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Als der 50-jährige Peter Pistorius, Chef einer Industrie in Süditalien, mitten in der Nacht erwacht, glaubt er sich am Ende. So startet er seinen Arbeitstag in der deutschen Konzernzentrale, an dem nichts ist wie immer. Wir begleiten ihn bei seinem "Hauen und Stechen", seinem Kampf gegen Intrigen, Verdächtigungen und Missgunst. Aufrecht halten ihn ein paar Mitstreiter, die Liebe zu seiner Frau, Ausbrüche in die ländliche Umgebung, seine Erinnerungen ans Meer und seine Pläne für eine bessere Zukunft, bis er ausgebeutet um Mitternacht den Heimweg antritt.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Wer nur den lieben Gott lässt walten
Und hoffet auf ihn alle Zeit,
den wird er wunderbar erhalten,
in aller Not und Traurigkeit.
(Johann Georg Neumarkt 1641)
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN 978-3-347-02872-2 Taschenbuch
ISBN 978-3-347-02873-9 Hardcover
ISBN 978-3-347-02874-6 e-Book
© 2020 Müller, Manfred
Umschlagillustration: Nach einem Ölgemälde des Autors
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Manfred Müller
Der Ökonomikus
Roman
Er wacht auf. Er hört eine Stimme, die ihn ruft von fern, leise, ein Hauch, aber eindringlich, in einer langgezogenen Endung verhallend:
„Peter Pistorius!“
Er lauscht in die Dunkelheit. Da ist nichts, niemand. Er hört nur ein leichtes Rauschen in seinen Ohren. Es war eine weibliche Stimme, ein warmer Sopran, sanft, aber nicht lockend, eher mahnend. Was hat er getan? Er ist alarmiert:
Was will man von ihm?
„Wo bin ich überhaupt?“
Mit Schrecken fühlt er, dass er nicht weiß, wo er sich befindet. Er schwebt, auf dem Rücken liegend, im Dunkeln, im Nirgendwo. Angst überkommt ihn, fühlbar in der Brust, atemberaubend. Er spürt, wie ihm die Kontrolle über sich entgleitet. Er muss sich zusammenreißen, sich im Griff haben. Er kontrolliert sich immer selbst, hat sich im Griff: Seine Bewegungen, seinen Puls, seine Körperausscheidungen, seine Gefühle, seine Ideen, seine Pläne, seine Kleidung, sein Aussehen, seine Körperhaltung, seinen Gesichtsausdruck, seine Redeweise, sein Wollen, sein Denken, seine Schritte. In einer Endlosschleife gehen ihm diese Kontrollobjekte durch den Kopf, als wären sie ihm Sprossen einer Leiter, auf der er emporsteigt, hinaus aus diesem Zustand. Aber jetzt ist da nichts mehr, was er kontrollieren könnte. Er ist vollkommen ausgeleert. Er ist nicht mehr. Ist er mit seinem Sein am Ende? Jetzt, in der Zeit zwischen zwei Herzschlägen wird ihm etwas zustoßen, etwas noch nie erlebtes. Er fühlt eine sich nähernde, unbekannte Bedrohung, um sich, in sich. Er sollte sein Gesicht schützen, zumindest das Gesicht, mit beiden Händen. Er hat keine Arme mehr! Wo sind, um Gotte Willen, seine Arme geblieben?
„Herr, hilf mir, lass mich nicht fallen, halte mich!“ Sein Flüstern, wie Watte, im so schwer beweglichen Mund, ein Hauch in die Stille. Lang oder nur für Sekunden glaubt er, schwerelos zu sein, gefühllos, zu entschwinden: Wohin? Er hat seinen Körper verloren; er ist nur noch Denken. Irgendwann – ist er inzwischen bewusstlos gewesen oder nur einfach eingeschlafen - irgendwann fühlt er, in seinem Rücken, eine Unterlage, fest, aber nachgiebig in den Schultern und am Po; auch eine Zudecke fühlt er und seine Kleidung: T-Shirt und Boxershorts, die er unvermittelt mit den Händen ertastet, die er verloren glaubte.
Er liegt in einem Bett, ausgestreckt auf dem Rücken! Im Hotel? Das darf nicht sein! Wieso ist er schon wieder im Hotel oder in seiner Wohnung, aber in welcher von beiden? Er erinnert sich nicht an einen Flug. Wie ist er hierhergekommen? Was für ein Tag ist heute? Er findet keine Antworten. Das Rauschen in seinen Ohren wird heftig, pochend, scharf pochend auch sein Herz, Unruhe verbreitend. Hat er schon alles hinter sich oder steht ihm noch dieser schwere Brocken bevor? Er ist nicht bereit; er ist nicht gefasst, ihm fehlt jegliche Struktur! Dieses ständige Hin- und Herfliegen macht ihn noch ganz verrück! Nicht nur die Flüge von der Kälte in die Wärme, von der Feuchte in die Trockenheit, schlagartig, sondern auch die ständige Hast, den Terminen hinterherzurennen. Schon immer hat er befürchtet: Eines Tages wird er die Orientierung gänzlich verlieren, wird sich selbst nicht mehr finden, oder ist es soweit? Jetzt? Hier, in diesem Bett?
„Lost in Translation“!
Was ist mit der Präsentation? Wie ist sie gelaufen? Er hat nicht die geringste Erinnerung an ein Auftreten, nur einen wilden Gedankenstrom im Kopf! Er versucht, wenigstens einen Gedanken zu erhaschen, festzuhalten. Zuerst wollte er doch diese Präsentation machen, dann den Versuch, sie zu überzeugen oder zu überreden oder sie müde zu schwatzen, bis sie - wie so oft - alles abnickten, um ihn loszuwerden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen, in der Hoffnung, er wird es schon richten, wie so oft! Sie lassen ihn allein, wie immer, fast immer.
„Sie machen das schon; wir setzen unser volles Vertrauen in sie, Herr Pistorius.“
Und er kann wieder einmal zusehen, wie er aus der Sache heil herauskommt; und falls nicht: Rübe ab! Ihm ist bei diesen Gedanken, als würde ihm sein einziger Halt, die Unterlage, unter seinem Rücken, weggezogen, als fiele er, rückwärts, immer schneller, in ein Loch, in einen Abgrund. wie in eine Bewusstlosigkeit, die mit Rauschen und Klingen in den Ohren einsetzt, den Schädel leert, als würde er dann zerspringen wollen, um sich schließlich im Nichts zu verlieren. Warum ist es so dunkel um ihn? Er zieht seine Arme unter der Decke hervor. Sie sind da und funktionieren! Mit beiden Händen tastet er um sich, auf eine kühle, glatte Bettdecke. Dann berührt er einen Arm, rechts an seiner Seite, feste, warme Haut: Sie ist da! Sie liegt neben ihm! Ein tiefes, befreiendes Aufatmen hebt und senkt seinen Brustkorb: Es kann nur sie sein. Er hat nichts mit einer anderen Frau zu tun. So hat er keinen Zweifel: Es ist Susanne. Also ist er in seinem eigenen Bett. Er ist zu Hause, daheim, und Wärme durchströmt ihn. Jetzt weiß er auch: Es ist Montag! Er ist gestern zurückgekommen, am Sonntag, dieses Mal so spät, nicht am Freitag, wie üblich, weil sie ihm die Präsentationsmappe nicht rechtzeitig, zum gewohnten Abflug, fertiggestellt hatten. Er ist nicht im Hotel oder in seiner anderen Wohnung. Er hat noch alles vor sich. Er muss in die Zentrale. Heute hat er einen wichtigen Termin beim Vorstand; er darf, er muss, er will seine Idee zur Rettung seiner Firma vortragen. Er muss antanzen, er darf!
Mit den Fingerspitzen streicht er über ihren warmen Arm, der ihn gerettet hat, aus seiner Verlorenheit, streicht bis zur Handfessel und zurück zum Ärmelansatz ihres Nachthemds, das er gesehen hat, als sie nach ihm ins Schlafzimmer kam und sich, stehend im Bett, wie kleine Kinder ins Bett steigen, an seine Seite fallen ließ, wobei das Bettgestell beängstigend aufstöhnte.
Nun erinnert er alle Einzelheiten ihres Zusammenseins. Er hält sie fest, um sich, mit zunehmender Erleichterung, zu vergewissern, dass er wirklich da ist: Sie haben sich „Gutenacht“ gesagt, beide schon im Bett; schläfrig waren sie, nach der langen, aber so wohltuenden Unterhaltung, bis tief in die Nacht. Er hat sich im Bett, an ihrer Seite, aufgestützt auf den rechten Ellbogen, über sie gebeugt und ist mit dem Zeigefinger über ihre schweren Augenlider, über ihren kurzen, feinen Nasenrücken und über ihre seltsamen, in ihrem Verlauf für ihn unergründlichen, Lippen gestreift. Sie lächelte, mit geschlossenen Augen, und ist mit diesem Lächeln eingeschlafen. Sie schläft meistens schnell ein, oft schon, während sie sich noch ins Bett kuschelte.
Es gelingt ihm nie, ihren Mund auf Anhieb zu zeichnen, wenn er ein Porträt von ihr machen will, in ruhigen Stunden, die so selten geworden sind. Ihre Oberlippe ist schmal geschwungen und die Unterlippe kurz und voll, was ihrem Gesicht eine scheue Heiterkeit verleiht; entweder gerät ihm ihr Mund zu lustig oder zu streng; beides ist sie nicht. Er zeichnet viel zu wenig. Er hat seine Leichtigkeit und Treffsicherheit verloren. Er hat keine Zeit und, schlimmer noch, keine innere Ruhe. Es ist traurig, womit er seine Zeit verplempern muss und seine eigentliche Bestimmung, seine wirkliche Lebensaufgabe brach liegen lässt. Das wusste er schon als Junge, dass er für die Kunst bestimmt ist. Das spürt er jetzt noch, wenn er einmal ein Bild zustande bringt: Diese tiefe Befriedigung, diese Erfüllung, dieses Ankommen bei sich selbst. In seiner ganzen Arbeit erlebt er das nie. Auch wenn er mal ein scheinbar unlösbares Problem löst, wenn schwere Aufgaben erfolgreich erledigt sind, erwartet er allenfalls ein Wort der anderen. Zu sich sagt er nur: Geschafft, mehr nicht! Aber jetzt ist es zu spät, sich an solche Träume hinzuhängen. Das Malen bringt nichts ein. Sein Vater hat ihn mit dem Satz gequält:
„Ich kann nicht zulassen, dass du verhungerst“. Als Junge hat er sich oft gesehen, wie er verhungert, genauer, wie er verhungert ausschaut. Aber er hat trotzdem gezeichnet und gemalt, während seine Freunde auf der Straße Fußball spielten. Als eine Galeristin seine große Tuschezeichnung kaufte - er war erst vierzehn Jahre alt - war für ihn endgültig klar: Er muss Maler werden, und zeichnend und malend und schreibend wird er durch die Welt ziehen. Seinem übermächtigen Gefühlsleben muss er, mit seiner kreativen Kraft, die ein Lehrer ihm zugesprochen hat, Ausdruck verleihen. Aber seinem Vater rührte seine Zwänge und Träume nicht: Er, der Feingliedrige, der Traumtänzer, sollte Starkstromelektriker werde, weil der Vater Elektroingenieur war. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er sich damals durchgesetzt hätte? Damals war das unmöglich, gegen dieses donnernde Diktat anzugehen:
„Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst, hast du das zu machen, was ich sage.“ Wie wäre alles gekommen, wenn er damals schon davongelaufen wäre und nicht erst so viel später?
Susanne hätte er dann nicht getroffen, oder doch? Sie waren ja für einander bestimmt. Der Himmel hätte sie sicher auf einem anderen Weg zusammengeführt. Bei allen wichtigen Dingen im Leben hat der Himmel seine Hand im Spiel; vielleicht bei allen Dingen, denn alles hängt ja von allem ab, glaubt er. Zufälle gibt es nicht!
Er erinnert sich weiter: Nach seinem nächtlichen Fingerspiel in ihrem Gesicht hatte er die Nachttischlampe gelöscht, seine Hand auf sie gelegt, und so ist auch er eingeschlafen.
Jetzt erst bemerkt er, dass er seine Augen fest zusammengepresst hält. Daher die Dunkelheit! Sie schmerzen ihm. Auch seine Stirn schmerzt; sie ist stark gerunzelt und schweißnass. Er glättet sie, indem er, immer noch ausgestreckt auf dem Rücken, versucht, seinen Kopf zu leeren von diesem unaufhörlichen Gedankenstrom. Er atmet in langen, weichen Zügen aus und ein. Er hört dem Atmen zu.
„Ich werde geatmet“, flüstert er, und seinen, nunmehr klar ausgesprochenen Worten, lauscht er nach, wie sie in die Stille eindringen und versinken. So entspannt sich sein Gesicht. Er öffnet seine Augen. Er sieht, einen dünnen Lichtstrahl, durch einen Spalt im Rollladen, ins Zimmer fallen, quer über sein Bett, über ihren Arm, über ihre zerwühlte Bettdecke und sich dahinter verlieren. Schemenhaft beleuchtet ein feiner Schimmer den Raum. Er weiß, dass eine Straßenlaterne ihr Licht durch das, zu dieser Jahreszeit durchsichtige Blattwerk, auf ihre Hauswand wirft und ihr Schlafzimmer hell beleuchten würde, wenn sie nicht die Jalousie herunterließen, was er gestern etwas nach lässig gemacht hat.
Ihr Arm liegt so nah bei ihm, dass er sich nicht gänzlich zu ihr hinwenden kann ohne Gefahr zu laufen, sie aufzuwecken. Er möchte sie umfassen, ihre Ruhe und Wärme aufnehmen, ohne ihren Schlaf zu stören. Ihr Kopf liegt auf der Seite, ihm zugewendet, halb unter der Zudecke verborgen. Er sieht ihre dunklen Haare, die über ihrem Gesicht und dem weißen, aber jetzt fahlen Kopfkissen verteilt sind, in dunklen Schlangenlinien, kaum wahrnehmbar, im Dämmer des Raums.
Er liegt also auf dem Rücken, seine Hand noch immer auf ihrem Arm, seinen Kopf ihr zugewandt, und fühlt sich zerschlagen, unausgeschlafen, kraftlos, mutlos. Im ist, als wäre er einem schweren Anfall entkommen oder hätte ihn durchgemacht, bewusstlos oder am Rand der Bewusstlosigkeit. Wie kann er da heute antanzen, Kraft, Optimismus, Durchsetzungsvermögen, Entschlossenheit, was sie von ihm erwarten, ausstrahlen? Er tastet nach dem Wecker. Mit der linken Hand fährt er der Nachttischkanten entlang, ohne seinen Kopf zu drehen, findet mit den Fingerspitzen die Tischplatte. Er stellt die Uhr immer in ihr vorderes Dreieck. Auf diesem Weg kann er sie blind greifen. Mit einem Blick auf die Leuchtziffern stellt er fest, dass noch drei Stunden, bis zum Aufstehen, verbleiben. Dies befriedigt ihn zunächst. Um ausgeruht aufstehen zu können. müsste er jetzt sofort einschlafen. Aber er fühlt sich in einem unruhigen, aufgewühlten Wachzustand, so als wäre in ihm alles durcheinandergeraten: Sein Herz, seine Lunge, alle Organe und Blutbahnen und Zellen und Säfte und würden in einem wilden Getümmel ihre alten Positionen und Arbeitsplätze suchen.
Nein, heute kann er überhaupt nicht aufstehen! Den ganzen Tag oder zumindest lange muss er so liegen, ihrem beruhigenden Atmen zuhören und ihren warmen Arm festhalten und sich an sie schmiegen, später und sie umfassen mit seinem linken Arm, sobald sie sich auf die Seite legt. Wer oder was könnte ihn zwingen zum Aufstehen, zum Antanzen, zum Präsentieren? Immer ist er parat gewesen, so selbstverständlich und zuverlässig einsatzbereit. Sie sind verwöhnt, er ist immer da. Heute kommt er einfach nicht. Er ist krank. Es gibt keinen Ersatzmann. Sie brauchen ihn. Wie oft dachte er, heute feuern sie dich. Wie oft ging er in die Firma, am Morgen und wusste nicht, ob er am Abend noch dazugehörte. Aber jetzt sind bessere Zeiten. Er hat sich genug geplagt. Er hat eine sichere Position erreicht. Sie sind auf ihn angewiesen. Er ist unersetzlich. Er ist sein eigener Herr, der heute leider verhindert ist!
Er nimmt seine Hand von ihr, dreht sich zu ihr auf die Seite, so nahe zu ihr, dass er den Geruch ihrer Haare, warmes Fett und Lavendel, aufnimmt ohne ihren Arm, mit dem Körper, zu berühren, legt seine Hand auf ihre Bettdecke, fühlt ihren flachen Körper, der sich sanft hebt und senkt, im Zweiertakt ihres Nachtlieds, und wartet in dieser Lage, bis sie sich umwenden würde und schläft während des Wartens ein.
Kurze Zeit danach, so glaubt er, schreckt ihn das Schrillen des Weckers auf. Wieder liegt er auf dem Rücken, lang ausgestreckt. Er dreht sich auf die Seite und wuchtet sich mit beiden Armen seitwärts aus dem Bett. Diesen Trick hat ihm einmal eine Therapeutin gezeigt, zur Entlastung der Wirbelsäule. Er bleibt an der Bettkante sitzen. Er sitzt zusammengesunken, mit rundem Rücken. Seine nackten Beine frieren. Er versucht sein Morgengebet. Schlaftrunken und im Nachklang seiner wirren Nachtgedanken, geraten ihm die gewohnten Sätze durcheinander:
„Das ist der Tag, den der Herr gemacht hat. Lasst uns froh sein und ihn preisen! Vater unser im. Um 7.15 Uhr muss er los. Herr, vergib uns unsere Schuld. Welche Schuld? Wollte er nicht liegenbleiben? Unsinn! Wie auch wir vergeben unseren Schuldigem. Da gibt es genug. Der Schlimmste ist Klausmann. Der wird heute auch dabei sein. Wenn er ihn schon sieht, durchströmen ihn Hass und Angst und so etwas wie Zuneigung, obendrein, alles gleichzeitigt. Es ist seine riesige Gestalt, die lässt ihn so überlegen auftreten und seine Hochnäsigkeit. Tatsächlich hat er wenig im Kopf. Hat er ihn doch einmal vertraulich gefragt:
„Sag mal Pistorius, wir im Vorstand reden immer von Umsatzrendite. Was halten Sie davon?“
Er hatte es ihm erklärt, obwohl er seinen Ohren nicht traute, was er da gehört hatte. Es ist eines der simpelsten Kennzahlen der Betriebsführung! Der andere sagte, er habe sich das schon so gedacht, aber er wollte das nochmal von einem Fachmann hören. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Bergler wird ihm vielleicht wieder die Leviten lesen, dem Klausmann, auf seine unnachahmlich freundliche Art. Er hat ihn wohl richtig eingeschätzt. Er hat eine besondere Fähigkeit, andere für sich arbeiten zu lassen und das für sein eigenes Werk auszugeben. So verlangte er von ihm ein Exposee, das er auf keinen Fall unterschreiben sollte, damit er es noch in die passende Form bringen könne, wie er vorgab. Aber er hat diese seine Ausarbeitung, im Vorstandsprotokoll entdeckt, unverändert, im Original, mit der Unterschrift vom Klausmann.
Was für ein Durcheinander in seinem Kopf! Er muss noch einmal anfangen:
„Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Aber wenn er um 9.30 Uhr Termin hat, und eine Viertelstunde vorbereiten will, dann muss er um 8.30, sicherheitshalber, um 8.15 losfahren und nicht um 7.15! Oder hat er seinen Termin um 8.30 Uhr? Er hat doch gestern ausgerechnet, dass er um 6 Uhr aufstehen wird. Herr, steh mir bei! Er muss seine Aufzeichnungen nochmal durchsehen.“
Mit Beinen, Armen, Schulter und Kopf macht er, hintereinander, gymnastische Bewegungen, und zählt dabei, jede Bewegung, im Rhythmus seines Herzschlags, einundzwanzig Mal. So zählt er sich, an der Bettkante sitzend, gleichsam, mit jeder Bewegung, näher in den Tag. Durchblutung ist alles, denkt er! Er muss nur immer für ausreichende Durchblutung sorgen, in seinen Arterien und Adern und Muskeln und Gelenken und Herz und Lunge und sämtlichen anderen Organen und Gehirn - halt: im Gehirn darf kein Blut sein – dann wird sein Körper alles Übrige richten, um zu funktionieren. Eigentlich müsste er fordern: Funktionieren ist alles! Ihm fällt ein, er hat nur halb gebetet. Das muss er nachholen, unterwegs. Gott ist überall und an keine Zeit gebunden und an seine Gebete auch nicht. Aber er braucht ihn und klammert sich an solche Riten und befürchtet Unheil, falls er sie vernachlässig, obwohl er weiß, dass dies irrational ist, doch das Gefühl und der Kopf sind sich da nicht einig. Es geht nicht darum, was er tut, sondern wie er es tut; es geht um seine Absichten. Dann stellt er sich auf, richtet sich auf, hoch reckt er seinen vom Liegen geschrumpften Körper, blickt zur dämmrigen Zimmerdecke und sagt, leis:
„Mit Gott, unserem Vater im Himmel“, wobei er sich vorstellt, manches Mal sogar fühlt, er wird an beiden Schultern gefasst, mit sanften Armen und einem wohlwollenden Blick, und so in den Tag gestellt.
Lange hat er gebraucht, „Vater“ sagen zu können, ohne wieder die Minderwertigkeit und Lächerlichkeit des kleinen Peters zu empfinden, ohne die Ängste, ohne die Beschimpfungen, ohne die Anordnungen, ohne die gestotterten Rechtfertigungen, ohne das Langziehen der Ohren und die Knöcheln an seinem Kopf und ohne den niederschmetternden Satz:
„Aus dir wird mal nie etwas werden.“
Lange hat er gebraucht, „Vater“ zu sagen mit Vertrauen, mit dem Wunsch nach seiner Nähe, zu dem, der ihm hilft, der seine Schwäche und Unfähigkeit annimmt, der auf seiner Seite ist, der zu ihm steht, und an den er sich wenden kann, wenn er nicht mehr weiterweiß, und der ihn nicht hängen lässt.
Er geht also aufgerichtet, tappt tapfer auf seinen nackten Füßen, auf dem glatten, kühlen Holzboden, aus dem Raum, während er seinen Kopf zur Schlafenden wendet und in Richtung des dunklen Haarwirrwarrs flüstert:
„Mach´s gut, meine Liebe, und drück mir die Daumen, heute besonders fest.“
Sie liegt noch immer verdeckt unter der Bettdecke. Er darf sie nicht aufwecken, weil sie ihren Schlaf, an ihrem freien Tag, braucht – sie arbeitet zu viel – und sie seinen Zustand, seine Nervosität, sein Unausgeschlafensein, sein sicherlich stark zerknittertes Gesicht nicht sehen soll. Sie macht sich sonst Sorgen. Sie sagt immer:
„Wenn es dir gut geht, geht´s mir auch gut.“
Den Umkehrschluss will er ihr nicht zumuten, nicht heute. Er wird sie anrufen, sobald er in der Firma ist. Wenn er auf Reisen ist, telefonieren sie jeden Tag, morgens und abends, miteinander, seit Jahren. Sie erzählen sich, wie ihre Nacht war und wie ihr Tag verlaufen ist. Das gibt ihm Halt und das Gefühl, nicht allein zu sein und ihr die Sicherheit, dass er sich, auch von fern, um sie kümmert und sorgt. Unangenehmes, Probleme vermeidet er zu erwähnen. Er will sie nicht beunruhigen. Er will ihr das Gefühl vermitteln, er habe alles im Griff und gleichzeitig will er ihr Halt geben. Er spürt ihre zunehmende Erleichterung, während sie ihm ihre Tagesgeschichten erzählt, ihre Probleme mit ihren Mitarbeiterinnen, mit der vertrackten Stadtverwaltung, mit den Eltern, die nicht einsehen wollen, dass ihr Kind nicht zu den Hochbegabtesten gehört. Auf der einen Seite empfindet sie eine tiefe, warme Zuneigung für „ihre“ Kinder und wird von ihnen angehimmelt, auch wenn sie längst der Schule entwachsen sind. Auf der anderen Seite sind ihr Verwaltungsarbeiten und deren Urheber im Amt ein Gräuel. Da kann er ihr Ratschläge geben und helfen und fühlt sich dabei für kurze Zeit abgelenkt von seinen eigenen Problemen oder relativiert sie in ihrer Bedeutung, bis hin zur Bedeutungslosigkeit, wenn er mit einem Schlag erkennt, da will sich ein Rechenknecht nur wichtig machen und hat ihn, also seine Firma, als willkommenes Opfer auserkoren, denn viele glauben, je weiter eine Tochterfirma vom Mutterhaus entfernt liegt, desto dümmer ist sie.
Im Badezimmer ist es hell und rötlich: Die Sonne geht auf. Ihre roten und gelben Strahlen brechen sich im Riffelglas des Fensters, und sprühen Funken, hundertfach, in den Raum. Der ist warm, nicht von der Sonne, sondern von der Zentralheizung, die zu dieser frühen Uhrzeit schon arbeitet. Er zieht sich aus hängt sein Shirt und seine Shorts an einen Hacken und steht nackt im Warmen und betrachtet weiterhin das Farbenspiel am Fenster. Die Sonne rückt höher und verliert ihr rotes Feuer, und das gelbe Licht wird immer gleisender und verteilt sich funkelnd über das ganze Fensterglas und besprenkelt die Luft und seine nackte Haut. Er wendet seinen Blick nicht ab, während er beginnt, seinen Körper zu massieren: Auch eines der vielen Rituale, die er täglich absolvieren muss, um in Funktion zu kommen und gleichzeitig Unheil zu vermeiden. Mit beiden Händen umfasst er seinen harten Hals, dessen Muskelstränge am Morgen immer schmerzen - heute besonders mangels ausreichender Durchblutung, in dieser kurzen Nacht - und knetet ihn mit den Fingerspitzen. Dann packt er seine festen Brustmuskeln und bearbeitet sie ebenfalls in kreisenden Bewegungen, das Gleiche an seinem Bauch. Wenn er wollte, könnte er sich ein Sixpack antrainieren, aber Sport ist nicht seine Sache; die Möglichkeit etwas tun zu können, genügt ihm. Seine Hüften, als könnte er den Speck auf diese Art loswerden, rubbelt er heftig auf und ab. Die Beine massiert er, von den Fußfesseln aus, nach oben. Ihre Muskeln sind ausgeprägt und hart, stellt er jedes Mal mit Befriedigung fest, als könnte sich ihr Zustand von einem Tag auf den anderen ändern. Das kommt vom vielen Gehen, sagt er sich. Das ist genug Sport getrieben! Seinen Penis und seinen Arsch lässt er unberührt; da will er heute keine Regungen provozieren. Er braucht einen klaren Kopf. Er muss funktionieren, das heißt, sein Körper muss das machen, was sein Kopf will; ohne eigene Regungen oder Widerstand muss er mitspielen; punktgenau muss er fit sein, wie ein Sportler am Start. Sein Start wird die Präsentation sein. Er will alles auf eine Karte setzen. Die ersten Sekunden sind entscheidend! Allein schon sein Erscheinen, sein Auftreten muss sie für ihn, für seine Sache einnehmen. Sie fassen gern nur das große Ganze in den Blick. Kleinkram ist für die Angestellten. Er will ihnen einen Garanten vorspielen, der alles passend macht, der alles schon richten wird, der alles fest im Griff hat und alles durchblickt, so utopisch, wie seine Ideen ihnen auch erscheinen mögen. Risiken gibt es keine. Das wird er ihnen zuerst klarmachen. Sie können nur gewinnen! Seinen Vortrag hat er laut eingeübt: Haltung, Ausdruck, Gesten, alles perfekt! Er ist von sich selbst begeistert. Ab und zu eine Folie auflegen, bunt, mit ein paar dicken Zahlen und Kurven garniert, wie ein abstraktes Bild: Sie werden Augen machen! Er wird mit Fachbegriffen um sich schmeißen, mit Anglizismen, dass ihnen die Sinne vergehen und sie schließlich ausrufen:
„Das machen sie so! Wir haben vollstes Vertrauen. Berichten sie periodisch über den Fortschritt. Viel Glück!“ So wird das heute laufen, auch wenn er im Moment noch etwas schwach ist
Dann stellt er sich unter die Dusche. Heiß und kalt soll seine Müdigkeit herausgespült werden. Er trocknet sich ab und empfindet eine warme, durchblutete Schlaffheit, die ihn zwingt, sich auf die Holzbank zu setzen. Er lässt seinen Kopf und seine Arme hängen und wartet, bis sein Herz wieder in seinen alten Schlag fäll - 60 Puls in der Minute - und diese seltsame Kurzatmigkeit aufhört und das Rauschen in seinen Ohren nachlässt. Hat er denn soviel Zeit, hier herumzusitzen? Vielleicht war es ein bisschen viel in letzter Zeit: Die Fliegerei, die Vorbereitungen zur Präsentation, zusätzlich zu seinem enormen Arbeitspensum, Interesse zu wecken für sein Anliegen, diese endlosen Telefonate, bis Bergler endlich sagte:
„Na, dann kommen sie halt mal und zeigen sie uns, was sie so haben.“
Dann die nervigen Bemühungen, sie alle unter einen Hut zu bringen, heute, Montag um 8.30 Uhr, oder war´s doch 9.30? Er hat ein so scharfes Zahlengedächtnis, warum bekommt er diese lächerliche Zahl jetzt nicht auf die Reihe? Die sprühenden Sonnenstrahlen auf der Fensterscheibe sollten ihn endlich munter und froh machen. Es gibt andere, schönere Dinge als seine tägliche Krämerei. Die Natur und ihr Schauspiel, zum Beispiel: Die Lichterorgie am Morgenhimmel, das Erwachen der Farben, das Glitzern der Tautropfen. Man muss dafür einen Blick haben, der nicht verdorben ist von schriller Reklameflut ringsum. Den hat er sich bewahrt; den braucht er für seine Malerei, zurzeit leider nicht, aber irgendwann…
Manchmal geht er nach dem Aufstehen in den Garten und beobachtet die Natur. Unter dem fahlen Morgenhimmel träumt sie noch ihre letzten Träume eingehüllt in die grauen Nachtschatten. Die Bäume sind noch schwarze Scherenschnitte am Himmel, der zunehmend höher und heller wird. Er beobachtet, wie das Mausgrau auf den Blättern und das Dunkelgrau, dazwischen, davonschleichen und dem Erwachen der Farben Platz machen: Einem Moosgrün und einem Grasgrün und einem Smaragdgrün.
Er sieht, wie die Blumenköpfe sich aus dem Schlaf erheben und ihre lichten Farben überziehen: Rosenrot und Zinnoberrot und Cremeweiß und Kobaltblau. Er hat vergessen, seine Zähne zu putzen! Eine drastische Störung seines Rituals! Sie müssen immer vor dem Duschen geputzt werden. Er verfolgt einen strikten Ablaufplan am Morgen. Das gibt ihm die Sicherheit, dass er funktioniert, beziehungsweise, dass er in Funktion kommt und alles getan hat, was an ihm liegt, Widrigkeiten des Tages und Unheil zu vermeiden. Noch einmal macht er sich nass; noch einmal muss er sich abtrocknen! In einem plötzlich aufkommenden Anfall von Wut oder Unbeherrschtheit - wohl angesichts der vielen Querelen dieser Nacht und des frühen Tagesbeginns, wie er sich selbst rechtfertigt - wirft er das Handtuch auf den Boden, auf die beigen Fliesen mit den blauen Rändern, und will darauf, mit einem Aufschrei, herumtrampeln, besinnt sich jedoch auf seine schlafende Frau, nebenan, und hängt das Tuch still, nach Beherrschung ringend, auf die Stange zurück. Er sieht auf sein Glied, das schlaff an ihm herunterhängt. Ein Gefühl von Hilflosigkeit überfällt ihn: Alles Staffage, was er hier treibt, Hokuspokus nur! Er wollte heute nicht aufstehen, liegenbleiben wollte er, am besten den ganzen Tag! Das hat er nun davon! Alles hängt an ihm herunter: Sein Kopf, seine Schultern und das da auch! Er muss fit werden für seinen Auftritt. Er muss optimistisch wirken, agil, tatkräftig, unerschütterlich, kampfbereit, ellenbogenstark. Er muss ihnen zeigen, dass er vor Kraft und Unternehmungslust nur so strotzt, dass er sein Herzblut für sein Vorhaben hergeben will. Das ist die höchste Anerkennung bei ihnen: Der gibt sein Herzblut!
Wieder macht er gymnastische Bewegungen: Kniebeugen: Er schwankt zur Seite und muss sich abstützen beim Aufrichten, hochstrecken, Beine anziehen, er muss sich dabei festhalten, wieder zur Kniebeuge und wieder festhalten. Er gibt es auf. Er bringt heute nichts zustande. So alt ist er doch noch nicht, mit seinen fünfzig Jahren! Er kümmert sich viel zu viel um seinen Kopf, zu wenig um seinen Körper, als sei er nur ein Anhängsel unter seinem Kopf, das mitspielen muss, ungefragt, selbstverständlich: Ein Diener seines Herrn.
„Mens sana in corpore sano“, kommt ihm in den Sinn. Das galt für die schönen Römer, mit ihren schönen Körpern und ihren schönen, klaren Gedanken, in ihrer schönen, klassischen Welt, nicht für sein verknotetes, verwirrtes, vertracktes, kompliziertes Werkeln. Verzweiflung kann er nicht gebrauchen, heute schon gar nicht.
„Herr, steh mir bei! Schau auf dein Kind. Heute benötige ich deinen Blick besonders!“
Er sollte sich mehr um seinen Körper kümmern; ihn ernst nehmen. Ungewohnte Regungen nicht mehr abtun, sondern als Signale annehmen, die er ihm sendet. Sie sind zu zweit, er und sein Körper, zwei Persönlichkeiten, die ihr Eigenleben haben, aber einander brauchen. Er ist für ihn verantwortlich, muss für ihn sorgen und dafür hilft er ihm. Ist er doch ein Geschenk, ein wertvolles. Er vertraut auf seine Selbstheilungskräfte. Arzt und Pillen meidet er. Wenn er nur mehr Zeit hätte, für ihn, und vor allem mehr Ruhe. Er sollte sich das nochmal genau durchdenken und einen Aktionsplan aufstellen, zur Körperertüchtigung.
Er geht aus dem warmen Raum in den kühlen Flur, an der Tür seiner schlafenden Frau vorbei: Nackt, so wie er ist, würde er sich liebend gern an ihre Seite legen, ihre Haut, ihre Wärme fühlen und warten, bis sie aufwacht. Die Schlaftrunkene würde sich sofort ihm öffnen, stellt er sich vor, während er mit seinen nackten Füßen über den glatten Holzboden patscht oder sie würde erschrecken, ihn bei sich zu fühlen, um diese Uhrzeit. Er würde ihr ins Ohr flüstern, sie hätten alle Zeit der Welt, während er sie sanft streichelt, denn er gehe heute nicht in die Firma. Auch solche Vorstellungen sollte er heute fallen lassen; sie stören seine Einsatzbereitschaft.
Im Ankleidezimmer, am Ende des Flurs, sieht er mit Erleichterung, dass er seine Kleidung schon gestern zurechtgelegt hatte. Die Entscheidung, was er anziehen sollte, hätte ihn jetzt überfordert. Über seine Unterwäsche legt er seinen Harnisch an, sein Kettenhemd und den Hodenschutz. Diese erdachte Kostümierung braucht er für seinen Auftritt, auf der Bühne des Firmentheaters, das sein Leben geworden ist, sein Leben, ein Bühnenauftritt! Er spielt, wie alle, eine Rolle. Sie wurde ihm übertragen; er hat sie übernommen, egal, ob sie ihm liegt oder nicht. Auf den Leib ist sie ihm nicht geschrieben. Das war auch nie eine Frage. Er ist gewappnet! Darüber noch den leichten Zwirn, grau mit feinen, hellblauen Streifen und das weiße Hemd mit der dunkelblauen Seidenkrawatte. Für das Hauen und Stechen ist er gerüstet. Sein scharfes Denken dient ihm als Schwert. Leise, mit rauer, schlafbelegter Kehle, singt er:
„Wer jetzo Zeiten leben will, muss ham ein tapfres Herze. Es sind der argen Feind so viel, bereiten ihm groß Schmerze.
Da muss man stehn ganz unverzagt auf seinem blanken Schwerte,
dass sich der Feind nicht an uns wagt, es geht um Ruhm und Ehre“.
Sein altes Pfadfinderlied! Da saßen sie nachts am Lagerfeuer und sangen drauflos, mit den Gitarren, den Klampfen, und die Nachtkühle vom Wald im Rücken und vorn das prasselnde Feuer und den beißenden Rauch. Sie, die kleinen Buben, sangen vom harten Lebenskampf und wussten nichts davon. Sie sangen auch von Liebe und Tod, und fühlten sich so stark, von diesen Dingen vollkommen unberührt. Er war einer der Jüngsten, schon
