Der Pembrokist. - Hanns-Marcus Müller - E-Book

Der Pembrokist. E-Book

Hanns-Marcus Müller

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Beschreibung

Der Held dieser Geschichte vertreibt die Trauer seines Lebens und insbesondere seines Hochzeitstages, indem er statt zum Standesamt zum Bahnhof fährt, um genau zwei Haltestellen später aus dem Regionalzug zu steigen und sich in ein neues Leben zu verstricken. Mit großer Folgerichtigkeit, nämlich ungeplant, ungewollt und unangekündigt, siedelt er sich unterm Dach einer beruflichen Schule an, pro forma, um als Assistent des Hausmeisters zu arbeiten, in Wirklichkeit, um dem Milieu einer von Lehrern gestalteten Zweitwirklichkeit rettungslos zu verfallen. Die vielen Figuren des Buches, vom Ich-Erzähler auf das Genaueste beobachtet und reflektierend begleitet, sie alle folgen einem Dämon, wenn auch meist nur dem eigenen. Doch bleibt dem Erzähler zunehmend weniger Zeit, über die Bruchstücke seines (Liebes-)Lebens nachzudenken, die er tapfer zusammensetzt und wieder auseinanderreißt, denn die Schlinge zieht sich zu und ein Mastermind, das aus der Ferne die Fäden zieht, begeht Unrecht, um Recht zu behalten.

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Seitenzahl: 682

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Hanns-Marcus Müller

Der Pembrokist.

Ein Überleben

Roman

Hanns-Marcus Müller, Dr. phil., langjähriger Sprachlehrer und lebenslanger Liebhaber der Sprache. 20 Jahre Fachleiter für Deutsch und Englisch am Studienseminar Krefeld. Autor und Sprecher satirischer Kurzfilme (mit Jörg Rühenbeck, zeitlos-film.de). Kabarettist, Gründer des Salontheaters Chicsaal. Buchveröffentlichung zur Kulturgeschichte des Sports (Bizepsaristokraten, Aisthesis Verlag 2004), daneben Aufsätze zur Literatur und Rezensionen. Sein erster Roman führt den Beweis, was aus dem Zauberberg wird, wenn auf ihm keine Großbürger, sondern lediglich Lehrer wirken.

Mit Hilfe der anonymen Schöpferkraft des Schulsystems.

Gewidmet meinen Schülern und Referendaren (innen auch…) für ihre Sympathie, ihren Witz und ihre Loyalität. Sie haben mein Vertrauen nie enttäuscht. Ohne sie hätte ich es in der Schule keine Woche, im Seminar keine zwei Tage ausgehalten.

Beobachtung ist eine Form der Liebe.Cees Nooteboom

Impressum

Text: © 2024 Copyright by Hanns-Marcus Müller

Umschlag: © 2024 Copyright by Hanns-Marcus Müller

Logodesign: Klaus Wilmshöfer / Hanns-Marcus Müller

Verantwortlich für den Inhalt:Hanns-Marcus Müller

Dünnwalder Kommunalweg 8

51061 Köln

[email protected]

Druck:epubli –

ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Personenverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

Personenverzeichnis

Müller, später Herr Müller-Bonn, Protagonist und Pembrokist, beruflos; es wird Zeit für den Trotz

Dorte, seine Fast-Ehefrau

Herr Schuh, Eifeler Briefträger, Freund und potenzieller Trauzeuge

Die städtischen Honoratioren

Dr. Raubovers, Amtsleiter mit historischen Interessen

Professor Ungeheuer, Spiritus Rector des Europatags der beruflichen Schulen

Hirsemann, Erfinder des Europatags (verstorben)

Herr Mitbitte, Landtagsabgeordneter der Stadt; in besonderer Weise

Heribert Faßbender, Landrat; wegweisend

THEO LINGEN, D.I. THEODOR SCHMITZ BERUFSKOLLEG FÜR TECHNIK

Die Schulleitung

Herr Dranske, Schulleiter, Elektriker, Mathematiker, Patentingenieur, Kaufmann, Sozialpädagoge, Visionär, Präsident des Deutschen Erfinderverbunds, Gründer des Netzwerks der Innovativen, des KLIT-Clubs (Kommunikation des Leibes in der Technik) und der Werkstatt für ästhetische Intelligenz; ich bin Dekor

Herr Dolinski, stellvertretender Schulleiter; ad multos ananas

Herr Fidibus, früherer Schulleiter

Die Damen der Sekretariate

Schülerfragen:

Frau Selzbad, später Frau Selzbad-Malmedy; links schweigend

Frau Castro; rechts schweigend

Lehrerfragen:

Frau Kindler, links schweigend

Frau Doppel, rechtsschweigend, zugleich Vorzimmer Schulleiter

Die Hausmeister

Gerhard Gott, Flaschensammler; Stalinstatue

Stefan Spoljar, Mentor des Protagonisten, Mitglied der Lehrerfußballmannschaft

Vincenzo Vinci, als Salvatore Zimotti auch Bühnenkünstler (Italo-Pop)

Heini Hückelhoven, ehemaliger Hausmeister der Sporthalle, Mitglied der Lehrerfußballmannschaft

Weitere Funktionsträger

Herr Aputra, Leiter der privaten Fachhochschule im Haus, Kenner der persischen Literatur

Frau Baur, Leiterin der Schulschneiderei

Unser Ede Maiwald, Schulsozialarbeiter, gelegentlich auch Gitarrenvirtuose; der Schweinebratenverkünder

Die Kittelträger aus der Metallwerkstatt, dazu gehörend:

Werner, Schweißer; ich kann Ihnen einen Griff dranschweißen

Erika, die erdnahe Bedienung der Cafeteria, Eibrötchen

Die Mitglieder der Schulkonferenz

Werner Novia

Der Einredner

Der Lehrer mit der größten Autorität

Der politisch versierte Lehrer

Herr Dorfstetter

Herr Kremer-Weiker

Herr Müller-Köln

Frau von Ruckteschell

Herr Torres y Torres

Die Dame in Grau, Elternvertreterin

Die zweite Elternvertreterin von der Reserveliste; mein Sohn ist in der Malerklasse

Der IHK-Vertreter, Anzugträger

Der Firmenvertreter, Anzugträger

Der Vergnügungsausschuss

Herr Torres y Torres, Vorsitzender des Ausschusses, zugleich Mitglied der Schulkonferenz und der Lehrerfußballmannschaft

Frau Adenauer-Saladin, Mitglied des Ausschusses, Schulküche, patent

Ulf Grafenschäfer, weiteres Mitglied des Ausschusses, Junglehrer; Bescherungsbevollmächtigter

Die Mitglieder der Lehrerfußballmannschaft

Dolf Grinta, der Pfarrer, denn mal fährt meine Frau und mal fahre ich

Heini Hückelhoven, ehemaliger Hausmeister der Sporthalle

Nikolaus Teichmeister, ok svenske?

Herr Bedur, zugleich Religionslehrer

Herr Müller-Köln, zugleich Mitglied der Schulkonferenz; der Sessel bleibt

Herr Torres y Torres, s.o.

Herr Zündnadel, Elefantengewinner

Der Lehrer mit der größten Autorität, zugleich Mitglied der Schulkonferenz; Manchester United Jersey, das auch schon besser gepasst hat

Der Lehrer mit dem Bauch

Der Lehrer mit der Rubensfigur

Das übrige Kollegium

Herbert Klaus, Ingenieur, Lehrer am Berufskolleg und Dozent der privaten Fachhochschule, Einwohner Aachens

Melanie von Ruckteschell, seine Gegenspielerin, Extremistin, des Erlösungswahnsinns verdächtig, zugleich Mitglied der Schulkonferenz

Philemon und Baucis, Metalllehrer CIM Center (computer integrated manufacturing), stets zu zweit; Mahlzeit

Theodor Schmitz, am Namen der Schule Beteiligter, verschmitzt

Lelia Cavaradossi, Politiklehrerin, spitzzüngig; das ist so niveaulos, das könnte man im Fernsehen übertragen

Frau Wolters, Hauswirtschaftslehrerin; Sie wollen doch wohl hier nicht rauchen?

Wolfgang Erni, Sportlehrer, zugleich Opernkritiker, nennt sich als solcher Dr. Amadeus Erni; leck mich am Arsch

Dubslav Michowiak, Sportlehrer

Herr Alexander, Initiator der Werkstatt für ästhetische Intelligenz

Herr Al Fayed, stoisch und kinderreich

Herr Bedur, Religionslehrer, zugleich Mitglied der Lehrerfußballmannschaft

Herr Lübke, Religionslehrer, Weihnachtsfestredner, fassen wir Mut zu flexiblen Verbindungen

Ilona, Religionslehrerin

Frau Morgenstern, stets abwandernd; die Lehrerin mit den Wörterbüchern

Herr Sandeldorn, ehemaliger Lehrer, trinkfest

Der junge Mann aus der Netzwerkabteilung, Assistent des Hausmeisterassistenten

Gregor Linde, genannt Baum

Herr Blatt, Maler und Stiefelträger

Herr Kardigan, der Gefangene seiner Strickjacke

Herr Ulan, Experte für Dresderiana; der weißhaarige Lehrer

Die Stimme

Der rosige Helmträger

Der Lehrer mit dem rötlichen Bart

Der anämische Lehrer

Der Meister der Unsichtbarkeit

Schülerschaft: Die acht Kreativen, Kursteilnehmer Querdenken zum Anfassen

Marvin Haas, konziliant

Bonifatius Malta, jovial

Katharina Mild, zart

Hülya Özceler, redegewandt und meinungsstark; eh Leute

Saffet Özceler, redegewandt und meinungsstark; für jeden von uns geht was

Hortense von Simson, robust und rebellisch; ich bin erzogen wie sonst was, aber ich war renitent

Mark Tank, Unikat; keine Ahnung, eh

Dominik Unweiß-Blau, Alphatier

In Nebenrollen

Rosemarie, Sekretärin Dr. Raubovers, Freundin von Frau Selzbad-Malmedy

Annegret, Freundin von Frau von Ruckteschell, Aachen das Ende bereitend

Sohn von Herrn Müller-Köln, achtjährig, zeitungslesend

Der Polizist im Notfalleinsatz, zunehmend schulmüde

Der junge Mann auf der Rennbahn

Die künftige Referendarin auf der Rennbahn

Frau Büssing von der Metzgerei Büssing

Teil 1: Die erste Woche

1. Kapitel

Ich bin der Gefangene meiner Freiheit. Ich lebe jetzt schon drei Jahre in dieser Schule und glaube nicht, dass ich sie je werde verlassen können. Ich kam an einem Mittwochmorgen und auch nur, weil ich auf der Flucht war und es darauf hinauslief, dass der Schulleiter der war, der er war.

Ich hätte an diesem Tag heiraten sollen, um elf Uhr zehn. Der Karneval, der dann über mich hereingebrochen wäre, der wurde mir bedenklich, spätestens in der Nacht vorher. Ich hatte auf einen Junggesellenabschied verzichtet, selbstverständlich. Ein Junggesellenabschied, das ist ein Trinkfest für Blöde und ein weiteres Zeichen dafür, dass sich in heutiger Zeit Sekundärriten breitmachen, die von allen für die Hauptsache gehalten werden. Als meine Cousine heiratete, hatte der Polterabend den feierlichen Ernst eines Hochamts für Pilstrinker. Völlig Unbekannte bevölkerten das Haus meiner Tante und lärmten mit Schellen und Glocken, um böse Geister zu vertreiben, während meine Cousine gerade dabei war, sich einen ins Haus zu holen.

Und ich weiß noch, welchen Ärger es bedeutete, als ein Freund der Familie ein Glas auf den Porzellanhaufen warf, den meine Cousine mit arbeitsähnlicher Verbissenheit vom Bürgersteig schaufelte. Glas bedeutet Unglück, trompetete ein Chor schwerstvergnügter Nordrhein-Westfalen ins nächtliche Idyll, und der Glaswerfer rettete sich zuerst in die Waschküche und von dort aus durch ein kleines Fenster ins Dunkel der Nacht. Jahre später war vom Unglück schon keine Rede mehr, so sehr hatte man sich daran gewöhnt.

Also kein Junggesellenabschied. Wovon soll man sich auch verabschieden, wenn nicht mal klar ist, was ein Junggeselle eigentlich ist. Junggeselle, das ist so ein Spitzwegausdruck, der sich in die Zeit des Privatfernsehens verlaufen hat.

Ich im Gegenteil hatte mich relativ gut auf den Tag meiner Hochzeit vorbereitet. Ich hatte den Smoking meines Vaters zum Schneider gebracht, weil sein wunderbarer Stoff nicht nur dem Auge schmeichelte. Ihn einmal selbst tragen zu können, gab dem Anlass etwas Aufforderndes. Ich fühlte mich auch sonst nicht unwohl. Natürlich wollte ich nicht heiraten, aber ich hatte auch nichts dagegen. Ich hatte vermutet, dass es mit dieser Frau nicht anders würde ausgehen können. Die Frau, die ich liebte, hatte ich längst verloren, und darüber auch das Gefühl dafür, was Lieben heißt: Kampf und Auslieferung. Umsonst gekämpft, umsonst verloren. Da kann man auch heiraten.

Meine Freundin hatte bis zu diesem Tag mit größter Entschlossenheit, oder wie sie es nannte, mit sachdienlicher Genauigkeit, bereits mehr als 100 Vorwürfe an meine Adresse gerichtet, und steter Tropfen höhlt den Stein. Du nimmst mich nicht ernst, lautete einer. Du verschaffst Frauen das trügerische Gefühl der Ergänzung, lautete ein anderer. Da war es nur ein kleiner Schritt zu heiraten. Dann hätte ich meiner gern diskutierten Bindungsangst die Heiratsurkunde entgegenhalten können wie eine wertvolle Trophäe: Und er bewegt sich doch.

Vorsichtshalber hatte ich niemandem Bescheid gesagt. Viele Hochzeiten leiden unter dieser unseligen Tendenz, öffentlich auf sich aufmerksam zu machen, und ich legte auf Öffentlichkeit damals keinen Wert. Meine Freundin besaß noch eine schwergängige Mutter und ich nur Freunde, die mir eine Heirat ohnehin nicht abgenommen hätten. So kamen wir überein, in aller Stille zu heiraten, was heißen sollte, nur wir beide und die obligaten Trauzeugen. Sie benannte eine Freundin, eine echte Waldorf-Deutsche, und ich einen Eifeler Briefträger, der bei meinen Eltern zwanzig Jahre die Post gebracht hatte. Unser Herr Schuh war ein Original, vom Alkohol entstellt und völlig arglos, und dass niemand sonst zu meiner Hochzeit erschienen wäre, wäre ihm nicht auffälliger gewesen als sein eigener Kummer, den er auch nicht zu bemerken schien.

Ein paarmal hatte ich den Versuch gemacht zu gehen, wie so oft zuvor. Aber Dorte war nicht der normale Typ und verbat sich das Verlassenwerden mit einer solchen Lautstärke und einer solchen Bereitschaft, ihrem Leben und meiner Unfähigkeit, ihm gerecht zu werden, ein Maximum an Analyseaspekten abzutrotzen, dass mir schlicht die Mittel fehlten, die bleierne Schwere unserer gemeinsamen Stunden für ein Zeichen der Krise zu halten. Wenn je wahr gewesen sein sollte, dass Unzufriedenheit Menschen aneinander kettet wie die Liebe oder das Glück es nie vermöchten, mit sturer Ausschließlichkeit, wir waren die Kronzeugen.

So kam dann der Rückstoß zu spätmöglichster Zeit, in der Nacht vorher. Ich bin ein langsamer Mensch und beschäftige mich nicht gern mit den Dingen, bevor sie da sind. Gefallen sie mir nicht, grübele ich dagegen an, aber lasse sie zu. Hier war es genauso und war anders. Denn ein einziger Panikimpuls reichte aus zu tun, was ich nie getan hatte: kommentarlos zu handeln. Das Dorte-Inferno war ein Nachspiel, keine Ouvertüre. Ich hatte mein altes Leben aufgelebt, nichts hielt mich mehr. Mein Elternhaus gab es nicht mehr und meine Freunde waren in ihren Familien verschwunden, machten Karriere oder Schulden oder beides. Sie besuchten Elternzusammenkünfte und ich war nur ein Sohn. Sie gingen fremd und ich war es. Aber fremd ohne Bedauern, keine Nietzsche-Parodie. Warum sollte ich die Harmlosigkeit ihres Lebens kritisieren, wenn ich nicht mal ein eigenes hatte. Auch die Liebe zum Fußball kam mir abhanden, seit es Bayer Leverkusen gab. Calmund war mein Luther, aber ich war ein Katholik und wollte damit nichts zu tun haben. Also auch kein Eskapismus mehr. Nur weg, ohne sich die Mühe zu machen, Erklärungen abzugeben.

Natürlich hätte ich dem Standesbeamten diese Bilanz erklären und um Verständnis dafür ersuchen können, seine Frage mit Nein beantworten zu müssen. Aber erstens hätte das doch etwas sehr nach Comedy ausgesehen, wie man heute sagt, nach niveauloser Wichtigtuerei. Und zweitens wollte ich Herrn Schuh die Wutrede von Dorte ersparen, die hatte er nicht verdient. Wir wären nicht vor zwanzig Uhr aus dem Rathaus gekommen; allein die Geschichte des Scheiterns ihrer Beziehung zu Dietmar, die hier als Vergleichsfolie in Frage gekommen wäre, hätte unsere Aufmerksamkeit auf unabsehbare Zeit beansprucht, und keinem Standesbeamten ist es zuzumuten, von einem etwas weltfremden Sohn im Smoking verwundert und von seiner Nicht-Ehefrau in spe verwundet zu werden. Also nur weg, ein erstes Mal wirklich weg. Da Dorte nur den Zuhörer einbüßen, an Unzufriedenheit aber noch weiter gewinnen würde, gab es hier keine Opfer. Herr Schuh würde einen Mariacron auf mein Wohl trinken, die Trauzeugin zur therapeutischen Erstversorgung schreiten.

Natürlich war es nur Feigheit, mich dieser Situation nicht zu stellen. Aber eine Feigheit, untermischt mit Mut, denn ich ging wirklich. Zog sorgfältig den Smoking an, rasierte mich. Griff nach meinen Zigaretten, wie immer. Bekreuzigte mich. Schloss die Wohnungstür ab und schrieb Susanne, meiner langjährigen Mitbewohnerin unten im Haus, einen von unseren netten Zetteln. „Du weißt von nichts“, schrieb ich. „Wer auch immer fragt. Es wird nichts Dramatisches passieren und man braucht nicht im Rhein zu fischen. Und danke für deine schweigsame Treue die ganzen Jahre hindurch.“

2. Kapitel

Morgens um fünf erwacht der berufliche Tag in den Gesichtern, dem Gang und der Aufmachung der noch wenigen Besucher des Hauptbahnhofs. Aber erstaunlicherweise fällt ein Herr im Smoking kaum auf, weil erstens ohnehin niemand auffällt, da immer alle gleichzeitig da sind, und zweitens könnte dieser Herr auf dem Heimweg sein und also irgendeine gesellschaftliche Verpflichtung hinter sich haben, die ihn so aussehen lässt.

In der Kaffeestube muss man noch nicht lange warten, und ich saß dort bestimmt eine Stunde, voller Anspannung und doch wie ein Voyeur in eigener Sache. Ich ging weg, und genoss es zu gehen, und genoss es zu genießen. Und wo ich am Abend sein würde, war mir völlig unklar, aber jedenfalls nicht mehr in dieser Stadt, deren belanglose Lokalzeitung ich ein letztes Mal mit Behagen las. Sie denkt sehr gut von sich selbst und ihr Verleger besitzt alle Eigenschaften eines Provinzfürsten: Hochmut und Unnachgiebigkeit. Zu den Erinnerungen an meine Eltern gehört der Frühstückstisch, an dem alle Zeitung lasen, stundenlang. Bei meinen Eltern durfte morgens geschwiegen werden, und es gibt nichts Friedlicheres, als in Geborgenheit schweigen zu dürfen. Aber natürlich lasen sie die andere, die ländliche Zeitung der Stadt, die zu dieser Zeit noch unabhängig und völlig altmodisch war. Es gibt sie immer noch und sie hat bunte Bildchen, wie alle Zeitungen jetzt, ist leserfreundlich und längst erledigt. Das ging mir durch den Kopf, als ich das Café verließ. Auch die Zeitung gibt es nicht mehr und wer weiß, wie viele noch, die den Tag um zwölf mit ihrer Lektüre beginnen, wie meine Eltern es im Alter taten. Und keine Tage mehr, die sich nichts beweisen müssen.

Ich ging zum nächstgelegenen Gleis und würde den nächsten Zug nehmen, um genau zwei Haltestellen zu fahren. Das beschloss ich, ohne Grund, aber mit einem Wunsch nach Systematisierung, der mir diesem Tag zu entsprechen schien. Eine Eheschließung bedeutet Systematisierung, sie entlastet von der Verpflichtung, selbst etwas zu sein, und erlaubt es, einen Zufallsfund als meine Frau oder meinen Mann zu bezeichnen. Aus einem Geheimnis wird so ein Möbel, und aus dem Wunsch nach dem Anderen des Lebens dessen Verunmöglichung. Also schien es mir sinnvoll, auch die Ablehnung der Eheschließung zu systematisieren, indem ich nicht in eine ganz andere Gegend Deutschlands reiste, wo ich ohnehin kein Bein auf die Erde bringen würde. Ich würde neu beginnen und einsam sein, aber warum auch sprachlich isoliert irgendwo in Württemberg hocken oder in Norddeutschland, wo man mir meine Heimat sofort anhören würde. Warum soll einsam sein auch unglücklich sein bedeuten? Und einen Nachtzug nach Lissabon gibt es nur in der Literatur, die sich ihre Klischees als geistige Vornehmheit genehmigt wie einen erlesenen Grappa, der in Wirklichkeit ein Weintrester ist.

Also zwei Haltestellen, Umland, die Richtung von der Deutschen Bahn entschieden, bei der es ohnehin nur Zufallsfahrten gibt. Die Flucht aus dem alten Leben an den Nahverkehr zu delegieren, erschien mir die einzige Antwort darauf, dass der Fernverkehr nur den Wunsch nach zuhause befördert. Aber in der Nähe zu sein ohne zurückzukehren, das war nun das Programm. Ein Programm, das ich durch den Kauf einer Zahnbürste und einer Zahnpasta zusätzlich trivialisierte, um aus meinem festtäglichen Smoking einen Reiseanzug und etwas Pragmatisches zu machen. Zahnpasta ist immer pragmatisch und verhindert Überschwang, weshalb sie in der Liebeslyrik fast nie vorkommt, im tatsächlichen Leben aber fast immer, wo es dagegen wenig Liebeslyrik gibt.

Als ich am Gleis ankam, öffnete eine korpulente Frau den Rollladen zum Bahnsteigkiosk. Sie besaß eine Ferienwohnung in Spanien, wie ich erfuhr, und einen Partner, den sie „der Schatzi“ nannte. Natürlich trug sie keinen Ehering. Einen Schatzi heiratet man nicht.

3. Kapitel

Als ich in der neuen Stadt ankam, war es gerade zehn vor sieben. Eine Traube von Menschen schob sich die Bahnsteigtreppe hinunter, mein Hintermann trat mir in die Hacken, während mein Vordermann mir den Ellbogen in den Magen stieß. Das hatte Rhythmus und fühlte sich nach dem morgendlichen Leben an, das hier auf mich wartete. Auch allerhand unausgeschlafene Schüler bemerkte ich, denen ich unauffällig zur Bushaltestelle folgen wollte. Es lag nahe, in einer Schule nach Asyl zu suchen, denn dort würde man am leichtesten unsichtbar sein können, hatte ich überlegt, und falls doch nicht unsichtbar, so doch weitgehend unauffällig bleiben, solange man nicht anfinge, durch Arbeitseinsatz alles zu verderben.

Ich ließ die erste Gruppe muffiger Morgenwracks dann aber doch nach rechts abbiegen, weil sie auf den Nebenausgang zusteuerten, der nur den Ausblick auf weitere Nebenausgänge bot und zu meinem neuen Leben so gut passte wie eine eingestaubte Zimmerpflanze zu einem hoffnungsvollen ersten Rendezvous. Man betritt eine neue Stadt durchs Hauptportal des wichtigsten Bahnhofs, denn dieser Eindruck bleibt haften und erlaubt den Vergleich mit anderen Städten. In deutschen Kleinstädten hat man so meist die Wahl zwischen einem gesichtslosen Busbahnhof und einer zersiedelten Nachkriegsbrachfläche, die dann aber Platz der Republik heißt, um der Republik gleich am Eingang klarzumachen, dass zu ihren Ehren keine schöne Immobilie verschwendet werden könne. Hier blieben immerhin zehn Meter Platz bis zur verstopften Durchfahrtsstraße und der Blick öffnete sich auf eine Kirche im Profil. Ich ging darauf zu, bog ab und kam zu einer Einkaufsstraße, wo um diese Zeit noch niemand einkaufte. Nicht weit bis zu einer Bushaltestelle, und von da ins Ungewisse.

Davor noch fand sich eine Metzgerei, mit einer Schar jovialer Verkäuferinnen in Kittelschürzen, die wie schlecht verkleidet aussahen. Sie bewegten sich mit einer Folgerichtigkeit, Zielstrebigkeit und Handlungsfreude, die aus den belegten Brötchen eine wertvolle Akquisition machten. „Mit Zwiebeln“, fragten sie, oder „nur mit Butter?“

Das sind nun Fragen, die sich nicht dem Verdacht existentieller Neugier aussetzen, und nichts tut so gut, als bei großer Unsicherheit des Innern eine völlig unpersönliche Frage beantworten zu dürfen. Was nicht zwingend heißt, sie auch schnell zu beantworten. „Sie erinnern mich an meinen Sohn“, sagte die Chefin, die laut eingesticktem Namensschild Frau Büssing hieß. „Wieso?“, fragte ich, aus meinen Gedanken gerissen. „Weil er auch nichts mitkriegt“, sagte sie energisch; „ohne Zwiebeln“, antwortete ich hastig und beeilte mich, zur Bushaltestelle zu kommen.

Hier galt es, eine Entscheidung zu treffen, und das hatte etwas Kränkendes, wie sich leicht erraten lässt. An den Tagen, an denen alles anders wird, schwankt der Boden und fühlt man sich gleichzeitig weit von allem entfernt, was bloß bodenständig ist. Die Luft wird klar und der Blick wird klar, und man sieht die Dinge vor einem mit einer Überdeutlichkeit, die etwas zutiefst Beglückendes mit sich führt. Jahrelang lässt man sich niederdrücken und der Blick wird gewaltsam zum Boden gedrückt, und nur zum Boden. Und jetzt plötzlich lässt sich nach vorne schauen, alles ist an seinem Platz und schwebt doch. Das ist vielleicht das schönste Gefühl, das es im Leben zu fühlen gibt, und es ist das seltene Gefühl: mit den Dingen und Menschen der nahen Umgebung in innerem Einverständnis und doch in Distanz zu ihnen. Nicht ausgeliefert, nicht ausgegrenzt und mit den Unruhestiftern in der eigenen Brust für einmal versöhnt. Da wirkt eine alltägliche Straße wie ein paradiesischer Garten, selbst wenn nur Kioske und Abfütterungsimbisse die Szenerie bestimmen.

Wenn aber in solches Fühlen ein Busfahrplan sich hineindrängt und die nächste Entscheidung zwischen 741, 744 und 749 zu treffen ist, so meldet der Alltag seinen alten Vorbehalt an, an unserer Stelle zu handeln und nach unserem Einverständnis nicht einmal zu fragen, denn der Bus hat sein Ziel und wir haben keins und können allenfalls das seine beleihen, aber nicht eine Haltestelle hinzufügen oder weglassen. Pomona, las ich, und Selikum, Hoisten an der Schanze und Rosellerheide, und wenn dies auch lyrische Namen waren, die nichts mit dem ausgelutschten Suburbia zu tun zu haben schienen, das sich gleichwohl dahinter verbergen würde, so passte die Gegebenheit dieser Namen doch nicht zu meinem Aufbruch und nicht zu meiner Glücksbereitschaft, höchstens zu den Büssingschen Brötchen in ihrer lakonischen Fettigkeit.

Auch die Idee mit der Schule wurde mir verdächtig. War es wirklich klug, den ersten Tag eines neuen Lebens ausgerechnet an den Ort zu verlegen, an dem Jahrzehnte zuvor der Staat erstmals nach mir gegriffen hatte? Und wenn dies auch lange vor der Zeit war, in der aus dem ersten Schultag ein obskurer Familienfeiertag geworden ist, mit Filme drehenden Vätern und schwitzenden Großeltern auf Kinderstühlchen, die alle voll grimmiger Entschlossenheit auf die Einmaligkeit des Anlasses blicken, so schien mir jetzt der heutige Tag doch wirklich ein Feiertag zu sein, der feierliche Tag meiner Nicht-Verheiratung bei gleichzeitiger Übersiedlung ins Unbekannte, den ich nun ausgerechnet zum Einschultag verflachen lassen wollte.

Mir fiel ein, dass ich von meinem Anzug Gebrauch machen könnte. Ich war für ein Standesamt angezogen, also könnte ich auch zu einem Standesamt gehen. Ich war ein Bräutigam und könnte mich nun in aller Offenheit danach erkundigen, welche Anschlussaufgabe es für jemanden gab, der sich diesem Amt nicht gewachsen fühlte. Ich würde eine offensive Strategie verfolgen. Ich war eben nicht auf der Flucht, sondern auf dem Weg in ein neues Leben. War nicht perspektivlos, sondern nur aufbruchbereit. Ich würde zum Rathaus gehen und um Rat bitten. Diese einfache Idee ließ mich den Bus und mein Zögern vergessen und die folgenden zehn Minuten entlang einer fast menschenleeren Straße gehören zum Besten meines Lebens. Ich hatte nichts zu tun als zu gehen.

4. Kapitel

Ich kam zum Marktplatz und fand dort das Rathaus. Es war noch früh, aber ich stieg, meiner Sache sicher, langsam die Treppe hinauf, die auf das Repräsentativste geschwungen war und in einen kalten und vornehmen 50er Hotelflur auslief, dessen Türen nur ein Schild fehlte, auf dem Bitte nicht stören gestanden hätte. Die öffentlichen Büros lagen alle nebenan in einem modernen Anbau, aber hier saß der Bürgermeister und saßen die Honoratioren, und hier gab es ein Vorzimmer, das schon besetzt war. Ich sagte, dass heute mein Hochzeitstag sei, ich aber zuvor mit einem Standesbeamten sprechen müsse, da eine unerwartete, wenn auch nicht unerwartbare Schwierigkeit aufgetaucht sei. Die letztgenannte Unterscheidung erwähnte ich nur mir selbst zuliebe, sie brachte mir keine kommunikativen Vorteile ein, wie sich denken lässt. Aber ich lächelte hilflos genug, um nicht abgewiesen zu werden.

„Was wollen Sie denn“, fragte die Dame, die den Tag nicht mit einem Problemfall beginnen wollte. „Wann ist denn Ihr Termin?“

„Um elf Uhr zehn, sagte ich, „aber in einer anderen Stadt, die zu einem anderen Leben gehört.“

Erstaunlicherweise leuchtete ihr das ein, wohl weil daraus hervorging, dass sie in ihren Unterlagen nun nicht zu suchen brauchte.

„Klopfen Sie beim Amtsleiter an“, schlug sie vor, „er ist schon da und wird Sie anhören.“

Sie sagte sich wohl, dass sich auch einmal der Bestbezahlte mit den armen Irren dieser Welt befassen könnte, zumal er natürlich derjenige mit der meisten Zeit und den wenigsten praktischen Aufgaben war. So denkt man in allen Hierarchien, und hier half mir gerade diese geringe Meinung über den Vorgesetzten weiter. Er würde mich anhören, weil die Arbeitenden keine Zeit dafür hatten, aber bedeutet nicht Zuhören die wichtigste Arbeit und ist so ein Vorgesetzter nicht derjenige mit der höchsten sozialen Befähigung, wenn nur er Zeit für das Nebensächliche hat, nämlich für die Menschen selbst. Ich klopfte, aber nichts geschah. Ich öffnete die Tür und stand einem Fürstenporträt gegenüber, ein Originalgemälde in Lebensgröße, das über einem eher gewöhnlichen Behördenschreibtisch hing. „Ein Wittelsbacher“, sagte ich auf gut Glück, aber in Erinnerung an meines Vaters Vorliebe für den Freistaat Bayern. Ich hatte gewonnen.

Der Amtsleiter hatte historische Interessen und war bereits mit einigen Publikationen zur preußischen Verwaltungsgeschichte seiner Heimatstadt seit dem Wiener Kongress hervorgetreten. Das erfuhr ich nach und nach, denn er ließ mich Platz nehmen und begann, die Geschichte des Gemäldes zu erzählen, offensichtlich nicht zum ersten Mal.

„Das war der beste von den Wittelsbachern als Erzbischof von Köln. Der Erste ist immer der Beste. Denken sie an Heuss, an Adenauer, an Ludwig I.“

Das traf sich mit meiner Einschätzung sehr genau, vor allem was den prallen bayerischen Ludwig anging im Verhältnis zum Märchenkönig, den jede private Krankenversicherung als Risikopatienten abgelehnt hätte.

„Er war auch der beste Erzbischof, den Köln je hatte“, fuhr er fort, „und doch hat er sich standhaft geweigert, die höheren Weihen zu empfangen. Er war kein Priester, das hat ihm seine Aufgabe erleichtert. Den zölibatären Hochmut hat er sich vom Hals gehalten.“

Er fügte noch einiges über diesen Ferdinand von Bayern hinzu, der es geschafft hatte, seine Bistümer relativ unbeschadet durch den Dreißigjährigen Krieg zu lotsen. „Sie müssen sich das vorstellen: Er verdankte sein Amt einem Krieg und hat im Amt auf den Krieg verzichtet!“ Dann kam er auf die Preußen zu sprechen, die sich ironischerweise als die besseren Katholiken erwiesen hätten. Ich hörte nur noch halb zu, eingehüllt von seiner warmen, einnehmenden Stimme und im Gefühl, etwas zu erleben, was man sich nicht ausdenken kann. Dann allerdings hatte ich das umgekehrte Gefühl, wieder etwas sagen zu müssen, am besten etwas Bedeutendes.

„Man darf es nicht laut sagen, aber das Rheinland hat von den Preußen profitiert.“

Wieder gewonnen. Der Weg war gebahnt und irgendwann, das war klar, würde die Frage kommen. „Sie heiraten heute“, fragte er. „Was kann ich da noch für Sie tun?“

„Ich komme zu Ihnen“, sagte ich, um unserem Zusammentreffen die höchstmögliche Kausalität zuzuschreiben, „ich komme zu Ihnen, weil heute mein Hochzeitstag ist, ich aber nicht heiraten werde. Im Gegenteil bin ich heute Morgen mit dem ersten Zug hierhergekommen, um neu anzufangen.“

„Das ist interessant“, sagte er. „Sie sehen aus wie ein Bräutigam, aber Sie wollen keiner sein. Warum kommen Sie dann zu einem Standesamt? Noch dazu in einer anderen Stadt. Haben Sie nicht tausend Dinge zu tun, um das Ihrer Frau und Ihren Gästen zu erklären. Und wenn Sie nur fliehen wollten, wäre es da nicht an der Zeit zurückzukehren und aufzuräumen? Meinen Sie nicht, Ihre Frau hätte wenigstens das verdient?“

Er sagte das kritisch und unzweifelhaft vorwurfsvoll. Aber nicht nur tadelnd, schien mir, denn er verstand, dass ich ihn verstand, aber die Situation nicht die gewöhnliche war und jede Auskunft und jedes Abwimmeln hier dem Reiz des Märchenhaften widersprochen hätte. Ich hatte den Wittelsbacher erkannt und wollte nichts Praktisches, also war ich ein Besucher, wie man ihn sich nicht entgehen lässt, wenn man die Menschen liebt, aber nicht gerne von ihnen gestört wird.

„Nein“, behauptete ich, „es geht nicht darum. Ich fliehe nicht. Ich habe mich nur verabschiedet und bin hier, um zu erfahren, was es in dieser Stadt zu tun geben könnte.“

„Was geschieht mit Ihrer Frau?“, insistierte er. Er wollte mir diese Peinlichkeit nicht ersparen und im Laufe des Gesprächs merkte ich, dass er fürsorglich denken konnte, solange diese Fürsorge ihn nicht auf die Straße oder irgendeinen Ort führen würde, der keinen Rückzug ließ. Das kam mir bekannt vor, und ich glaube, dass er mich anhörte, weil meine Geschichte mit seinen Geschichten in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stand, weil wir beide nichts mehr fürchteten als Folgerichtigkeit und äußeres Gelingen.

„Meine Freundin“, sagte ich, „genügt sich selbst.“

„Da hätten Sie ja gut zueinander gepasst“, sagte er spitz.

Es war klar, dass ich dem Gespräch jetzt die Richtung auf das geben musste, was geschehen sollte. „Wissen Sie“, sagte ich, „dass ich die Verkehrsbetriebe habe entscheiden lassen, wohin ich fahre. Aber ich bin gefahren und es gibt kein Zurück.“

„Diese Stadt ist klein genug, um viele zu finden, die zeitlebens nach dem Weg suchen, sie verlassen zu können. Und für Sie soll sie das Eldorado sein?“

„Nur ein Ort des Vergessens und des Beobachtens“, sagte ich leise. „Ich kann nichts anderes.“

„Es mag komisch für Sie klingen, wenn ein Politiker das sagt. Aber auch ich bin ein Beobachter und man hält mich allseits für eine komische Figur. Das liegt daran, dass mir jeder politische Ehrgeiz fehlt. Aber meine Familie hat Geld und bedeutet etwas in dieser Stadt, und also kann man mir nichts. Aber auch auf meine eigene Art bin ich zäh und schlecht zu vertreiben.“

„Unser Landrat hasst mich dafür“, fügte er hinzu. Dabei ist er noch schlechter zu vertreiben, denn er muss sich etwas beweisen und ich muss es nicht.“

„Das glaube ich nicht“, sagte ich, mehr an mir zweifelnd als an ihm. „Wenn Sie hier aushalten, beweisen Sie etwas.“

„Nicht viel“, sagte er. „Ich bin für das technische Ressort zuständig, und Technik interessiert nur Techniker. Da ich historische Bücher publiziere, interessieren sich nicht mal die Techniker für mich.“

„Warum halten Sie aus?“, fragte ich.

„Der Unsinn hält mich“, sagte er, „der Unsinn und die Eitelkeit. Die Stadt ist anachronistisch und nennt sich pausenlos modern. Mich hält man für altmodisch und weltfremd, aber dieser Herr hier“, und er zeigte auf das Gemälde, „war moderner als alle, die hier zu sagen haben.“

Ich wollte nicht wieder zu den Wittelsbacher Preußen und preußischen Wittelsbachern zurück und fragte geradeheraus: „Was raten Sie mir? Zu wem soll ich gehen und wo soll ich die Nacht verbringen?“

„Meinen Sie das Ganze wirklich ernst“, fragte er zurück. „Wollen Sie Ihrem Trotz so viel Bühne schenken?“

„Ja“, sagte ich. „Es wird Zeit für den Trotz.“

„Dann“, erwiderte er, „könnte ich Ihnen helfen. Ich habe Verbindungen und diese Stadt viele Ressorts, denen ein Philosoph fehlt. Von den Wasserwerken angefangen bis hin zum Steuerwesen. Aber ich werde es nicht einfach so tun. Sie müssen mir erst beweisen, dass es Ihnen Ernst ist mit dem Unernst. Sie müssen es beweisen.“

„Wo soll ich das tun?“, fragte ich. „Geben Sie mir einen Anhaltspunkt.“

„Gehen Sie zu dieser Adresse“, sagte er und beschrieb einen Zettel. „Dieser Mann wird die Wahrheit ans Licht bringen. Er wird Sie wissen lassen, ob Sie ein Flüchtling sind, ein Held oder nur ein kleines Kind.“

„Dann hat er besondere Fähigkeiten“, fragte ich.

„Das habe ich nicht gesagt“, schloss er und gab mir den Zettel. Theo Lingen, d.i. Theodor Schmitz Berufskolleg für Technik stand darauf. Eine Schule.

5. Kapitel

Ich fragte nach dem Weg und fand heraus, dass es zu Fuß keine Viertelstunde vom Rathaus zu gehen war. Ich passierte ein Stadttor und ein Kunstmuseum, das mein Interesse erregte. Natürlich wäre es sinnvoll gewesen, jetzt meiner einzigen Spur zu folgen und mich zu beeilen, zu Herrn Dranske zu kommen, dessen Name auf dem Zettel stand. Aber ich spürte, dass ich innehalten musste und etwas Zeit zum Nachdenken brauchte. Das Gespräch zuvor hatte viel verlangt. Ich war offen für das Neue gewesen und hatte das Neue im kurfürstlichen Gewand getroffen. Ich war einem Mann begegnet, von dem ich jetzt nicht mehr sagen konnte, ob es ihn gab. Und es war immer noch früh und diese Stadt begann sich gerade erst zu regen.

Im Museum gab es keine Besucher und ich hätte die Bilder für mich gehabt. Doch mein Weg führte mich geradewegs zu einem Frauenbildnis, das wie Dorte in überirdisch aussah. Du magst nicht dionysisch duschen, hörte ich das Gemälde sagen. Du fragst nicht, was du sonst noch für mich tun könntest, setzte es hinzu, wie Hikmet, mein Vorgänger, zu fragen sich angewöhnt hatte, ohne dazu erst noch aufgefordert worden zu sein.

Dann lieber direkt zu Herrn Dranske, der mein Psychoanalytiker sein sollte. Dann lieber sofort, was entschieden werden musste. Wer war Herr Dranske und was würde er mir sagen? Ich fing an, mich zu beeilen. Ich wurde immer schneller. Ich eilte am Kloster der Augustinerinnen vorbei, das es hier immerhin noch gab. Das nächste war eine Sauerkrautfabrik, und süßliche Kohlschwaden hüllten mich ein. Das denkt sich niemand aus, dachte ich und sah die Schule vor mir. Zersiedeltes Suburbia. Die Busse hatten mich wieder und schon hielt einer vor mir an und entließ stoßweite weitere müde wirkende Schüler.

Ich folgte ihnen einen Trampelpfad entlang, überquerte ein stillgelegtes Bahngleis und betrat das Schulgebäude von der Seite her, vorbei an Werkstätten, deren Türen offen standen, in deren Dunkel sich aber nichts erkennen ließ. Der Smoking wurde mir jetzt erstmals etwas unheimlich, denn Scharen von Schülern schoben sich auf den Haupteingang zu und nahmen mich resolut in die Mitte, ohne lange zu fragen. So eingekesselt verlor sich mein Feiertagsgefühl und ich fühlte mich plötzlich unwohl und müde.

„Der Penner sieht aus wie ‘n Pinguin“, hörte ich eine Stimme, und ich durfte das als Indiz dafür werten, nicht völlig unbeobachtet zu bleiben, wenn ich mich nicht beeilte, in des Schulleiters Büro zu kommen, das ich mir groß, stattlich und vom schulischen Leben abgetrennt dachte. Offenbar ging gerade eine Pause zu Ende, denn alles schob sich nach links und rechts mühsam den Gang entlang, und an einer Zwischentür trafen die Anhänger beider Richtungen zusammen und sorgten für eine zähe Blockade.

Ich stellte mir Lehrer so vor, wie man sich Lehrer seit eigenen Schultagen vorstellt, mit Vollbärten oder Kinnbärten oder Schnurrbärten, die eine naturbelassene beige Umhängetasche auf der Schulter trugen, dazu ein keinesfalls elegantes Hemd und schlecht sitzende, zu kurze Hosen. Ich wurde nicht enttäuscht, denn aus der Verstopfung löste sich direkt vor mir ein sehr körperlos daher schreitender Endfünfziger mit einem karierten Hemd und einem Kinnbart, der allerdings gar nichts bei sich trug und ersichtlich nicht in Eile war. Der Fahrradhelm, den er noch nicht abgesetzt hatte, und die Klammern an seinen zu kurzen Hosen wirkten weniger charakteristisch auf mich als der rosige Teint in seiner unversehrten Behütetheit, und ich wollte gerne glauben, darin ein Omen zu sehen, dass mir hier nichts passieren würde oder jedenfalls nicht schnell etwas.

Prompt kam uns ein zweiter Lehrer entgegen, der völlig bartlos eiligen Schrittes unterwegs war und einen riesigen schwarzen Koffer mit sich schleppte, wie ihn auch der Kundendienst des Elektrohändlers oder jedweder Kundendienst bei sich zu tragen pflegt. Das war wohl ein Tribut an die Technik, denn schwarze Koffer, das fand ich später heraus, signalisierten hier eine Verbundenheit mit dem Handwerk, zu dem man hielt, auch wenn sich im Innern des Koffers oft nur eine lange Reihe bunter Stifte und ein bisschen Papier befand. Jetzt ging es an der Tür plötzlich weiter, es öffnete sich ein heller, freundlicher Raum, eine Cafeteria. Der Anblick gefiel mir und ließ mich zu mir selbst und in meine Geschichte zurückfinden. Wo eine Kaffeetheke ist und man etwas zu essen bekommt, da hat ein Gebäude sein Herz und von dort aus erschließt sich alles andere. Es standen noch Schüler um die Stehtische herum, denen es mit dem Pausenende nicht allzu eilig war, und auch der rosige Helmträger wählte diese Behaglichkeit, um sich zu sammeln und daran zu erinnern, was alles auf ihn warten könnte, wenn der Tag fortschritte.

Ich entkam ihm durch eine weitere Glastür, der Flur wurde wieder dunkel und führte an skulpturalen Pflanzenkästen vorbei, die den Weg unnötig verengten, ohne irgendeinen atmosphärischen Gemütston auf die braunen Fliesen zu zaubern, sich selbst überlassene, resignierte Grünpflanzen. Ein Schild kündigte eine Verwaltung an und eine Verwaltung war nach dem Schock des Kunstmuseums, wonach ich nun am meisten verlangte. Verwaltungsräume sind Ruheräume, und nach Ruhe und Klarheit sehnte ich mich und konnte mit dem Schülergetrampel noch nichts anfangen.

Ich ging wieder schneller, auf eine weiße Türe zu, und fand mich vor einem Tresen wieder, der den Blick auf zwei gegenüberliegende Schreibtische freigab. An ihnen saßen, sehr aufrecht und einander schweigend zugewandt, zwei Damen mittleren Alters, die offensichtlich dabei waren zu verwalten. Sie rührten sich zunächst nicht und erst nach einem langen Blick auf meinen Anzug hob die rechts vor mir sitzende Sekretärin langsam die Augenbraue, bewegte den Hals um eine Nuance zum Besucher hin und fragte etwas hüstelnd: „Ja?“

Die Frage beließ mir die volle Verantwortung für mein Anliegen, das war klar, denn an rhetorische Entlastung war so schnell nicht zu denken. Ich versuchte, Ruhe mit Ruhe zu beantworten, und Normalität mit Normalität. So sagte ich erst mal nichts, und die Damen sagten nichts und saßen weiterhin sehr aufrecht und elementar.

„Ich komme auf Empfehlung des Beigeordneten Dr. Raubovers“, sagte ich irgendwann, „und möchte gern Herrn Dranske sprechen.“

„Kommen Sie von einem Empfang?“, fragte nun die links sitzende Sekretärin, die hier wohl für die Honneurs zuständig war. „Der Bauverein trifft sich doch erst morgen.“

„Ich komme von Herrn Dr. Raubovers persönlich“, betonte ich, aber vermied es, irgendwelche Details hinzuzufügen, da in ihrer Frage ein gut versteckter neugieriger Ton mitgeschwungen hatte.

„Gehen Sie durch die Tür in das andere Sekretariat“, sagte meine Gönnerin weitgehend tonlos und wandte sich einem neu eintretenden Besucher zu, der wohl zum Hause zählte, denn sie fragte aufgeräumt: „Und, ist Ihre Schwiegermutter wieder nach Hause gefahren?“

Die Antwort bekam ich nicht mehr zu hören, denn ich ging zu dem anderen, weiter innen gelegenen Sekretariat, dessen Türe offen stand und den Blick auf zwei Schreibtische lenkte, an denen, einander schweigend zugewandt, zwei Damen mittleren Alters saßen, die gerade verwalteten. Hier übernahm die links sitzende Sekretärin die Initiative, doch mit mehr eigenen Worten und offensichtlich ungeachtet meines Aussehens. „Herr Dranske ist noch nicht da“, sagte sie freundlich, „er kommt nicht vor zehn. Aber Sie können hier warten, er hat zunächst keinen anderen Termin.“

Sie führte mich zu einer Sitzgruppe aus den siebziger Jahren, Kunstledersessel und ein kleines Glastischchen, so ungünstig zwischen der Tür zum Lehrerzimmer und der Tür eines Besprechungsraums platziert, dass man sich wie chronisch im Wege sitzend fühlen musste, wie ein Besucher, mit dem niemand etwas anzufangen wusste. Viel später fand ich heraus, dass hier nur potentielle neue Lehrer auf ihr Bewerbungsgespräch warteten, das hinter der Tür im Besprechungsraum stattfinden würde. Von den Lehrern, die schon da waren, interessierte das niemanden und sie warfen dann höchstens einen verstohlenen Blick auf den nervös Wartenden und stellten sich die Frage, wen es da wieder an diese Schule verschlagen würde. Und nie drückte ihr Blick die Zuversicht darauf aus, es könne der Kandidat geeignet und eine Bereicherung sein, so wie sie es waren, als sie neu zur Schule kamen.

Die Atmosphäre im Lehrerzimmer erinnerte an die Liegeräume, wie sie in den heutigen schicken Saunalandschaften existierten, nur dass natürlich niemand einen Bademantel trug. Das Licht war trüb, der Ton gedämpft, und die wenigen Stimmen, die ich hörte, wirkten gehemmt und seltsam emotionslos. Immerhin ließ sich auch ein joviales Organ vernehmen, geübt darin, über die eigene Pointe zu lachen. Es gehörte zu einem auffallend kleinen Mann, der bald darauf an mir vorbei zur Eingangstür stapfte, noch immer über einen Ausspruch lachend, den er den Schläfrigen kurz zuvor herzhaft um die Ohren gehauen hatte; sein Bonmot handelte von einem Mann in den besten Jahren, den eine schwedische Masseurin mit der Frage: „Ok svenske?“ begrüßt, woraufhin er sagt: „Nein, der Rücken reicht.“ Niemand hatte darauf reagiert und so nahm er die Tür energisch und völlig unangefochten, wobei er die linke Schulter beim Gehen hochzog, ein kleiner, fast unbewusster Reflex der Selbsterhöhung. Mit seinem Abschied zog endgültig Ruhe ein und fast nichts geschah.

Ich bedauerte jetzt, nur hören, aber nicht sehen zu können, denn ich saß mit dem Rücken zur Eingangstür des Lehrerzimmers im Gang und hätte keinen Grund gehabt, von den wenigen Stimmen innen ein Gesicht einzufordern. Eine eher verhuscht wirkende Lehrerin verließ den Ruheraum. Die Glastür zur Schule hin schloss sich hinter ihr, aber wenig später kehrte sie zurück und suchte umständlich nach ihrem Schlüssel, um wieder in die Verwaltungsoase hineinzukommen. Das wiederholte sich noch mehrmals und jedes Mal hatte sie ein weiteres nützliches Requisit bei sich, wenn sie zur Ausgangstüre strebte: ein Wörterbuch, ein weiteres Wörterbuch, eine rote Kladde. Bei der dritten Rückkehr wurde sie von einem Schüler begleitet, der eine ganze Kiste mit Wörterbüchern nach draußen trug. Dann war auch sie verschwunden, mit ihr ein Lehrer, der wie das Leiden Christi dreinblickte und nicht nach außen, sondern nach innen hinter einer Glastüre verschwand, die zu den Lehrertoiletten führte. Als ich längst mein Schattendasein an dieser Schule begonnen und zu lieben gelernt hatte, erkannte ich, dass das Verschwinden die einzige Leidenschaft im Leben mancher Lehrer bedeutete. Brauchte man sie, verschwanden sie, und wartete man auf sie, so waren sie längst verschwunden.

Heute erscheint es mir bedeutungsvoll, wie ruhig und abwartend ich damals dort sitzen konnte, absorbiert von der zauberhaften Unwirklichkeit der Schule und ihrer Protagonisten. Mein Herz schlug doch und ich wusste ja nicht, ob ich nicht noch am selben Abend wieder zu Hause sein und die Trümmer meines Abenteuers zusammenfegen würde.

Aber fasziniert saß ich dort und spürte wohl auch, dass ich mich beim Wort nehmen durfte. Wie Mörikes Lampe, dachte ich, selig kreisen sie um sich selbst. Und voller Begier saugte ich jedes Geräusch auf und jede noch so kleine Beobachtung und fühlte mich am richtigen Ort. Es gab hier ein Geheimnis und es war mein Geheimnis. Ich gehörte hier hin, das spürte ich wohl. Hätte man mich sitzen lassen, ein ganzes Schuljahr lang, ich hätte nirgends sonst sein wollen. Und ich wurde immer ruhiger. Ich durfte hier beobachten und gar nichts sein. Beweisen Sie es mir, hatte mein Mentor gesagt. Und ich würde es beweisen, das spürte ich. Dieses Lehrerzimmer war mein Davos. Als ich den anämischen Lehrer zur Lehrertoilette abbiegen sah, wusste ich, dass meine Trägheit sich hier zu Dynamit wandeln würde. Ich würde kein weltfremder Junggeselle, sondern gar nichts mehr sein. Das war der Ort, um nichts mehr zu sein. Wenn dies die Lehre dieses ersten Tages war, so war er lange noch nicht vorbei.

6. Kapitel

Nun passierte gar nichts mehr. Mag sein, dass noch jemand im Ruheraum verharrte, hören ließ sich das nicht. Die Sekretärin kam wohl noch einmal, um zu sagen, dass Herr Dranske noch nicht eingetroffen sei und es wohl auch elf werden könne, bevor sich sagen ließ, ob er überhaupt kommen werde. Ob ich denn warten wolle. Ich bejahte und sagte, die Wartezeit mache mir nichts aus, dass ich aber von Herrn Dr. Raubovers gebeten worden sei, noch heute mit Herrn Dranske zu sprechen.

„Ich werde ihn anrufen und ihm davon berichten“, sagte die Sekretärin. „Wenn Sie noch etwas Geduld haben wollen.“

Sie ging und von der anderen Seite öffnete sich die Glastüre und ein unscheinbarer Mann schlenderte herein, der unbestimmt nach links und rechts schaute und Mahlzeit sagte, als er an mir vorbei kam. Er schlüpfte ins Lehrerzimmer und eröffnete dort das Gespräch mit jemandem, der wohl dort zurückgeblieben war. „Schweinebraten“, sagte er, „heute gibt es Schweinebraten.“

„Woher weißt du das immer?“, replizierte eine dünne Stimme, die endgültig meine Neugier weckte. Ich saß jetzt schon eine halbe Stunde hier und niemand hatte mich beachtet. Das war mein Hochzeitstag und alles, was passieren sollte, war eine Lehrerin, die Wörterbücher hin- und hertrug, und ein Schweinebraten, den es heute offenbar irgendwo gab. Der Schulleiter ließ sich nicht blicken und ein schwachbrüstiger Lehrer kam nicht von der Lehrertoilette zurück, die er voller Vorwurf gegen das Leben angesteuert hatte. Hier sollte ich mich vorstellen und mir selbst begegnen? Hier in ein neues Leben eintreten, von dem ich am Morgen noch nichts gewusst hatte, als es nur darum ging, der Ehe zu entkommen?

Ich stand auf und ging so unauffällig wie möglich in das Lehrerzimmer hinein, in dem ich nichts zu suchen hatte. Es war vollgestellt mit Tischen, an denen niemand saß. Einige Zeitungen lagen darauf, wie zur Staffage. An der Stirnseite eine selbstgetischlerte Wand für Klassenbücher, gehobene Bastelarbeit. Ich stellte mir vor, wie stolz der Schulleiter sein müsste beim Anblick dieser vielen Fächer, die schöne Aufschriften trugen und Zeugnis davon ablegten, dass sich jede Klasse einem Eisprung verdankte, in den sein Samen fiel. Der unscheinbare Schweinebratenverkünder verwies mit auffallend theatralischer Geste auf ein Blatt Papier, das er aus der Hosentasche gezogen hatte.

„Gestern gab es die Weihnachtsgans“, sagte er, „aber die war schwach. Der Schweinebraten wird besser, den kenne ich.“

Ich hatte mich rasch gesetzt und begann, in einer der Zeitungen zu blättern. Der Herr mit der dünnen Stimme tat nichts anderes: Er saß ohne Grund.

„Mir hat die Weihnachtsgans geschmeckt“, sagte ich aus sinnloser Provokation.

Schweigen. Ich fühlte die Blicke auf mir, niemand wusste mit dieser Situation fertig zu werden. Die Stimme blätterte eifrig vor sich hin und der Essensexperte zögerte. Ein Herr im Smoking, dem die Weihnachtsgans geschmeckt hatte. Er drehte eine Runde um die Tische, die hinteren Gliedmaßen betonend, als sei er bei Chaplin in die Lehre gegangen. „Ich fand sie trocken“, sagte er. „Aber ich bin ja auch kein Lehrer.“

Damit steuerte er die Tür an und verschwand, nicht ohne zuvor den Zettel in der Hosentasche zu verstauen und nochmals Mahlzeit zu sagen. Mahlzeit ist der Mittagsgruß und klingt wie ein trotziges Beharren darauf, dass keine Arbeit der Welt gegen ein Mittagessen konkurrieren könne. Er war weg.

Da saß ich, in einem Lehrerzimmer, ohne Auftrag. Die Stimme hatte nichts zu sagen, das fühlte ich. Sie war geduldet und geduldig, aber nicht der Mann, ein Gespräch zu beginnen. Wir warteten. Ich wurde nun müde und hing Gedanken nach, die vom genius loci nicht erreicht werden konnten. Ich träumte mit offenen Augen und blätterte die Seiten um. Ein Bauer in Grevenbroich hatte auf ein Pferd geschossen, das er für Einbrecher hielt. Der Landrat hatte sich zur Wirtschaftsförderung im Kreis geäußert und sie als wegweisend bezeichnet. Ein betrunkener Jugendlicher hatte einen Autounfall mit vier Toten verursacht und beklagte nun den Verlust seines Wagens. Er war unverletzt geblieben, wie durch ein Wunder, wie es hieß.

Einige Lehrer erschienen und machten sich an kleinen Postfächern zu schaffen, die wie ein großer Adventskalender den Platz links und rechts der Eingangstür ausfüllten. Die Lehrer kamen und gingen und nichts geschah. Ich kehrte auf meinen Sessel im Entree zurück, denn die Gesellschaft der Stimme wurde mir unbehaglich. Ich saß und nichts geschah. Ich hatte über das Lehren nie nachgedacht, aber so ereignisarm hätte ich es mir wohl nicht vorgestellt. Die Ursprungssekretärin mit der angewinkelten Augenbraue kam und sagte sichtlich interessiert: „Sie sind ja noch da?“

„Ja“, sagte ich, „ich bin noch da.“ Damit schlug die Glastür ins Schloss und eine schwarze Herrensandale federte herbei. „Ich bin der Schulleiter“, sagte sie.

7. Kapitel

Das Schulleiterbüro war weder bemerkenswert noch bemerkenswert groß. Es schloss sich unmittelbar an das Vorzimmer mit der freundlichen Sekretärin an und war auf eine Art eingerichtet, die keine individuellen Züge trug. Ein hellbrauner runder Tisch zur Linken, ein Schreibtisch mit Rechner im Hintergrund. In der anderen Ecke ein paar Poster mit belanglosen Parolen. Keine zehn Quadratmeter und kein Hinweis, wer Herr Dranske denn sei. Er war beleibt und trug einen Vollbart; seine Frisur wirkte seltsam asynchron. Er verschränkte die Hände auf dem Bauch, aber nach den Buddenbrooks sah das nicht aus. Er hatte sich an den runden Tisch gesetzt und gesagt, dass er Elektriker sei und Tränen geflossen seien, als er seine Lehre abgeschlossen habe. Ich stand und wartete.

„Setzen Sie sich doch“, sagte er. „Ich bin Ingenieur und Sozialpädagoge. Nun sagen Sie mir doch, wohin Ihr Herzblut fließt.“

Ich schaute herum, aber kein Fürstenporträt nahm mir die Arbeit ab. Kein Hinweis auf irgendeine Eitelkeit. Kein Anhaltspunkt.

„Ich möchte für diese Schule arbeiten“, sagte ich.

„Das ist gut“, sagte Herr Dranske, „Herzblut ist gut.“ Er begann, von sich zu sprechen. Er sei Elektriker, sagte er, und seine Mutter habe Tränen vergossen, als er die Lehre beendet habe. Jetzt sei er Schulleiter und Patentingenieur. Er führte aus, er sei Mathematiker und sehr innovativ. „Der Nimbus Schule ist das Problem“, sagte er, „und die Bedenkenträger.“ Er sagte, dass er Elektriker sei und seine Mutter geweint habe, als er die Lehre beendet habe. „Es sind Tränen geflossen“, setzte er hinzu.

„Hatte sie denn Grund dazu?“, fragte ich, worauf er sagte, dass der Nimbus Schule verhindere, dass es mehr Synergien im System gäbe. „Ich bin Techniker“, setzte er hinzu, „und Kaufmann.“

Ich überlegte. Ich war seit zehn Minuten hier und noch immer hatte sich mir nichts aufgedrängt als eine Herrensandale mitten im Winter. Der Schulleiter sprach von einer Bildungsoffensive, auf die es jetzt ankomme. „Ich bin Visionär“, sagte er. „Kennen Sie das Netzwerk der Innovativen?“

„Nein“, sagte ich, ich…“

„Gut“, sagte er, es kommt auf die Visionen an, denn der Nimbus Schule ist schuld.“ Er führte aus, dass er Elektriker sei und Ingenieur. „Ich bin Präsident des Deutschen Erfinderverbunds“, sagte er, „und habe das Netzwerk der Innovativen gegründet. Es gibt so viele Menschen mit innovativen Ideen, aber sie kennen sich nicht.“

„Innovation beginnt mit Selbsterkenntnis“, bestätigte ich, hatte ihn aber missverstanden, denn natürlich sorgte sein Netzwerk nur dafür, dass man sich untereinander kennenlernte, also ein Innovativer den anderen, wie immer diese Innovativen zu sich selbst stehen mochten.

„Ich liebe die Querdenker“, sagte er und versuchte nun schon einige Zeit, eine Tüte mit Plätzchen zu öffnen. Er riss mit schweren Fingern an der oberen Kante herum und fügte hinzu, dass er als Techniker immer schon Visionär gewesen sei. „Ich bin ein Handwerker“, sagte er, „und ein Mann der Bildung.“

„Kennen Sie das Maria Curry Gymnasium?“, fragte er mich. „Der Schulleiter dort, der ist auch Visionär. Wir planen eine Werkstatt für ästhetische Intelligenz. Wir vernetzen die Kreativen und denken quer.“ Er riss noch stärker an der Plätzchentüte und sagte, dass mehr Herzblut ins System fließen müsste und dass die Erfinder keine Lobby hätten. „Ich bin Kaufmann“, sagte er und fügte hinzu, dass an einer technischen Schule Visionen gefragt seien. „Das ist ästhetische Intelligenz“, sagte er, „und einer meiner Lehrer wird die Werkstatt für ästhetische Intelligenz gründen. Ich lasse ihn mal rufen, Sie müssen ihn kennenlernen.“

Er ging zur Tür und rief die Sekretärin herein. Sie kam und lächelte mir freundlich zu. Der Schulleiter drückte ihr die Plätzchen in die Hand. Sie öffnete die Tüte und wollte wieder gehen. „Rufen Sie Herrn Alexander aus“, sagte er. „Während des Unterrichts rufen wir nicht aus“, sagte sie, „nur bei Alarm.“

„Ach so, ja. Dann in der Pause.“ Sie ging.

Werkstatt für ästhetische Intelligenz, dachte ich. Das ist nicht mal Beuys eingefallen. Ich fragte mich, ob ein Zebrastreifen seine Erfindung einem quergedachten Gedanken verdanke und versank ohnehin in allerlei Grübeleien. Herrn Dranskes Gegenwart lud nicht dazu ein, selbst etwas zu sagen, und ich hatte lange nichts gesagt und mich nur von seinen Stichworten auf eine Traumreise locken lassen. Er aß nun Plätzchen und fragte mich, was ich für die Schule tun könne.

„Deshalb bin ich hier“, sagte ich, „um Sie danach zu fragen. Herr Dr. Raubovers hat mir gesagt, dass Sie mich brauchen können.“

„Das ist ein Bedenkenträger“, sagte Herr Dranske, „ein Mann von gestern. Aber es freut mich, dass er an mich gedacht hat. Was sind Sie denn?“

„Ich bin Pembrokist“, sagte ich aus einer Laune heraus.

„Bank“, fragte Herr Dranske. „Ein Kaufmann mit Visionen?“

„Nein“, sagte ich, „ich glaube, dass Shakespeares Sonette dem Earl of Pembroke gewidmet sind und nicht dem Earl of Southampton.“

„Das ist gut“, sagte Herr Dranske, „ich bin dafür.“ Es entstand eine Pause.

„Sie haben studiert?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich, „an der philosophischen Fakultät.“

„Das ist gut“, sagte Herr Dranske, „ein Philosoph, danach suchen wir. Mein Stellvertreter möchte einen Metaller einstellen, aber Visionen brauchen einen Philosophen.“ Ich sagte nichts.

„Aber verstehen Sie, es gibt im Moment keine Stelle. Natürlich, wenn Sie sich ehrenamtlich für das Netzwerk der Innovativen engagieren, das qualifiziert. Sie geben ein paar Stunden Visionsphilosophie, vorläufig ohne Bezahlung, und arbeiten ehrenamtlich in der Werkstatt für ästhetische Intelligenz. Da steigen Ihre Chancen auf eine Einstellung.“

„Herr Dranske“, sagte ich, „ich bin kein Lehrer. Aber ich möchte hier bleiben.“ „Herzblut ist gut“, sagte Herr Dranske. „Sie geben ein paar Stunden Querdenken und arbeiten in der Werkstatt für ästhetische Intelligenz und für den Deutschen Erfinderverbund. Dann schauen wir, ob wir Sie im Sommer ins Boot holen können, mit einer eigenen Stelle. Ehrenamtliche Arbeit macht da viel aus.“

„Sie missverstehen mich“, sagte ich. „Ich möchte hier bleiben, noch heute. Ich bin heute Morgen um fünf Uhr aufgestanden, um hierherzukommen und hier zu bleiben.“

„Ich möchte“, sagte ich deutlich, weil ich den Eindruck gewonnen hatte, dass man Herrn Dranske sagen musste, was als Nächstes zu tun sei, „ich möchte als Assistent des Hausmeisters arbeiten. Ich bin nämlich kein praktischer Mensch, aber möchte einer werden.“

„Das ist gut“, sagte Herr Dranske erleichtert, „so machen wir es. Ein Philosoph als Hausmeister. Das ist was für die ästhetische Intelligenz.“

Er strahlte und bot mir ein Plätzchen an. Dann streckte er mir seine Hand entgegen, feucht und federleicht. „Ich erkläre mich Dekor: unser neuer Hausmeisterphilosoph.“

Er erinnerte nochmals daran, dass er Elektriker sei und seine Mutter geweint habe, als er die Lehre beendet habe. Jetzt sei er Schulleiter und sorge für Synergien im System. „Sie könnten“, sagte er unvermittelt, „mal nach der Heizung schauen. Hier ist es immer kalt und unser Hausmeister hat keine Zeit für mich.“

Ein Kindheitstraum von mir ging in Erfüllung. Assistent des Hausmeisters, das war ein Titel, mit dem sich hoffnungsvoll in ein neues Leben starten ließ. Ich hatte immer gerne gelesen und viel geschrieben. Aber gebeten zu werden, nach der Heizung zu sehen, das war wie ein Ritterschlag. Wer Maschinen bedienen kann, steuert.

„Das mache ich, sobald Sie mich dem Hausmeister vorgestellt haben“, sagte ich. „Ich möchte gerne meinen Arbeitsplatz kennenlernen und meinen Einsatzplan mit ihm abstimmen.“

Mir fiel auf, dass Herrn Dranske eine gewisse Unruhe anzumerken war, sobald zuerst er und dann ich den Hausmeister der Schule erwähnt hatte. Ein philosophierender Hausmeister imponierte ihm sehr, das war klar, aber der tatsächliche Hausmeister gab offenbar Anlass zur Unruhe. Ich vertraute darauf, dass ich mit Menschen auskam und machte mir weiter keine Gedanken darüber, was genau ich mit dem Hausmeister besprechen würde. Nur war mir sehr bewusst, dass es ohne einen blauen oder grauen Kittel nicht würde gehen können und ich ihn wohl als Erstes darum bitten müsste, mir einen zu leihen. Das würde Professionalität signalisieren und alle Gespräche vorspuren, die von nun an zwischen ihm und mir zur täglichen Routine gehören würden.

Ich schweifte in Gedanken weit voraus und merkte gar nicht, dass Herrn Dranskes Redefluss versiegt war. Zaudernd saß er da, aber sprach nicht mehr. Ich träumte und er schwieg. Ich malte mir eine goldene Hausmeisterzukunft aus und er verdrückte ein Plätzchen nach dem anderen.

„Stellen Sie mich jetzt bitte vor“, sagte ich, „ich schau mir die Heizung dann hinterher an.“

Wir gingen und schon an der Tür zum Vorzimmer kehrten die Lebensgeister in Herrn Dranske zurück. „Unser neuer Kollege ist Prokurist“, sagte er jovial zu den Sekretärinnen. „Er wird sich zunächst um die Haustechnik kümmern, aber auch stundenweise querdenken.“

„Pembrokist“, sagte ich mehr zu den Damen als zu Herrn Dranske. „Ich bin Pembrokist und werde zunächst als Assistent des Hausmeisters arbeiten.“

Die Damen schienen weder überrascht noch beeindruckt. In allen Vorzimmern herrscht völliger Gleichmut in Bezug auf die Kostüme, die neue Besucher oder neue Mitarbeiter zur Schau tragen, und was immer man ihnen sagt, wer man sei oder was man tun wolle, sie messen am Schatz ihrer Erfahrung und wissen, dass Faulheit Faulheit bleibt und Fleiß Fleiß, und sie ganz bestimmt herausfinden werden, zu welcher Seite der Neue gehören würde.

„Dann herzlich willkommen“, sagte die Sekretärin rechts. „Aber gestatten Sie die Frage: Was macht ein Pembrokist?“

Herr Dranske reagierte unwillig und ging schnell aus dem Raum, um jemanden im Flur abzupassen. „Er ist kein Elektriker und seine Mutter hat nicht um ihn geweint“, antwortete ich. Die Damen lachten herzhaft und ich beeilte mich, Herrn Dranske zu folgen.

Er stand im Flur und redete auf einen Lehrer ein, wenn auch nicht auf denjenigen, auf den er zugestürzt war. Der hatte wohl seinen Schritt beschleunigt und es noch gerade eben zu dem Mindestabstand gebracht, der es erlaubt, einen Anruf aus dem Hinterhalt ohne Unhöflichkeit zu überhören. So war der jetzige Gesprächspartner der nächste gewesen, der des Weges kam und nicht mehr ausweichen konnte, denn Herr Dranske spielte eine vorzügliche Raumdeckung, wie man im Fußball sagt, und stellte sich so in den engen Flur, dass weder links noch rechts ein Durchkommen war. Ich kam dazu, aber hielt Abstand und versuchte, nicht ins Gespräch gezogen zu werden.

„Die Sache ist noch nicht in trockenen Tüchern“, hörte ich Herrn Dranske sagen. Das schien den Lehrer nicht sehr zu beunruhigen, denn er schwieg eisern und trat von einem Bein aufs andere. Ihm kam zu Hilfe, dass nun ein verantwortungsbewusst hastig wirkender Herr auf die Bürotür zuging, die sich an Herrn Dranskes Vorzimmer links anschloss und laut Aufschrift zum Büro des stellvertretenden Schulleiters gehörte.

„Wir haben einen neuen Kollegen, Herr Dolinski“, sagte Herr Dranske und veränderte seine Position wie ein unaufmerksamer Abwehrspieler, dem sein Stürmer entwischt, denn der Lehrer entkam katzenhaft zur offenen Seite hin, „einen Prokuristen.“

Herr Dolinski stellte sich mir kurz als stellvertretender Schulleiter vor und sagte, er werde sich die Zeit nehmen, mich in Ruhe zu empfangen und alles Wichtige mit mir zu besprechen, sobald er Gelegenheit gefunden habe, sich mit Herrn Dranske über mich zu unterhalten. „Welche Fächer unterrichten Sie“, fragte er kurz.

„Er wird sich ehrenamtlich in der Werkstatt für ästhetische Intelligenz engagieren“, sagte Herr Dranske gewichtig, „und unseren Hausmeister beraten.“

Herr Dolinski zog es vor, nun kommentarlos sein Büro aufzusuchen und der Flur blieb menschenleer zurück. So verließen wir den Verwaltungstrakt, um mich dem Hausmeister vorzustellen, und das wirkte auf mich wie die letzten Schritte zum Zimmer des Standesbeamten, die ich heute eigentlich hätte zurücklegen sollen. Voll feierlichen Ernstes schritt ich neben Herrn Dranskes Sandale her und wusste, das Ja-Wort würde ich nun im Kittel sprechen, nicht im Smoking, aber es würde ein Ja-Wort sein und keine Kapitulationserklärung meinem kaputten Liebesleben gegenüber.

Ein Hausmeister ist kein Hausmann. Ein Hausmeister hat sein Leben im Griff und dilettiert nicht in Liebesdingen. Ein Hausmeister duscht nicht dionysisch, ein Hausmeister trägt Sorge um die Funktionstüchtigkeit der Duschen in der Turnhalle. Tüchtig, das war das Wort zum Tag. Ein Wort, das meine Mutter benutzte, um zu sagen, dass jemand die Zumutungen des Lebens annimmt, ohne sich zu beklagen. Ein tüchtiger Mann, das war das Gegenteil eines Hochstaplers. Jetzt also auch ich, Seite an Seite mit Herrn Dranske.

8. Kapitel

Wir gingen den Weg, den ich gekommen war, in umgekehrter Richtung. Durch den dunklen Flur zu den resignierten Grünpflanzen, auf die Glastür zu, durch sie hindurch in einen winzigen Korridor, der auf die nächste Glastür zulief. Jetzt waren wir in der Cafeteria, in der sich nur einzelne Schüler aufhielten. Durch die großen hellen Fenster sah man auf den Schulhof und auf ein steinernes Sofa, das dort aufmerksamkeitsheischend stand. Es war eine richtige Couch aus dunkelbraunem Stein und so etwas wie das Brandenburger Tor der Schule, denn als Jahre später eine sogenannte Internationale Schule für neureiche Kinder auf dem Schulgelände einzog, wurde eine Demarkationslinie gezogen, mit Zäunen gesichert und von Wachleuten beschützt, und das Sofa war plötzlich drüben, nah und unerreichbar fern.

Jetzt warf ich nur einen kurzen Blick darauf, denn Herr Dranske schlug ein hohes Tempo an, als wollte er die Sache schnell hinter sich bringen. Er war wieder schweigsam geworden, und wenn ich ihn auch erst seit einer Stunde kannte, so wusste ich, dass dies kein gutes Zeichen war. Seine Gesichtszüge wirkten verkrampft und krampften mit jeder Sekunde mehr. Wieder eine Glastür, ein kleiner Korridor, die nächste Glastür, und Blick auf den Eingang, durch den ich Stunden vorher geschoben worden war. Erst jetzt fiel mir auf, dass eine große gläserne Hausmeisterloge direkt daneben lag, deutlich imposanter als das Schulleiterbüro, wenn man darüber nachdachte. Ein Souverän versteckt sich nicht, sondern stellt seine Pracht aus, und so war es hier. Ein großer heller Raum, allseits von Glas umgeben. Ein Schreibtisch und ein riesiger Ledersessel und darauf ein älterer Machtmensch mit einem steifkantigen Stoffhut, wie ihn im Fernsehen Hausmeister tragen und man diese Darstellung überzeichnet findet. Herr Dranske stockte beim Gehen, er blieb fast stehen, wie ein Pferd, das sich einer Nebelwand nähert. Sein Nacken versteifte sich, er drückte den Bauch heraus. Die Sandale verweigerte den Dienst und bevor ich das bemerkte, war ich schon drei Schritte voraus.

„Das ist Herr Gott“, rief er mir zu, aber meinte für einmal keinen halbseidenen tschechischen Schlagersänger, sondern offensichtlich den Machtmenschen mit dem Hut. „Sagen Sie ihm, was wir besprochen haben und ich Dekor bin. Mein Handy schellt, sonst würde ich Sie vorstellen. Der Hauptabteilungsleiter möchte mich dringend sprechen, er versucht schon seit Tagen, mich zu erreichen.“