutter als um den in seiner Trauer begrabenen Vater. Sie verfiel zusehends, ihre Haare wurden von Tag zu Tag grauer, bis sie ganz weiß waren. Sie, die sonst mit kraftvoller Stimme Aufträge erteilte, das Gesinde ermahnte, den Haushalt ordnete, flüsterte nur noch. Die Mutter betete oft, nicht nur morgens und abends und vor den Mahlzeiten, auch während der Arbeit, beim Kochen, bei der Wäsche. Drei Wochen nach Ostern brach Maria Elisabeth Bach ohnmächtig zusammen. Man legte sie ins Bett, neben den Vater, der seinen Kopf im Kissen vergrub. Die Mutter erwachte nicht wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit. Am Morgen nach ihrem Zusammenbruch fand die Magd sie tot im Bett. Der Vater tobte und schrie, stieß jeden weg, der sie berühren wollte, und klammerte sich an den Leichnam seiner Frau. Erst Dedekind und Doktor Burchardi vermochten ihn so weit zu beruhigen, dass er sie, nach zwei Tagen und zwei Nächten, frei gab.

Als sie die Mutter auf dem Stadtgottesacker begruben, schien die Sonne. Es war ein heller, warmer Frühlingstag. Die Vögel sangen. Als ginge das Leben einfach weiter. Als wäre der Tod nur ein Gerücht.

Jeden Morgen erwachten sie in dem festen Glauben, alles sei nur ein Albtraum gewesen. Doch dieser Albtraum erwies sich immer wieder aufs Neue als Wirklichkeit. Die Pendeluhr in der Wohnstube schlug nicht mehr, ihr Ticken ordnete nicht mehr die lautlose Unendlichkeit der Zeit. Die Tage schlichen eintönig dahin, einer wie der andere.

Die abergläubische Anne, ihre Magd, hatte es in dieser Gruft, wie sie es nannte, nicht mehr ausgehalten. Ihren Knecht Samson, ein gutmütiger, aber geistesschwacher Riese, hatten die Ereignisse völlig durcheinandergebracht. Er schlich den ganzen Tag um das Haus herum, machte sich sinnlos im Stall zu schaffen und sprach mit niemandem. Die Lehrlinge und Gesellen trieben sich in den umliegenden Dörfern herum, spielten auf eigene Rechnung, auf Taufen, Hochzeiten und anderen frohen Anlässen. Jacob, Sebastian und Salome geisterten durch das menschenleere Haus. Sie verzehrten, was noch in der Speisekammer vorhanden war, legten sich hin, wenn sie müde waren, schliefen in ihren Kleidern.

Der Vater war nach wie vor nicht ansprechbar. Er wälzte sich in seinem Bett und bettelte Gott um den Tod an. Salome stellte ihm jeden Morgen eine Schüssel mit Hafergrütze in die Kammer, die er nie anrührte. Sie waren Gefangene, gefangen in einer trostlosen Nacht, die kein Ende nehmen wollte.

Zwischen Schlaf und Aufwachen war Jacob einmal der Gedanke gekommen: Wenn nun nicht die Mutter, sondern alle anderen, der Vater, Salome, Sebastian und er selbst, gestorben wären? War die Vorstellung so abwegig? So musste es doch sein, wenn man tot war. Wenn sie aber selbst gestorben waren, hätten sie nicht in den Himmel kommen müssen? Doch mit dem, was Dedekind und Heinlein ihnen über den Himmel erzählt hatten, hatte die Düsternis, die sie umgab, nichts zu tun. Also waren sie entweder noch am Leben – oder in der Hölle. Allerdings schien es zwischen den beiden Möglichkeiten keinen nennenswerten Unterschied zu geben.

Selbst diese Nacht nahm ein Ende.

Irgendwann, es konnten nur ein paar Tage vergangen sein, aber sie waren ihnen wie eine Ewigkeit vorgekommen, stand der Kantor Dedekind vor der Tür. Mit einem Blick erfasste er die Lage und nahm die Dinge in die Hand.

In den ersten Stunden drang kein Laut aus der Schlafkammer. Irgendwann hörte man leises Reden. Dazwischen langes Schweigen. Am dritten Tag ließ sich ein lautes Geschrei vernehmen. Dedekind, der im Unterricht nie die Stimme erhob, den nichts aus der Ruhe zu bringen vermochte, betete laut, er bedrohte den Vater, er schalt und brüllte. Als der Kantor die Kammer verließ, war sein Gesicht bleich vor Erschöpfung. Aber er hatte gesiegt. Mit unnachgiebiger Beharrlichkeit und übermenschlicher Langmut war es ihm gelungen, sich in das finstere Verlies, in das der Vater seine verwundete Seele gesperrt hatte, Einlass zu verschaffen und die bösen Geister, die Ambrosius quälten, auszutreiben.

Als der Vater sich von seinem Lager erhob und mit unsicheren Schritten in der Stube umhertappte, staunten sie ihn an, als sei er wahrhaftig von den Toten auferstanden. Und war es nicht so? Johann Ambrosius Bach glaubte nicht mehr, seinem Bruder nachsterben zu müssen. Sogar vor seinen Kindern legte er das Bekenntnis ab: Er habe sich geirrt. Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind fremd geworden dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, durch die Verstockung ihres Herzens. Sich selbst dem Tode zu überantworten, war eine Sünde. Gott strafte ihn zu Recht, wenn ER ihn zum Witwer, seine Kinder zu Waisen machte. Ambrosius hatte Seinen Richtspruch vernommen. Und lebte weiter.

 

Im November, ein halbes Jahr nach Elisabeth Bachs Tod, heiratete der Vater Barbara Margaretha Bartholomaei, eine verwitwete Schwägerin des Kantors Dedekind. Wie bei Zweitverheiratungen üblich, wurde keine Hochzeitsfeier abgehalten, Pfarrer Heinlein traute das Paar in aller Stille im Stadtpfeiferhaus.

Barbara Margaretha Bartholomaei, geborene Keul, war anderthalb Jahrzehnte jünger als Ambrosius. Zwei Männer waren ihr hintereinander nach kurzer Ehe gestorben. Gegen die Kinder benahm sich die Stiefmutter weder freundlich noch feindselig. Niemals hörte man Barbara Margaretha sich über irgendetwas beklagen, aber sie freute sich auch über nichts. Sie lachte nie, sie weinte nie. Es war, als sei alles, was an menschlichen Regungen einmal in ihr gewesen war, restlos verbraucht. Auch nach der Wiederverheiratung trug sie stets ihre Witwentracht. Der Vater, der sich früher, zumal wenn er bei Hofe auftrat, gerne à la mode gekleidet hatte, ging ebenfalls nur noch im schlichten schwarzen Rock einher. Das Einzige, was die beiden Neuvermählten miteinander verband, war ihre Trauer.

Die Stiefmutter brachte zwei Töchter ins Haus, Catharina, zwölf, und Christina, neun Jahre alt, verwilderte Geschöpfe, die sich in einer Art Geheimsprache miteinander verständigten, überhaupt unter sich blieben und ihren Stiefgeschwistern das Leben zur Hölle machten. Catharina und Christina kannten keine Verbote, sie taten, wonach immer ihnen der Sinn stand, und dazu gehörte nicht die Hausarbeit. Die blieb an Maria Salome hängen, die sich bitter beim Vater über die bösen Schwestern beklagte. Ambrosius zeigte wie immer Verständnis, erklärte sich jedoch in dieser Angelegenheit für nicht zuständig. Salome zog sich, wie sie es immer getan hatte, in die Speisekammer zurück und richtete sich an dem Gedanken auf, dass ihre Tage in Eisenach gezählt waren. Bald würde sie ihren eigenen Haushalt führen. Ihre Verlobung mit dem Kürschnermeister Andreas Wiegand in Erfurt war seit einem halben Jahr beschlossene Sache.

Jacob und Sebastian war solcher Trost nicht beschieden. Auch für sie war das Stadtpfeiferhaus ein ungemütlicher Ort geworden. Nach Möglichkeit hielten sie sich dort nur zu den Mahlzeiten auf. Vormittags besuchten sie die Georgenschule, nachmittags sangen sie in der Kurrende oder probten mit dem Chorus musicus in der Kirche.

In seiner Freizeit streunte Jacob mit den anderen Quartanern durch die Gassen der Stadt, durchstreifte den Wald oder wanderte zur Wartburg hinauf, während Sebastian jede freie Minute bei Johann Christoph Bach in der Georgenkirche verbrachte. Der Onkel ließ sich seine Orgel umbauen, sodass der Bruder, der mit seinen neun Jahren schon genau wusste, dass auch er einmal ein Organist werden würde, das gewaltige Instrument in seinen kleinsten Einzelteilen studieren konnte.

So war das Leben mehr oder weniger in seine alten Bahnen zurückgekehrt. Der Vater hatte seine Arbeit wiederaufgenommen, die Stadtpfeiferei machte ihrem guten Namen wieder Ehre. Aber niemand, der den alten Johann Ambrosius Bach gekannt hatte, konnte bestreiten, dass der Mann nur noch ein Schatten seiner selbst war. Ein einziges Mal hatten man ihn noch lächeln gesehen: auf der Hochzeit seines ältesten Sohnes Johann Christoph in Ohrdruf, als der kleine Sebastian zusammen mit Meister Pachelbel, Christophs Lehrmeister, musiziert hatte.

 

Im darauffolgenden Winter wurde der Vater am Leibe krank. Das Fieber wollte nicht weichen. Er litt unter heftigem Schüttelfrost, sein Verstand war tagelang getrübt. Im Fieberwahn sprach er mit dem toten Zwillingsbruder und der Mutter. Dazwischen gab er seine Musikern Anweisungen: »Im zwölften Takt staccato! – Die Herren Posaunisten, nicht so zaghaft! Jacob, achte auf deinen Strich! – Sebastian …«

Eines Morgens war Ambrosius’ Haut über und über mit blauen, später roten Malen übersät. Der eilig herbeigeholte Doktor Burchardi diagnostizierte Fleckfieber und verschrieb allerlei Arzneien, die ein Vermögen kosteten, aber nicht anschlugen. Am 20. Februar 1694 gab Johann Ambrosius Bach seinen Geist auf.

Nach der Sitte wurde der Vater für einen Tag im Hausflur aufgebahrt. Freunde und Kollegen kamen, um sich von ihm zu verabschieden. Ambrosius trug seinen Hausrock aus grüner japanischer Seide, den er zu Lebzeiten, vor dem Tode der Mutter, so geliebt hatte. Sonst erinnerte nichts an den stattlichen, stolzen Mann, der einmal Johann Ambrosius Bach gewesen war, der geachtete und allseits bewunderte Stadtpfeifer von Eisenach, der mit Orgel, Geigen, Singen, Trompeten und Heerespauken dreinschlug, dass den Hohen Herren des Rates und des herzöglichen Hofes die Perücken vom Kopfe flogen, der unermüdliche Lehrer, der seine Schüler, eigene Söhne wie Lehrjungen, streng, aber geduldig in allen Instrumenten unterwies, der Virtuose, zu dessen Geigenspiel die braven Eisenacher den Mund nicht mehr zubekamen. Nein, diese ausgezehrte, wächserne Gestalt war nicht ihr Vater. Es war seine leere Hülle. Ihr Vater war lange vor seinem leiblichen Tod gestorben.

 

Nachdem am Abend der letzte Besucher gegangen war, erschien Pfarrer Heinlein. Scheu betrachtete er den Toten. In seinem Blick lag Erleichterung, ja Befriedigung: Alles war zu einem guten Ende gekommen. In Frieden mit sich und seinem Herrgott war Ambrosius Bach entschlafen. Und daran hatte er, Heinlein, einen nicht geringen Anteil. Gewiss, er hatte nichts als seine Seelsorgerpflicht getan. Dennoch: War es nicht auch ihm, Heinlein, zu verdanken, dass dieser arme Mensch letzten Endes doch noch seine unselige Verirrung eingesehen und reuig wieder zum Glauben gefunden hatte? Heinlein war von sich selbst gerührt. Und diese Rührung war nicht zu überhören, als er nun allen Ernstes bedauerte, dass es ihm nach Gottes Willen nicht vergönnt gewesen sei, dem selig Verblichenen die Beichte abzunehmen und mit eigener Hand die Augen zu schließen; es sei einfach zu rasch gegangen.

Von wegen. Es hatte lange gedauert. Dedekind hatte dem Vater die Hand gehalten und die Augen zugedrückt. Und in Wahrheit war der Pfarrer keineswegs betrübt darüber, nicht zur Stelle gewesen zu sein. Denn das Sterben bekam ihm nicht, es schlug ihm auf den Magen, raubte ihm den Schlaf, machte ihn tagelang arbeitsunfähig. Jeder wusste es. Wer im Sterben lag, durfte von ihm keinen Beistand erhoffen. Darum holte man ihn nach Möglichkeit erst, wenn alles vorbei war. Aber dann! Bei der Trostspendung machte Heinlein niemand etwas vor.

»Wir wollen beten.«

Fürchtegott Heinlein hatte sich zu Füßen des offenen Sarges aufgestellt. Die Stiefmutter, Catharina und Christina knieten zur linken, Maria Salome, Jacob und Sebastian zur rechten Seite.

Nach einem endlosen Gebet blätterte Heinlein in seiner Bibel. Er tat immer so, als fände er die für den jeweiligen Anlass passende Stelle aus dem Stegreif, aber natürlich hatte er seine Zitate sorgfältig ausgewählt und mit kleinen Papierstreifen gekennzeichnet.

»Wir wissen aber«, begann er mit belegter, Kummer heuchelnder Stimme, »wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.« Heinlein schlug das Buch zu und sprach frei weiter. »Darum, Kinder«, sagte er, »darum wisset ihr auch, dass Gott euch solche Not nicht zum Verderben geschickt – oh nein, sondern euch dadurch zum Gebet treiben will, auf dass ihr den Glauben übet und Gott erkennen lernet – und lernet, mit den Sünden zu kämpfen und mit Seiner Hilfe zu obsiegen. Denn sonst lernten wir nimmermehr, was Glaube, Wort, Geist, Gnade, Sünde und Tod wären. Und damit würden wir denn Gott nimmermehr kennenlernen und würden nimmermehr rechte Christen.« Heinlein hielt inne und blickte, um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen, in die Runde. »Er will«, fuhr er mit frischem Schwung fort, »Er will, dass du schwach sein sollst, solche Not zu tragen und zu überwinden. Auf dass du in Ihm stark werden lernest und er in dir durch Seine Stärke gepriesen werde. Amen.«

Als Heinlein seine Hände zum Vaterunser faltete, geschah es. Barbara Margaretha, die während der Predigt teilnahmslos ins Leere geblickt hatte, war aufgesprungen. Ohne ein Wort zu sagen, schritt sie auf den Pfarrer zu. Der schaute betreten auf den Leichnam, als flehe er ihn an, aufzustehen und seine Frau zur Ordnung zu rufen. Aber niemand kam Heinlein zu Hilfe. Die Stiefmutter stellte sich vor den bebenden Pfarrer hin, sie sah ihm unverwandt in die Augen. Gerade als sich Heinlein dazu durchgerungen hatte, sie anzusprechen, schlug ihm Barbara Margaretha Bach mit der Faust mitten ins Gesicht. Die Bibel fiel ihm aus der Hand. Das Blut schoss ihm aus der Nase, lief langsam als schwarzes Rinnsal über sein blasses Gesicht, besudelte sein blütenweißes Beffchen und tropfte auf den Boden.

Die Stiefmutter rührte sich nicht, ihr Blick war so ausdruckslos wie zuvor. Heinlein hielt sich die Hände vors Gesicht.

Die Tür ging, jemand betrat das Haus.

Ein Zucken durchlief Heinleins Körper. Er hob die blutverschmierten Hände, seine Augen waren weit aufgerissen. Er starrte auf das Blut, stammelte Unverständliches. Dann schluchzte er auf und stürzte, Dedekind, der eben den Raum betrat, zur Seite stoßend, zur Stube hinaus.

Dedekind kratzte sich verwirrt am Kopf und hob Heinleins Bibel auf, die zerfleddert und blutbefleckt vor dem Sarg lag.

Als er sich mit fragender Miene an die Stiefmutter wandte, erklang aus dem Nebenzimmer eine unzusammenhängende, aber wunderschöne Melodie. Dort stand das Cembalo des Vaters.

Jemand fantasierte darauf.

Es war Sebastian. In dem Tumult hatte er sich aus der Stube geschlichen.

Sebastian spielte und spielte. Endlos improvisierte er über alle Choräle, die er kannte, durch alle Tonarten, erfand die unwahrscheinlichsten Variationen, sodass die vertrauten Lieder seltsam entrückt und fremd klangen.

Dedekind und der herbeigerufene Onkel warfen sich ungläubige Blicke zu. Gewiss, Sebastian war über die Maßen begabt und fleißig. Aber wer hatte ihn so zu spielen gelehrt? Niemand hatte ihm je Kompositionsunterricht erteilt, er konnte noch nicht weit in die Harmonielehre eingedrungen sein. Sebastian musste sich seine Fertigkeit allein durch Zuhören und Ausprobieren angeeignet haben. Hätte der Junge sein Können zu irgendeinem früheren oder späteren Zeitpunkt offenbart, sie hätten nicht gezögert, ihn dem Herzog als Wunderkind vorzuführen. Vielleicht auch nicht. Denn seine Kunst war ihnen auch unheimlich. Was sollte aus dem noch werden?

Sebastian spielte weiter, bis alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, seine Kunst gleichsam an ihr natürliches Ende gekommen war. Als der letzte Ton verklungen war, erstarrte er. Kurz darauf begann er zu zittern. Hatte auch ihn das Fleckfieber gepackt? Sie brachten ihn zu Bett, gaben ihm warmes Starkbier zu trinken. Später fütterte Salome ihn mit Brei. Glücklicherweise erholte sich Sebastian rasch, er hatte sich stets einer robusten Gesundheit erfreut. Bereits am übernächsten Tag war Sebastian wieder auf den Beinen.

 

Vier Tage nach seinem Tod wurde Johann Ambrosius Bach neben seiner ersten Frau, Sebastians, Jacobs und Salomes Mutter, auf dem Friedhof an der Stadtmauer begraben. Die Lehrjungen, die Gesellen, Heinrich Halle und Melchior Paßvogel, und seine Musikerkollegen aus der Umgebung, darunter viele aus der Bachfamilie, spielten und sangen eine Motette, die der Vetter Johann Michael Bach aus Gehren komponiert hatte: Gute Nacht, du Stolz und Pracht, dir sei ganz, du Leben, gute Nacht gegeben.

Dazu läutete die Glocke der Georgenkirche.

II.Exodus I

Zwischen Eisenach und Ohrdruf1695April

Als sie den Wald erreichten, setzte der Regen ein. Nach kaum einer halben Meile hatte sich die Straße in einen Sumpf verwandelt. Waren sie zuvor schon im Schneckentempo gereist, kamen sie nun so gut wie überhaupt nicht mehr voran. Dann passierte es: In einer Senke blieb ihr Karren, der bis obenhin mit Möbeln, Streich-, Blas- und Tasteninstrumenten beladen war, endgültig stecken. So laut Samson auch mit der Zunge schnalzte und die Peitsche knallen ließ, der alte Lutz, der sonst tagein, tagaus ohne das geringste Zeichen von Ermüdung den Pflug über den Acker zog, war am Ende seiner Kräfte. Ohne Hilfe würden sie nicht freikommen.

Von Beginn an hatte ihr Auszug unter keinem guten Stern gestanden. Gerade hatten die Gesellen ihren Wagen mit den Instrumenten, die Jacob und Sebastian aus dem Erbe des Vaters erhalten hatten, beladen, da brach die Achse. Weil der Schaden nicht sogleich hatte behoben werden können, hatte man ihr Gepäck auf einen alten Karren geworfen, ein Gefährt, von dem es hieß, dass darauf zur Zeit des Großen Krieges die Pestleichen aus der Stadt geschafft worden seien. Es war ein trauriger Abschied gewesen, eigentlich gar kein rechter Abschied. Denn die anderen waren alle schon fort: Die Stiefmutter war nach Regelung der Erbschaftsangelegenheiten zusammen mit den fürchterlichen Schwestern zu ihren alten Eltern nach Arnstadt gezogen und Maria Salome zu ihrem Andreas nach Erfurt. Die Hochzeit sollte im Frühling stattfinden. Weil die Familie noch um den Vater trauerte, würde es wieder keine Feier geben.

Und Jacob und Sebastian? Der Onkel konnte sie beim besten Willen nicht zu sich nehmen. Aber der andere Johann Christoph, ihr vierzehn Jahre älterer Bruder, hatte sich nicht lange bedenken müssen. So zogen sie nach Ohrdruf. Kantor Dedekind hatte seine Beziehungen spielen lassen und zwei Plätze in der Tertia des Lyceum Illustre Gleichense für sie erhandelt. Das Schulgeld durften sie durch Singen abgelten. Jacob und Sebastian mussten sich dem Chorus musicus und der Kurrende als Sänger zur Verfügung stellen. Sie würden nicht die einzigen Bachs in der Klasse sein: Ihr Vetter Johann Ernst, der Sohn des verstorbenen Zwillingsbruders Christoph, war mit seiner Mutter, die aus Ohrdruf gebürtig war, ebenfalls dorthin gezogen. Ernst war ein Jahr jünger als Jacob und ein Prachtkerl. Aus Prinzip ging er keiner Keilerei aus dem Weg. Jedenfalls würden Jacob und Sebastian von den neuen Mitschülern kaum etwas zu befürchten haben. Wenn man darüber nachdachte, sah die Zukunft nicht gar so düster aus. Und zumindest für Jacob würde es nur ein vorübergehender Aufenthalt sein. Sobald er das erforderliche Alter von vierzehn Jahren erreicht hatte, würde Halle, der Nachfolger des Vaters, ihn als Lehrling übernehmen. Höchstens ein Jahr und Jacob würde wieder nach Eisenach zurückkehren. Alles würde sich fügen.

Vorerst allerdings wollte sich gar nichts fügen, geschweige denn bewegen: Der Karren steckte hoffnungslos fest. Um das Gewicht zu verringern, stiegen Jacob und Sebastian ab – und fanden sich knietief im Morast wieder. Aber es half nichts, die Räder hatten sich in den aufgeweichten Boden eingegraben. So bald würde es nicht aufklaren. Im Gegenteil, der Himmel verfinsterte sich immer mehr. Der Regen wurde immer dichter, wahre Sturzbäche prasselten auf sie herab; sie waren schon bis auf die Haut durchnässt. Dabei war es wochenlang trocken gewesen. Als sie in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen waren, hatte nichts auf ein Unwetter hingedeutet.

Was sollten sie tun? Es dämmerte schon. Sie konnten unmöglich hierbleiben. Von Samson war keine Initiative zu erwarten. Im Notfall würde sie der Riesenkerl mit seinem Leben verteidigen, mit Mord- und Raubgesindel wurde Samson fertig. Darauf war er vorbereitet. Auf das hier nicht. Sobald etwas Unvorhergesehenes geschah, die Abläufe auch nur im Geringsten vom Gewohnten abwichen, verfiel er in ein finsteres Schmollen: Gott hatte die Absprache mit ihm, seinem Knecht Samson, nicht eingehalten. Und das missfiel Samson. Es brachte ihn durcheinander. Es machte ihn wütend. Und wenn der Herr des Himmels und der Erden seinen Teil der Abmachung nicht einhielt, tat er, Samson, eben dasselbe. So verharrte der Knecht regungslos wie ein Ölgötze auf seinem Kutschbock, ließ den Regen an sich herabrinnen und haderte mit seinem Gott, der ihm so übel mitspielte. Lutz schien das ähnlich zu sehen. Der Gaul wendete sich kurz um, erfasste mit einem Blick die Lage und verabschiedete sich ebenfalls aus der unbehaglichen Wirklichkeit. Pferde können auch im Stehen schlafen.

»Ich friere«, sagte Sebastian. In seiner Stimme schwang nicht die Spur einer Klage mit. Es war eine ebenso nüchterne wie zutreffende Feststellung.

Auch Jacob merkte, wie ihm die Kälte in die Knochen kroch. Es musste etwas geschehen, sonst holten sie sich hier den Tod.

»Wie weit noch bis Ohrdruf?«, rief Jacob zu Samson hinauf.

Bei schönem Wetter und mit leichtem Gepäck bewältigte man die Reise an einem Tag. Sie waren diese Strecke schon einmal gewandert, zu Johann Christophs Hochzeit. Aber das war ein strahlender Herbsttag gewesen, und Jacob hatte nicht auf Wegmarken geachtet. Er schätzte, dass sie ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft hatten. Aber er war sich alles andere als sicher.

Samson starrte grämlich vor sich hin, ganz so als trügen Sebastian und Jacob die Schuld an dem Schlamassel. Dann verzog er den Mund. Aber nur um auszuspucken. Als wollte er die widerwärtige Situation – oder die Macht, die sie herbeigeführt, zumindest zugelassen hatte – mit Verachtung strafen. Dabei wusste Samson genau, wo sie sich befanden. Wie hätte er es nicht wissen sollen? Er war sein ganzes Leben lang auf dieser Strecke unterwegs gewesen, er kannte hier jeden Stein. Nur war er in seinem Zustand offenbar nicht willens oder in der Lage, dieses Wissen abzurufen.

Aber noch gab Jacob nicht auf. Irgendwie musste er den Riesen aus seiner Apathie wecken. Er versuchte, gerade so viel Dringlichkeit in den Tonfall zu legen, dass es sich nicht weinerlich anhörte:

»Samson, welcher Ort liegt am nächsten?«

Keine Antwort. Der Koloss verdrehte nur die Augen.

Lutz seufzte wohlig auf, wahrscheinlich träumte er von einem warmen Stall mit frischem Stroh und einer Krippe voller Hafer.

Es war nichts zu machen.

Jacob dachte nach. Welcher Ort lag in der Nähe? Im Oktober waren sie durch kein Dorf gekommen. Doch nun erinnerte er sich daran, dass, kurz nachdem sie am Wald angekommen waren, der Onkel bemerkt hatte, sie befänden sich nicht weit von Waltershausen, wo sein Kollege und Freund Künhold an der Stadtkirche Kantor sei.

Kantor Künhold in Waltershausen: Natürlich mussten sie an das einzige Kaff weit und breit geraten, wo kein Bach ein musikalisches Amt bekleidete. Immerhin, ein Freund des Onkels. Das war etwas, ein Strohhalm, nach dem sie greifen konnten. Aber wo lag Waltershausen? Sie konnten nicht einfach in den Wald hineinmarschieren.

Während Jacob überlegte, murmelte Sebastian etwas, das er nicht verstand. Dann, ohne ein Wort zu sagen, stapfte der Bruder durch die Pfütze, die sich in der Senke gebildet und inzwischen zu einem wahren Teich ausgewachsen hatte, kletterte zu Samson auf den Kutschbock und setzte sich neben ihn. Der Knecht schien ihn gar nicht zu bemerken. Erst nach einer ziemlichen Weile streckte sich Sebastian zu Samson hinauf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er sprach nicht lange, vielleicht nur ein einziges Wort. Samson zeigte keinerlei Reaktion – doch, er öffnete den Mund. Es war kaum zu sehen, aber kein Zweifel: Samson sprach! Nur ein paar Worte. Aber er sprach.

Als der Bruder wieder von dem Karren herabgeklettert war und auf ihn zukam, vermochte Jacob an seinem gleichgültigen Gesichtsausdruck nicht abzulesen, ob seine Bemühungen von Erfolg gekrönt worden waren oder nicht. Stumm wies Sebastian nach vorn, in ihre Fahrtrichtung, und stiefelte los.

Verdutzt folgte Jacob ihm nach.

»Wie hast du das gemacht?«

Sebastian erwiderte nichts, verbissen arbeitete er sich durch den Straßenschlamm vorwärts. Nach wenigen Schritten hielt er an. »Hier müsste es sein.«

Tatsächlich: In einer Kurve bog ein schmaler Pfad nach rechts in den Wald ab.

Es war nicht einfach, dem Pfad durch das dichte Gehölz zu folgen. Der Boden war noch versumpfter als die Landstraße. Wenn sie ihre Stiefel aus dem Schlamm zogen, hörte es sich an, wie wenn der Onkel eine Flasche Rheinwein entkorkte. Jacob achtete kaum darauf, zu sehr beschäftigte ihn die Frage, wie um alles in der Welt Sebastian dem Knecht die Auskunft abgelockt hatte.

»Los, sag schon, wie hast du ihn zum Sprechen gebracht?«

Sebastian drehte sich um. Er sah ihn verständnislos an.

»Raus damit, ich will es wissen!«

»Was?«

»Wir sind da.«

So war es. Jacob und Sebastian hatten es geschafft. Sie waren keine halbe Meile von der Stadt entfernt gewesen. Und sie kamen keinen Augenblick zu früh dort an: Der Nachtwächter war schon dabei, das Tor zu schließen.

Sie rannten los, riefen ihm zu, er solle noch warten.

Der Mann beachtete sie nicht. Dann schien er es sich doch anders überlegt zu haben und hielt das Tor einen Spalt weit offen.

Völlig außer Atem erzählten sie ihm, was ihnen zugestoßen war. Der Nachtwächter, ein hagerer, zahnloser Greis mit einem dünnen speckigen Zopf, der ihm wie der Schwanz einer Ratte den gekrümmten Rücken herunterhing, hörte sich ihre Geschichte an. Aber sein verärgert-gelangweilter Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er ihnen kein Wort glaubte. Man konnte es ihm kaum verübeln. Zugegebenermaßen sahen Jacob und Sebastian ziemlich schäbig aus, ihre Kleider waren nass und von unten bis oben mit Kot bespritzt. Dass sie Tertianer des angesehenen Lyceum Illustre zu Ohrdruf sein sollten, musste dem Mann weit weniger wahrscheinlich vorkommen, als dass sie sich mit einem rührseligen Lügenmärchen einschleichen wollten, um in Waltershausen zu betteln oder irgendwelche Diebereien zu begehen. Es war viel Lumpenpack auf den Straßen unterwegs.

Der Alte schnäuzte sich lautstark, stieß ein kurzes Hohnlachen aus und machte sich daran, das Tor endgültig zu verrammeln.

Aber das geschah nicht. Das Tor blieb einen Spalt auf. Jacob und Sebastian vernahmen ein helles, eindringliches Flüstern, auf das der Nachtwächter mit einem unverständlichen Bellen antwortete.

Da vergrößerte sich knarrend der Spalt.

»Rein mit euch, in drei Teufels Namen!«

Der Alte packte sie unsanft am Kragen und zerrte Jacob und Sebastian hinein. Hinter ihnen schloss sich rumpelnd das Tor.

Jacob stammelte ein Dankeschön, aber der Nachtwächter stieß nur ein verächtliches Schnaufen aus.

»Pah, das habt ihr dem da zu verdanken.«

Er wies auf einen Jungen, der neben ihm stand und ihm seine rostige Hellebarde hielt. Er mochte zehn oder elf Jahre alt sein, trug trotz der Kälte nur ein Hemd und ging barfuß. Alles in allem ähnelte er mehr einem Bettler als sie.

Der entsetzliche Alte legte den Riegel vor das Tor, nahm seine Waffe an sich und baute sich drohend vor ihnen auf. »Jetzt seht zu, dass ihr verschwindet, bevor ich es mir anders überlege.« Er stieß dem Jungen seinen dürren Zeigefinger auf die Brust. »Du stehst mir für die beiden gerade. Wenn die Halunken was ausfressen, habe ich nichts damit zu schaffen. Verstanden?«

Der Junge nickte. Er gab Jacob und Sebastian ein Zeichen, dass sie ihm schnell folgen sollten, und schon lief er los.

Ohne sich zu besinnen, rannten die beiden hinter ihm her. Während sie durch die dunklen, bereits menschenleeren Straßen liefen, kamen Jacob Zweifel. Wer war der Junge? Warum hatte sich der Wächter von ihm überreden lassen, sie doch noch einzulassen? Steckten die beiden unter einer Decke? Es kam vor, dass die kümmerlich entlohnten Nachtwächter, oft verkrüppelte und verarmte ehemalige Soldaten, mit Verbrechern, Straßenräubern und anderen Bösewichtern gemeinsame Sache machten. Wollte man sie in eine Falle locken? Bares Geld hatten Jacob und Sebastian kaum dabei, aber wer sie genauer betrachtete, musste doch feststellen, dass sie nicht ganz armer Leute Kinder sein konnten. Ein Lösegeld ließ sich allemal für sie erpressen. Vielleicht wäre es besser, in irgendeine Seitengasse zu verschwinden? Das Haus des Kantors Künhold würden sie schon irgendwie finden. Aber wie sollte er Sebastian seine Bedenken mitteilen?

Der Bruder war dem fremden Jungen dicht auf den Fersen. Während Jacob vor Erschöpfung kaum Schritt halten konnte, legte Sebastian ein erstaunliches Durchhaltevermögen an den Tag; behände übersprang er jede Pfütze. Jacob nahm darauf längst keine Rücksicht mehr, er watete einfach hindurch. Nasser konnten seine Füße ohnehin nicht mehr werden. Allmählich wurde ihm alles gleichgültig. Mochten sie seinetwegen in einer Räuberhöhle landen, Hauptsache, es war dort trocken und warm.

Immerhin hatte es zu regnen aufgehört.

Der Junge und Sebastian waren stehen geblieben, sie warteten auf Jacob. Als er herangekommen war, sah er, dass sie vor einem hell erleuchteten Haus standen. Nicht gerade ein Palast, eher ein bescheidenes, soweit man es im Dämmerlicht erkennen konnte, etwas heruntergekommenes Bürgerhaus. Wenn darin auch keine reichen Leute wohnten, ganz gewiss hauste hier kein Verbrechergesindel. Die Erleichterung breitete sich als ein warmes Gefühl in seinem Bauch aus. Was auch immer sie erwartete, es konnte auf keinen Fall unangenehmer sein, als bei diesem Wetter eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Jacob beschloss, dem Jungen für seine Dienste den Groschen zu schenken, den er in seiner Rocktasche bei sich trug.

Die Tür öffnete sich, ein Lichtschein fiel auf die Gasse. Wärme und Küchenduft umhüllten ihn. Wie betäubt wankten sie hinein. Eine Stimme, laut, schrill, aber freundlich: »Nein, dass Gott erbarm! Die armen, armen Kinder!«

Ehe Sebastian und Jacob wussten, wie ihnen geschah, hatte man sie ihrer nassen Kleider entledigt, abgetrocknet und in zerschlissene, aber saubere Sachen gesteckt. Sie fanden sich an einem großen, grob gezimmerten Esstisch wieder. Vor jedem von ihnen stand eine riesige Schüssel dampfender, köstlich duftender Kohlsuppe. Um sie herum ein wilder Lärm aus Kindergeschrei, Musik (jemand spielte auf einem Hackbrett oder etwas Ähnlichem), Klappern von Geschirr, Schlürfen, Schmatzen und Lachen.

Offenbar hatte Madame Künhold sie bereits erwartet. Was für ein Glück, dass sie am Tor auf den Jungen getroffen waren, der ihnen geglaubt und sie zum Kantorenhaus geführt hatte. – Wo war er geblieben? In dem Durcheinander hatte Jacob nicht auf ihn geachtet, anscheinend war er nicht mit ins Haus gekommen. Er würde den Groschen Madame Künhold anvertrauen, dass sie ihn an den Jungen weitergab. Sie wusste sicherlich, wem sie ihre Rettung zu verdanken hatten.

Doch ihre Gastgeberin ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Jacob und Sebastian sollten sich erst einmal aufwärmen und stärken, warmes Bier wirke bei Erkältungen Wunder. Sie sollten sich nur keine Gedanken machen, es sei für alles gesorgt. Um ihr Gepäck und den Knecht kümmere man sich bereits. Mit dem Kerl habe sie allerdings noch ein Hühnchen zu rupfen, zwei Kinder bei solchem Wetter allein in den Wald zu schicken. »Aber langt jetzt erst einmal tüchtig zu. Müsst ja vollkommen ausgehungert sein.«

Letzteres stimmte allerdings, und überhaupt war Madame Künhold keine Person, der man ohne weiteres widersprach. Ihrem beträchtlichen Leibesumfang zum Trotz bewegte sie sich erstaunlich gewandt durch die Wohnung, kommandierte nebenher die Magd und ihre Töchter herum, machte sich am Herd zu schaffen, tröstete ein Kind, das sich weh getan hatte, schimpfte mit einem anderen, gab dem kleinsten die Brust, sang ein Wiegenlied. Das alles schien gleichzeitig zu geschehen. Es war, als sei sie selbst Ausgangspunkt und treibende Kraft des lärmenden Wirbels, der um sie herumtobte und den sie ebenso unentwegt wie aussichtslos zu ordnen versuchte. Auch in der Eisenacher Fleischgasse war es bisweilen chaotisch zugegangen, aber gegen die Künholdische Wirtschaft war das die reinste Idylle gewesen. Und doch war es herrlich, auf eine wundervolle Weise berauschend.

Irgendwann – wie lange saßen sie schon hier? Es kam ihnen vor wie eine paradiesische Ewigkeit, in Wahrheit konnte es nicht viel länger als eine halbe Stunde gewesen sein – rumpelte ihr Karren vor das Haus. Kurz darauf trottete mit beleidigter Miene Samson in die Stube. Natürlich hatte er sich höchst ungern retten lassen. Beinahe hätte man ihn, wie einer der Bauern, die den Wagen samt Gepäck aus der Senke gezogen hatten, berichtete, mit Gewalt von seinem Bock zerren müssen. Das war dann doch nicht nötig gewesen, Samson hatte schließlich ein Einsehen gehabt. Aber eingeredet hätten sie auf ihn wie auf einen kranken Gaul – der Gaul, dem sei es letztlich zu verdanken gewesen, dass sich der Sturkopf dann doch bewegt habe. Der sei überhaupt um einiges vernünftiger als sein Herr und Meister. Lutz hatte die Zeichen der Zeit erkannt, plötzlich angezogen und damit Samson bewegt – sich zu bewegen.

Die Bauern wirkten reichlich verärgert. Sie erwarteten keinen Lohn, kein Wort davon, man hilft, wo man kann. Aber über ein kleines Dankeschön wäre man nicht böse gewesen. Mehr sagten sie nicht. Nach allem verfügte Samson offenbar über Riesenkräfte. Sie betrachteten ihn mit scheuer Zurückhaltung und wichen seinem Blick aus, er war ihnen unheimlich. Auch Jacob kam seine Verfassung bedenklich vor, der arme Kerl war völlig durcheinander. Madame Künhold schien seine Einschätzung zu teilen, jedenfalls verzichtete sie auf die angekündigte Strafpredigt. Stattdessen stellte sie Samson einen Humpen Waltershausener Bier hin und etwas zu essen.

Jacob bedankte sich derweil in wohlgesetzten Worten im Namen der ganzen Familie Bach bei den Bauern für ihre Rettung. Doch erst als Frau Künhold anfing, ihnen Schnaps einzuschenken, hellten sich ihre Gesichter auf. Sie tranken sogar Samson zu, in dessen vierschrötigem Antlitz sich wiederum, wenn man ganz genau hinsah und mit viel gutem Willen, sogar so etwas wie ein Lächeln ausmachen ließ. Der Knecht aß und trank, wie es seine Art war, stumm und in atemberaubender Geschwindigkeit. Dann begab er sich nach hinten in den Stall und legte sich zu seinem Lutz. Nichts beruhigte Samson so sehr wie die Nähe des Pferdes.

Als der Herr Kantor Johann Valentin Künhold nach Hause kam, schien er nicht sonderlich erstaunt, Jacob und Sebastian an seinem Tisch sitzen zu sehen, vielmehr zeigte er sich über die Ereignisse genauestens informiert. Er hieß Jacob und Sebastian noch einmal in seinem Haus willkommen, fragte nach dem Befinden des Onkels, mit dem er einen Teil seiner Wanderjahre verbracht hatte. Künhold sprach leise und bedächtig. Überhaupt stellte der Waltershausener Kantor in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil seiner Frau dar. Er war von hochgewachsener, beinahe zerbrechlich wirkender Gestalt, sein gelassener Gesichtsausdruck änderte sich nie.

Nicht weniger als sieben Kinder standen um den Tisch herum. Der Vater stellte sie ihnen in der Reihenfolge ihres Alters vor: Johann Samuel, Johann Jeremias, Johann Abraham, Friedelena Christina, Johann Tobias, Johann Nathanael und die kleine Elisabetha, die noch in der Wiege lag. Es stellte sich heraus, dass sie einen bereits kannten: Der Knabe, der sie vom Stadttor zur Kantorenwohnung gebracht hatte und den sie für einen Betteljungen gehalten hatten, war niemand anders als Johann Tobias. Er brachte dem Nachtwächter jeden Tag ein Abendessen, dabei war er zufällig Zeuge ihrer Ankunft geworden und hatte sich bei dem Alten für sie verwendet. Sie schüttelten Tobias die Hand. Und Jacob – er wusste selbst nicht, wie es geschehen konnte – drückte ihm den Groschen, den er noch immer in seiner Faust hielt, in die Hand. Noch während er die Hand ausstreckte, wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler beging. Aber es war zu spät. Tobias schaute verwirrt auf das Geldstück. Dann schüttelte er den Kopf und reichte es ihm zurück. Beschämt stand Jacob da mit seinem Groschen. Valentin Künhold hatte die Szene beobachtet. »Das ist brav von dir, Jacob«, sagte er ernst. »Du hast es gut gemeint. Aber schenke das Geld lieber einem Menschen, der es nötiger hat. Gib es den Armen.«

Den Armen? Die Künholds begnügten sich zum Abendessen mit ein paar Kanten steinharten Brots, selbst der Vater trank nur Wasser. Die Gäste schienen alle Biervorräte aufgebraucht zu haben, auch von der Kohlsuppe war nicht allzu viel übriggeblieben. Doch niemand störte sich daran, die Kargheit ihrer Mahlzeit schien ihnen gar nicht bewusst zu sein. Familie Künhold benahm sich so fröhlich und ausgelassen, als täten sie sich an einer fürstlichen Tafel gütlich.

Als sie zu Ende gegessen hatten, der Vater noch einmal ein Gebet gesprochen hatte, sangen alle gemeinsam das altbekannte Quodlibet: »Ei, wie frisst das Hausgesind so gar viel Käs und Butter/Wären sie Kälber gleich wie du, so fräßen sie das Futter.« Genauso hatten es die Bachs auf ihren Familienzusammenkünften gehalten. Mit einem Male durchzuckte Jacob der Gedanke: Warum nicht hierbleiben, bei den Künholds in Waltershausen? Er sah Sebastian an. Der Bruder sang laut mit. Ein bisschen zu laut. Sebastian war stets darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen; Jacob kannte niemanden, der seine Gefühle besser zu verbergen vermochte. Aber ihm machte er nichts vor, das kaum sichtbare Zucken in den Mundwinkeln sprach eine deutliche Sprache: Auch Sebastian hätte am liebsten losgeheult. Hierzubleiben – in diesem Augenblick hätten Jacob und Sebastian alles darum gegeben. Doch wie sollte das zugehen? Es konnte nicht sein.

Nach dem Gesang sprach der Kantor den Abendsegen, und alle gingen zu Bett. Sebastian legte sich mit Tobias, Nathanael und Friedelena in einen Alkoven. Für Jacob fand sich ein Platz zwischen Abraham und Jeremias. Ein Hering hatte es in seinem Pökelfass bequemer. Trotzdem schlief er so tief und fest wie seit langem nicht mehr.

Am nächsten Morgen schien die Sonne, als wäre es nie anders gewesen. Tobias begleitete sie auf ihrem Weg nach Ohrdruf. Sie hatten noch keine Meile zurückgelegt, da näherte sich ihnen eine schlanke Gestalt. Es war ein junger Mann in einem dunkelblauen Rock. Als er sie erkannte, schwenkte er seinen Hut und lief ihnen lachend entgegen. Es war ihr Bruder Christoph.

III.Der gottlose Kantor

Ohrdruf1695Mittwoch vor Ostern

»Monsieur Bach!«

Jacob zuckte zusammen.

»Ja, ganz recht, ich meine ihn, Bach senior, Jacobus.«

Jacob sprang auf. Er schwankte, ihm wurde schwarz vor Augen. Mit der Linken stützte er sich auf das Pult. Seine rechte Hand krampfte sich um den Griffel, mit dem er gerade einen lateinischen Hexameter von der Tafel abgeschrieben hatte: QUIS, QUID, CUR, CONTRA, SIMILE, EXEMPLARIA, TESTES. »Wer – was – warum – gegen – ähnlich – Beispiele – Zeugen«. Ein Merkvers zur Ausarbeitung einer Rede.

Der Kantor Arnold schritt auf ihn zu, er musterte Jacob mit seinen grausamen Wolfsaugen.

Dann verabreichte er ihm einen mittelschweren Backenstreich. Der Siegelring schlug hart auf Jacobs Kiefer. Es floss kein Blut, aber der rote Abdruck würde noch stundenlang sichtbar bleiben.

Eine Ohrfeige hatte nichts zu bedeuten, eine Bagatelle, sie gehörte zu Arnolds täglicher Routine. Und es war die erste Backpfeife des Tages, der Kantor hatte sich noch nicht richtig eingepaukt, noch nicht den rechten Schwung gewonnen.

Ohrdruf: »auf die Ohren druff«, ein geflügeltes Wort unter den Tertianern, etymologisch fragwürdig und nicht wirklich spaßig. Aber ein solcher Backenstreich war allemal besser als der Rohrstock oder gar die Peitsche.

Arnold verfügte über ein reiches Arsenal solcher Marterwerkzeuge. Der leidige Satan hatte es gefügt, dass die guten Ohrdrufer sich ausgerechnet auf die Herstellung von Peitschenstielen und Züchtigungsinstrumenten aller Art kapriziert hatten; man versorgte ganz Thüringen und Sachsen mit Gerten, Rohrstöcken, Karbatschen, Klopf- und Riemenpeitschen. Jeder Hieb auf den geschundenen Pferde- oder Schülerrücken ein Gruß aus dem schönen Ohrdruf. Der Lehrer der Tertia besaß ein besonders hervorragendes und brutales Erzeugnis Ohrdrufischer Handwerkskunst: In seinen Siebenstriemer aus feinstem Leder waren winzige harte Knoten geflochten und, kaum sichtbar (dafür umso spürbarer), scharfe Metallsplitter eingearbeitet, welche die Stäupung der nackten Waden, Oberschenkel oder gar des blanken Hinterteils zu einer über alle Maßen schmerzhaften und blutigen Angelegenheit machten. Ein Schüler soll nach einer solchen Geißelung wochenlang krank gelegen und sich danach aus Scham das Leben genommen haben. So ging zumindest das Gerücht. Doch niemand, der einmal unter dieser Knute gezittert hatte, zweifelte am Wahrheitsgehalt der Geschichte. Arnold war alles zuzutrauen.

Jacob starrte auf die beschriebene Schiefertafel, die vor ihm auf seinem Pult lag:

QUIS – wer spricht?

Antwort: Kantor Johann Heinrich Arnold, allseits verhasster und gefürchteter Tertius am angesehenen Lyceum Illustre Gleichense zu Ohrdruf. Leitspruch: An der Rute sparen rächt sich nach Jahren. Sadist, eventuell der Satan in Person.

QUID – um was geht es?

Im Einzelfall kaum zu sagen und im Grunde gleichgültig. Ein Anlass zum Prügeln fand sich immer, und Arnold war erfinderisch.

CUR – warum?

Aus bodenloser Niedertracht. Allerdings hatte in Jacobs Fall Arnold tatsächlich einen handfesten Grund für seine Feindseligkeit, nämlich den Bruder Christoph. Der frischgebackene Organist an St. Michaelis passte dem Herrn Kantor nicht in den Kram, die Vorschusslorbeeren, das genialische Gehabe, diese ganze vermaledeite Bachische Sippschaft, die sich jeden musikalischen Posten weit und breit unter den Nagel riss. Arnold verfolgte die Bachfamilie mit unstillbarem Hass, bis in das letzte Glied. Das heißt, bis in das vorletzte, denn sein Zorn traf vornehmlich ihn, Jacob, nur selten Sebastian. Ob seine Wut sich auf ihn konzentrierte, weil er der Ältere war, oder ob sich der Kantor Sebastian nur für eine besonders bestialische Bestrafung aufsparte, wer konnte das wissen?

CONTRA – gegen wen geht es?

Abermals und immer wieder: Johann Jacob Bach, Tertianer, Neuling auf dem Ohrdrufer Lyzeum, Bruder des neuen und allseits beliebten Organisten Johann Christoph Bach. Nicht dass irgendjemand verschont geblieben wäre, aber Jacob war unbestritten Arnolds bevorzugtes Opfer.

SIMILE – ähnliche Fälle?

Auf der Eisenacher Lateinschule hatten sowohl Magister Juncker als auch Kantor Dedekind sich, teils aus Menschenfreundlichkeit, teils aus Bequemlichkeit, des Prügelns weitgehend enthalten. Sebastian und er hatten sehr wohl gewusst, dass es durchaus anders zugehen könnte, doch was sie auf dem Ohrdrufer Lyzeum auszustehen hatten, hätten sie sich niemals träumen lassen, in ihren schwärzesten Albträumen nicht.

EXEMPLARIA – Beispiele?

Unzählige. Bereits am ersten Schultag, als Christoph sie dem neuen Lehrer vorstellte, hatten Jacob und Sebastian geahnt, was ihnen blühte. Als Arnold ihm die Hand drückte, hatte Jacob plötzlich einen furchtbaren Schmerz in der Handfläche gespürt. Schreiend hatte er unter des Kantors hämischem Gelächter die Hand weggerissen. Das Scheusal hatte eine Nadel in seiner Hand verborgen und sie ihm bei der Begrüßung tief ins Fleisch gebohrt. Auf die verdrießliche Frage des Bruders, was er mit solchen Possen bezwecke, hatte Arnold mit einem widerwärtigen Grinsen geantwortet, das sei nun einmal seine Art, man solle es ihm nicht übel nehmen. Am liebsten hätte er natürlich den verehrten Herrn Organisten, den elenden Parvenu, selbst durchbohrt, und zwar nicht bloß die Handfläche und nicht bloß mit einer Nadel.

TESTES – Zeugen?

Kein Schüler oder Lehrer am Lyzeum, der nicht von irgendeiner Arnoldischen Hundsfötterei zu berichten wüsste oder ihr selbst zum Opfer gefallen wäre.

»Monsieur Bach!«

Jacob blickte auf. Seine Schockstarre hatte sich etwas gelöst, der Schmerz auf der Wange war kaum noch zu spüren. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Warum rief der fatale Arnold ihn während des Abschreibens auf? Zwar war er längst mit der Arbeit fertig, hatte aber noch Beschäftigung vorgeschützt, und er war sich sicher, dass der Kantor nicht auf seine Tafel geschaut hatte. Warum er ihn aufrief? Dumme Frage. Falsche Frage. Denn die Antwort lautete: Eben darum. Arnold hielt sie ja gerade durch seine Unberechenbarkeit in Angst und Schrecken. Der Kantor war imstande, etwas Scherzhaftes zu sagen, um, sobald jemand lachte, einen Wutanfall zu bekommen und fürchterlich zu werden. Darum lachte niemand, wenn er einen Scherz machte. Das Schreckliche daran war, dass Arnold nicht nur ein überaus gelehrter, sondern auch ein ausnehmend witziger Kopf war (oder doch sein konnte, wenn er wollte).

So wetterwendisch seine Laune war, so sprunghaft hielt der Kantor auch seinen Unterricht. Er konnte mit einer lateinischen Sprachübung beginnen, sich aus heiterem Himmel über die Gnadenlehre des heiligen Augustin auslassen, urplötzlich auf eine ominöse Rechenmaschine zu sprechen kommen, die irgendein gelehrter Fantast gebaut haben sollte, um von da auf den Stein der Weisen, Himmelskörper, die abstrusen Spekulationen eines gewissen Jacob Böhme überzuspringen und unversehens beim Pfälzischen Erbfolgekrieg zu landen. Es kam vor, dass Arnold sich dabei so in Rage redete, dass ihm der Schaum vor dem Mund stand. Mitunter beschimpfte er lauthals die Obrigkeit, nannte den Grafen einen Hanswurst und Luther einen Erzketzer, weswegen er schon in den Verdacht geraten war, ein heimliches Mitglied des Jesuitenordens zu sein, der im Auftrag des Papstes die Lutherische Lehre untergrub, um die Schüler des Lyzeums zum katholischen Glauben zu bekehren. Aber würde selbst ein Jesuit, dem bekanntlich der Zweck alle Mittel heiligte, so weit gehen, die Auferstehung zu leugnen und für einen gemeinen Betrug zu erklären?

Warum »der gottlose Kantor«, wie er allgemein genannt wurde, noch am Lyzeum unterrichten durfte, vermochte niemand zu sagen. Die Schulleitung und die übrigen Lehrer (die ihn verachteten, aber beinahe ebenso fürchteten wie die Schüler) hüllten sich in Schweigen. Angeblich hatte der Graf, den Arnold doch von seinen Schmähungen nicht ausnahm, einen Narren an ihm gefressen und weigerte sich, ihn hinauszuwerfen. Doch wahrscheinlicher hielt eine noch höhere Instanz schützend die Hand über Arnold. Der Verbleib des Kantors im Schuldienst war ein Mysterium, für das es, jedenfalls in den Augen der Tertianer, die am schrecklichsten unter Arnold zu leiden hatten, nur eine Erklärung geben konnte: Niemand anders als der Höllenfürst Beelzebub persönlich protegierte den teuflischen Pädagogen. Wenn er nicht gar selbst in der leiblichen Hülle des Kantors steckte. Nicht wenige hielten allen Ernstes Arnold für den leibhaftigen Satan, und auch Jacob neigte mehr und mehr zu dieser Meinung. Immerhin gab es Zeugen: Tagsüber verbarg Arnold seinen Pferdefuß, aber der Primaner Creutzberg hatte den Entsetzlichen gesehen, wie er sich eines Nachts hinkenden Schritts durch eine verrufene Gasse bewegt hatte.

Widersagt ihr den Verlockungen des Bösen, damit es nicht Gewalt über euch gewinne?

Ja, weiche von mir, Satan!

Doch so leicht ließ sich dieser Beelzebub nicht austreiben.

»Herr Bach, was ist Ihnen denn? Haben Sie sich etwa erschrocken?«, fragte Arnold mit geheuchelter Besorgnis. »Das täte mir herzlich leid, mon cher. Doch wähnte ich Sie wahrhaftig in einem so tiefen Schlummer, dass es mir angeraten schien, Sie ein wenig wachzutätscheln. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.« Der gottlose Kantor lachte höhnisch. »Und nun, mein lieber Bach, da Sie nun wieder munter sind, dürfte ich Sie alleruntertänigst bitten – endlich Ihren Griffel loszulassen. Oder wollen Sie mich damit erstechen?«

Jacob sah auf seine Rechte: Tatsächlich umfasste er seinen Griffel wie einen Dolch, bereit, ihn jemandem in die Eingeweide zu stoßen. Konnte Arnold Gedanken lesen?

»Warum zögern Sie?«, rief der Kantor mit schneidender Stimme. »Die Iden des Märzes sind wohl schon vorüber, aber das tut nichts: Begehen Sie einen Schultyrannenmord!«

Unter diesen Worten knöpfte er seinen Rock auf, riss sich das Halstuch herunter, öffnete das Hemd und reckte Jacob seine haarlose bleiche Brust entgegen.

»Wohlan, mein Sohn Brutus«, schrie er. »Mache ein Ende. Man wird dich als Helden der Freiheit feiern!«

Vor Schreck ließ Jacob den Griffel fallen, der nun klappernd auf die Pultkante zurollte. Mit spöttischem Blick verfolgte Arnold seinen Lauf.

Kurz vor dem Absturz blieb das Schreibgerät an der Kante liegen.

Der Kantor brach in ein meckerndes Gelächter aus. Dann fasste er Jacob ans Kinn, nicht grob, beinahe zärtlich. »Nein, dafür fehlt dir der Mut, nicht wahr?«, flüsterte er. »Für so etwas fehlt euch die Courage!«, schrie er plötzlich in die Klasse hinein. »Ihr seid ja allzumal dieselben Schlappschwänze, erbärmlichen Tintenkleckser wie …« Auf einmal schüttelte er sich, als erwache er aus einem bösen Traum. »Wo waren wir stehen geblieben?«, sprach er nun mit seiner gewöhnlichen Stimme.

Dann nahm Arnold seine siebenschwänzige Peitsche vom Katheder und legte sie wie zufällig auf Sebastians Pult, das rechts neben demjenigen Jacobs stand. Jacob bemerkte im Augenwinkel, wie der kleine Bruder erbleichte. Die Schonzeit schien vorbei.

Jacob fühlte eine kalte unbändige Wut in sich aufsteigen, die ihn seine eigene Angst beinahe vergessen ließ. Wenn der Schurke Sebastian auch nur ein Haar krümmte, dann – ja, was dann? Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Jacob schloss die Augen und atmete durch. Bis auf die Backpfeife war noch nichts vorgefallen. Nein, auf keinen Fall durfte er sich auf das Spiel einlassen, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Arnold wartete nur auf einen Anlass, auf ihn – oder Sebastian – loszugehen.