Der Osten - Johann Michael Möller - E-Book

Der Osten E-Book

Johann Michael Möller

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Beschreibung

Mit großen Hoffnungen und Erwartungen blickten vor dreißig Jahren die Osteuropäer auf die westliche Welt, und auch der Westen begann, seine östlichen Nachbarn wiederzuentdecken. Heute ist von dieser Aufbruchsstimmung kaum noch etwas zu spüren. Auf beiden Seiten wird inzwischen eher das Trennende als das Verbindende registriert. Sieht Der Osten, den man einst mit offenen Armen empfing, überhaupt noch eine positive Zukunft in der Brüsseler Union? Und umgekehrt: Hat der Westen die Geschichte und Prägung Osteuropas jemals ernsthaft zu verstehen versucht? Die gegenseitigen Vorbehalte scheinen mit jedem Tag zu wachsen. Von einer Quarantänezone politischen Denkens ist bereits die Rede. Der Osten sträubt sich dagegen, als Relikt der Geschichte zu gelten und beharrt auf einer eigenen politischen Agenda. Dabei wäre es hier wie dort nur die Einsicht in das gemeinsame Erbe, welche die wachsende Kluft überwinden und den Weg in eine gemeinsame Zukunft bahnen könnte.

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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Johann Michael Möller, geboren 1955, war Redakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und Korrespondent in Thüringen und Sachsen, dann Hauptabteilungsleiter Fernsehen des MDR und nach dem Wechsel zum ZDF stellvertretender Leiter und Moderator des Magazins »Kennzeichen D«. Bei der »Welt« leitete er ab 1998 das Ressort Innenpolitik und wurde 2000 stellvertretender Chefredakteur. 2006 ging er zurück zum MDR und war dort bis 2016 Hörfunkdirektor. Er ist heute Herausgeber der deutsch-russischen Zeitung »Petersburger Dialog«.

JOHANN MICHAEL MÖLLER

Der Osten

Eine politische Himmelsrichtung

Für Anne

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Geschichte erwacht

Europas Mitte

Wo wir uns finden

Die Hausmaushybridzone

Blühende Landschaften

Dunkeldeutschland

Sind wir ein Volk?

Herz der Finsternis

Der Fahrstuhl in die Römerzeit

Einwanderer ins eigene Land

Die Erfindung der Ostdeutschen

Freiheit eines Christenmenschen

The Preuss of Germany

Treuhand-Blues

Kein Akt der Verzweiflung

Die besseren Deutschen

Der Nachahmungsimperativ

Zeigen der Folterinstrumente

Das Europäisierungsparadox

Europas innerer Orient

Hinter dem Eisernen Vorhang

Großmütter erzählen

Ein Federstrich Ribbentrops

West Side Story

Das Weltmodell

Der Kampf um Picassos Kopf

So fern wie die Mongolei

Phantomschmerzen

Das Grab des Vogelprofessors

Namen, die keiner mehr nennt

Historische Tiefenenttrümmerung

Auszug aus dem Wasserwerk

Wo Rathenaus Mörder begraben liegen

Doppelte Loyalitäten, doppelte Abwehrreflexe

Vom Abschied des Schäfers

Fukuyamas Welt

Das Trauma der erzwungenen Modernisierung

Der russische Waschsalon

Von der Ungleichzeitigkeit

Der Ort, an dem es kein Vorbeikommen gibt

Benedicts Erfindung

Mentale Osterweiterung

Verwilderte Zivilisation

Pizza-Connection

Helden im Museum

Ach, Europa

Literaturhinweise

»Tatsächlich ist bis heute der Nationalismus als Ideologie das größte Hindernis geblieben, das dem Nachdenken über die Nation entgegensteht.«

Henning Ritter

Die Geschichte erwacht

DEN Osten gibt es nicht. Es hat ihn nie gegeben; nicht einmal zu Sowjetzeiten, als die Länder Osteuropas hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden und in der Wahrnehmung des Westens zu einem gesichtslosen, uniformen Block erstarrt waren. »Ostblock« – was für ein grauenhaftes Wort für ein grauenhaftes Kapitel unserer Geschichte. Dieser Ostblock, urteilt Karl Schlögel, der große Begleiter der Völker Mitteleuropas auf dem Weg zurück in ihre Geschichte, »löscht alles aus, was er bezeichnen soll«. Er zog eine Grenze »gegen die Geschichte und unser Wissen davon«.1

Schon deshalb hat sich die Rede vom Osten so hartnäckig halten können; hat den Fall der Mauer überlebt, den Zusammenbruch der kommunistischen Machtsysteme und auch das Wiedererscheinen einer verloren gegangenen Welt, weil uns das Wissen fehlt; weil wir unmusikalisch geworden sind für die älteren Formen unserer Geschichte. Und dennoch scheint es einen gefühlten Osten zu geben, so als wäre diese Himmelsrichtung zum Verständnis des sich neuformierenden Kontinents auch weiterhin unverzichtbar; als existierte auch nach dem Ende der alten sowjetischen Machtverhältnisse noch immer eine imaginäre Klammer, die so grundverschiedene Völker und Landschaften, Geschichten und Mentalitäten vom Baltikum bis zur Schwarzmeerküste verbindet über das gemeinsame Schicksal des Ostblocks und seine Wahrnehmung durch den Westen hinaus.

»Im Osten erwacht die Geschichte«, hatte Pierre Bourdieu 1989 angesichts der sich öffnenden Grenzen ausgerufen. Auch er war vom Ende der Geschichte überzeugt gewesen und musste sich seinen Irrtum eingestehen.2 So viel Anfang war nie, jener berühmte Satz, der in großen Lettern über den ersten Nachkriegsjahren gestanden hatte, bekam urplötzlich seine Gültigkeit zurück. »Wir sehen die Flaggen untergegangener Republiken wieder auf den Dächern ihrer Hauptstädte wehen«, notierte Karl Schlögel begeistert. »Ins Bewusstsein der Europäer treten die Namen von Städten und Orten, die aus dem Horizont der Gegenwart herausgefallen waren. Nun stellt sich heraus, dass untergegangene und totgeglaubte Welten leben.«3

Nur wenige Jahre zuvor hatte Milan Kundera von den gekidnappten und verschleppten Völkern Mitteleuropas gesprochen. Sein leidenschaftlicher Text, der sich rasch in vielen Sprachen verbreitete, war wie ein intellektuelles Aufbäumen gegen den politischen Permafrost jener Zeit. Vergesst die Mitte Europas nicht, hieß sein Appell; jenes Europa, das zwischen die Fronten geraten war und zu Stalins Beutegut wurde. Im scharfen Kontrast der Teilung der Welt in West und in Ost war dieses Mitteleuropa verschwunden, und die bloße Rede davon war schon prekär, galt lange als »antiwestlich, antiliberal und antidemokratisch« und passte nicht in die Zeit.4

Dieses Mitteleuropa war nur in der Vorstellung des Westens »grau wie die Zeitungsspalten« (Schlögel). Es lebten darin auch keine »Ostblockmenschen«, sondern Polen, Tschechen, Ungarn. Doch »unsere Sinne, unser Auge, unser Ohr sind ost-westlich geschult, für die Nuancen, Schattierungen und Tonlagen dazwischen sind wir ziemlich unempfindlich geworden«, mahnte Schlögel in seinem spektakulären Essay »Die Mitte liegt ostwärts«, mit derselben Eindringlichkeit und derselben Überzeugungskraft wie vor ihm Milan Kundera.

Man muss sich der Zeitumstände vergewissern. Damals schien der kalte Krieg noch einmal kälter zu werden. Der Nato-Doppelbeschluss lag nur wenige Jahre zurück. Doch die Hoffnung, dass Europa eines Tages aufhören werde, »entweder West- oder Osteuropa zu sein«, diese Hoffnung hat sich dauerhaft nicht erfüllt. Das Europa, das dem Ende der Nachkriegszeit entgegengeht, werde kein »idyllischer Ort« sein, hatte Schlögel schon im Oktober 1989, einen Monat vor dem Mauerfall, prophezeit: »In der Dynamisierung aller Verhältnisse brechen Widersprüche auf, die für überwunden, und Probleme, die für erledigt gehalten wurden.«5 So ist es leider gekommen. Der Westen Europas steht dem Osten heute so ratlos gegenüber wie zuvor. Er versteht ihn nicht; er will ihn auch nicht mehr verstehen; und was Russland betrifft: Er beginnt den Osten wieder zu fürchten.

Dasselbe lässt sich in umgekehrter Richtung sagen. Das große Vorbild des Westens und seine Wertewelt beginnen ihre Anziehungskraft zu verlieren. Ein gemeinsames politisches, ein kulturelles Projekt jenseits aller wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen ist aus diesem größeren Europa nie geworden. Das wird inzwischen schmerzhaft deutlich.

Mit dem Ende des west-östlichen Blocksystems beginne die »Rache der Nationen«, hatte der französische Publizist Alain Minc 1990 vorhergesagt. Die Entwicklungen haben ihm recht gegeben.6

Europas Mitte

SEIT 1987 berechnet das französische Institut national de l’information géographique et forestière die Mitte der Europäischen Union. Dieser Mittelpunkt hat sich im Zuge der Osterweiterung der EU tatsächlich ostwärts verschoben: vom belgischen Viroinval über das deutsche Kleinmaischaid bei Koblenz ins osthessische Meerholz, einen Stadtteil von Gelnhausen; dann nach Westerngrund in Unterfranken, und nach dem Brexit würde es Gadheim bei Würzburg sein. Das Magazin der »Süddeutschen Zeitung« hat diese Orte, die kaum einer kennt, fotografieren lassen und der so entstandenen Bilderserie berechtigterweise den Titel »Mitten im Nirgendwo« gegeben. Man könnte das wie eine ironische Paraphrase auf Schlögel lesen. Die Mitte Europas ist tatsächlich nach Osten gerückt; ein paar Kilometer immerhin und tief in die westdeutsche Provinz. Man kann sich den Spott darüber verkneifen. Es ist der errechnete Mittelpunkt einer Union, die ihren Ursprung im Westen hat und von anderen historischen Bezügen nicht allzu viel weiß. Es ist ein Europa der Statistiker und der Verkehrsplaner; der Strukturmittel und der Wirtschaftshilfen. Und man sollte nicht ungerecht sein: Es ist auch das Europa des guten Willens. Man schlägt einen Kreis auf der Karte, unbesehen der Frage, wo die historischen Wege verlaufen und die großen Erinnerungsorte sind. Das hat man allerdings nicht nur in unserer Zeit so gemacht. In Polen identifizierte man den geographischen Mittelpunkt Europas einst mit dem Örtchen Suchowola; das war zu Beginn der polnischen Teilung. Und der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk umreißt sein Europa ebenfalls mit dem Zirkel. »Ich steche also die Nadel in den Ort, wo ich mich jetzt befinde und aller Voraussicht nach bleiben werde. Den zweiten Arm setze ich dort ein, wo ich geboren wurde und den größten Teil meines Lebens verbracht habe. Das ist schließlich die wichtigste Größe, wenn wir die eigene Biographie mit dem Raum in Einklang bringen möchten. Zwischen meinem Wolowiec und Warschau liegen in Luftlinie etwa dreihundert Kilometer. Natürlich kann ich der Versuchung nicht widerstehen und ziehe einen Kreis im Radius von dreihundert Kilometern um Wolowiec, um mein Mitteleuropa zu bezeichnen.« In diesem Kreis, so Stasiuk, »liegen ein Stück von Weißrussland, ein großes Stück der Ukraine, recht ansehnliche und ungefähr gleich große Stücke von Rumänien und Ungarn, fast die ganze Slowakei und ein kleines Stück von Tschechien. Ja, und ungefähr ein Drittel meines Vaterlandes. Aber kein Stück von Deutschland oder Russland, was ich mit einem gewissen Erstaunen, aber auch mit diskreter, atavistischer Erleichterung registriere.«1

»Wir müssen«, schrieb wiederum Schlögel, »die Anschauung von dem Raum, in dem wir selbst leben, schon vollständig verloren haben, wenn wir den Begriff bemühen müssen. Es bleibt uns offensichtlich nichts anderes übrig, als ganz von vorne zu beginnen: vielleicht können die Deutschen West, die so ganz in der transelbischen Konfiguration aufgegangen sind, eine Vorstellung von Mitteleuropa, vielleicht auch ein Bild von ihrem Platz darin, überhaupt nur zurückgewinnen, indem sie dem Verschwinden ihres Bildes von Mitteleuropa nachgehen.«2

Man kann dieses Nachgehen fast wörtlich nehmen. Im Morgengrauen einer Spätsommernacht bald nach der Jahrtausendwende machte sich der Reporter Wolfgang Büscher auf, um von Berlin zu Fuß nach Moskau zu wandern. Ein solcher Fußmarsch ist eine sehr deutsche Idee, und sie weckt auch sehr deutsche Erinnerungen. Ein Land zu Fuß zu erkunden, heißt, es genau kennenlernen zu wollen, mit eigenen Augen und Ohren, mit all den Geräuschen und fremden Gerüchen. Wandern ist eine andere Form des Lesens. Fährten zu lesen heißt auch wissen zu wollen, wer vor einem ging. An der Grenze zu Russland, dort, wo der richtige Osten beginnt, dreht sich Büscher noch einmal um: »Im Westen war der Himmel aufgerissen, ein glühender Schlitz, breit wie der Horizont, die letzte Sonne brach gerade durch. Ich sog das Bild aus dem Himmel, bis es verschwunden war, dann wandte ich mich wieder nach Osten, und die dunkle, schnurgerade Chaussee ins Nichts war mir die liebste, die ich je sah. Voller Versprechungen, voller Abenteuer, voller Anfang.«3 Noch ein letztes Mal formuliert Büscher zu Beginn des neuen Jahrhunderts die Hoffnungen und Erwartungen am Ende des alten, dass Europa zusammenwächst und der Osten ganz selbstverständlich dazugehört. Auf dieser dunklen, schnurgeraden Chaussee sind viele damals gegangen.

Wo wir uns finden

ZU den denkwürdigsten Erinnerungen an meine ersten Korrespondentenjahre in der zerfallenden DDR gehört, dass mich kaum jemand nach meinem Werdegang, gar nach meiner Familiengeschichte gefragt hat. Ich besaß eine Funktion und repräsentierte ein anderes Leben und blieb doch in einem Wahrnehmungskäfig gefangen, aus dem es offenbar keine Entlassung gab. Ihr Westdeutschen, hat mir der Berliner Philosoph Jürgen Große sehr viel später erklärt, wart in unserer Diskurssemantik gewissermaßen die »Normalnull«, ihr musstet euch nicht erklären. Damals habe ich das als unangenehm empfunden. Ich habe mich nie daran gewöhnt.

Noch heute spüre ich den prüfenden Blick, mit dem mich der Schriftsteller Jürgen Fuchs während einer Diskussionsveranstaltung unverwandt ansah, um mir dann hinterher mitzuteilen, dass er das Gespräch fortzusetzen gedenke. Ich hatte seine Musterung offenbar bestanden, ohne dass freilich ein einziges persönliches Wort zwischen uns gefallen war. Eine solche Form der Wahrnehmung lernt man wohl nur in totalitären Gesellschaften, die ihre eigentliche Kommunikation in die Lautlosigkeit verbannt haben. Manches kapiert ihr Westdeutschen einfach nicht, bekam ich hin und wieder zu hören. Aber ein solcher Satz galt schon als Vertrauensbeweis. Das ist immer noch so. Die Schriftstellerin Jana Hensel beschreibt die Mauer des Schweigens, auf die sie bei einer Lesung in Düsseldorf stieß; und dann stellte sich plötzlich heraus, im Saal saßen überwiegend Ostdeutsche. Sie hat das als Verbergen von Herkunft gedeutet.

Anfang der neunziger Jahre sollte ich vor einem Kreis ehemaliger Professoren an der Universität Jena sprechen. Man hatte mich zum Thema »Wendeerfahrungen eines Westdeutschen« eingeladen. Ich traf auf dieselbe Mauer des Schweigens. Niemand im Publikum verzog eine Miene; keinerlei Reaktionen, aus denen ich auf Zustimmung oder Ablehnung hätte schließen können. Bis sich am Ende meines Vortrags ein stattlicher Mann erhob und mir für meine guten Absichten dankte. Aber bitte verstehen Sie auch mich, sagte er dann: »Ich bin ein Kind der deutschen Arbeiterbewegung und ich werde es bis an mein Lebensende bleiben.«

Das war im selben Saal der großen Aula der Universität, an deren Stirnseite das berühmte Bild von Ferdinand Hodler hängt über den »Auszug deutscher Studenten in den Freiheitskrieg von 1813«. Dieses Bild hat eine wechselvolle Geschichte erlebt. Es wurde gefeiert und war verfemt; man hat es mit einer Bretterwand verschlossen und es wieder hervorgeholt; zu DDR-Zeiten war es zeitweilig durch einen Vorhang verhüllt. Neben mir stand einer der Marxismus-Leninismus-Professoren, denen die Abwicklung drohte. Ob ich wisse, fragte er mich, wessen Züge der sogenannte Rockanzieher auf dem Bild denn trage. Dann erzählte er mir die inzwischen bekannte Geschichte von Walter Eucken, der dem Maler mit siebzehn Jahren Modell stehen musste. Seine Mutter, die in Jena ein kunstsinniges Haus führte, hatte den Schweizer Maler 1908 zu diesem Bild inspiriert. Die ganze Zeit, sagte mein ML-Professor lakonisch, während wir hier vorne Politische Ökonomie lehrten, hörte uns hinter dem Vorhang einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft zu.

An der Universität Jena hatte der Umbruch sehr früh begonnen. Schon Anfang Dezember 1989 organisierte sich ein kleiner Kreis von reformwilligen Dozenten um den Internisten Dietfried Jorke in der Aktionsgemeinschaft zur demokratischen Erneuerung der Hochschule. Von Jena ging auch die erste Initiative zu einem deutschlandweiten Treffen von Studenten und Hochschullehrern aus, die sich am Fuße der Wartburg versammelten und ein »demokratisches Deutschland für Europa« forderten. Kopf dieser Initiative war der Jenaer Mediziner Ulrich Zwiener, ein gewinnender Mann, dem man seinen Durchsetzungswillen auf den ersten Blick gar nicht ansah. 1000 Studenten waren ihm zur Wartburg gefolgt, 250 Hochschullehrer kamen aus ganz Deutschland. Es war ein warmer Tag, das Gras noch etwas feucht, und es schien, als hätte es die tödliche Grenze, die fast in Sichtweite verlief, nie gegeben. Von den Professoren sind mir Wolfgang Schuller und Thomas Nipperdey in Erinnerung geblieben, die umringt von Studenten ihre Vorlesungen hielten. Wenn Heinrich Heine hätte herüberschauen können, es wäre ihm kein Krächzen aus der Vergangenheit zu Ohren gekommen, kein »obskurer Rabengesang«. Ich habe selten einen Moment erlebt, der so von Zukunft durchdrungen war wie jener im feuchten Gras vor der Wartburg.

Ulrich Zwiener ist seinem Lebensthema, der europäischen Verständigung, treu geblieben, hat das Collegium Europaeum Jenense gegründet und seine eigene Stiftung. 2004 hat er sich das Leben genommen; er sprang vom zehnten Stock der Leipziger Universitätsklinik in den Tod. »Die Sensiblen gehen oft vorzeitig«, heißt es in einem der wenigen noch greifbaren Nachrufe auf ihn. Das Gefühl, umsonst gelebt zu haben, ließ seine Generation wohl nicht los.

Für einen kurzen Moment hatte man glauben können, dass die lange getrennten Teile des Landes wieder zusammenfinden, nicht in einem Verwaltungsakt, sondern in einer gemeinsamen Geschichte. Die Friedliche Revolution schien ein solcher Erinnerungsort zu werden, auf den die Ostdeutschen zu Recht stolz sein konnten. Nicht nur, weil sie sich aus eigener Kraft von einer Diktatur befreien konnten, sondern weil sie der gemeinsamen Geschichte ein Kapitel hinzugefügt hatten, das es so in der deutschen Vergangenheit gar nicht gab. Auf dem Wartburgtreffen spielte Ost oder West schon gar keine Rolle mehr. Die DDR schien sich abzulösen wie eine alte Tapete.

Warum ist dieses Gefühl so schnell umgeschlagen? Warum ist aus einem großen Gezeitenwechsel ein kleinmütiger Vorgang geworden? Und warum folgte auf eine kurze Freude über die Freiheit eine lange Empfindung von Demütigung und Verlust? Gründe gibt es viele dafür, und sie finden sich nicht nur im Osten.

Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall begann in Deutschland eine verspätete Debatte über den Patriotismus. Aber sie wurde nicht von denen geführt, von denen man sie erwartet hätte, den bürgerlich Konservativen, sondern von denen, die sie immer für obsolet hielten, den westdeutschen Linken. Wie einen psychischen Gezeitenwechsel empfand das damals der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Es schien, als würde jetzt eine Debatte über das eigene, wiedervereinte Land nachgeholt, die es nach 1989 nicht gegeben hatte, so jedenfalls registrierte es der heutige Bundespräsident und damalige Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier.1 Für einen kurzen Moment konnte man den Eindruck gewinnen, als ob sich unser Land in der späten Ära Schröder aussöhnen wolle mit seiner Geschichte. »Wo wir uns finden«, hatte der Journalist Eckhard Fuhr damals sein Buch genannt, in dem er das herrenlos gewordene deutsche Traditionsgut zu bergen versucht hat. Es hätte ein dritter geistiger Gründungsakt der Republik werden können. Nach der Etablierung der Bonner Republik, nach ihrer Umwälzung durch 68 schließlich die Aussöhnung mit dem befriedeten deutschen Nationalstaat. Der Entschluss, das Berliner Schloss wiederaufzubauen und es in ein Weltkulturmuseum zu verwandeln, war das deutlichste Zeichen dafür. Daraus ist nicht viel geworden. Gerade jenes politische Milieu, auf das Fuhr so große Hoffnungen gesetzt hatte, begann der alten Westrepublik am meisten nachzutrauern. Der Osten blieb ihm weiterhin fremd. Das Land durchzog eine lebende Grenze.

Die Hausmaushybridzone

WIR haben uns im vereinten Deutschland so sehr daran gewöhnt, von Ostdeutschen und Westdeutschen, von Ossis und von Wessis zu reden, als dass uns noch auffiele, wie lieblos und reduziert solche Bezeichnungen sind. Von keinem Menschen aus Osteuropa würden wir so sprechen und von keinem Westeuropäer. Das sind Polen oder Ungarn für uns; Franzosen und Italiener. Menschen mit einer Herkunft, einer Sprache und einer Biographie. Klaus Mehnert, der große Russlandversteher, hat das Wort vom »Sowjetmenschen« in seinem Buch populär gemacht. Aber seine Absicht war eine ganz andere. Er wollte sein Russland für das deutsche Publikum retten. Für ihn war das Sowjetsystem nur eine Zwangsjacke, in welche die Bolschewiken das russische Volk gesteckt hatten.1

Man kann das in den Lebenserinnerungen der Historikerin Irina Scherbakowa, einer der Gründerinnen der Gedenkstiftung »Memorial«, sehr genau nachlesen. Die Beschreibung der Lebensgeschichte ihrer Familie zwischen jüdischer Herkunft, sowjetischem Alltag und bolschewistischem Herrschaftssystem zeigt uns ein viel differenzierteres Bild der sowjetischen Gesellschaft, als uns die Rede vom homo sovieticus weismachen will. Das Russische, das Ukrainische, das Georgische oder Jüdische schimmerte immer noch durch; und das galt für die meisten Völker im einstigen Riesenreich dieser Sowjetunion.2

Nur bei den eigenen Landsleuten verwenden wir eine Terminologie, die den Verlust an gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Wahrnehmung und fehlender Empathie auf erschreckende Weise verrät. Die Leipziger Kulturphilosophin Kerstin Decker hat die wunderbare Story von der Trennung des großen alten Kulturvolks der Hausmäuse erzählt; in die Ostmäuse, mus musculus musculus, und in die Westmäuse, mus musculus domesticus. »Sie waren ein Volk, sie waren Brüder und Schwestern. Sie schliefen zusammen, sie fraßen zusammen. Bis zur großen Teilung. Die einen schauten fortan nach Westen, die anderen nach Osten.«3 Die Mäusemauer verläuft seither mitten durch Brandenburg, östlich an der Hauptstadt vorbei. Sie trennt bis heute die Ostmäuse von den Westmäusen, und nur in einer schmalen »Hausmaushybridzone« vermischen sich einzelne Exemplare.

Am liebsten bleibt jede Subspezies für sich. Die Unterschiede, schreibt Kerstin Decker, seien viel zu groß, um auf Dauer unter ein und demselben Dach leben zu wollen. Die Geschichte von den Ostmäusen und den Westmäusen liest sich wie eine Parabel. Aber diese Mäusemauer existiert wirklich. Mitten durch unser Land verläuft eine »lebende Grenze«. Für die Mehrzahl der Ostdeutschen ist sie noch immer »die wichtigste Trennlinie in unserer Gesellschaft«. Die Herkunft aus dem Osten oder dem Westen entscheidet, das haben die Umfragen von Allensbach erst wieder gezeigt.4 Man möchte es gar nicht glauben, wie fremd wir uns immer noch sind.

Blühende Landschaften

ES gab kurze Momente in jenen aufgewühlten Tagen im Herbst 1989, da lagen wir uns wirklich in den Armen, die Thüringer und die Hessen, die Vogtländer und die Franken, die Menschen aus dem Eichsfeld diesseits und jenseits der Grenze. Für einen Augenblick blitzte die Ahnung auf von gemeinsamer Geschichte und Landschaft, von Herkunft, Sprachfärbung und Tradition. Die DDR hatte das Wissen darum gelöscht, aber auch im Westen war es versunken. Wer über die Straße der Romanik durch Sachsen-Anhalt nach Norden fährt, der fährt durch ein Kernland der deutschen Geschichte. Es stand uns jahrzehntelang als Zonenrandgebiet noch vor Augen. Man kannte es bestenfalls aus den Büchern. Es gibt wohl kein Land in Europa, das über seine neugewonnene Einheit so rückwärtsgewandt und doch so geschichtsverloren debattieren würde, wie wir es zurzeit wieder tun.

Neulich kam ich nach Blankenburg, dem alten Luftkurort im Harz. Man steht dort vor einem mächtigen Bau mit Mittelrisalit, Rundbogenfenstern und einem Hauch von italienischer Renaissance. Heute ist das ein Hotel; einst war es die Kaserne der Schwarzen Jäger. Sie gehörten zum Leibbataillon des Infanterieregiments in Braunschweig. Wer, außer den Heimatforschern, kennt das Herzogtum Braunschweig noch und weiß, dass es sich einmal über diese innerdeutsche Grenze hinweg erstreckte? Genauso Helmstedt im Westen, das letzte Klo vor Berlin, wie die Transitreisenden einst spotteten. Helmstedt war Universitätsstadt. Giordano Bruno hat dort gelehrt. Das alte Juleum zeugt von seiner Bedeutung.

Als die Grenzen aufgingen und man über Nacht die alten Straßen wieder passieren konnte, da hatte es wirklich den Anschein, dass die Wunden zu verheilen beginnen. Vielleicht muss man das selbst miterlebt haben, um diesen Zauber noch einmal zu spüren. Drei Jahrzehnte ist das jetzt her; die Teilung existierte nur zehn Jahre länger. Dreißig Jahre, in denen – man muss es so sagen: blühende Landschaften wieder entstanden sind.

Ich verstehe den Spott nicht, den dieses Wort immer noch auslöst. Helmut Kohl ist doch längst tot und der Osten der schönere Teil Deutschlands geworden. Auch wenn ich die Einwände sofort zu hören bekomme, dass kaum eines dieser wunderschön hergerichteten Häuser Eigentum eines Ostdeutschen sei. Sie gehören, wie die sächsische Integrationsministerin Köpping gerne betont, »westdeutschen Zahnärzten und Besserverdienenden«1. Der Osten als Steuersparmodell. Seine Bewohner als die Geprellten.

Unser wiedervereinigtes Land hat seinen Frieden mit sich nie gefunden. Je näher wir uns in den letzten Jahrzehnten anschauen mussten, desto fremder blicken wir inzwischen wieder zurück. Selbst der aus Rostock stammende frühere Bundespräsident Gauck spricht heute von Dunkeldeutschland, und er meint seine eigene Heimat damit. »Tschechien – wie wär’s«, soll der ehemalige Kommunikationsdirektor der Erzdiözese Köln nach der Bundestagswahl 2017 getwittert haben: »Wir nehmen euren Atommüll, ihr nehmt Sachsen?«

Dunkeldeutschland

FÜR nicht wenige ist Sachsen inzwischen »das dunkelste Bundesland im ohnehin dunklen Teil Deutschlands« (Thomas Schmid). Dort, wo Pegida haust, und die Rechtspopulisten ihr Unwesen treiben. Dabei ist dieses Land ein Land wie aus dem Bilderbogen geworden; selbst das Grün der Wiesen ist so grün wie das Grün im Westen. Durch die neue Autobahn ist Prag bis auf einen Katzensprung an Dresden herangerückt. Von den alten Grenzverläufen kann man nicht mehr viel sehen; und Breslau liegt gleich um die Ecke. Das ist nicht der hinterste Winkel, das ist die Mitte Europas.

Ende der achtziger Jahre war schon eine Fahrt nach Görlitz beschwerlich. Bald hinter Dresden wurden die Straßen so schlecht, dass man am liebsten wieder umkehren wollte. Damals war Görlitz weit weg von meinem bisherigen Leben. Es sah so trostlos und unrettbar aus wie alle diese Städte, die man in der DDR links liegen gelassen hatte. Mein erster Eindruck von Görlitz war Schiller. Seit meiner Kindheit waren mir die Züge vertraut, die der Bildhauer Dannecker dem Dichter gegeben hatte. Vor allem die Nase. Das Schillerdenkmal von Görlitz stand nach meiner Erinnerung ziemlich verloren an einer Ampelkreuzung, und kaum einer der Vorbeifahrenden registrierte es noch. Für mich wurde es wie ein Wanderzeichen, das mir meine Orientierung zurückgab. Schiller, ein wundersamer Brückenschlag von Marbach nach Görlitz.

Erst später ist mir klargeworden, dass solche Büsten zum 100. Geburtstag des Dichters 1859 überall in Deutschland aufgestellt wurden; Schiller, die große Identifikationsfigur einer Nation, die »erst noch eine werden wollte«. Oder um es in seinen Worten zu sagen: »Wir sind ein Volk, und einig wollen wir handeln.«1

Ein Denkmal vom großen Ernst Rietschel war dem Görlitzer Festkomitee übrigens zu teuer gewesen; deshalb hatte man sich mit dem preiswerteren Nachguss von Dannecker begnügt. 60 Taler sollte er kosten, dafür waren aber Sockel und Postament aus Großkunzendorfer Marmor. Bei der Grundsteinlegung ließ man abends von den Kaltbergen bei Hennersdorf die Feuer leuchten. Heute heißt Hennersdorf Jedrzychowice und gehört zur Landgemeinde Zgorzelec. Früher war dort der Grenzübergang Richtung Polen. Den Großkunzendorfer Marmor hat man übrigens weit über Schlesien hinaus verbaut. Europa ist auch die Geschichte seiner Gesteine.

Wir sprechen heute von der Transformation einer Gesellschaft. Was für ein schreckliches Wort. Es war für alle, die das damals miterlebt haben, ein schier unglaublicher Vorgang, wie schnell das Leben in die alten Stadtviertel zurückkehrte, sich die alten Landschaften verwandelten und Farbe bekamen in ihr aschgraues Gesicht. Manche dieser Städte sind dem Tod buchstäblich von der Schippe gesprungen. Meißen etwa, Halle und Wismar, Erfurt oder Stralsund. Der in Ostberlin aufgewachsene Journalist Stefan Berg hat auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise einen offenen Brief an die Einwohner von Freital geschrieben und sie an den Zustand dieser Städte erinnert. »Es gibt noch Bilder davon. Wenn ich sie mir ansehe, dann weiß ich wieder, wie es gerochen hat damals. Meine Zunge ist wieder belegt, meine Stimmung getrübt.«2

Der frühere Ostbeauftragte der Bundesregierung, Rolf Schwanitz, erzählt gerne die Geschichte von den beiden Zetteln, die er stets hervorholte, wenn es um den Zustand der früheren DDR-Wirtschaft ging: einen Auszug aus dem geheimen Schürer-Papier, der dem Politbüro nach dem Sturz Honeckers die Augen darüber öffnete, dass das Land kurz vor der Pleite stand. Der zweite Zettel war seine »PKW-Anmeldung« aus dem Jahr 1980, der ihm eine zwölf jährige Wartezeit auf einen Trabant verhieß, natürlich ohne jede Gewähr auf den späteren Kauf. Besser, so Schwanitz, lasse sich die Mangelwirtschaft kurz vor dem Ende des Sozialismus nicht beschreiben. Die DDR, das hat man heute vergessen, war ein zu Schanden gerittenes Land.3

Wie schnell solche Bilder verschwinden! Ich stand damals als junger Reporter in der Nähe von Buttlar an einem der hastig eröffneten Grenzübergänge an der alten Fernstraße aus Fulda und wartete darauf, dass die Grenzposten der DDR den Weg auch in östlicher Richtung freigeben würden. Es war die Nacht vor Heiligabend 1989. Man hatte in aller Eile einen Baucontainer aufgestellt und einen Draht über die Straße gespannt, an dem eine einsame Lampe baumelte. Der westdeutsche Zollbeamte, der in dieser Nacht Dienst hatte, kam aus dem badischen Lörrach, und seine große Angst war es, womöglich bald seinen Dienst an der polnischen Grenze versehen zu müssen. Er deutete in die Dunkelheit. In östlicher Richtung war es stockfinster.

Dunkeldeutschland war damals keine Behauptung. Die DDR war wirklich ein dunkles Land. Nachts verschwand der öffentliche Raum hinter den grauen Häuserfassaden. In den Zimmern dahinter saß man im engen Kreis von Freunden zusammen und redete über die Welt. Ich wohnte zu jener