DER RÄCHENDE ZUFALL - Victor Gunn - E-Book

DER RÄCHENDE ZUFALL E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Dem jungen Zeichner Jeffrey Waring ist in seinem Viertel Raydon's Hill wiederholt die junge Cherry Anderson aufgefallen, allerdings konnte er sich noch nicht überwinden, die attraktive Frau anzusprechen. Bei einem Abendspaziergang staunt Jeffrey nicht schlecht, fliegt ihm doch plötzlich ein blutdurchtränkter Kanarienvogel vor die Füße. Dieser stammt offenbar aus einem nahe gelegenen Gebäude, dessen Verandatür offensteht. Neugierig nähert sich Jeffrey der Tür und findet im Wohnzimmer des Hauses die Leiche von Howard Lycepton, der mit einem Beil erschlagen wurde... Der Roman DER RÄCHENDE ZUFALL von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Victor Gunn

 

 

Der rächende Zufall

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 128

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER RÄCHENDE ZUFALL 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Dem jungen Zeichner Jeffrey Waring ist in seinem Viertel Raydon's Hill wiederholt die junge Cherry Anderson aufgefallen, allerdings konnte er sich noch nicht überwinden, die attraktive Frau anzusprechen. Bei einem Abendspaziergang staunt Jeffrey nicht schlecht, fliegt ihm doch plötzlich ein blutdurchtränkter Kanarienvogel vor die Füße. Dieser stammt offenbar aus einem nahe gelegenen Gebäude, dessen Verandatür offensteht. Neugierig nähert sich Jeffrey der Tür und findet im Wohnzimmer des Hauses die Leiche von Howard Lycepton, der mit einem Beil erschlagen wurde...

 

Der Roman Der rächende Zufall von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1954; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER RÄCHENDE ZUFALL

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Zum Teufel mit diesem Mädchen!«, brummte Jeffrey Waring gereizt.

Dann blieb er erschrocken stehen, denn zum Teufel wünschte er das Mädchen am allerwenigsten. Auf jeden Fall fand er es im höchsten Maße beunruhigend, dass sie sich immer wieder in seine Gedanken drängte. Immer wieder sah er sie vor sich die dunkle Straße entlanggehen - schlank und zierlich, mit anmutigem Gang.

»Idiot!«, sagte er wütend zu sich selbst.

Dabei wusste er weder ihren Namen noch ob sie überhaupt in Raydon’s Hill wohnte. Während der letzten beiden Wochen hatte er sie lediglich einige Male gesehen. Und nun zerbrach er sich den Kopf darüber, ob sie eventuell schon seit Jahren in diesem Stadtviertel lebte und er sie erst jetzt bemerkt hatte. War er bisher blind gewesen?

Seine letzte Begegnung mit ihr hatte gestern Morgen stattgefunden. Er war einkaufen gegangen, während Netta das Frühstück bereitete. Sie war Raydon’s Hill South herabgekommen, wahrscheinlich auf dem Weg ins Büro. Als sie aneinander vorübergingen, hatte er den zweiten flüchtigen Blick auf ihr Gesicht werfen können. Er musste sich eingestehen, dass sie das liebenswerteste Wesen zu sein schien, das ihm jemals begegnet war.

Zum Donnerwetter! Schon seit zwei Tagen war die neue Bilderserie fällig, und er hatte noch immer nicht die leiseste Idee für ein Thema. Heute Abend war er einzig und allein aus dem Grunde spazieren gegangen, um sich eine aufregende Geschichte auszudenken. Stattdessen sinnierte er wieder über dieses Mädchen, dessen Namen er nicht einmal kannte. Während der letzten Woche hatte er mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, ihr zu folgen und herauszufinden, wo sie wohnte. Aber das schien ihm ungehörig zu sein. Auf jeden Fall, sagte er sich immer wieder, ist sie bestimmt schon verlobt. Wahrscheinlich mit irgendeinem dürren Kerl, der ein Gesicht wie ein Fußabstreifer hat.

Bei dieser erhebenden Schlussfolgerung angelangt, wurde er plötzlich an sein eigenes Aussehen erinnert und fühlte sich äußerst unbehaglich. Er war dick. Es hatte keinen Sinn, sich darüber hinwegtäuschen zu wollen, er war klein, gedrungen - und dick. Und was noch schlimmer war, er trug eine Brille. Wenigstens beim Lesen.

Wie konnte er also erwarten, dass ein Mädchen ihn jemals ein zweites Mal anblicken würde? Also hinweg mit diesem Traum!

Diese letzte Feststellung über sein unzulängliches Äußeres entmutigte ihn völlig. Seine Schritte wurden schleppend. Das Bild, das er von sich selbst entworfen hatte, wirkte auf ihn wie eine kalte Dusche. Dabei war es völlig falsch. Gewiss, er war nicht von übermäßig großer Statur, und sein Gesicht war ohne Zweifel rund - aber es war eine sympathische, einnehmende Rundlichkeit. Und wenn er sich für dick hielt, so spielte ihm ohne Zweifel seine Einbildungskraft einen groben Streich, denn was er selbst als unerwünschte Fettmassen ansah, waren in Wirklichkeit nur gutproportionierte Muskeln.

»Jeff Waring, alter Esel, du musst dir endlich die neue Bildserie ausdenken!«, rief er sich selbst zur Ordnung. »Mein Gott! Ein simpler Pressezeichner! Ich sehe jetzt schon ihr mitleidiges Lächeln, wenn sie das herausfinden würde!«

Die Geringschätzung seiner Arbeit war genauso falsch wie das Bild, das er von sich entworfen hatte. Er lieferte den wöchentlichen Comic-Strip für den Sunday Globe. Diese Arbeit bekam er regelmäßig, aber was noch wichtiger war, die Zeichnungen erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit und verschafften ihm ein anständiges Einkommen. Es war eine von jenen Bildgeschichten, die man jahrelang fortsetzen kann. Gelegentlich lieferte er auch noch Comic-Strips für Kinderseiten, und zweimal waren schon Karikaturen von ihm im Punch erschienen. Kurz gesagt, Jeffrey Waring war ein durchaus erfolgreicher Pressezeichner.

Mit entschlossenem Gesicht schritt er jetzt weiter und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren: Bunty war blond und stets schrecklich aufgeregt. Ununterbrochen brachte sie sich und ihre Zwillingsschwester Babs in die unmöglichsten Situationen. Babs war dunkelhaarig... Jeffrey zog die Stirn kraus. Gewiss, Babs wirkte in seinen Zeichnungen ungewöhnlich hübsch, aber an dieses Mädchen aus Fleisch und Blut, das ihn so völlig durcheinanderbrachte, reichte sie keineswegs heran.

Wieder riss Jeffrey sich zusammen. Gleichgültig, an was er dachte, stets musste sich das Fremde Mädchen in seine Gedanken zwängen. Babs und Bunty, das bezaubernde Zwillingspaar, waren Jeffreys geistige Kinder, die Hauptfiguren seiner wöchentlichen Strips. Aber er konnte rächt mehr an sie denken, ohne dass vor seinem inneren Auge die Vision eines schwarzhaarigen Mädchens auftauchte.

Es hatte also keinen Sinn, sich noch länger etwas vorzumachen: Er hatte sich derartig in das unbekannte Mädchen verliebt, dass er sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Sein Appetit hatte nachgelassen. Er wurde immer zerstreuter. Dabei war das Ganze einfach Wahnsinn. Netta war fest davon überzeugt, dass er ernstlich krank war - und damit hatte sie ja auch recht. Nur dass er von einer anderen Krankheit gepackt war, als sie vermutete. Vorhin hatte sie ihn stöhnend in seinem Studio vorgefunden und ihn energisch zu diesem Spaziergang fortgeschickt, weil sie glaubte, dass ihm frische Luft guttun würde.

Davon war genug vorhanden, von dieser feuchtkalten Oktoberluft. Wenn Jeffrey Einsamkeit brauchte, um sich etwas einfallen zu lassen, dann störte ihn wahrhaftig niemand. Um zehn Uhr abends war Raydon’s Hill still und menschenleer. Und doch lag die breite London Road mit ihren hellen Neonlichtern und dem regen Verkehr ganz nahe. In fünf Minuten konnte man sie zu Fuß erreichen.

Raydon’s Hill war ein eigenartiges Viertel. Einige Jahre vor dem Krieg war dieser Stadtteil von einem unternehmungslustigen Baumeister angelegt worden. Meist waren es Einzelhäuser, die hier entstanden waren, von einem Garten umgeben. Oben auf dem Hügel befanden sich ein öffentlicher Park und weiter unten zwei freie Plätze. Überall standen Bäume. Eine typische Gartenstadt im Kleinen, die trotz des Stilgemischs und der billigen Häuser unbedingt schön wirkte. Wenn man London in südlicher Richtung verließ, würde man kaum bemerken, dass dieser Vorort existierte. Es sei denn, man bog aus einem bestimmten Grund in Raydon’s Hill North ein - und diese Straße sah, wenigstens am Anfang, wie jede andere Vorstadtstraße aus.

Sollte man sich allerdings in Raydon’s Hill North weiter hineinwagen, um vielleicht jemanden in Raydon’s Hill East zu besuchen, dann war es schon passiert. Denn oben auf dem Hügel lief die Straße am Park entlang und wurde urplötzlich zu Raydon’s Hill South. Ehe man sich’s versah, war man dann wieder auf der London Road gelandet. Raydon’s Hill West hatte man verpasst, und Raydon’s Hill East hatte sich mit unglaublicher Geschicklichkeit der Aufmerksamkeit des Fremden entzogen. Die Bewohner von Raydon’s Hill lächelten immer über die Schwierigkeiten ihrer Freunde, die sie besuchen wollten, denn für sie selbst war es ein Kinderspiel, sich zurechtzufinden. Man musste sich eben in diesem seltsamen Häusergewirr auskennen.

Im Augenblick also ging Jeffrey Waring langsam Raydon’s Hill South entlang, dunkle Gärten auf der einen und eine schmale Wiese mit Bäumen auf der anderen Seite. Ab und zu glommen Lichter von den Häusern herüber, aber niemand außer ihm selbst war auf der Straße. Endlich kam Jeffrey auch die Erleuchtung für seine neue Bilderserie. Diese Ideen kamen ihm stets plötzlich, und wenn er sich darauf konzentrieren konnte, nahmen sie dann auch gleich Gestalt an.

So müsste es gehen, dachte er, und sein Gesicht hellte sich auf. Bunty steigt in einen Autobus, es ist ziemlich stürmisch - da könnte man die Beine schön zur Geltung bringen -, dann rempelt sie ein Kerl an und stößt ihr die Handtasche aus der Hand... Hm! Und wo ist Babs? Richtig, die ist schon im Bus, ist vor ihr eingestiegen.

Hier wurde sein Gedankengang jäh unterbrochen. Etwas Gelbes flatterte ihm vor die Füße. Wohl nur ein Blatt. Im Herbst fielen ja überall Blätter von den Bäumen. Jeffrey blieb zögernd stehen und starrte ins Dunkel. Für ein Blatt war dieser flatternde Gegenstand viel zu schwer gewesen, und er hatte auch deutlich einen dumpfen Aufschlag gehört. Seltsam... Er fingerte in der Finsternis herum und spürte endlich etwas Weiches - und Warmes. Er erschrak Dieser kleine, mollige Ball lebte... es war ein Vogel. Als sich Jeffrey halb umdrehte, fiel das schwache Licht einer entfernten Straßenlampe auf das kleine Wesen. Ein Kanarienvogel, und anscheinend schwer verletzt!

»Na so was!«

Er ging näher zur Laterne und fühlte, dass seine Hand klebrig war. Er hatte die unangenehme Vorstellung, dass der Vogel in seiner Hand starb. Er spürte noch eine schwache Bewegung, dann regte sich das Tierchen nicht mehr.

»Mein Gott!«

Unbewusst hatte Jeffrey diese Worte laut gesprochen. Das klebrige Zeug an seiner Hand war zweifellos Blut! Der Kanarienvogel war über und über mit Blut beschmiert - der kleine Kopf, die schlaffen Flügel, es tropfte sogar von den Federn. Das arme kleine Ding schien schrecklich aufgeschlagen zu sein.

Keine Menschenseele war zu sehen. Aus den umliegenden Häusern drang nicht das kleinste Geräusch. Jeffrey starrte den toten Vogel an und hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Natürlich... das Blut! Es war unmöglich, dass dieser kleine Vogel so viel Blut verloren haben konnte, ganz gleich, wie schwer seine Verletzung gewesen war. Die Flügel schienen unbeschädigt, der zarte kleine Körper musste wohl zerquetscht worden sein. Aber die Federn waren förmlich in Blut getränkt. Woher stammte das viele Blut? Und überhaupt - wo war der Vogel hergekommen?

Bestimmt nicht von weither. In seinem schwerverletzten Zustand konnte er ja nur ein paar Meter weit geflogen sein, vor allem, weil seine Flügel auch noch von Blut verklebt waren. Das kleine Geschöpf war von links gekommen, also von den Gärten. Jeffrey ging zur nächsten Pforte und blickte hinüber. Zwei Fenster und auch die Haustür waren erleuchtet. Ein völlig normales Bild. Jeffrey konnte schwaches Klavierspiel hören.

Verwirrt drehte er sich um, reichlich nervös geworden. Er ging ein paar Schritte zurück und blickte durch das Gartentor des nächsten Grundstücks... Drei Bäume war in den steinernen Pfosten eingemeißelt. Manche Häuser haben so merkwürdige Namen, bestimmt standen nicht nur drei Bäume im Garten. Ein großes, weitausladendes Haus, viel protziger als die Nachbarhäuser. Die Halle schien gänzlich unbeleuchtet, aber als Jeffrey weiterging, konnte er die Seite des Hauses sehen. Er verhielt seinen Schritt, als er die Verandatür weit geöffnet sah. Aus dem Zimmer fiel ein schwacher Lichtschein in die Dunkelheit. Sicherlich war der Vogel von hier gekommen.

»Hallo!«, rief Jeffrey. »Ist jemand da?«

Dann kam er sich wie ein Narr vor. Was hatte es für einen Sinn, hier zu stehen und zu rufen? Er hastete zurück zur Gartenpforte mit der Aufschrift Drei Bäume und öffnete sie. Ein gepflasterter Weg führte zur Haustür, aber Jeffrey beachtete ihn nicht. Er rannte schräg über den Rasen des dunklen Vorgartens nach der Seite des Hauses, zur offenen Verandatür. Aber gerade, als er um die Ecke bog, geschah es.

Es geschah so überraschend, dass Jeffrey völlig überrumpelt wurde. Aus der Dunkelheit heraus sprang ihn ein Schatten an. Er sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde und hatte den Eindruck eines blassen Gesichtes mit hohen Wangenknochen, von starrenden Augen und vorstehenden Zähnen, einem zusammengekniffenen Mund... Der Schatten sprang ihn an wie das Ungeheuer aus einem Angsttraum. Dann fuhr ihm eine geballte Faust ins Gesicht und traf ihn mit voller Wucht am Kinn. Durch den Zusammenprall bereits nicht mehr fest auf den Beinen, wurde er durch den Schlag umgeworfen.

Er musste wohl mit dem Hinterkopf hart aufgeschlagen sein, weil er das Bewusstsein verlor und fast eine Minute lang ohnmächtig dalag. Als er endlich wieder zu sich kam, fühlte er sich völlig benommen. Der Hinterkopf schmerzte ihm gewaltig, außerdem hatte er das Gefühl, dass seine Kinnlade ausgerenkt war. Er öffnete langsam den Mund und spie Blut aus. Sein Zahnfleisch musste verletzt sein. Er betastete vorsichtig sein Kinn - und plötzlich wurde ihm alles wieder klar. An seinem Kinn klebte Blut, obwohl die Haut nicht gerissen war.

»Großer Gott! Blut! Das muss der Kerl an der Hand gehabt haben«, murmelte Jeffrey und erhob sich schwankend. »Und dieser Kanarienvogel ist auch ganz blutig...«

Er starrte seine rechte Hand an. Noch immer hielt sie den zerschmetterten kleinen Körper fest umschlossen. Er blickte um sich, aber er war allein. Aus den offenen Verandatüren drang leise Musik - und dann sprang irgendwo ein Motor an. Keine Menschenseele war zu sehen, nicht einmal der Schritt eines nächtlichen Spaziergängers auf der Straße zu hören.

Jeffrey war so verstört, dass er schon glaubte zu träumen. Es war der typische Alptraum... Aber sein brummender Schädel überzeugte ihn bald, dass dieses Erlebnis nicht nur ein böser Traum war. Als er entschlossen um die Hausecke bog, wurde die Musik lauter. Er überquerte die Veranda und betrat das Zimmer. Auf der Schwelle blieb er überrascht stehen

Die Vorhänge waren zurückgezogen, von einem kleinen Tischchen an der Wand schien ein bläuliches Licht. Dort stand ein Fernsehapparat, auf dessen Bildschirm ein Ballett tanzte. Jeffrey erkannte, dass es die Television Lovelies waren, er sah sie immer gern. Aber im Augenblick interessierten sie ihn keineswegs.

Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr dem kleinen Vogelbauer, das auf einem Tischchen vor dem Fenster stand. Der Käfig war leer, die Tür stand weit offen. Er war also hier richtig. Der tote Kanarienvogel musste aus diesem Zimmer gekommen sein - und wahrscheinlich auch dieses üble Subjekt, das ihn so gänzlich unvorbereitet zusammengeschlagen hatte.

Das Ganze gab aber keinen Sinn. Das Zimmer war leer. Hatte er vielleicht einen Einbrecher bei seinem nächtlichen Raubzug gestört? Das wäre denkbar. Aber welche Rolle spielte der Kanarienvogel bei dieser undurchsichtigen Angelegenheit? Warum war das Tierchen so bestialisch getötet worden?

Vielleicht hat das kleine Ding angefangen zu zwitschern, dachte Jeffrey kopfschüttelnd. Das muss diesen Kerl wild gemacht haben, und er hat es daraufhin einfach aus dem Bauer genommen, zerquetscht und aus dem Fenster geworfen... Hier setzten seine Überlegungen aus. Nein, ganz so einfach kann es nicht gewesen sein. Wo kommt das viele Blut her?

Und warum war der Fernsehapparat eingeschaltet? Einbrecher interessieren sich doch normalerweise nicht für das Fernsehprogramm, wenn sie irgendwo einsteigen! Jeffrey hätte zu gern gewusst, ob überhaupt jemand im Haus war. In keinem der anderen Fenster war Licht zu sehen. Jeffrey entschloss sich, das Haus wieder zu verlassen.

Aber er hatte noch keine zwei Schritte getan, als er erschrocken stehenblieb. Unmittelbar neben dem großen Clubsessel, der vor dem Fernsehapparat stand, lag ein Mann.

»Ja, aber...«, begann Jeffrey.

Dann schwieg er aus zwei Gründen. Erstens, weil er ohnehin nur ein Krächzen herausgebracht hatte, und zweitens, weil ihm das, was er sah, die Sprache verschlug. Während er um den großen Sessel herumging, bemerkte er, dass der Mann seltsam verzerrt dalag. Neben seinem Kopf war der Teppich von Blut durchtränkt.

Trotz seiner Erschütterung fielen Jeffrey im gleichen Augenblick zwei weitere Tatsachen auf. Der Schädel des Mannes war auf grausamste Art eingeschlagen, und dicht daneben lag auf dem Teppich ein-Beil.

Und die Mädchen tanzten immer noch...

Jeffrey überkam ein unwiderstehliches Verlangen, den Fernsehapparat abzuschalten. Die tanzenden Gestalten standen in groteskem Gegensatz zu dem Bild, das sich hier bot. Jeffrey erschien es sündhaft, in diesem Raum des Todes noch länger solche Darbietungen zu dulden, aber er beherrschte sich, denn ein anderes, noch stärkeres Verlangen packte ihn. Mit steifen Knien wankte er aus dem Zimmer. Er verließ es auf dem gleichen Weg, den er gekommen war - durch die Verandatür. Dann rannte er in panischem Schrecken davon.

Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: weg von diesem Schreckensort - nur weg! Wieder sah er den eingeschlagenen Schädel des Mannes vor sich, den Ansatz zur Glatze, die grauen Haare an den Schläfen. Die leblosen, starren Augen verfolgten ihn. Endlich erreichte er die Gartenpforte und riss sie auf. Seine Hand umklammerte immer noch den toten Kanarienvogel, ohne dass er sich dessen bewusst war. Er strauchelte über einen Stein und stolperte zu einer in der Nähe stehenden Laterne, an der ausgerechnet in diesem Augenblick zwei Frauen vorüberkommen mussten.

Um die Situation vollends zu verschlimmern, enthüllte das Laternenlicht unbarmherzig Jeffreys Gesicht. Es war kaum verwunderlich, dass die ältere der beiden Frauen beim Anblick dieses blutverschmierten Gesichtes,-seiner wildblickenden Augen und der rotgefärbten Hand, die einen undefinierbaren Gegenstand umklammert hielt, hysterisch zu schreien begann.

»Beruhigen Sie sich doch!«, keuchte Jeffrey. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich wollte nicht...« Jetzt erst wurde er sich bewusst, dass er noch immer den blutdurchtränkten Kanarienvogel in der Hand hielt. »Herr im Himmel! Ich hatte ganz vergessen... Mord! Drüben in dem Haus.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung ins Dunkle. »Da ist ein Mann...«

Er schwieg betroffen, denn jetzt begann auch die zweite Frau durchdringend zu schreien. Beide starrten Jeffrey aus vor Schreck geweiteten Augen an, und nach einem erneuten Aufkreischen machten sie kehrt und liefen davon. Im Unterbewusstsein hörte Jeffrey, wie sich Fenster öffneten.

»Hallo! Warum laufen Sie davon...?!«

Fassungslos raste er hinter den beiden Frauen her. Der Gedanke, ihnen eine solche Angst eingejagt zu haben, erschreckte ihn. Er hatte nur noch das idiotische Verlangen, sie zu überholen und ihnen alles zu erklären. Das Ergebnis dieser Verfolgungsjagd kann man sich unschwer ausmalen. Sobald die beiden Frauen merkten, dass er hinter ihnen herlief, wuchs ihre Furcht ins Unermessliche, und ihre jämmerlichen Angstschreie zerrissen die nächtliche Stille.

Seltsamerweise gelang es ihnen, Jeffrey zu entkommen. Inzwischen aber war Raydon’s Hill South auf den Beinen.

Diese ruhige und stille Straße, die sonst um diese Zeit völlig leer war, wimmelte plötzlich von Menschen. Und da stand auch schon ein baumlanger Mann in Polizeiuniform vor Jeffrey Waring und packte ihn am Arm.

»Was soll eigentlich das Ganze?«, fragte der Bobby barsch.

  Zweites Kapitel

 

 

Jeffrey Waring begann zu stottern. Leider muss festgestellt werden, dass seine unartikulierten Laute nichts mit der menschlichen Sprache gemein hatten. Der baumlange Polizist leuchtete mit seiner Taschenlampe Jeffrey ins Gesicht und kam zu einem völlig falschen Schluss.

»Wohl geprügelt, wie?«, fragte er drohend. »Was war das für ein Geschrei?«

»Diese Frauen!«, jammerte Jeffrey und kam damit immerhin zur Sache. »Sie haben alles falsch verstanden... Warum, zum Teufel, müssen Frauen immer gleich hysterisch schreien, wenn sie sich erschrecken!«

»Ach, Sie haben also Frauen erschreckt?«, meinte der Constable. »Haben ihnen wohl was stibitzen wollen, wie? Was haben Sie denn da in der Hand?« Der Strahl der Taschenlampe schwenkte nach unten. »Blut! Sie sind ja ganz schön beschmiert, junger Freund!«, fuhr er streng fort. »Ich glaube, ich kenne Sie doch? Ich habe Sie hier doch schon öfter gesehen. Wo kommt das Blut her?«

»Ich weiß nicht... doch, ich weiß schon.« Jeffrey fuhr mit der Hand durch die Luft. Drei Bäume...«

»Na, na, junger Mann! Bäume bluten doch nicht! Was halten Sie nun eigentlich da in der Hand?«

Jeffrey öffnete langsam die geballte Faust, und der zerquetschte Kanarienvogel kam zum Vorschein. Die gelben Federn waren derart blutverkrustet, dass der Bobby zunächst nicht erkennen konnte, um was es sich eigentlich handelte. Immerhin kam er zu der Überzeugung, dass es angebracht war, den jungen Mann gut festzuhalten.

»Ein Kanarienvogel«, erklärte Jeffrey aufgeregt. »Sehen Sie denn nicht - es ist ein Kanarienvogel! Ich ging hier entlang, und er flatterte vor meine Füße. Als ich ihn aufhob, war er ganz voller Blut - aber der Kanarienvogel ist völlig unwichtig. Da ist ein Toter...«

»Ein Toter?«, wiederholte der Constable scharf.

»Ja. Drei Bäume...«

»Was haben Sie eigentlich mit diesen drei Bäumen? Mir kommt es langsam so vor, als wenn Sie nicht ganz normal sind. Sie kommen am besten mit zur Wache.«

»Nein! Sie kommen mit mir!« verlangte Jeffrey. »Das ist ein Haus - mein Gott, verstehen Sie denn nicht? -, es heißt Drei Bäume. Gleich da drüben. Von dort kam der Kanarienvogel. Ein Mann mit einem schrecklichen Gesicht und brennendem Blick gab mir einen furchtbaren Kinnhaken.«

Der Bobby war nun endgültig überzeugt, dass er es mit einem armen Irren zu tun hatte.

»Besser, Sie kommen mit zur Wache«, brummte er barsch.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich phantasiere?«, schrie Jeffrey außer sich. »Es ist wirklich so, wie ich Ihnen sagte! Ich hob den Kanarienvogel auf und sah die offene Verandatür, und dann sprang mich dieser Kerl an. Hinterher ging ich in das Zimmer... der Fernsehapparat mit den tanzenden Mädchen... und dann fand ich diesen armen Mann mit eingeschlagenem Schädel.«

»Um Himmels willen!«, murmelte der Polizist, dem es langsam unheimlich wurde. Das Ganze war ja Wahnsinn. Der junge Bursche redete offensichtlich ungereimtes Zeug.

Inzwischen waren von allen Seiten Leute herbeigekommen, die von den Schreien der Frauen aufgeschreckt worden waren und nun einen Bobby vor sich sahen, der einen jungen Mann festhielt. Einen wildblickenden jungen Mann mit seltsam verschmiertem Gesicht.

»Sie müssen mit mir kommen«, forderte Jeffrey nochmals. »Vielleicht ist der alte Mann gar nicht tot. Ich bin ja kein Arzt, vielleicht habe ich mich getäuscht, und er war nur bewusstlos. Kommen Sie, ich führe Sie!«

Er zerrte mit aller Gewalt an der Uniform, so dass der Bobby schließlich nachgab. Es war auch entschieden besser, von dieser neugierigen Menge wegzukommen.

»Bitte, gehen Sie weiter«, forderte der Constable mit amtlicher Stimme die Neugierigen auf. »Hier ist nichts zu sehen.« Er tippte sich bedeutungsvoll an den Kopf. »Ich passe schon auf den jungen Mann auf. Also gehen Sie weiter.«

Jeffrey lief schnell - so schnell, dass der Bobby seine amtliche Würde aufgab, um nicht den Griff um den Arm des jungen Mannes lockern zu müssen. Der Beamte war immer noch der Überzeugung, dass er es mit einem Geistesgestörten zu tun hatte, der einen Kanarienvogel getötet hatte. Aber immerhin konnte dieser seltsame Kauz jeden Augenblick gemeingefährlich werden. Solange er sich mit Kanarienvögeln zufrieden gab, bestand weiter keine Gefahr, aber man wusste ja nie...

Es war also besser, auf seine Wünsche einzugehen.

Schließlich passierten sie das Gartentor von den Drei Bäumen und gingen um das Haus herum. Kleine Gruppen von Neugierigen waren ihnen gefolgt und standen nun flüsternd auf dem Gehsteig.

»Oh!«, sagte der Polizist.

Er war ziemlich überrascht, tatsächlich die offene Verandatür vorzufinden. Jeffrey zögerte an der Tür und wies ins Zimmer.

»Der Fernsehapparat ist noch in Betrieb«, murmelte er. »Ein Vortrag, es hört sich wenigstens so an. Vorhin tanzte ein Ballett, die Television Lovelies, wissen Sie. Es war so gespenstisch, wie sie da neben dem Toten tanzten.«

»Hier ist kein Toter«, fuhr ihn der Bobby an.

Er schien sichtlich nervös zu werden. Langsam wirkte Jeffreys Geschichte durchaus vernünftig. Seine Erzählung von den tanzenden Mädchen vorhin war ihm völlig idiotisch vorgekommen, aber jetzt begriff er, was Jeffrey damit gemeint hatte. Da stand auch noch der Vogelbauer auf einem kleinen Tisch.

»Dort bei dem Clubsessel«, flüsterte Jeffrey. »Sie sehen ihn von hier aus nicht, er liegt gleich dahinter. Es war eine böse Überraschung für mich. Auf dem Teppich ist eine große Blutlache.«     

»Nur ruhig!«, stieß der Constable grimmig hervor.

Ohne Jeffrey loszulassen, ging er ins Zimmer. Der breite Strahl seiner Taschenlampe zerschnitt das Dunkel. Schließlich blieb er an der auf dem Boden liegenden Gestalt haften.

»Herr im Himmel!«, sagte der Constable nur.

Im nächsten Moment war er wieder an der Verandatür, Jeffrey mit sich ziehend. Seine Polizeipfeife zerschnitt schrill die nächtliche Stille. Er war jetzt überzeugt, es nicht mit einem harmlosen Geistesgestörten, sondern mit einem gefährlichen Mörder zu tun zu haben. Dieser junge Mann schien nicht nur einen Kanarienvogel getötet, sondern auch noch mit einem Beil über einen Menschen hergefallen zu sein.

»Was hat es bloß mit dem Kanarienvogel auf sich?«, fragte Jeffrey. »Das kann ich einfach nicht verstehen. Warum hat der Kerl den Vogel getötet...? He, Sie tun mir ja weh! Warum packen Sie mich so fest am Arm? Ich laufe doch nicht weg.«.

»Beruhigen Sie sich«, sagte der Bobby leise, aber bestimmt.

Sein Ton machte Jeffrey stutzig. Mit einem Schlage fühlte er sich ernüchtert. Die Aufregung und Verwirrung waren plötzlich wie weggeblasen.

»Jetzt passen Sie mal gut auf, mein Lieber!«, sagte er darum drohend. Er sprach langsam, jedes Wort betonend. »Lassen Sie sofort meinen Arm los. Wenn Sie vielleicht glauben sollten, dass ich das Geringste mit diesem lausigen Geschäft hier zu tun habe, dann sind Sie auf dem Holzweg. Ich bin zufällig hier vorbeigekommen...«

»Ja, Sir. Schon gut.«

»Und hören Sie endlich mit diesem sanften, rührseligen Ton auf!«, fuhr Jeffrey ihn gereizt an. »Mein Gott! Sie scheinen mich wohl für geistesgestört zu halten. Hatte ich nicht etwa recht mit meiner Behauptung, dass hier ein Toter liegt? Aber zufällig kenne ich ihn überhaupt nicht. Ich machte lediglich meinen Abendspaziergang und hing meinen eigenen Gedanken nach, als plötzlich dieser Kanarienvogel vor meine Füße flatterte.«

»Das sagten Sie schon, Sir«, unterbrach der Bobby ihn, ohne den Griff zu lockern. »Aber hier ist immerhin ein Mord geschehen, und der Inspektor wird Ihnen einige Fragen stellen wollen.«

»Das geht in Ordnung. Ich habe nichts dagegen, mit dem Inspektor zu  sprechen, aber ich verbitte mir energisch, dass Sie mich hier festhalten, als wenn ich ein Einbrecher wäre. Ach was, Einbrecher - Sie halten mich wohl für den Mörder, stimmt’s?«, fauchte Jeffrey wütend.

Der Constable atmete erleichtert auf, als eilige Schritte hörbar wurden. Einen Augenblick später war ein Kollege von ihm da. Sie flüsterten kurz miteinander, dann lief der zweite Polizist wieder davon.

»Hätten Sie den Mann da drüben hinter dem Sessel nicht lieber genauer ansehen sollen?«, fragte Jeffrey gereizt. »Vielleicht ist er gar nicht tot. Sie sollten einen Arzt rufen.«

»Dem hilft kein Arzt mehr«, erwiderte der Constable grimmig. »Er ist tot. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben kann, junger Mann, dann sagen Sie keinen Ton mehr, bis der Inspektor kommt. Und selbst dann dürfte es besser für Sie sein, wenn Sie den Mund halten.«

In Jeffrey stieg ein leises Angstgefühl auf. Für den unzugänglichen Constable schien es festzustehen, dass er in dieses Verbrechen verwickelt war. Und jetzt, da Jeffrey imstande war, nüchtern zu denken, musste er auch zugeben, dass der Verdacht des Polizisten gar nicht so abwegig war.

»Mein Gott!«, murmelte er deprimiert.

Er war gesehen worden, wie er hier aus dem Garten gerannt kam, Gesicht und Hände blutverschmiert. Nur er, Jeffrey, war dem Mörder begegnet - aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Darum konnte er kaum sagen, wie er ausgesehen hatte. Der tote Kanarienvogel in seiner Hand vergrößerte die Schwierigkeiten für ihn noch. Seine Erklärung dafür war zwar einfach, aber wer würde ihm glauben? Sein Angstgefühl verwandelte sich in ernste Besorgnis. Der Griff des Polizisten um seinen Arm hatte sich nicht gelockert.

»Aber das ist ja hirnverbrannt!«, polterte er los. »Ich sage Ihnen noch einmal, ich habe mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Lassen Sie mich los! Und warum drehen Sie nicht diesen schrecklichen Fernsehapparat ab? Der geht mir auf die Nerven.«

»Alles zu seiner Zeit, Sir«, sagte der Constable ruhig.

»Das heißt also, dass Sie nichts unternehmen wollen, bis der Inspektor kommt, wie?«, meinte Jeffrey wütend. »Ich verstehe, Sie wollen keine Verantwortung dafür übernehmen. Aber wenn Sie mich schon hier festhalten müssen, dann bringen Sie mich doch wenigstens in die Küche oder ins Bad, damit ich mich waschen kann. Dieses klebrige Zeug überall - ich halte es kaum noch aus. Außerdem tut mir der Kopf weh.«

Er schwieg, weil ihm bewusst wurde, dass er nur seinen Atem verschwendete. Der Constable stand unerschütterlich mit grimmigem Gesichtsausdruck da und hielt seinen Arm fest. Immerhin war es Jeffrey gelungen, den toten Kanarienvogel loszuwerden. Er hatte ihn einfach auf den kleinen Tisch neben das Vogelbauer gelegt. Aber jetzt fühlte er sich mit seiner freigewordenen Hand noch unbehaglicher.

Der Polizist atmete auf, als endlich ein Auto vorfuhr. Gleich darauf waren Schritte zu hören, und schließlich erschien ein uniformierter Polizeiinspektor, dem zwei weitere uniformierte Beamte folgten. Jeffreys Constable salutierte.

»Sieht nach Mord aus, Sir«, berichtete er und machte eine bezeichnende Kopfbewegung nach der still daliegenden Gestalt. »Dieser junge Mann rannte hinter zwei Frauen her        

»Rannte hinter zwei Frauen her...!«, unterbrach Jeffrey ihn aufgebracht. »Zum Donnerwetter, ich kam hier aus dem Pfaus, nachdem ich den Toten entdeckt hatte, und die Frauen begannen zu schreien. Ich wollte ihnen lediglich erklären, dass sie keinen Grund hätten, Angst vor mir zu haben.« Er schwieg. »Was starren Sie mich so an?«

»Was ist das da an Ihrer Hand, Sir...?«, fragte der Inspektor. »Blut? Dixon, machen Sie doch mal Licht.« Er betrachtete Jeffrey kurz. »Ich bin in einer Minute wieder bei Ihnen, Sir.«

Der mit Dixon angeredete Constable, der dem Inspektor ins Zimmer gefolgt war, fand den Lichtschalter ungewöhnlich schnell. Sofort verbreitete die Hängelampe in der Mitte der Decke ein grelles Licht. Der Inspektor brauchte nicht länger als eine Minute, um sich über den Toten zu beugen und sich zu vergewissern, dass hier ein Arzt nicht mehr helfen konnte.

»Das sieht übel aus«, meinte er leise. »Der Schädel ist eingeschlagen. Macht ganz den Eindruck, als wäre es nur ein einziger furchtbarer Schlag gewesen.«

Der Inspektor war stämmig, ungefähr vierzig Jahre alt, hatte ein freundliches Gesicht und einen kleinen Schnurrbart unter der Nase. Jetzt kam er zu Jeffrey zurück und blickte ihn durchdringend an. »Und nun hätte ich gern Ihren Namen, Sir. Und dann erzählen Sie mir mal, was Sie von der ganzen Geschichte wissen.«

»Mein Name ist Waring, und ich weiß überhaupt nichts über diese Geschichte«, erwiderte Jeffrey ohne Zögern.

»Sie wohnen hier in diesem Bezirk?«, fragte der Inspektor weiter. »Ich glaube, ich habe Sie schon einmal mit einem kleinen Sportwagen gesehen. Wenn ich mich nicht täusche, ist es ein neuer M. G. Midget.«

»Ganz recht. Ich wohne bei meiner Schwester in Raydon’s Hill North - auf der anderen Seite. Das Haus heißt Weißes Tor. Ich machte heute Abend noch einen kleinen Spaziergang, als mir dieser halbtote Kanarienvogel vor die Füße flatterte.«

Er schilderte peinlich genau, was vorgefallen war. Endlich hatte auch der Bobby seinen Arm losgelassen. In Anwesenheit der vielen Kollegen würde der junge Mann sicherlich keinen Fluchtversuch wagen.

»Schön, Mr. Waring«, sagte der Inspektor schließlich. »Ich möchte, dass Sie jetzt mit zur Wache kommen und Ihre Aussage wiederholen, übrigens - kennen Sie den Toten?«

»Ich kenne ihn selbstverständlich nicht. Warum sollte ich ihn denn kennen? Was meinen Sie eigentlich damit?« Jeffrey wurde wieder aufgeregt. »Ich möchte nochmals betonen: Ich bin lediglich hier vorbeigekommen und völlig unschuldig. Als ich den Kanarienvogel aufhob und sah, dass er derart blutig war, fragte ich mich natürlich, wo er wohl hingehörte. Als ich dann die Verandatür weit offen fand, schaute ich ins Zimmer hinein. Aber vorher wurde ich zu Boden geschlagen.«

»Dieser Mann, der Sie niedergeschlagen hat«, meinte der Inspektor, »können Sie ihn nicht besser schildern? Zweifellos ist er der Mörder, und es würde uns sehr helfen, wenn Sie ihn genau beschreiben könnten.«

Jeffrey überlief es kalt. Der Inspektor war zwar ausgesprochen höflich, aber die Skepsis in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er sprach in einem Tonfall, als habe er ein ungezogenes Kind vor sich. Jeffrey fühlte sich tief beunruhigt, weil er seinen Angreifer nicht besser beschreiben konnte.

»Wie, zum Teufel, sollte ich diesen Kerl denn deutlich gesehen haben!«, protestierte er. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt: Als ich um die Ecke kam, gab er mir einen Kinnhaken, ehe ich überhaupt begriff, was vor sich ging. Ich kann mich lediglich darauf besinnen, dass er irgendetwas Dunkles anhatte. Ja, es war dunkel und dicht anliegend, und sein Gesicht war schmal und blass. Es zeigte einen irgendwie wilden Ausdruck.«

»Hm!«, meinte der Inspektor zweifelnd.

Jeffreys Geschichte klang reichlich erfunden - ganz so, wie in den Kriminalhörspielen und Detektivgeschichten mysteriöse Mörder beschrieben werden.

»Wenn ich auf der Wache meine Aussage wiederholen soll - können Sie mich dann nicht sofort hinbringen?«, fragte Jeffrey. »Ich muss mich endlich waschen. Sehen Sie sich doch diese Hand an. Puh! Und was soll meine Schwester denken? Sie wird mich schon längst zurückerwartet haben.«

»Dunkel und dicht anliegend, sagten Sie...?«, unterbrach der Inspektor ihn. »Was meinen Sie eigentlich damit? Etwa einen Trenchcoat mit Gürtel?«

»Nein, keinen Trenchcoat«, antwortete Jeffrey ungeduldig. »Ein Mantel mit einem Gürtel liegt ja nicht dicht an. Ich habe den Eindruck - und mehr als ein Eindruck ist es wahrhaftig nicht -, dass der Mann einen Monteuranzug trug. Jedenfalls etwas, was vollkommen dicht anliegt. Aber ich will Ihnen gleich sagen, mein Eindruck von diesem Kerl war so flüchtig, dass meine Beschreibung auch völlig falsch sein kann. Übrigens muss er eine Baskenmütze aufgehabt haben, denn sein Kopf wirkte so dunkel wie alles andere an ihm. Aber auch dessen bin ich mir nicht sicher.«

Diesmal grunzte der Inspektor nur.

Obwohl es jedem der Anwesenden inzwischen klargeworden war, dass niemand weiter im Haus sein konnte - sonst wäre ja schon längst jemand aufgetaucht -, öffnete der Inspektor die Tür und rief in die Halle hinein. Aber alles blieb still.

Die Halle war völlig dunkel, bis der Inspektor nach dem Schalter tastete und das Licht anknipste. Jeffrey entdeckte die halboffene Tür zum Bad und ging schnell darauf zu.

»Ich kann mich auch gleich hier waschen«, murmelte er. »Sie haben doch nichts dagegen?«

»Doch, Sir. Ich denke, es ist besser, wenn Sie nichts berühren, auch nicht im Bad«, widersprach der Inspektor scharf. »Sobald wir auf der Wache sind, können Sie sich waschen. Es wird nicht mehr lange dauern...«

Er brach ab. Man hörte, dass die Vordertür aufgeschlossen wurde. Plötzlich war die Atmosphäre gespannt. Die Tür wurde mit einem Ruck aufgestoßen...

»Großer Gott!«, stammelte Jeffrey überrascht.

Es war das Mädchen - das Mädchen mit dem weichen, dunklen Haar und dem anmutigen Gang - das Mädchen, das ihm seit Tagen seine innere Ruhe geraubt hatte.

»Um Himmels willen! Noch mehr Polizei!«, rief sie atemlos. »Was ist los?«

Sie stand in der offenen Tür und blickte aus weitaufgerissenen Augen einen nach dem anderen an. Ihr Gesicht war gerötet und zeigte, einen verängstigten Ausdruck. Sie schien Jeffrey nicht ganz so hübsch, wie er sie in Erinnerung hatte, aber trotzdem kam sie ihm schöner vor als jede andere Frau. Ihre Züge waren nicht ganz regelmäßig, ihre Nase eine Idee zu klein. Dafür hatte sie einen entzückenden Mund, der jetzt halb geöffnet war und weiße, gleichmäßige Zähne sehen ließ.

»Sie wohnen in diesem Haus, Miss?«, fragte der Inspektor. »Sie schlossen eben die Tür auf, und darum nehme ich an...«

»Natürlich wohne ich hier«, unterbrach sie ihn. »Was ist los? Hat mein Vater einen Unfall gehabt?«

»Ich bin Inspektor Martin, Miss. Leider habe ich eine traurige Nachricht für Sie«, sagte der Beamte ernst. »Ich bedaure, dass Sie so unvorbereitet hier hereinkommen.«