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Im Dezember 2010 zündete sich in Tunesien ein Gemüsehändler an, um gegen Polizeiwillkür und die schlechte wirtschaftliche Situation zu protestieren. Er löste damit die Revolution in Tunesien und die Bewegung des Arabischen Frühlings aus. So erreichte eine islamische Reformbewegung aus dem 19. Jahrhundert ihren vorläufigen Höhepunkt. Susann Prager erklärt in ihrem Buch die Hintergründe und Ziele dieses politischen Islam. Im Westen fand die Bewegung erst mit dem Aufkommen terroristischer Anschläge Beachtung. Doch wie genau legitimieren Akteure des 20. Jahrhunderts ihren Befreiungskampf? Gegen welche Regime und deren Fremdherrschaft kämpfen sie an? Um das zu klären, setzt Prager sich intensiv mit Sayyid Qutb und Abu Maududi auseinander. Sie vermittelt so ein im Westen weitgehend unbekanntes Verständnis vom Islam sowie dem Konzept des Jihad. Aus dem Inhalt: - Islam; - Jihad; - Arabischer Frühling; - Politischer Islam; - Sayyid Qutb; - Abu Maududi
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2018
Impressum:
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Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
„Der Ruf zur Freiheit“
1 Bezeichnungen muslimischer Bewegungen
1.1 Zu „Vätern einer Ideologie“
1.2 Zu Ideologien islamischer Aktivisten
2 Entwicklung von Jihadkonzepten
2.1 Jihadbedeutung in Koran und Hadithen
2.2 Entwicklung von Jihadkonzepten im islamischen Recht
2.2.1 Unterscheidung von großen und kleinen Jihad
2.2.2 Die Legitimierung der Jihadkonzepte
2.2.3 Jihad als religiöse Pflicht
2.2.4 Legitime Ziele des jihad
2.2.5 Einteilung der Welt in Gebiete und Frage der Universalität des Kampfs
2.2.6 Herleitung der Jihadkonzepte aus dem Koran
2.2.7 Wer ist der Feind?
2.2.8 Regeln der Kriegsführung
2.2.9 Dauer bestimmter Jihad-Kämpfe
3 Sayyid Qutb
3.1 Zur Biografie
3.2 Jihadkonzept
3.2.1 Situationsdiagnose
3.2.2 Legitimierende Quelle
3.2.3 Zum Islamverständnis Qutbs
3.2.4 Aktive Weisung des Islam
3.2.5 Der richtige Weg zur islamischen Ordnung
3.2.6 Ausgangspunkt der rechtlichen Herleitung
3.2.7 Notwendigkeit des kämpferischen Jihad
3.2.8 Offensiver oder defensiver Jihad?
3.2.9 Pflicht zum Jihad
3.2.10 Reichweite des jihad
3.2.11 Gegner
3.2.12 Ziele des Jihad
3.2.13 Charakter des Jihad
3.2.14 Islamischer Staat
4 Sayyid Abul A’la Maududi
4.1 Zur Biografie
4.2 Jihadkonzept
4.2.1 Situationsdiagnose
4.2.2 Legitimierende Quellen
4.2.3 Verständnis des wahren Islam und wahrer Muslime
4.2.4 Charakter des Jihad als revolutionäres Mittel
4.2.5 Motive und Ziele des Jihad
4.2.6 Pflicht zum Jihad
4.2.7 Offensiver oder defensiver Jihad?
4.2.8 Reichweite des Jihad
4.2.9 Gegner
4.2.10 Phasen des Jihad?
4.2.11 Islamischer Staat
5 Vergleich und Ausblick
5.1 Neue Begriffe und Konzepte
5.1.1 Ijtihad als Methode zur Herleitung neuer Konzepte
5.1.2 Erklärung des takfir
5.1.3 Begriffe der westlichen Moderne
5.1.4 Sakralisierung des Souveränitätsbegriffs
5.1.5 Eine genuin islamische Moderne
5.2 Eschatologische Motive
5.3 Einfluss auf islamistische Bewegungen des Jahrhunderts
6 Fazit
7 Quellenverzeichnis
Abbildung 1: Jihad- Phasen bei Qutb
Am 17.12.2010 löste ein Gemüsehändler in Tunesien, der sich aus Protest gegen Polizeiwillkür und die schlechte wirtschaftliche Situation selbst anzündete, den Beginn von Massenunruhen und nachfolgend die tunesische Revolution aus. Die Protestbewegung weitete sich auf mehrere Länder der arabischen Halbinsel und den Maghreb aus und führte in Tunesien zur Absetzung Staatschefs Ben Ali, in Ägypten zum Sturz Husni Mubaraks und in Libyen zum Mord an Präsident Muammar al-Gaddafi, sowie in Syrien zum andauernden revolutionären Kampf gegen das sozialistische Baath-Regime.
Mit den Revolutionen des Arabischen Frühlings wurde der muslimische Kampf um die Befreiung von Fremdherrschaft zu einem Höhepunkt geführt. Die Entwicklung von islamischen Reformbewegungen zur Erneuerung des Islam und im Widerstand gegen Fremdherrschaft formierte sich bereits im 19. Jahrhundert mit antikolonialer Ausrichtung. Die mit dem 17. Jahrhundert einsetzende Kolonialisierung der Staaten des Mittleren und Nahen Ostens führte mit der Unterwerfung zuvor muslimisch beherrschter Staaten zu weitreichenden Krisenerscheinungen. Muslime verbanden mit der Moderne vorrangig die leidvollen Erfahrung der Unterdrückung, Unterlegenheit und den Niedergang der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung ihrer Länder[1]. Im Jahre 1922 standen fast alle arabischen Länder – mit Ausnahme Saudi Arabiens und Teilen Jemens – unter europäischer Vorherrschaft[2]. Mit dem Kolonialismus transportierten europäische Mächte einen Anspruch der Überlegenheit gegenüber dem Islam, der dämonisiert, als rückständig gebrandmarkt wurde und nach westlichen Vorstellungen modernisiert und „zivilisiert“ werden sollte[3]. Das Osmanische Reich wurde seit dem 18. Jahrhundert zunehmend territorial aufgelöst; der aufstrebende Staat Ägypten mit florierender Wirtschaft im 19. Jahrhundert durch britische Kolonialpolitik entmündigt und dem wirtschaftlichen Niedergang geweiht.
Die Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts entstanden in Reaktion auf die Kolonialisierung und Dämonisierung des Islam durch europäische Mächte[4]. Reformer, teils auch als muslimische Modernisten oder Salafiyya-Bewegung bezeichnet - wie Muhammad Abduh und al-Afghani - ersuchten eine islamische Modernität mit Rückbesinnung auf die frühislamische Zeit, Koran und Sunna, die in eigenständiger Rechtsfindung ausgelegt wurden. Abduh plädierte für eine zeitgemäße Erneuerung des Islam, wobei noch der Glaube an die Harmonisierbarkeit der islamischen Tradition mit europäischen Konzepten vorherrschte. Die Konzepte der Modernisten des 19. Jahrhunderts orientierten sich zwar an der Frühzeit des Islam, suchten aber den Beweis der Vereinbarkeit mit der Moderne und vertraten einen defensiven Widerstand (jihad) gegen den Kolonialismus und den Überlegenheitsanspruch des Westens.
Ein entscheidender Einschnitt zur Entwicklung eines antiwestlichen, politischen verstandenen Islams ist nach dem Zerfall des osmanischen Reichs mit der Abschaffung des Kalifats 1924 und dem Beginn der arabischen Nationalstaaten nach dem ersten Weltkrieg auszumachen. 1928 legte Hasan Banna mit der Gründung der Muslimbruderschaft den Grundstein für den Aufstieg politisch-islamischer Bewegungen und dem Islamismus als „massenwirksamer Ideologie“[5]. Besonders die Zeit nach 1940 stand im Zeichen nationalistischer und sozialistisch-säkularer Ideologien der arabischen Staaten (besonders in Ägypten unter Nasser und in Syrien unter dem Baath-Regime). Die „islamistischen Bewegungen“ formten sich zeitgleich und in Opposition zu der fortgesetzten Unterdrückung der säkularen Regimes bis zur sogenannten islamischen Wende in den 1970er Jahren, die besonders in der Islamischen Revolution im Iran 1979 realisiert wurde[6]. Traughber sieht die ideologischen Wurzeln der islamischen Bewegungen im 19.Jahrhundert und die organisatorische Wurzel des „Islamismus“ in der 1928 gegründeten Muslimbruderschaft[7].
Diese Arbeit soll die Legitimierung des Kampfes bei zwei muslimischen Akteuren des 20. Jahrhunderts vorstellen: Sayyid Qutb und Abu Maududi. Beide Autoren haben sowohl die Situation der Kolonialherrschaft ihrer Heimatländer Ägyptens bzw. Indiens erlebt, als auch die Zeit der Dekolonialisierung unter den säkularen, despotisch regierenden Regimes. Beide Akteure stehen paradigmatisch für das Hervortreten des „Politischen Islam“ - der Sichtbarkeit des Islams als politischen Faktors[8] – im 20. Jahrhundert. Der politische Trend des Islam wurde bei westlichen Beobachtern als Bedrohung aufgenommen und rückte insbesondere nach der Islamischen Revolution im Iran 1979 in deren Blickfeld[9]. In der westlichen Wissenschaft wurden die islamischen Bewegungen erst seit dem Aufkommen terroristischer Anschläge, besonders seit dem 11.9.2001, häufig thematisiert[10]. In der islamwissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Literatur sowie in westlichen Medien wurde der Islam teils pauschal mit Terrorismus und Fundamentalismus gleichgesetzt und als wesenhaft gewalttätige Religion interpretiert[11]. Die islamischen Bewegungen wurden als einheitlicher Block verurteilt und das Spektrum der Bewegungen verkannt[12]. Islambilder mit dem Klischee des monolithischen Islams, ein undifferenziertes Bild über Muslime und islamische Bewegungen hielten auch in wissenschaftlichen Arbeiten Einzug[13]. Islamischer Fundamentalismus wurde als Gegenseite zur westlichen Kultur dargestellt, als Gegensatz zur freiheitlichen, westlich-toleranten Gesellschaft. „Der Islam“ wurde mit Anwachsen der islamischen Bewegungen verantwortlich für die Verbreitung von Gewalt gemacht[14], daher forderten einige Autoren eine Aufklärung „des Islam“. Feindbilder des Islams und des Kampfs der Kulturen wurden entworfen[15].
Insofern ist in der jüngeren Forschungsgeschichte eine differenzierte Analyse der Vielfältigkeit muslimischer Positionen gefordert worden[16]. Die Wirklichkeit sollte nicht vereinheitlichend dargestellt werden, islamische Akteure anhand von Fallstudien bzw. Bestandaufnahmen untersucht werden[17]. Diese Arbeit knüpft daran an, mit Hilfe authentischer Zeugnisse der beiden muslimischen Akteure Positionen zum politisch ausgerichteten Kampf zu untersuchen. Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Positionen Qutbs und Maududis eine einheitliche islamische Bewegung repräsentieren würden, die grundsätzlich zu Gewalt neigt. Qutbs und Maududis Positionen sind Positionen im Spektrum der islamischen Bewegungen, die sich im weitesten Sinne dem Kampf um Freiheit verschrieben haben. Die Analyse der Legitimierung des Kampfes soll zwei mögliche Interpretationen zur islamischen Legitimierung des Kampfes anhand deren Schriften darstellen.
Im ersten Kapitel wird die Begriffsgrundlage der Arbeit gelegt. Hierbei spielen die angesprochenen undifferenzierten und wertgeladenen Islamverständnisse eine Rolle, die sich in der Terminologie der wissenschaftlichen Literatur widerspiegeln. Insofern dient dieser erste Abschnitt dem Versuch, einen Begriff zur Bezeichnung der muslimischen Akteure herauszuarbeiten, der das Spektrum und die Sicht auf islamische Akteure nicht eurozentrisch vordefiniert oder unzutreffend einengen soll. Des Weiteren werden einige allgemeine Merkmale islamischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts angesprochen, die in der Forschung herauskristallisiert wurden. Im Laufe der Arbeit wird sich zeigen, inwiefern diese Kategorien bei Qutb und Maududi auch spezifische Gestalt annehmen können.
Ein Blick auf die Jihadkonzepte der klassischen Rechtslehre ist im zweiten Kapitel notwendig, um eine angemessene Einordnung von Maududis und Qutbs Lehre vornehmen zu können. Die Lehren der klassischen Jurisprudenz, entstanden mit den islamischen Rechtsschulen, galt für Jahrhunderte als verbindlich für Muslime und wird bis heute von traditionell ausgerichteten Muslime befolgt. Der Stellenwert der Interpretationen Maududis und Qutbs, ihre Originalität und somit auch der Einfluss der Gegenwart können im Vergleich zu den klassischen Rechtsvorstellungen deutlicher werden.
Der Hauptteil der Arbeit ist den Jihadkonzepten Maududis und Qutbs gewidmet. Die bisherigen Forschungsarbeiten konzentrieren sich zumeist auf die Darstellungen der Staatskonzepte oder bestimmte Begriffe der beiden Autoren. Eine differenzierte Analyse der Jihadkonzepte wurde in der Forschung bisher nicht vorgenommen – obwohl zumeist ein entscheidender Einfluss Qutbs und Maududis auf jihadistische Bewegungen proklamiert wird. Die Analyse der Jihadkonzepte nimmt ihren Ausgang von Merkmalen der Islamverständnisse Qutbs und Maududis, aus denen heraus sie die Rechtmäßigkeit des Kampfes als jihad entfalten. Der weitere Weg der Analyse führt von den angewendeten, legitim erachteten Rechtsfindungsmethoden, den Quellen der Konzepte, bis hin zu den legitimen Gründen, Zielen und dem rechtmäßigen Verlauf des Kampfes. Die jeweiligen Konzepte des islamischen Staats als Ziel des Kampfes können dabei nur skizziert werden.
Im Kapitel zum Vergleich und Ausblick soll die bisherige Mikroebene veranschaulicht werden und zu einem erweiterten Verständnis verhelfen. Die wichtigsten Aspekte der Jihadkonzepte Maududis und Qutbs werden gegenübergestellt, sowie Brüche mit der Tradition angedeutet. Im weiteren Verlauf werden die neuinterpretierten Begriffe und die Beziehung der Autoren zur Moderne versucht herauszuheben. Im Fazit kann gezeigt werden, inwieweit nicht nur das Islam- sondern auch das Jihadverständnis differenziert betrachtet werden können, wie wandelbar und vielfältig der legitimierte Kampf sein kann, obwohl er jeweils von den islamischen Quellen Koran und Sunna abgeleitet wird.
Im Sinne des Umfangs der Arbeit kann kein Vergleich der Ansichten Qutbs und Maududis mit den Strömungen der Salafiyya und Wahhabiyya vorgenommen werden. Auch frühere Gelehrte oder Bewegungen mit teils ähnlichen Lehren wie Ibn Taimiyya, Hanbal oder die Charidschiten können nicht oder nur am Rande erwähnt werden, insofern bei diesen auch kein sicherer Einfluss auf Qutb und Maududi angenommen werden kann. Da es sich um eine Studie mit Fallbeispielen handelt, können die vielfältigen Vertreter des muslimischen Spektrums zum Kampf nicht in den Blick genommen werden. So müssen beispielsweise auch im Kapitel zur klassischen Lehre schiitische Konzepte unberücksichtigt bleiben – wobei sich bei den Sonderentwicklungen dieser Konzepte auch in der Forschung kein Einfluss auf die hier behandelten Autoren nachgewiesen wurde.
Hasan al-Banna, Sayyid Qutb und Maududi werden in der wissenschaftlichen Literatur als herausragende Vertreter einer islamistischen Ideologie bezeichnet. Banna wird als „Vater des Politischen Islam“ betrachtet, von dessen Aktivitäten aus sich islamistische Bewegungen entfalteten[18], Maududi wird beschrieben als einer der wichtigsten Denker und Ideologen des Politischen Islam[19] und Qutb sei eine Kultfigur der islamistischen Bewegungen und Theoretiker einer islamistischen revolutionären Ideologie[20]. Sogar der Beginn der islamistischen Bewegungen wird mit Banna als organisatorischer und ideologischer Wegbereiter sowie Qutb und Maududi als führende und wirkungsgeschichtlich besonders mächtige Theoretiker festgemacht[21].
Die Vertreter islamischer Bewegungen werden demnach in einer Ideologie namens Islamismus verortet. Schon bei der Beschreibung der Ideologie fällt aber die uneinheitliche Begriffswahl zur Benennung der Ideologie auf. Im wissenschaftlichen Diskurs werden die Begriffe Islamismus, Politischer Islam, islamischer Extremismus und Fundamentalismus oft synonym und nicht immer ausreichend begründet verwendet, so dass sie die Analyse verunklaren können oder den Untersuchungsgegenstand einschränken bzw. vorfestlegen. So stellt Diaa Rashwan[22] fest, jede Forschungsarbeit nutze eine eigene Definition und Tachafine Chaara merkt an, dass sich bisher in der Forschung keine Minimaldefinition für eine Definition erreicht werden konnte[23].
Zudem sind die Begriffe nicht losgelöst von weltanschaulichen Positionen – seit Aufkommen des begrifflichen Vokabulars zur Bezeichnung der islamischen Akteure korrelierten die Bezeichnungen stets mit einem westlichen Verständnis und einer Bewertung des Islams. Rashwan zufolge zeigten wissenschaftliche Autoren bis in die Gegenwart mit der Begriffswahl Ablehnung oder Akzeptanz der zu untersuchenden muslimischen Akteure[24]. Die Geschichte des terminologischen Gebrauchs widerspiegele, so Martin Kramer[25], gar die Geschichte der Wahrnehmung des Phänomens, indem die Termini eine westliche Sicht reflektieren. Dies ist jedoch problematisch, insofern mit der Begriffswahl versucht wird, einen angemessenen Oberbegriff oder gar inhaltliche Aspekte der islamischen Bewegungen zu erfassen und somit den Untersuchungsgegenstand begrifflich festzulegen.
Die Analyse von Jihadkonzepten islamistisch benannter Muslime erfordert einen reflektierten Terminologiegebrauch, um die Analyse weder weltanschaulich zu beeinträchtigen, noch durch verunklarende Begriffe im Vorfeld einzuschränken. So erfährt der Begriff des islamischen Fundamentalismus eine recht deutliche Kritik seitens Islam-, Religions- und Politikwissenschaftlern, Muslimen und Islamisten selbst: Der Begriff stammt nicht nur aus einem amerikanischen, nicht-muslimischen Kontext, sondern aus dem Umfeld protestantischer Christen Anfang des 20.Jahrhunderts und ist in der arabischen Terminologie ursprünglich nicht zu finden[26]. Insbesondere aufgrund negativer pauschaler Assoziationen von „Gewalttätigkeit“, „Extremismus“ als Gegenfolie zu liberalen, modernisierungsfreundlichen Christen wird der Begriff kritisiert[27]. Der Fundamentalismusbegriff erweckt somit Bilder und Inhalte, die dem Untersuchungsgegenstand aufoktroyiert würden. Weiterhin treffen nicht alle inhaltlichen Merkmale der christlich-fundamentalistischen Bewegung Anfang des 20.Jahrhundert auf die benannten Phänomene des „islamischen Fundamentalismus“ zu, insbesondere der buchstabengläubige Zugang zu den normativen Texten deckt sich nicht mit dem Exegeseverständnis aller islamischen Bewegungen[28].
Der Begriff Islamismus, welcher sich in den späten 1990er Jahren in der wissenschaftlichen Forschung und im medialen Bereich durchsetzte, wurde Krämer zufolge in der Islamwissenschaft bevorzugt verwendet, da er neutraler ist und zudem mit dem Begriff islamiyya als Selbstbezeichnung im Arabischen ein zumindest teilweise akzeptierter Begriff im islamischen Raum sei[29]. Die Rede von „Islamismus“ impliziert jedoch eine unzulässige Abgrenzung „des“ einen wahren Islam von einer Abweichung – dem Islamismus als politischer Ideologie. Somit werde ein vereinheitlichendes Bild eines wahren, echten Islam auf der einen Seite reproduziert, was jedoch das Bild eines monolithischen Islam manifestiere, von dem aus Islamismus als politische Ideologie sich abspalte[30]. Der Anspruch an eine Analyse im Feld der islamischen Bewegungen ist es jedoch, mit dem Begriff das Phänomen nicht zu vereinheitlichen, sondern eine differenzierte Untersuchung zuzulassen.
Der Begriff des Politischen Islam hingegen kann als Einengung auf politische Bestrebungen islamischer Bewegungen verstanden werden, und wird somit nicht dem Anspruch, als Oberbegriff aller islamischen Bewegungen zu gelten, gerecht.
Als möglichst wertfreier, ausreichend weit gefasster Begriff für diese Arbeit wird daher bevorzugt auf die Bezeichnung des „muslimischen Aktivismus“ zurückgegriffen, der allgemein den Handlungsaspekt der muslimischen Akteure betont und keine negativ-assoziative, eurozentrisch-tendenziöse oder inhaltlich einschränkende Wirkung hat. Von „islamischen Bewegungen“ wird gesprochen, um Formen organisatorischer Zusammenschlüsse von muslimischen Aktivisten zu bezeichnen. Dieser Terminus scheint insofern angemessen, als er dem arabischen Sprachgebrauch für das Phänomen entnommen wurde, in dem islamisch-politisch orientierte Bewegungen als haraka islamiya bezeichnet werden[31].
Die empirische Realität zeigt ein breites Spektrum islamischer Bewegungen, die mit dem Begriff des muslimischen Aktivismus erfasst werden können. Indem die Akteure als „muslimisch“ und nicht etwa „islamistisch“ bezeichnet werden, richtet sich der Blick auf den jeweiligen individuellen, muslimischen Zugang. Ausgangspunkt der Analyse ist die Feststellung, dass nicht von „einem“ Islam ausgegangen werden kann, anhand dem ideologische Konzepte und Handlungsformen generiert werden. Vielmehr hat sich in der Islam- und Religionswissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Islam kein einheitliches Phänomen ist, sondern ein zeit- und ortsbedingtes Konstrukt, das jeweils in verschiedenen Formen durch menschliche Interpretation ausgeprägt wird. Der Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer folgend ist Islam „weitgehend das, was Muslime an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit als islamisch definieren und praktizieren.“[32]
Eine monopolgebende Auslegung kann insofern nicht existieren, als der Islam zwar wie auch andere Religionen auf verbindlichen, normativen religiösen Quellen beruht, diese aber nur zum kleinsten Teil aus eindeutigen, genau definierten Vorschriften bestehen. Der mehrdeutige Charakter der Quellen, die verschiedenen Rechtsfindungstheorien und –methoden sowie der weite Kreis der Interpreten ergeben somit flexible Konzepte von „Islamen“ statt einem monolithischen Islam[33]. Fast ausnahmslos als verbindlich anerkannt werden nur der Inhalt des Glaubensbekenntnisses (shahada) und die fünf Säulen des Islam, so Gudrun Krämer[34]. Alle weiteren Begriffe und Konzepte, auch diejenigen, die zu einer Ideologie formiert werden, deren Teil auch die Jihadkonzepte sind, unterliegen der individuellen Auslegung. Indem mit „muslimischem“ Aktivismus als Begriff operiert wird, kann diesem relativierenden Islamverständnis Rechnung getragen werden. Somit ist die Grundlage für eine differenzierte Analyse spezifischer Jihadkonzepte geebnet, die von jeweils individuellen muslimischen Islamverständnissen ausgeht. Der Islam manifestiert sich somit in mannigfaltigen Formen, von denen ideologische Konzepte – deren Teil Jihadkonzepte sind - ihren Ausgang nehmen. Innerhalb der Konzepte findet demnach das jeweilige Islamverständnis der Akteure Ausdruck, das in der Analyse herausgearbeitet werden soll.
An die terminologische Diskussion schließt sich eine inhaltliche Debatte an, mit der sich für die Arbeit ein Teil der relevanten Analysekriterien herauskristallisieren lassen. Erstens kann versucht werden eine Minimaldefinition für muslimischen Aktivismus zu finden, um auf ein gemeinsames Hauptkriterium der Akteure zu verweisen. In der Forschungsliteratur wird für islamische Bewegungen als gemeinsames Charakteristikum herausgearbeitet, dass die Akteure sich auf den Islam – wie sie ihn verstehen – beziehen.
Demnach werden Handeln und Lehre der Aktivisten religiös legitimiert, wenngleich wie später dargelegt wird, weitere Einflussfaktoren die Lehren prägen. Der Islam wird von den Akteuren als Quelle der Autorität für ihre Lehren angegeben und zur bestimmenden Bezugsgröße des aktivistischen Handelns erklärt[35]. In diesem Sinne erklärt Rashwan das gemeinsame Merkmal: „Islamisten“ würden einige Aspekte des Islams oder seiner Interpretation als Bezugsrahmen für ihre Ziele nutzen. Gemeinsamkeit aller Bewegungen sei: das Vorhaben beziehe sich auf „den“ Islam[36]. Ähnlich stellt Chaara fest, die ideologische Minimalforderung der Akteure sei die Forderung nach einer größeren Rolle islamischer Werte im öffentlichen Leben[37]. Nachteil solcher Minimaldefinitionen sei jedoch, dass die meisten Muslime in diese Kategorie fallen würden, demnach verlieren solche Minimaldefinitionen die definitorische Kraft für muslimischen Aktivismus[38].
Präzisiert werden kann die Definition durch die zusätzliche Betonung des Handlungsfokus der Aktivisten. Kennzeichnend ist, wie Gudrun Kramer betont, der Begriff „islamisch“ oder „islamistisch“ für diejenigen Akteure, welche als Muslime im theologischen, rechtlichen oder politischen Bereich arbeiten oder islamisch fundierte Programme verfechten. In diesem Sinne wollten Islamisten, so Kramer, den Islam als Grundlage des Handelns und der Theorien machen und verstehen ihn als gesellschaftspolitisches Programm[39]. Meier und Rosiny verorten den muslimischen Aktivismus eindeutig als eine politisch-religiöse Ideologie, die sich laut Meier in Konkurrenz zu anderen Ideologien der westlich dominierten Moderne einreihe[40] . Zentraler Aspekt dieser Ideologie sei, so Rosiny, das Verständnis „des Islam“ als ganzheitliche Lösung für moderne Herausforderungen zu etablieren[41].
Unter dem Oberbegriff „muslimischer Aktivisten“ lassen sich neben diesem definierten aktivistischem Ziel weitere „allgemeine Merkmale“ islamischer Ideologien ausmachen, die aus dem vergleichenden Studium der islamischen Bewegungen in der Forschungsgeschichte erarbeitet wurden. In der Forschungsliteratur werden idealtypisch Merkmale aktivistischer Ideologien herausgearbeitet, die einen Blick auf die allgemeinen Motivationen und Ziele muslimischer Aktivisten freigeben[42]:
Bestimmender Gedanke der islamischen Akteure ist die Vorstellung eines allumfassenden Islam als Fundament aller Lebensbereiche (an-nizam al-islami). Der Islam gilt als Lösung auf bestimmte Herausforderungen im Sinne eines ganzheitlichen Systems, das alle Lebensbereiche durchdringen soll und wird demnach „als ganzheitliche Lösung generalisiert“[43]. Die Ideologien der islamischen Aktivisten haben somit einen umfassenden Geltungsanspruch zur Grundlage. Obwohl der Koran und die Sunna aufgrund göttlich angesehener Legitimität höchste Autorität als verbindliche Quelle für die Gesellschafts- und Rechtsordnung genießen, gelten je nach Akteuren unterschiedliche Rechtsfindungsmethoden und weitere Quellen als Referenz des Rechts[44]. Die jeweils verwendete Methode wird als islamisch erklärt. Als wichtiges Charakteristikum islamistischer Auslegungen gilt oft gerade nicht die buchstabengetreue Berücksichtigung der gesamten religiösen Texte bzw. der traditionellen Rechtslehre, sondern neue Elemente prägen die islamistischen Lehren durch selektive Rezeption und Interpretation aus den Quellen und der Tradition[45].
Ein weiteres Kennzeichen ist der Absolutheitsanspruch des jeweiligen Islamverständnisses und der damit verbundenen Ideologien. Trotz der zum Teil unterschiedlichen Ansätze nehmen die muslimischen Akteure häufig in Anspruch den einen, wahren, authentischen Islam zu repräsentieren[46]. Ein Charakteristikum der islamistischen Ideologien ist daher auch die Annahme einer einzigen islamischen Gemeinschaft und deren Überlegenheitsanspruch[47]. Der wahre Islam und die ideale muslimische Gemeinschaft (umma) sollten durch Erneuerung der Religion und Gesellschaft erreicht werden. Die Interpretation des Zustands der gegenwärtigen Zeit, sowie die spezifischen Wege zur Erreichung der idealen islamischen Gemeinschaft unterscheiden sich jedoch[48]. Als ideales anzustrebendes Ziel gilt Errichtung eines islamischen Staates[49] - die Souveränität Gottes solle demnach Grundlage des Staates und Zusammenlebens sein und die Volkssouveränität ersetzen[50]