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Der politische Islam ist derzeit eines der größten Integrationshemmnisse von Muslimen in die deutsche Gesellschaft. Doch was ist gemeint, wenn die Herausgeber und Autoren dieses Buches vom politischen Islam sprechen? Für Carsten Linnemann und Winfried Bausback ist eine klare Differenzierung dringend notwendig, "denn den einen Islam gibt es nicht. Stattdessen gibt es unzählige Strömungen, leider nicht nur friedliebende. Die radikalen Ausprägungen, die den westlichen Lebensstil zum Feindbild erheben und unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu unterlaufen suchen, bezeichnen wir als ´politischen Islam´. Und genau um diesen politischen Islam geht es in diesem Buch." Weit über 1 Mio. Menschen sind seit 2015 aus überwiegend muslimischen Ländern nach Deutschland gekommen. Dadurch ist die deutsche Gesellschaft pluralistischer geworden. Wenn es jedoch nicht gelingt, den liberalen islamischen Kräften in Deutschland und Europa Raum zur Entfaltung zu geben, ist der gesellschaftliche Friede gefährdet. Radikale Auslegungen sind nicht mit der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung Deutschlands zu vereinbaren. Die Probleme des politischen Islam, etwa die Moscheenfinanzierung aus dem Ausland, die Auswüchse der Schariajustiz oder die Unterdrückung von Mädchen und Frauen, müssen identifiziert und es Antworten darauf gefunden werden. Integration kann nur gelingen, wenn jeder die Grundregeln des Zusammenlebens anerkennt und sich ihnen anpasst. Dazu zählt die Akzeptanz des aufgeklärten, säkularisierten Staates sowie der freiheitlichen Errungenschaften, die Religionsfreiheit eingeschlossen. Und dennoch kann und darf die Religionsfreiheit nicht schrankenlos sein, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt und letztlich die Demokratie bewahrt werden sollen. Diese Entwicklungen und die Beobachtung, dass islamistische Strömungen in Deutschland zunehmen, haben die beiden Herausgeber zum Anlass genommen, mit einigen der renommiertesten Experten und Publizisten aus den Bereichen Islamwissenschaft, Soziologie, Politologie und Terrorbekämpfung ins Gespräch zu kommen. "Es wurden die entscheidenden Bereiche identifiziert, in denen sich religiöser Extremismus Bahn brechen kann, und Vorschläge erarbeitet, wie diesem Einhalt geboten werden kann. Ziel war und ist es, die Debatte zum Islam auf eine neue Basis zu stellen und auch unbequeme Fakten anzusprechen. Nichts verschweigen, nichts schönreden, aber auch nichts schwarzmalen – das ist unsere Devise." Die Autoren erklären, was gesetzlich, in der Prävention und in der Wertevermittlung getan werden muss, um extremistische Auslegungen zurückzudrängen und die liberalen Kräften im Islam zu stärken. Am Ende des Buches steht der Entwurf eines Maßnahmenpakets, das die Politik schnellstmöglich umsetzen sollte. Mit Beiträgen von Marwan Abou Taam, Sascha Adamek, Michael Blume, Necla Kelek, Markus Kerber, Ruud Koopmans, Ahmad Mansour, Boris Palmer, Christine Schirrmacher, Andreas Schnadwinkel, Düzen Tekkal, Bassam Tibi und Joachim Wagner.
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Carsten Linnemann | Winfried Bausback (Hg.)
Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland
Wie wir unsere freie Gesellschaft verteidigen
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book): 978-3-451-81520-1
Vorwort – warum uns der politische Islam umtreiben muss
Carsten Linnemann und Winfried Bausback
Gehört der real existierende Islam zu Deutschland?
Ruud Koopmans
Wie die Integration islamischer Zuwanderer nach Europa behindert wird
Bassam Tibi
Islam zwischen Reformen und Konfrontation
Marwan Abou Taam
Der politische Islam und die Grenzlinien des Rechtsstaats
Winfried Bausback
Islamistische Geldströme – und wie sie einzudämmen sind
Sascha Adamek
Ist das Kopftuch die Fahne des politischen Islams?
Necla Kelek
Das wachsende Unbehagen am islamischen Religionsunterricht
Joachim Wagner
Eine nationale Strategie gegen Radikalisierung
Ahmad Mansour
Antisemitismus und die Krise des politisierten Islams
Michael Blume
Paralleljustiz im deutschen Rechtsstaat – Friedensrichter, Streitschlichter, Schariagerichtshöfe
Christine Schirrmacher
German Dream – unsere Antwort auf den politischen Islam
Düzen Tekkal
Deutsche Islam Konferenz – eine Positionierung
Markus Kerber
Flucht, Islam, Integration – Aufnahme- und Integrationsleistung in einer deutschen Stadt
Boris Palmer
Der politische Islam in den Medien
Andreas Schnadwinkel
Agenda gegen den politischen Islam
Carsten Linnemann
Die Herausgeber
Die Autoren
Dank
Gehört der Islam zu Deutschland? Diese Frage, aufgeworfen durch den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, debattiert die Republik seit mehr als zehn Jahren. Bis heute ohne Ergebnis. Befürworter und Gegner argumentieren auf völlig unterschiedlichen Ebenen. So wird niemand bestreiten wollen, dass inzwischen viele Muslime unter und mit uns leben und dass diese zu Deutschland gehören. Aber wer sich einmal in islamischen Ländern weltweit umschaut, wird ebenso feststellen können, dass Deutschland kulturell anders verwurzelt ist und der Islam nicht zu den prägenden Elementen unseres Landes gehört. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Sollte es dann nicht auch eine Möglichkeit geben, eine Brücke zwischen den Verfechtern dieser beiden Sichtweisen zu schlagen?
Wir als Herausgeber dieses Buchs sind der Meinung – ja. Der Schlüssel dazu liegt in der Differenzierung. Denn den einen Islam gibt es nicht. Stattdessen gibt es unzählige Strömungen, leider nicht nur friedliebende. Die radikalen Ausprägungen, die den westlichen Lebensstil zum Feindbild erheben und unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu unterlaufen suchen, bezeichnen wir als »politischen Islam«. Und genau um diesen politischen Islam geht es in diesem Buch.
Schauen wir kurz in den Rückspiegel: Mit der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 kamen in kürzester Zeit mehrere Hunderttausend Menschen aus zumeist islamischen Ländern nach Deutschland. 2016 verzeichneten wir mit rund 800.000 Asylanträgen einen Rekord. Zwar sinkt die Zahl der Asylanträge seit 2017 wieder spürbar, verbleibt aber mit rund 200.000 Anträgen pro Jahr auf recht hohem Niveau. Angesichts der noch immer schwelenden Krisen im Nahen Osten wie auch in afrikanischen Ländern dürfte der Migrationsdruck hoch bleiben und damit auch weitere muslimische Zuwanderer zu uns führen. Mit anderen Worten: Unsere Gesellschaft wird pluralistischer. Dass eine solche Pluralität aber nicht nur Vorteile, sondern auch Probleme mit sich bringen kann, liegt auf der Hand. Jede Gesellschaft benötigt ein gemeinsames Fundament von Werte- und Zielvorstellungen, auf dem ein friedliches Zusammenleben organisiert werden kann.
Daher ist die Erwartung an Zuwanderer, sich unserer Gesellschaft anzupassen und unsere Rechts- und Werteordnung zu beachten, folgerichtig, aber alles andere als trivial. Wer in einem Umfeld groß geworden ist, in dem es Zwangsehen, Kinderehen und strikte Verschleierungspflichten gibt, wird sich im Zweifel mit der bei uns praktizierten Gleichberechtigung von Mann und Frau schwertun. Für jemanden, der bislang in einem islamischen Land lebte und von dort die Vorstellung mitgebracht hat, dass die Scharia Gottes Wille entspricht und somit über weltliches Recht zu stellen ist, könnte es zuweilen schwierig sein, sich einem Gerichtsurteil oder der Anweisung eines Polizeibeamten zu fügen. Zudem besteht die Gefahr, dass Menschen, die voller Hoffnung und nicht erfüllbarer Erwartungen nach Deutschland gekommen sind, von der Realität enttäuscht werden, sich abwenden und in die Fänge islamistischer Kreise geraten. Der jüngste Verfassungsschutzbericht zeigt, dass dieses Szenario alles andere als realitätsfern ist. So verdoppelte sich allein die Zahl der Salafisten zwischen 2012 und 2017 auf rund 11.000.
Das Problem reicht sogar noch tiefer: Laut einer Studie der Universität Münster über Türkischstämmige in Deutschland stellte im Jahr 2016 fast jeder zweite Befragte den Koran über unsere Rechtsordnung und sogar jeder Dritte meinte, Muslime sollten eine Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten Mohammeds anstreben. Dass es sich bei den Befragten auch um Türkischstämmige der zweiten und dritten Generation handelt, die in Deutschland geboren wurden und aufgewachsen sind, zeigt die Tragweite auf. Von einer erfolgreichen Integration kann hier keine Rede sein. Für einen freiheitlich-demokratischen Staat, der sich anderen Kulturen gegenüber geöffnet hat und auch weiter offen bleiben möchte, ist dies eine schwere Hypothek.
Tatsache ist: Integration ist weder ein Selbstläufer noch eine Einbahnstraße. Sie kann nur gelingen, wenn diejenigen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen und bei uns leben möchten, auch die Grundregeln unseres Zusammenlebens anerkennen und sich ihnen anpassen. Dazu zählt nicht zuletzt die Akzeptanz unseres aufgeklärten, säkularisierten Staates sowie unserer freiheitlichen Errungenschaften, worunter auch die Religionsfreiheit fällt. Sie ist ein hohes Gut, das zu behüten und vor Missbrauch zu schützen ist. Eine schrankenlose Religionsfreiheit kann und darf es nicht geben, wenn wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren und nicht zuletzt unsere Demokratie erhalten wollen.
Vor diesem Hintergrund und der Beobachtung, dass islamistische Strömungen in Deutschland zunehmen, haben wir uns über Monate hinweg mit einigen der renommiertesten Experten und Publizisten aus den Bereichen Islamwissenschaft, Soziologie, Politologie und Terrorbekämpfung an einen Tisch gesetzt. Es wurden die entscheidenden Bereiche identifiziert, in denen sich religiöser Extremismus Bahn brechen kann, und Vorschläge erarbeitet, wie diesem Einhalt geboten werden kann. Ziel war und ist es, die Debatte zum Islam auf eine neue Basis zu stellen und auch unbequeme Fakten anzusprechen. Nichts verschweigen, nichts schönreden, aber auch nichts schwarzmalen – das ist unsere Devise.
Die Autoren, die in diesem Buch zu Wort kommen, beleuchten den politischen Islam und seine extremistischen Auswüchse aus verschiedenen Blickwinkeln und tragen damit zur inhaltlichen Vielfalt bei. Dabei geben sie jeweils ihre eigene Meinung wieder, die nicht zwangsläufig in jedem Punkt die der anderen Verfasser und Herausgeber widerspiegelt. Alle Autoren eint aber die Überzeugung, dass der politische Islam eines der größten Integrationshemmnisse darstellt, dem sich die Politik in den nächsten Jahren wird stellen müssen. Gleichzeitig sehen wir den gesellschaftlichen Frieden in Gefahr, wenn es uns nicht gelingt, den liberalen Kräften im Islam, die es in Deutschland und Europa bereits gibt, Raum zur Entfaltung zu geben.
Im Schlusskapitel dieses Buches werden diese beiden Dimensionen zusammengeführt. Es werden konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, um den politischen Islam zu bekämpfen, und Möglichkeiten erörtert, um den liberalen Islam zu stärken. Wir freuen uns auf eine lebhafte und zielgerichtete Debatte!
Ist der Islam prinzipiell unvereinbar mit einer offenen, demokratischen Gesellschaft? Oder gehört der Islam zu Deutschland? Beide Sichtweisen haben gemein, dass sie unterstellen, dass es »den« Islam gibt. Ein solches undifferenziertes Islambild überrascht nicht bei den radikalen Islamkritikern, wohl aber bei den Anhängern der These »Der Islam gehört zu Deutschland«. Wird der Islam nämlich einheitlich in Bezug auf Terror, Frauenunterdrückung, Hass auf Homosexuelle, Antisemitismus und Fundamentalismus kritisiert, sind sie sonst immer die Ersten, die darauf hinweisen, dass der Islam äußerst heterogen sei, und dass es »den« Islam deshalb gar nicht gebe. Aber wenn es »den« Islam nicht gibt, dann kann »der« Islam auch nicht zu Deutschland gehören – es sei denn, man möchte behaupten, dass jede Spielart des Islams, inklusive seiner fundamentalistischen, salafistischen und dschihadistischen Varianten, zu Deutschland gehört.
Die Diskussion um den Islam hat viel mit den Debatten um den Kommunismus zur Zeit des Kalten Krieges gemein. Kritik an Gewalt und Unterdrückung in kommunistischen Regimen wurde oft damit abgetan, dass die Auswüchse des real existierenden Sozialismus mit dem wahren Kommunismus nichts zu tun hätten, und dass die Machthaber in diesen Ländern gar keine echten Marxisten seien – auch wenn sie sich Kommunisten nannten und ihre Politik unter ständigem Verweis auf die Werke von Marx und Lenin legitimierten. Wenn es um den Islam geht, wird oft ähnlich argumentiert. Der Islam sei per definitionem friedfertig, tolerant, demokratisch, frauenfreundlich usw., und wenn etwas davon abweicht, auch wenn es im Namen des Islams geschieht, hat das halt nichts mit dem »wahren« Islam zu tun.
Die richtige und wichtige Frage, die wir uns stellen müssen, lautet nicht, ob der Islam ganz allgemein gesprochen zu Deutschland gehört oder nicht, sondern welcher Islam zu Deutschland gehören kann und welcher nicht. Das heißt, die Frage nach dem real existierenden Islam zu stellen. Dies ist keine theologische Frage. Theologisch lässt sich ein Islam, der sich mit Demokratie, Geschlechtergleichheit, sexueller Selbstbestimmung und Religionsfreiheit verträgt, ganz bestimmt denken und aus den heiligen Schriften und Traditionen begründen. Aber das gilt genauso gut für sein Gegenteil. Das ist keine Besonderheit des Islams – auch die heiligen Schriften und Traditionen anderer Religionen sind mehrdeutig und können eine Legitimationsgrundlage für alles und jedes sein. Die Beantwortung der Frage nach dem real existierenden Islam ist deshalb keine theologische, sondern eine empirische Aufgabe: Welche Formen des Islams sind tatsächlich heutzutage dominant? Ist der vorherrschende Islam der Welt von 2017 tatsächlich eine Religion des Friedens, der Demokratie, der Geschlechtergleichheit und der freien Selbstbestimmung?
Ich werde diese Frage im Folgenden auf drei Ebenen betrachten: der der islamischen Staaten weltweit; der der muslimischen Organisationen in Deutschland und schließlich der individuellen Ebene der Auffassungen der in Deutschland lebenden Muslime.
Schauen wir zuerst auf die islamische Welt. 2017 gab es weltweit 195 unabhängige Staaten. Davon hatten 47, oder knapp ein Viertel, eine islamische Bevölkerungsmehrheit. Wie sieht der real existierende Islam in diesem Teil der Welt, wo Muslime die Mehrheit stellen, aus? Schauen wir uns dazu einige ernüchternde Fakten an:
• Demokratie und Islam gehen in der Welt von 2017 nur sehr selten zusammen. Von den 47 unabhängigen, mehrheitlich islamischen Staaten der Welt sind nur zwei (4 Prozent) – Senegal und Tunesien – freie Demokratien; unter den nicht-islamischen Staaten stellen dagegen heutzutage freie Demokratien die Mehrheit (57 Prozent).2• Freie Meinungsäußerung und freie Berichterstattung sind in der islamischen Welt ebenfalls Mangelware. Nach Angaben der internationalen Journalistenorganisation Reporters Without Borders ist es in 71 Prozent der islamischen Länder um die Pressefreiheit schlecht bis sehr schlecht bestellt. Dies gilt jedoch in nur 36 Prozent der nicht-islamischen Länder.• In den meisten islamischen Ländern gibt es keine Trennung von Staat und Moschee. Daten der amerikanischen Religionssoziologen Brian Grim und Roger Finke zeigen, dass in 72 Prozent der islamischen Länder Staat und Religion eng miteinander verknüpft sind. Das Gleiche gilt jedoch in nur 19 Prozent der nicht-islamischen Länder.3• Trotz der geläufigen These, die Welt würde heutzutage von »Islamophobie« heimgesucht, ist Glaubensverfolgung vor allem in islamischen Ländern weitverbreitet. Von den 24 Ländern der Welt, in denen Apostasie (Glaubensabfall) strafbar ist, sind 23 islamisch – und in nicht wenigen davon steht auf Apostasie die Todesstrafe.4 Von den 30 Ländern mit der schwersten Verfolgung von religiösen Minderheiten sind 20 islamisch. Dazu gehören Saudi-Arabien und die Golfstaaten, Ägypten und Pakistan, aber auch Länder mit weniger bekannten Fällen von Glaubensverfolgung und extremer Glaubensdiskriminierung wie die Komoren, das Sultanat Brunei oder die Malediven.5• Dass es um die Gleichberechtigung der Frau in der islamischen Welt schlecht bestellt ist, ist leider kein Vorurteil von Islamophoben, sondern für Hunderte Millionen von Frauen in islamischen Ländern eine harte tagtägliche Realität. Auf der Rangliste des World Economic Forum von Frauenrechten in 145 Ländern befinden sich 30 der 33 in der Liste vertretenen islamischen Länder in der unteren Hälfte. Die letzten 12 Plätze und insgesamt 17 der letzten 20 Plätze werden von islamischen Ländern besetzt.6 In 67 Prozent der islamischen Länder werden Frauen im Familienrecht schwer diskriminiert (beim Heiratsalter, elterlicher Macht, Sorgerecht, Erbrecht). Das Gleiche gilt in nur 14 Prozent der nicht-islamischen Länder.7• Sexuelle Gleichberechtigung? Alle zwölf Länder der Welt, in denen auf Homosexualität die Todesstrafe steht, sind islamisch. Hinzu kommt der islamische Norden von Nigeria. Homosexualität ist illegal in zwei Dritteln der islamischen Länder, dagegen nur in einem Viertel der nicht-islamischen Länder.8• Islam ist Frieden? Davon ist heutzutage wenig zu merken. 2015 wüteten in 30 Ländern Bürgerkriege: In 16 mehrheitlich islamischen Staaten (etwa Syrien, Irak, Jemen, Afghanistan, Mali) kämpften islamische Glaubensgruppen oder Muslime unterschiedlicher Ethnizität gegeneinander. Weitere zehn nicht mehrheitlich islamische Staaten haben mit radikal-islamischen Aufständischen zu kämpfen (etwa Nigeria, Kenia, Indien, Thailand oder die Philippinen). Weltweit gab es 2015 nur vier Bürgerkriege (Burundi, Kolumbien, Südsudan und Ukraine) ohne muslimische Beteiligung.9
Wir können also schlussfolgern, dass der Islam so, wie er 2017 mehrheitlich in der islamischen Welt existierte, keineswegs zu Deutschland oder zu Europa und seinen Werten passt. Demokratie, Toleranz, Respekt für Minderheiten, freiheitliche Selbstbestimmung, Gleichberechtigung der Geschlechter und die friedliche Austragung von Konflikten sind in der islamischen Welt leider seltene Erscheinungen.
Schauen wir jetzt auf die zweite Ebene, die der islamischen Organisationen in Deutschland. Vertreten diese Organisationen Werte, die zu Deutschland gehören? Nehmen wir eine Predigt mit dem Titel »Der hohe Rang bei Allah: Das Märtyrertum« zur Kenntnis, die 2014 in deutschen Moscheen verlesen wurde: »Keiner, der das Paradies betritt, möchte zurück auf die Erde […]. Nur der Schahid [Märtyrer, RK], er möchte wieder zurück und wieder den Märtyrertod sterben, wenn er sieht, welches Ansehen und welchen Rang er hier im Paradies genießt. Diese Frohbotschaft war es, die unseren Propheten (saw) und seine Gefährten und später auch unsere Vorfahren beseelten und sie von einer zur nächsten Front trieben, um diesen hohen Rang zu erreichen. Rein für den Weg Allahs, um Seinen Namen zu verbreiten. Für das Land und die Landsleute.«10 Diese Predigt stammt nicht aus einer finsteren salafistischen Hinterhofmoschee. Sie wurde bundesweit in den Moscheen der größten deutschen muslimischen Organisation – DITIB, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion – verlesen. DITIB ist direkt der türkischen Religionsbehörde unterstellt, ihr Vorsitzender ist der türkische Botschaftsrat für religiöse Angelegenheiten, ihre Predigten werden zentral festgelegt und von Imamen verlesen, die aus der Türkei nach Deutschland geschickt werden und vom türkischen Staat bezahlt werden. Kein Wunder, dass mit dem »Land« und den »Landsleuten«, von denen im obigen Zitat die Rede ist, nicht Deutschland und die Deutschen, sondern die Türkei und die Türken gemeint sind. Kein Zweifel lässt daran die DITIB-Predigt »Heimatliebe« vom März 2016 (also noch aus der Zeit vor dem misslungenen Putsch in der Türkei): »Mit Hilfe des erhabenen Allahs haben unsere Vorfahren Anatolien zur Heimat für unser Volk gemacht und dieses Land […] um Kopf und Kragen verteidigt. Kein Volk gibt es ohne Heimat; und ohne Volk gibt es keinen Staat. Als Gemeinschaft ist es heute unsere Aufgabe, die Erinnerung unserer geehrten Märtyrer lebendig zu halten, die uns unsere Heimat als Erbe hinterlassen haben. Denjenigen, die unsere Geschwisterlichkeit, unsere Einheit und Eintracht zerrütten möchten, dürfen wir keineswegs Gelegenheit geben, Zwietracht, Unruhe und Zwistkeime zwischen uns einzusäen.«11 Wäre diese kriegsverherrlichende und völkisch-nationalistische Predigt in katholischen und evangelischen Kirchen verlesen worden, wäre das ganze Land in Aufruhr gewesen und stünden die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD längst unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Aber macht es der größte deutsche Moscheeverband, ist das kein Hindernis für Besuche von DITIB-Moscheen durch führende deutsche Politiker und die Teilnahme der DITIB an der Deutschen Islamkonferenz.
Setzen wir unsere Reise durch die islamische Organisationslandschaft in Deutschland mit der nach Mitgliederzahlen zweitstärksten islamischen Organisation in Deutschland fort, der ebenfalls türkisch-nationalistisch geprägten Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş. Anders als DITIB wird diese Organisation schon seit langen Jahren vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet und dem islamistischen Spektrum zugeordnet. Auch wenn im Verfassungsschutzbericht 2016 ein »schwächer werdender Extremismusbezug« festgestellt wird, sind die Verbindungen zu extremistischen Teilen der Millî-Görüş-Bewegung nach wie vor stark, zum Beispiel zum Sprachrohr der Bewegung, der Zeitung Millî Gazete, in der Antisemitismus laut Verfassungsschutzbericht zum guten Ton gehört: »Die Juden – so die ›Millî Görüş‹-Ideologie – würden den ›gottlosen Westen‹ und den größten Teil der Welt beherrschen. Sie seien hinter den Kulissen agierende Führer der herrschenden unislamischen, tyrannischen und ›nichtigen‹ Ordnung und damit ewige Gegner des Islams.«12
Die dritte wichtige islamische Organisation, die ich noch erwähnen möchte, ist der Zentralrat der Muslime in Deutschland. Anders als sein strategisch an den Zentralrat der Juden in Deutschland angelehnter Name vorgeben will, vertritt der Zentralrat nur eine kleine Minderheit der deutschen Muslime. Dafür ist die Organisation aber umso präsenter in der öffentlichen Debatte. Das hat sie vor allem ihrem Sprecher Aiman Mazyek zu verdanken, der als Deutschlands bekanntester muslimischer Vertreter immer wieder in den Medien und auf politischen Veranstaltungen zu sehen ist. Gewalttaten im Namen des Islams verurteilt er unmissverständlich und er ruft Muslime zu Verfassungstreue auf. Es mag sein, dass er das persönlich auch so meint. Aber Mazyek genießt seine öffentliche Aufmerksamkeit nicht als Einzelperson, sondern als Sprecher einer Organisation. Und diese Organisation vertritt zum Teil ganz andere Positionen. Zu den Mitgliedsorganisationen des Zentralrates der Muslime gehört zum Beispiel die vom Verfassungsschutz beobachtete »Islamische Gemeinschaft Deutschland«, der deutsche Ableger der Muslimbruderschaft. Ebenfalls Mitglied und vom Verfassungsschutz beobachtet ist das Islamische Zentrum Hamburg, deutsches Sprachrohr des schiitisch-fundamentalistischen Regimes in Iran und regelmäßiger Teilnehmer an den jährlichen antisemitischen Al-Quds-Demonstrationen. Die größte Mitgliedsorganisation des Zentralrates – ATIB, die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa ‒ gehört zum türkisch-nationalistischen Spektrum und bezieht, wie DITIB, Imame direkt von der Religionsbehörde aus der Türkei. Anlässlich der Resolution des Deutschen Bundestags von 2016, in der der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges verurteilt wurde, äußerte sich ATIB empört: »Wir sind entsetzt darüber, dass der Deutsche Bundestag sich dazu hergeben konnte, am 2.06.2016 gegen das Türkische Volk und [dessen] Vergangenheit eine Entscheidung zu treffen, die noch nicht einmal historisch untermauert ist und einzig und allein auf Verleumdungen und Lügen basiert. […] Wer hat Ihnen das Recht gegeben, über das Türkische Volk ein Urteil zu fällen?«13 Solange der Zentralrat und sein Sprecher Aiman Mazyek sich von verfassungsfeindlichen, antisemitischen und türkisch-nationalistischen Extremisten in den eigenen Reihen nicht lösen, klingen ihre Bekenntnisse zur Toleranz und zum Grundgesetz hohl. Und so lange kann auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland keinen Anspruch darauf erheben, eine Vertretung der Muslime zu sein, die »zu Deutschland gehört«.
Was ist nun schließlich mit den etwa vier Millionen in Deutschland lebenden Muslimen? Gehören sie zu Deutschland? Natürlich tun sie das als Einwohner und viele von ihnen auch als deutsche Staatsangehörige. Natürlich genießen sie die Glaubens- und Meinungsfreiheit genauso wie jeder andere Einwohner Deutschlands. Aber darum kann es bei der These »Der Islam gehört zu Deutschland« nicht gehen. Wenn es so gemeint wäre, hätte man sagen müssen »unsere muslimischen Mitbürger gehören zu Deutschland« oder »die Glaubensfreiheit gilt in diesem Land auch für Muslime«. Das sollte man auch sagen, aber es hätte kein weiteres Aufsehen erregt oder eine Kontroverse ausgelöst. Wenn wir aber die Frage: Gehört der Islam zu Deutschland? auf der Ebene der individuellen Gläubigen beantworten wollen, müssen wir uns mit den Glaubensauffassungen der hier lebenden Muslime auseinandersetzen. Wie sehen sie ihren Glauben und wie stehen sie Andersgläubigen gegenüber? Stehen sie in dieser Hinsicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft nah oder ähneln sie in ihren Auffassungen den Menschen in ihren Herkunftsländern? Ich möchte diese Fragen exemplarisch anhand der türkisch-muslimischen Bevölkerungsgruppe beantworten, da diese erstens die Mehrheit der Muslime in Deutschland bildet, und für sie zweitens aus einer aktuellen WZB-Studie Daten vorliegen, die sowohl Vergleiche mit Christen in Deutschland als auch mit in der Türkei lebenden Muslimen ermöglichen.
Von den in Deutschland lebenden türkischstämmigen Muslimen vertraten in der 2016 durchgeführten Umfrage 62 Prozent die zu einem fundamentalistischen Glaubensbild gehörende Meinung, dass es nur eine, für alle Gläubige bindende Auslegung des Islams geben kann; 69 Prozent meinten, der Islam sei anderen Religionen überlegen und 67 Prozent waren der Auffassung, dass Filme und Bücher, die die Gefühle religiöser Menschen verletzen, verboten werden sollten. Unter den in Deutschland lebenden Christen – mit und ohne Migrationshintergrund – sind derartige intolerante und anti-pluralistische Glaubensauffassungen auf eine vergleichsweise kleine Minderheit zwischen 16 und 20 Prozent begrenzt. Dagegen sind die Zahlen für die Deutschtürken fast identisch mit denen, die in dem WZB-Forschungsprojekt gleichzeitig in einer Umfrage in der Türkei erhoben wurden.14
Ähnliches gilt für Toleranz gegenüber Andersgläubigen: Gut 60 Prozent der Deutschtürken haben eine negative Meinung über Juden, Atheisten, vom Glauben Abgefallene und Konvertiten. Über Christen denken 35 Prozent negativ. Wobei dies auch der einzige Punkt ist, in dem sich die Deutschtürken wesentlich von den Türken in der Türkei unterscheiden: Dort haben zwei Drittel eine negative Meinung über Christen. Das könnte damit zu tun haben, dass die Deutschtürken bei Christen vor allem an Deutsche und die türkischen Türken eher an Armenier und Griechen denken. Unter Christen in Deutschland ist ein weitaus geringeres Niveau religiöser Intoleranz festzustellen: Sogar zur vergleichsweise unbeliebtesten Gruppe, den Muslimen, haben nur 15 Prozent eine negative Meinung.
Wie unterschiedlich die Gedankenwelten sind, in denen Muslime und Nicht-Muslime leben, wird auch klar, wenn wir die Antworten auf die Frage betrachten, wer nach Auffassung der Befragten hinter den Anschlägen des 11. Septembers 2001 gegen das World Trade Center und das Pentagon steckte. Nur 24 Prozent der Deutschtürken glauben, dass die richtige Antwort Al-Qaida lautet. Die anderen drei Viertel hängen Verschwörungstheorien an, nach denen die USA selbst oder Israel die eigentlichen Drahtzieher waren. Auch unter den nicht-muslimischen Deutschen gibt es Anhänger solcher Verschwörungstheorien, aber sie sind mit 20 Prozent eine deutliche Minderheit.
Die Auffassungen der in Deutschland lebenden türkischen Muslime stehen also denen der Türken in der Türkei um ein Vielfaches näher als denen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Auch auf der individuellen Ebene ist es, zumindest für einen wichtigen Teil der in Deutschland lebenden Muslime, deshalb keine haltbare These, dass die Art und Weise, wie sie über ihren Glauben und über Andersgläubige denken, »zu Deutschland gehört«.
Man kann natürlich dagegenhalten, wie es die Islam-Apologetik standardmäßig tut, dass die Situation in den Ländern der islamischen Welt, die Organisationen, die für sich in Anspruch nehmen, die deutschen Muslime zu repräsentieren, sowie die Auffassungen vieler hier lebender Muslime mit dem wahren Islam nichts zu tun haben. Wir leben aber leider nicht in der Traumwelt dieses wahren, unbefleckten Islams, sondern in einer, in der wir uns mit dem real existierenden Islam auseinanderzusetzen haben. Natürlich gibt es auch den »anderen Islam«, der versucht intolerante Denkmuster aufzubrechen, den Glauben zu öffnen und zu reformieren und der sich glaubhaft gegen Fundamentalismus und religiöse Gewalt engagiert. Leider sind diese Strömungen bisher auf wenig Erfolg und sogar auf offene Ablehnung des Mainstreams des Islams gestoßen.
Da gibt es zum Beispiel den Liberal-Islamischen Bund (geschätzte Mitgliederzahl 250‒300)15 mit seiner aus den Medien bekannten Vertreterin Lamya Kaddor. Kaddor war eine der treibenden Kräfte hinter einem Friedensmarsch gegen islamistische Gewalt in Köln am 17. Juni 2016. Leider wurde die Demonstration nicht zu einem Mobilisierungserfolg. Statt der erhofften 10.000 Teilnehmer kamen nur einige Hundert. Das hatte wohl auch damit zu tun, dass sich Deutschlands größte muslimische Organisation, DITIB, zwei Tage vor der Demonstration unmissverständlich davon distanziert hatte: »Forderungen nach ›muslimischen‹ Antiterror-Demos greifen zu kurz, stigmatisieren die Muslime und verengen den internationalen Terrorismus auf sie, ihre Gemeinden und Moscheen«, hieß es in einer Erklärung von DITIB. Den Organisatoren warf DITIB »öffentliche Vereinnahmung und Instrumentalisierung« vor. Dem Islam, wie wir ihn gerne sehen möchten, wurden so vom real existierenden Islam die Grenzen aufgezeigt.
Ähnliches geschah, als die türkischstämmige Rechtsanwältin und Autorin Seyran Ateş in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gründete, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass Frauen Vorbeterin sein und Männer und Frauen gemeinsam beten können. Das sind unkonventionelle Ansichten und eine Massenbewegung wird die Moschee aller Voraussicht nach deshalb nicht hervorrufen. Auf der Eröffnungsveranstaltung waren gerade einmal 150 Menschen anwesend, inklusive geladener Gäste und Journalisten. Also, wen sollte es kümmern? Nun, manche konservative Muslime kümmerte es dermaßen, sodass Ateş in der Folge mehr als 100 Morddrohungen erhielt und unter Polizeischutz gestellt werden musste. Die kleine liberale Moschee im Berliner Stadtteil Moabit kümmerte auch die türkische Religionsbehörde Diyanet – die Mutterorganisation der DITIB – so sehr, dass sie eine Erklärung herausgab, in der sie Ateş und ihre Moschee als Handlanger der Gülen-Bewegung, die die Türkei als Terrororganisation (mit dem selbst erfundenen Namen »FETÖ«) einstuft, diffamierte: »Es ist offensichtlich, dass das ein Projekt des Religionsumbaus ist, das seit Jahren unter der Federführung von FETÖ und ähnlichen unheilvollen Organisationen durchgeführt wird.«16 Sogar ein Zentrum für islamische Rechtsfragen in Ägypten, das Fatwa-Amt Dar Al-Ifta, gab eine Erklärung mit dem Titel »Nein zur Verletzung der religiösen Grundlagen – nein zur liberalen Moschee« heraus, in der es dem Gebetshaus die Anerkennung als Moschee absprach und die dort gesprochenen Gebete für ungültig erklärte. Die Tatsache, dass in manchen deutschen Moscheen Hass und Intoleranz gepredigt werden, war hingegen noch nie Anlass für Erklärungen der türkischen Religionsbehörde oder Fatwas aus Ägypten. Aber ein paar Dutzend Frauen und Männer, die gemeinsam beten und dies auch noch unter Anleitung von einer kopftuchlosen Vorbeterin – dagegen melden sie sich lautstark zu Wort.
Es ist noch ein langer Weg zu gehen, bis der Mainstream des real existierenden Islams zu Deutschland gehören wird. Es muss aber unsere Bestrebung sein, dass dieser es irgendwann tun wird, schon ganz einfach deswegen, weil der Islam nicht mehr aus Deutschland verschwinden wird, und wir also gar keine andere Wahl haben, als auf Dauer miteinander auszukommen. Um auf diesem Weg voranzukommen, ist die voreilige Botschaft »Der Islam gehört zu Deutschland« alles andere als hilfreich. Sie erweckt nämlich den Eindruck, als sei der Islam selbst unproblematisch und das Hauptproblem bestünde darin, dass Nicht-Muslime in Deutschland den Islam immer noch nicht als dazugehörig akzeptieren wollten. Anstatt ständig die Gebetsmühle der Islamophobie, die an allem Schuld haben soll, zu drehen, sollten muslimische Gemeinschaften, in Europa sowie auch in den muslimischen Ländern, besser selbstkritisch einsehen, dass in allererster Linie ein hohes Maß an Reformarbeit in den eigenen Reihen auf der Tagesordnung stehen muss. Dem sind sie nicht zuletzt auch gegenüber den vielen Muslimen – Frauen, Intellektuelle, Künstler, Homosexuelle, Anhänger von islamischen Minderheitsströmungen –, die täglich unter dem real existierenden Islam leiden, verpflichtet.
1 Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor am 7. November 2017 für die Deutsche Nationalstiftung hielt. Eine gekürzte Fassung erschien am 19. März 2018 in der Welt.
2 Siehe freedomhouse.org/report/freedom-world/freedom-world-2016 (zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
3 Siehe www.thearda.com/archive/files/descriptions/INTL2003.asp (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
4 Siehe www.pewresearch.org/fact-tank/2016/07/29/which-countries-still-outlaw-apostasy-and-blasphemy/ (zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
5 Siehe www.thearda.com/ras/downloads/ (zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
6 Siehe reports.weforum.org/global-gender-gap-report-2015/ (zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
7 Siehe www.genderindex.org/data/#discriminatory-family-code(zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
8 Siehe www.ilga.org/maps-sexual-orientation-laws (zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
9 Siehe www.prio.org/Data/Armed-Conflict/UCDP-PRIO/(zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
10 Siehe www.ditib.de/detail_predigt1.php?id=173&lang=de(zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
11 Siehe www.ditib.de/detail_predigt1.php?id=285&lang=de (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
12 Verfassungsschutzbericht 2016, S. 185.
13 Die Pressemitteilung mit dem Titel »Wer hat Ihnen die Berechtigung gegeben?« ist mittlerweile nicht mehr auf der ATIB-Webseite zu finden; siehe aber dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/093/1809353.pdf (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
14 Siehe www.wzb.eu/de/forschung/migration-und-diversitaet/migration-integration-transnationalisierung/projekte/religious-fundamentalism-and-radicalization-in-comparative-perspective (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
15 Siehe remid.de/info_zahlen/islam/(zuletzt aufgerufen am 8.11.2018).
16 Siehe www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/liberale-moschee-seyran-ates-diyanet-fethullah-guelen-ankara-berlin (zuletzt aufgerufen am 7.12.2018).
Im Westen stößt jeder aufgeklärte Muslim auf zwei europäische Extreme, die dieser mit gutem Recht mit der Begründung abweisen würde, die Vertreter beider hätten kein solides Wissen über den Islam. Im ersten Extrem wird der Islam dermaßen mit Politik vermengt, dass er dabei zur politischen Religion wird. Noch schlimmer ist es im anderen Extrem, wonach Islam und Islamismus – mangels Kenntnis der islamischen Geschichte1 – dermaßen gleichgesetzt werden, dass sie synonym verwendet werden. Die Klärung dieses Gegenstandes ist für Deutschland von zentraler Bedeutung, weil die Integration muslimischer Zuwanderer ein Bestandteil des inneren Friedens ist.
Der zentrale Gedanke dieses Essays lautet, dass der Islam eine Religion ist, die seit ihrer Stiftung zwar viel mit Politik zu tun hat, dennoch keine »politische« Religion ist. Islam beginnt mit der islamischen Offenbarung 610 n. Chr., wohingegen Islamismus als ein politischer Islam eine zeitgeschichtliche Erscheinung ist, die im Jahr 1928 mit der Gründung der Bewegung der Muslimbrüder (MB) eingeleitet wird. Die Muslimbruderschaft wird heute als islamistische Bewegung eingestuft, die sowohl global als auch in Europa wirkt.2 Eine Eigenart der Religion des Islams, der – ich wiederhole es – keine politische Religion ist, besteht darin, dass der islamische Prophet – laut der besten Biografie über ihn von Maxime Rodinson – gleichermaßen ein spiritueller Religionsstifter und ein Ordnungsgründer war. Rodinson schreibt: »Mohammed war beides, er verband in einem einzigen Wesen Jesus und Karl den Großen.«3
In meiner Abhandlung »Ist der Islam eine politische Religion?«, erschienen in der Fachzeitschrift Religion – Staat – Gesellschaft (Heft 1/2004), bin ich der im Titel enthaltenen Frage nachgegangen und habe dabei zugleich die Bedeutung dieser Frage für die islamische Zuwanderung nach Europa hervorgehoben. Denn Religionsfreiheit für die Migranten gilt nur für den spirituellen Glauben im Islam, nicht jedoch für die Politisierung desselben zu einer politischen Religion, welche der Islamismus ist.
Was ist eine politische Religion und wie wird ein religiöser Glaube zu einer solchen? Im Ausland liegen zahlreiche Untersuchungen hierüber vor, in deutscher Sprache jedoch nur drei aus entsprechenden Forschungsprojekten an den Universitäten Dresden, Basel und Frankfurt am Main.4 In allen drei Büchern wird die Politisierung der Religion als Fundamentalismus gedeutet, der mehr ist als nur eine politische Ideologie. Denn im Fundamentalismus wird Politik religionisiert. Somit enthält eine politische Religion – besonders im Islam – weit mehr an Zündstoff religionisierter Konfliktpotenziale als jede einfache politische Ideologie wie Faschismus oder Kommunismus. Ich war an allen angeführten drei europäischen Forschungsprojekten sowie international am »Fundamentalismus-Projekt« der American Academy of Arts and Sciences (1988–1995) beteiligt und möchte die entsprechenden Ergebnisse in diesem Essay zusammentragen.5
In diesem Kontext habe ich den Begriff der Religionisierung geprägt, worunter ich Folgendes verstehe: Wenn weltliche Probleme und Konflikte in religiöser Sprache – samt dem ihr zugrunde liegenden Bedeutungshorizont – artikuliert werden, dann werden sie religionisiert. Armut wird beispielsweise nicht als sozial und ökonomisch verursacht begriffen, sondern als Folge der Anfeindung des Islams durch den »ungläubigen Westen« wahrgenommen.
Der religiöse Fundamentalismus wird als eine neue weltpolitische Ideologie gedeutet, die – obwohl dieses zeitgeschichtliche Phänomen bereits lange vor dem Ende des Ost-West-Konflikts entstanden ist – erst im postbipolaren Zeitalter wahrgenommen wurde. Diese politische Religion dringt seitdem in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit und wird von den Medien oft voreilig mit falschen Schlussfolgerungen begleitet. Ich behaupte, dass die Integration islamischer Zuwanderer ohne ein angemessenes Islamverständnis durch die Politik nicht gelingen kann.
In Deutschland bestehen Defizite. Durch diese Defizite wird der Informationsstand über Fundamentalismus als politischer Religion, besonders im Islam, erheblich beeinträchtigt.
Leider wird der Fundamentalismus – unter Islamismus eingeordnet – überwiegend nur mit dem Islam in Verbindung gebracht, obwohl dieses Phänomen, wie im Fundamentalismus-Projekt nachgewiesen worden ist, in allen Schriftreligionen existiert.
Auf diese Weise entsteht der Eindruck, Fundamentalismus sei eine auf den Islam beschränkte Erscheinung. Das ist falsch, weil er – wie angemerkt – in allen Schriftreligionen zu beobachten ist. Um die ihm oft vorgeworfenen negativen Konnotationen zu vermeiden, haben einige gutmeinende Autoren den Terminus des islamischen Fundamentalismus durch den Begriff Islamismus ersetzt, dabei aber einen noch größeren Schaden angerichtet. Es trifft zu, dass Islamismus eine Spielart des religiösen Fundamentalismus ist, aber in der Öffentlichkeit entsteht durch diesen Begriff der Eindruck, dass die Politisierung der Religion allein im Islam vorkomme. Das ist schlicht falsch.6
In Deutschland herrscht die falsche Meinung vor, man fördere durch solche Erörterungen ein »Feindbild Islam«. Es ist deshalb notwendig, gleich zu Beginn zwischen Islam als einer Weltreligion, die eine der wichtigsten Weltzivilisationen hervorgebracht hat, und dem islamischen Fundamentalismus als einer politischen Religion zu unterscheiden. Wenn ich empirisch begründet frage, ob der islamische Fundamentalismus Unordnung in die Weltpolitik bringt und zudem eine neue Spielart des Totalitarismus darstellt, dann bleibt der Islam als Religion von dieser Frage unberührt. Islam, nicht aber der Islamismus, ist nach meiner Ansicht mit Demokratie vereinbar. Zudem behindert der Islamismus die Integration islamischer Migranten. Der islamische Fundamentalismus ist zwar ein Phänomen in der Welt des Islams, doch befindet sich die Logistik der meisten dem Islamismus, also der islamischen Spielart des religiösen Fundamentalismus zuzuordnenden Bewegungen in Europa und nicht in islamischen Ländern (vgl. Anmerkung 2). Die Hauptopfer des islamischen Fundamentalismus waren bisher dennoch Muslime und keine Europäer. Ich erinnere an die Tausende von ermordeten Muslimen in Algerien, Ägypten, dem Sudan, Afghanistan und Palästina, die von militanten Anhängern dieser Bewegungen getötet worden sind. Über Fundamentalismus aufzuklären ist deshalb auch von islamischer Seite erforderlich, und es ist verwerflich, eine solche Aufklärung mit der Keule Islamophobie zu diskreditieren. Sowohl aufgeklärte Muslime als auch seriöse Islamforscher betonen, Europa sei vom Phänomen des islamischen Fundamentalismus betroffen, ohne jedoch auf die entsprechende Herausforderung vorbereitet zu sein.7
Zusätzlich zur Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus muss eine weitere Differenzierung vorgenommen werden: Wir müssen zwischen den islamischen Migranten und den islamischen Diaspora-Fundamentalisten in Europa unterscheiden. Europäische Politiker müssen auf der Hut sein, wenn im Rahmen des organisierten Islams Islamisten als Sprecher der islamischen Gemeinde auftreten und für ihre Aktivitäten Religionsfreiheit beanspruchen; sie, die selbst Toleranz nur instrumentell verstehen und intolerant gegenüber ihren Gegnern sind, vor allem innerhalb der islamischen Gemeinde selbst, wollen nur freien Handlungsspielraum für sich gewinnen. Kurz: Im Zeitalter der Migration wird der Fundamentalismus aus der Welt des Islams nach Europa exportiert. In meinen Arbeiten habe ich seit Jahren vor der Bildung von für den Fundamentalismus anfälligen islamischen »Ghettos« in Europa gewarnt und den Begriff Parallelgesellschaft geprägt, und demgegenüber habe ich eine europäische Politik der Integration der islamischen Zuwanderer als Prävention gefordert.8 Diese gibt es nach wie vor nicht; dafür sind die von Fundamentalisten dominierten »Ghettos« bereits Realität, wodurch die Gefahr für ein friedliches Zusammenleben potenziert wird.9
Heute, im Zeitalter der massiven, die Form von Völkerwanderungen annehmenden Migration ist die Beschäftigung mit Staats- und Gesellschaftsauffassungen der Muslime nicht mehr allein das Feld exzentrischer Wissenschaftler, die in der Tradition der Kulturanthropologie fremde Kulturen als exotische Gegenstände studieren. In den Städten der Europäischen Union leben zurzeit ca. 35 Millionen Muslime aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum sowie aus Südasien und auch teilweise aus den islamischen Teilen Afrikas. Demografen und Migrationsforscher prognostizieren nach dem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung »Zahl von Muslimen in Europa wird deutlich steigen« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. November 2017), dass allein in Deutschland die Muslime im Jahr 2050 ca. 20 Prozent der Wohnbevölkerung ausmachen werden.
Manche Europäer reagieren auf die stattfindende demografische Veränderung in der Zusammensetzung der europäischen Bevölkerung mit gesinnungsethischen Schlagworten wie »multikulturelle Gesellschaft« oder »Kulturrelativismus«. Diese Schlagworte scheinen zunächst keine andere Bedeutung zu haben als die traditionelle Weisheit: »Andere Kulturen, andere Sitten«. Doch einige dieser »anderen Sitten« beziehen sich gemäß der Ideologie des Islamismus auf eine Kündigung des in Europa bestehenden Grundkonsenses über demokratische Herrschaft im Rahmen von Volkssouveränität. An vorderster Front stehen hierbei die Ordnungsvorstellungen des islamischen Fundamentalismus; sie beinhalten konträre Staats- und Gesellschaftsauffassungen, die nunmehr nicht allein für die Welt des Islams, sondern auch für Europa selbst Geltung beanspruchen. Islamische Verbände in Deutschland wollen z. B. die Anwendung der Scharia (islamisches Gottesgesetz) durchsetzen. In der Religion des Islams ist Schariaweder Staatsrecht noch Verfassungsrecht, wie Islamisten behaupten. Das Wort Scharia bezieht sich ausschließlich auf Kult/Ibadat, Zivilrecht und den Strafkodex/Hudud, es enthält keinerlei politische Vorschriften.10
Im Forschungszentrum »Global Islam« der Goethe-Universität zu Frankfurt wird die Migration aus der Welt des Islams in den Kontext von Wertekonflikten eingeordnet.11 Der Diaspora-Islamismus beanstandet z.B. die Laizität, d.h. die Trennung von Religion und Politik in einer säkularen Republik, sowie alle Werte der Französischen Revolution. Ich setze dagegen die Vision eines Euro-Islams, der mit der Identität Europas kompatibel ist.12 Hier steht ein Wertekonflikt an.
Die Wortführer des politischen Islams vertreten die Auffassung, dass Allahs Gesetze nicht nur für die Welt des Islams gelten. Denn sie erkennen keine Grenzen an, weil nach ihrer universalistischen Auffassung die Scharia auf dem gesamten Globus Gültigkeit besitzt. Die Zivilisation des Islams ist mit dem Phänomen der völkerrechtlich verbindlichen Grenzen zwischen souveränen Staaten nicht vertraut; diese sind eine Errungenschaft der Moderne, aus der der Nationalstaat sowie die Idee einer sich durch Grenzen manifestierenden Souveränität hervorgegangen sind.13
Zur Religionisierung der Politik durch die Islamisten gehört die Einführung neuer Staatsauffassungen, die sie mit der neo-islamischen Formel Hakimiyyat Allah14 beschreiben. Diese »Gottesherrschaft« – so die Übersetzung der zitierten Formel – steht im krassen Widerspruch zu jeder demokratisch-säkularen Ordnung und somit auch zum deutschen Grundgesetz sowie zu anderen europäischen Verfassungen, die auf dem Ordnungsprinzip der Volkssouveränität basieren. Kann Europa die islamistische Ablehnung von europäischen Verfassungen im Namen der Toleranz zulassen? Die Instrumentalisierung der einseitig gedeuteten europäischen Idee der Toleranz und Religionsfreiheit verdeckt den Widerspruch zwischen Grundgesetz und Hakimiyyat Allah als einer Spielart totalitärer Herrschaft im Rahmen von multikultureller Gesellschaft und Toleranz. Hierüber zu informieren ist keine Islamophobie, sondern Aufklärung.
Das Wissensdefizit über den Islam und seiner daraus oft folgenden Gleichsetzung mit dem Islamismus treibt zuweilen seltsame Blüten. Zu diesen gehört die Einengung des politischen Islams auf den islamistischen Terror. Das ist grundfalsch, weil Islamismus vorwiegend eine Ordnungsvorstellung ist.
Zu den geistigen Quellen dieser Vorstellung gehört der Pakistani Abu al-A’la al-Maududi, der neben dem Ägypter Sayyid Qutb die weder im Koran noch in der Überlieferung des Propheten zu findende fundamentalistische Formel von der Hakimiyyat Allah geprägt hat.15 Er definiert sie in seinem Pamphlet »Der Islam und die moderne Zivilisation« unzweideutig wie folgt:
»Ich sage es euch Muslimen in aller Offenheit, dass die säkulare Demokratie in jeder Hinsicht im Widerspruch zu eurer Religion und zu eurem Glauben steht […] Der Islam, an den ihr glaubt und wonach ihr euch Muslime nennt, unterscheidet sich von diesem hässlichen System in jeder Hinsicht […] Selbst in Bagatellangelegenheiten kann es keine Übereinstimmung zwischen Islam und Demokratie geben, weil sie sich diametral widersprechen. Dort, wo das politische System der Demokratie und des säkularen Nationalstaates dominiert, gibt es keinen Islam. Dort, wo der Islam vorherrscht, darf es jenes System nicht geben.«16
Nach Maududi gilt diese Auffassung nicht nur für die Welt des Islams, sondern für die ganze Welt, also auch für die muslimischen Migranten in Europa bzw. dem gesamten Westen. Maududi war einer der wichtigsten geistigen Vorläufer des islamischen Fundamentalismus im 20. Jahrhundert, und seine Ordnungsvorstellung ist im Zeitalter der »Revolte gegen den Westen«17 sehr einflussreich. Anders als der politische Antikolonialismus, der einst auf westliche Ideen zur Abwehr der westlichen Hegemonie zurückgriff, richtet sich die aktuelle Revolte gegen den Westen auch gegen westliche Normen und Werte. Bei der Politisierung der Religion werden Zivilisationen instrumentalisiert, wodurch diese weltpolitischen Status erlangen. Die Wiedergeburt der Bedeutung der Welt des Islams vollzieht sich in diesem weltpolitischen und globalhistorischen Rahmen als Wertekonflikt (vgl. oben Anm. 11).
Traditionell hatte die islamische Zivilisation ihre eigene Ordnungsvorstellung, nämlich die des Kalifats. Aber die Fundamentalisten von heute sprechen nicht mehr vom Kalifat, sondern von Hakimiyyat Allah als Nizam Islami (islamisches System). Diesen Begriff für eine Ordnungsvorstellung haben der zitierte Maududi wie sein Mitstreiter Qutb als Neologismus in den Islam eingeführt. Das aber ist nicht die Religion des Islams, sondern ein Totalitarismus. Und es ist auch keine Fehlinterpretation meinerseits, Hakimiyyat Allah als totalitäre Ordnung zu bezeichnen, haben doch auch bereits andere aufgeklärte Muslime den politischen Islam ähnlich gedeutet.18
Islamisten deuten den Islam als Din wa Daula (Entsprechung des Religiösen und der politischen Staatsordnung). Diese politische Formel lässt sich weder im Koran noch in den autoritativen klassischen islamischen Quellen finden. Islamisten argumentieren, säkulare Ansichten, die eine Trennung von Religion und Politik propagieren, seien von westlichen Kreuzzüglern, die in der Neuzeit als Kolonisatoren auftraten, als ein Virus in die Welt des Islams eingeschleust worden. Heute gelte es – so wird weiter argumentiert –, die Welt des Islams zu entwestlichen, d. h. »von den Kreuzzüglern zu befreien«.19 Als politische Plattform hierfür gilt die soeben zitierte Formel: Der Islam sei Din wa Daula (Religion und Staat). Konkret treten die Islamisten für einen Scharia-Staat ein, der mit demokratischer Volkssouveränität unvereinbar ist. Dies aber steht in einem diametralen Widerspruch zu den Ordnungsvorstellungen der Demokratie und lässt sich als ein »neuer Totalitarismus«20 deuten.
Welche Relevanz hat die bisherige Einschätzung des politischen Islams für die gesellschaftliche Aufgabe der Integration islamischer Zuwanderer in die europäische Wertegemeinschaft? Der naive Glaube, dass diese Aufgabe durch Multikulturalität und der mit ihr verbundenen Einführung von Kollektivrechten zu erreichen ist, ist politisch gefährlich. In Deutschland wurde 1994 ein Paragraph 20b für einen Grundgesetzentwurf mit dem Wortlaut vorgeschlagen: »Der Staat achtet auf die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten«.21 Würden solche Kollektivrechte im Verbund mit »Identity Politics« Verfassungswirklichkeit, und dadurch also den Ansprüchen der Minderheiten auf ihre eigene politische Kultur und Identität entsprochen, dann wären damit die Vorbedingungen für einen innereuropäischen Bürgerkrieg geschaffen, spätestens dann, wenn die Zahl der islamischen Gemeinde in Europa die 40-Millionen-Grenze überschreitet. Ich habe oben bereits einen Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die demografischen Schätzungen des Pew Research Center um das Jahr 2050 erwähnt. Die Alternative zu einer solchen Wirklichkeit wäre die Europäisierung des Islams. Europäer dürfen die Ordnungsvorstellung von Hakimiyyat Allah als angeblich kulturell-ethnischer Eigenart der Migranten nicht im Rahmen von Religionsfreiheit zulassen. Aufgeklärt islamisch argumentiere ich: Ein »Euro-Islam« der Individuen wäre die Alternative zum »Ghetto-Islam« der Kollektive von Parallelgesellschaften.22
