Der Ramses-Code - Michael Klonovsky - E-Book
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Michael Klonovsky

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Beschreibung

"Ich werde diese Zeichen lesen!" ruft das elfjährige Wunderkind Jean-François Champollion, als er zum erstenmal Hieroglyphen sieht. Fortan ist er besessen von dieser Idee. Der Stein von Rosette, eine Platte mit drei Inschriften in griechischer und demotischer Schrift sowie den rätselhaften Hieroglyphen, die 1799 während des Ägypten-Feldzuges Napoleons gefunden wurde, scheint den Schlüssel für eine Entzifferung zu bieten.

Diese Idee verfolgen allerdings auch andere; allein in Paris behaupten Dutzende Gelehrte, dem Geheimnis auf der Spur zu sein. Besonders beharrlich arbeitet Thomas Young an dem Problem, ein Londoner Universalgelehrter und unkonventioneller Denker. Zwischen dem exzentrischen Engländer und dem Sprachgenie Champollion, der mit 18 Jahren bereits Professor wird, entbrennt der eigentliche Wettstreit. Im Hintergrund zieht ein seltsamer ägyptophiler Baron die Fäden. Nachdem Young seine Lesart publiziert hat, gilt Champollion als der "Verrückte aus Grenoble", weil er die Entzifferung nicht akzeptiert. Zu allem Übel mischt er sich in die politischen Händel seiner Zeit, wird als Hochverräter verurteilt und muß in die Verbannung ...

Michael Klonovsky hat einen spannenden Roman geschrieben, der fundiert recherchiert ist und auf historischen Fakten gründet. Vor dem Panorama der napoleonischen Kriege schildert er das jahrelange verzweifelte Ringen eines genialen Mannes um die Lösung eines der großen Menschheitsrätsel.

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Seitenzahl: 663

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Michael Klonovsky

Der Ramses-Code

Roman

Impressum

Mit 1 Abbildung

ISBN 978-3-8412-0726-5

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2001 bei Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Torsten Lemme

unter Verwendung des Gemäldes „The Temple of Dendera“ (1841) von David Roberts, The Bridgeman Art Library

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

FÜR ROGER

Der Stein von Rosette

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

VORSPIEL

Erster TeilDER DREISPRACHENSTEIN

Zweiter TeilDIE FRAU MIT DEN GLETS CHERAUGEN

Dritter TeilDER KONKURRENT

Vierter TeilKLEOPATRA

EPILOG

DANKSAGUNG

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

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VORSPIEL

I

Der Geburt des kleinen Jean-François ging eine seltsame und, bedenkt man die Umstände, in die er hineingeboren werden sollte, höchst unglaubwürdige Prophezeiung voraus, an die sich sein Bruder Jacques-Joseph erst Jahre später wieder erinnern sollte. Die anderen, die sie hörten, der Rest der Familie also, namentlich ihr Oberhaupt, der Buchhändler Jacques Champollion, sowie die alte Courbier, die Nachbarin, eine zahnlose Witwe, sie alle nahmen die wunderlichen Orakelworte damals nicht zur Kenntnis, weil diese ihnen viel zu absurd erschienen, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Vor allem Jacques Champollion hielt es für aberwitzig, an die bevorstehende Existenz eines neues Familienmitgliedes zu glauben, denn Jeanne, seine Gattin, war erstens 42 Jahre alt, zweitens nicht schwanger und drittens so schwer erkrankt, daß er um ihr Leben zu fürchten begann.

Die Gemahlin des Buchhändlers hatte sich an einem eisigen Januartag des Jahres 1790 mit plötzlich auftretendem heftigem Fieber in das eheliche Schlafzimmer zurückgezogen und war seither nicht mehr aufgestanden. Die Champollions bewohnten am Rande des 10 000-Seelen-Städtchens Figeac zu Füßen des Auvergne-Gebirgsstockes ein altes, zweietagiges Haus mit flachem Ziegeldach, einer das obere Stockwerk umlaufenden Galerie und spitzbogig gemauertem Eingangstor. Es stand am Ende einer dunklen Gasse namens la Bodousquerie, was darauf hinwies, daß hier vor Zeiten Naturwachs gegossen worden war.

Jeanne Champollion war eine schmächtige Frau mit blassem Teint und vollem schwarzem Haar. Das Fieber ließ ihr Antlitz wächsern erscheinen; es überschüttete die Kranke mit heftigen Schauern, zwischen denen sie in völliger Apathie versank. Die beiden Ärzte, nach denen Jacques Champollion an zwei aufeinanderfolgenden Tagen schickte, verkündeten unabhängig voneinander, daß es sich um ein »rheumatisches Fieber« handle, gegen das sie nicht viel zu tun wüßten.

»Wird sie sterben?« hatte der Buchhändler, ein vierschrötiger Mensch mit finsteren Zügen und starker Neigung zur Melancholie, beide Male gefragt, wobei sich Entsetzen auf sein Gesicht malte, denn er liebte seine Frau. Das wisse Gott allein, hieß jedesmal die Antwort. Was sie brauche, sei Ruhe und wärmeres Wetter. Wenn der Frühling zeitig käme und ihr den Frost aus dem Leib nähme, könnte sie es überstehen. Die Doktoren verschrieben Einreibungen und kalte Umschläge, nahmen ihr Salär in Empfang und gingen.

Stumpfen Blicks saß der Buchhändler am Bett seiner Frau, deren Nase spitz aus dem bleichen Gesicht hervortrat, die Augen blickten trübe ins Nichts. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, und zum Sprechen fehlte ihr die Kraft.

»Wird sie sterben?« fragte Jacques-Joseph den Vater mit bebender Stimme. Jacques Champollion zuckte mit den Schultern und schob den Zwölfjährigen und seine drei kleinen Schwestern behutsam aus dem Schlafzimmer im ersten Stock, das nun, wie die Dinge lagen, zum Sterbezimmer werden sollte.

Da kam der alten Courbier, die sich wieder einmal nach dem Befinden der Kranken erkundigt hatte, eine Idee. »Jacqou«, raunte sie beschwörend, »warum holt ihr nicht Jacqou?«

»Wie, diesen absonderlichen Narren?« fragte der Buchhändler erstaunt.

»Er ist absonderlich, aber gewiß kein Narr«, entgegnete die Alte. »Dein Weib wäre nicht die erste, die er kuriert. Außerdem kann er in die Zukunft schauen. Er ist ein Zauberer!«

Den letzten Satz hatte sie geflüstert, und der junge Jacques-Joseph erschauerte.

»Er wird sie zu Tode kurieren!« knurrte der Buchhändler. »Dieser Mensch kommt mir nicht ins Haus.«

»Vielleicht kann er wirklich helfen!« flehte Jacques-Joseph.

»Der Kerl ist mir unheimlich.« Der Vater war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. »Außerdem«, lenkte er ein, »weiß ich nicht, wie ich ihn ansprechen soll.«

»Oh, das ist kein Problem«, sagte die Alte. »Ich kann zu ihm gehen. Mich kennt er.«

Jacques Champollion hob verzweifelt die Arme über den Kopf. »Er soll in Gottes Namen kommen«, stieß er hervor.

Jacqou war in der Tat ein absonderlicher Mensch. Unbestimmten Alters, bärtig, das bleiche Gesicht von wirrem Haar umstanden und sommers wie winters stets in eine Art Kaftan gehüllt, wohnte er im uralten und seit langem von den frommen Schwestern verlassenen Kloster Lundieu jenseits des großen Obstgartens, der am Ende der Rue de la Bodousquerie begann. Er sprach selten mit den Leuten, empfing augenscheinlich nie Besuch und wurde auch nie in einer Gastwirtschaft gesehen. In Champollions Buchladen war er nur ein einziges Mal aufgetaucht und hatte nach einer Schrift des Philosophen Diderot verlangt, was Jacques Champollion verdächtig vorkam, einmal weil er überhaupt etwas gegen diese Verkünder neuer Ideen hatte, überdies weil er es seltsam fand, daß ausgerechnet ein zotteliger Eremit nach solcher Lektüre verlangte. Jacqou handelte mit Kräutertränken, magischen Steinen, Idolen und anderem Abwehrzauber gegen Dämonen, Krankheiten oder Mißernten. Oft ließ er sich monatelang nicht in der Stadt blicken. Er war Gegenstand skurriler Gerüchte, in die sich allerdings stets eine Spur Ehrfurcht mischte, denn seine Tränke hatten tatsächlich schon manchem Kranken Linderung verschafft.

Als er hinter der alten Courbier das Haus betrat, lief Jaques-Joseph ein Schauer über den Rücken, und seine jüngste Schwester, die kleine Marie, begann zu weinen. »Nun, nun«, brummelte der Zottelbart, kümmerte sich aber nicht weiter um das verschreckte Kind, da er dergleichen Reaktionen auf sein Erscheinen offenbar gewohnt war. »Wo ist die Kranke?« wandte er sich an den Hausherren und ließ sich von ihm ins Schlafgemach führen.

Jacqou leistete ganze Arbeit. Er hüllte Frau Champollion in Tücher, die er zuvor in einem Sud tränkte, den er aus mitgebrachten Ingredenzien undurchschaubarer Zusammensetzung am Herd gebraut hatte. Er legte die Kranke auf erhitzte Kräuter und murmelte dabei Beschwörungsformeln. Er bereitete ihr heißen Wurzelwein, bestrich ihre Brust mit einer stechend riechenden Salbe, legte einen alten Papyrus mit seltsamen Zeichnungen unter ihr Kopfkissen und ordnete an, dieser dürfe bis zur Genesung keinesfalls entfernt werden, da er heilende Kräfte besitze. Drei Tage hintereinander wiederholte er seine Prozeduren unter den Augen der teils neugierigen, teils furchtsamen Kinder, des zwar skeptisch dreinschauenden, sich aber an jede Hoffnung klammernden Ehemannes und der zu alledem wissend nickenden alten Nachbarin.

Am Abend des dritten Tages verkündete er: »Sie wird wieder gesund!«

»Wie: gesund?« fragte der Buchhändler und blickte auf seine blasse, apathisch daliegende Frau.

»So gesund«, versetzte der Quacksalber, »daß sie noch in diesem Jahr einen Sohn gebären wird.«

»Was für ein Unsinn«, lachte Jacques Champollion bitter, »meine Frau ist 42. Und sie liegt im Sterben.«

»Sie wird noch in diesem Jahr einen Sohn gebären«, wiederholte der Eremit unbeirrt und setzte mit belegter Stimme hinzu: »Einen Sohn, dessen Ruhm die Jahrhunderte überdauern wird.« Jacqou sah in das ungläubige Gesicht des Hausherren, zuckte mit den Schultern, sprach: »Zahlt mir, was Ihr wollt, sobald sie gesund ist«, packte seine Sachen zusammen und verschwand, ohne sich umzublicken.

»Ein Scharlatan!« zischte der Buchhändler.

»Im Gegenteil«, versetzte die Alte.

Wirklich trat Besserung ein, und nach kaum einer Woche konnte Frau Champollion erstmals wieder das Bett verlassen. Ihr vor Glück fassungsloser Gatte fiel ihr mit Tränen in den Augenwinkeln um den Hals – und machte seinen Laden, den er während ihrer Krankheit nicht betreten hatte, wieder auf. Er entlohnte Jacqou reichlich, vermied es aber, ihm das Geld persönlich auszuhändigen, und schickte statt dessen die alte Courbier.

Schnell sprach sich herum, daß die Frau des Buchhändlers dank der Heilkünste des mysteriösen Einsiedlers genesen war, aber erst als Jeanne Champollion kurze Zeit später schwanger wurde, dachte ihr Mann an Jacqous Prophezeiung. »Soso«, sagte er zu sich, »sie wird genesen, und sie wird einen Sohn gebären, hat dieser Verrückte gesagt. Und nun ist sie nicht nur gesund, sondern mit ihren 42 tatsächlich in Hoffnung.« Und er schüttelte den Kopf.

Den dritten Teil der mysteriösen Ankündigung hatte Jacques Champollion vergessen. Am 23. Dezember 1790 kam sein Sohn – es war tatsächlich ein Sohn – zur Welt. Das Kind war so kräftig, daß es ungeachtet der Winterkälte schon am Morgen nach der Geburt zu der kleinen Bergkirche getragen werden konnte, wo Vikar Bousquet es auf den Namen Jean-François taufte. Neben seinem Vater stand Jacques-Joseph am Taufbecken, blickte auf das vom eiskalten Wasser benetzte und deswegen heftig brüllende Baby, dessen Pate er soeben wurde, und grübelte über die Worte des alten Zauberers. Aber im Laufe der Zeit vergaß auch er den letzten Satz des Orakels.

II

An einem drückend heißen Julitag des Jahres 1799 war ein Trupp französischer Soldaten damit beschäftigt, Steine aus den zerfallenden Festungsanlagen im Norden des ägyptischen Städtchens Raschid zu brechen, das die Europäer Rosette nannten. Der Flecken lag im westlichen Nildelta, dreißig Meilen von Alexandria entfernt, inmitten eines Waldes von Dattel-, Feigen- und Maulbeerbäumen. Seine Bewohner hatten die Gewohnheit angenommen, aus den Steinen verlassener, allmählich einstürzender Gebäude in deren unmittelbarer Nähe neue Häuser zu errichten, die allerdings auch nicht sonderlich lange hielten. Nun verfuhren die vor kurzem eingerückten französischen Besatzer in derselben Art mit den Verteidigungsbauten.

Die Männer in den blauen Uniformen, die der alten Mauer mit Spitzhacken und Brechstangen zu Leibe rückten, hatten ihre Zweispitze abgesetzt und die Köpfe zum Schutz gegen die stechende Sonne mit Tüchern umwickelt. Nach dem Städtchen hin sicherten Posten die Arbeitenden gegen Überfälle Einheimischer, die es auf die zu kleinen Pyramiden zusammengestellten Gewehre oder die Proviantfässer abgesehen haben mochten, aber Rosette lag in der brütenden Nachmittagshitze wie ausgestorben, so daß die einzige Aufgabe der Wächter darin bestand, die in Scharen herumstreunenden Hunde mit Steinwürfen zu vertreiben.

Den Trupp befehligte ein Ingenieurleutnant namens Xavier Bouchard. Die Soldaten hatten den Auftrag, eine Außenmauer der aus dem frühen 16. Jahrhundert stammenden Befestigung niederzureißen. Hier sollte das Fort Saint Julien entstehen, von dem aus die Franzosen den Schiffsverkehr auf dem bolbitischen Arm des Nils zu kontrollieren und vorbeiziehende Karawanen vor Beduinenüberfällen zu schützen gedachten.

Unter einer Palmengruppe am anderen Ufer des Nilarmes hielt ein Zug Beduinen und beobachtete die Fremden, die hier so unverhofft eingefallen waren und das bis dato als unbesiegbar geltende Heer der Mamelucken, der Herrscherkaste Ägyptens, in einer einzigen Schlacht zusammenkartätscht und niedergemetzelt hatten. Einer der Beduinen feuerte sein Gewehr in die Luft ab und drohte, unter dem Gelächter seiner Kameraden, den Franzosen mit der Faust.

»Laßt euch nicht provozieren, Männer«, befahl Bouchard und bedeutete einem Posten, er möge die Wüstennomaden im Auge behalten. Dann klatschte er in die Hände. »Weiter geht’s! Bis heute abend will ich von dieser Mauer hier nichts mehr sehen!« Schweigend und schwitzend, von Fliegenschwärmen umtanzt, setzten die Soldaten ihre Arbeit fort. Der Fluß war an dieser Stelle zu breit für einen gezielten Schuß. Mochten die da drüben also ihren Spaß haben.

Die alte Befestigungsmauer, an der sich das Abrißkommando zu schaffen machte, bestand größtenteils aus Sandsteinblöcken unterschiedlichsten Ausmaßes, die ohne jedes System, aber recht geschickt aufeinandergetürmt worden waren. Manche der Quader mußten aus Ruinen jenes Urvolkes der Pharaonen stammen, das hier vor undenkbaren Zeiten gigantische Pyramiden, Tempel, Obeliske und Sphinxe in den Wüstensand gebaut hatte, denn auf ihnen fanden sich noch Reste von Zeichnungen und hieroglyphischen Inschriften. Die Abergläubischen unter den Blauröcken betrachteten sie mit frommer Scheu.

»Heda, Vorsicht!« rief plötzlich einer der Soldaten, und unter Getöse stürzte ein gut zweieinhalb Meter hohes Mauersegment in sich zusammen, wobei die hellen Sandsteinquader von einem hinter ihnen verbauten, offenbar deutlich schwereren schwarzen Block beiseite geschoben wurden. Die Warnung kam zu spät; der schwarze Stein erfaßte einen der Arbeiter, in das Poltern mischte sich ein gellender Schrei, und als der Block auf einer der beiden größeren Seiten liegen blieb, hatte er den Mann unter sich begraben. Nur Kopf, Arme und Stiefel schauten hervor; Blut und Eingeweide quollen aus seinem Mund. Der Leichnam mit dem zentnerschweren Stein auf dem Rücken sah aus wie eine riesige Schildkröte, die sich übergeben hatte.

»Scheiße!« brüllte Bouchard, der herbeigestürzt kam und erkannte, daß hier nichts mehr zu machen war. »Hättet ihr nicht aufpassen können? – Na, wenigstens war er gleich tot und hat nicht leiden müssen.«

Er wollte seinen Zweispitz abnehmen, aber er hatte ja keinen auf; da zog er statt dessen das Tuch vom Kopf. Die umstehenden Soldaten taten es ihm gleich. Bouchard schwieg einige Sekunden, dann befahl er: »Los, wälzt den Stein von ihm, und seht zu, daß ihr den Mann begrabt, und dann weiter an die Arbeit!«

Es war eher eine Platte als ein Stein, mehr als einen Meter lang, einen knappen Meter breit, aus massivem Basalt und wohl ungeheuer schwer. Erst nachdem sie die fünfte Brechstange untergeschoben hatten, gelang es den Soldaten, sie anzuheben und wegzukippen. Dann zogen zwei von ihnen den zerschmetterten Kameraden aus dem Sand, legten den Leichnam, froh darüber, daß seine Uniform ihn noch zusammenhielt, auf eine Holztrage und schafften ihn fort.

Der Basalt, der nun auf der anderen Seite lag, blieb eine Weile unbeachtet, bis einer der Soldaten einen Blick auf ihn warf und einen überraschten Schrei ausstieß. »Herr Leutnant!« rief er. »Sehen Sie sich das doch mal an!«

Die anderen unterbrachen ihre Arbeit und umringten die schwarze Platte, die über und über mit Schriftzeichen bedeckt war. »Heilige Maria«, murmelte einer und bekreuzigte sich. Bouchard kam mißmutig herangeschlendert, betrachtete die Inschriften und schien plötzlich sehr aufgeregt.

Der Ingenieurleutnant war ein gebildeter Mann, nicht nur was Fragen von Fortifikation und Bauhandwerk betraf, sondern er verfügte auch über solide altsprachliche Kenntnisse. Nach wenigen prüfenden Blicken hatte er begriffen, daß hier ein außergewöhnlicher Fund vorlag. Der Stein oder besser: die Stele – denn um eine solche handelte es sich zweifellos, obgleich sie arg ramponiert und ihr oberer Teil weggebrochen war – trug drei alte Inschriften.

»Dieser Stein muß sofort zur ägyptischen Kommission. Die werden Augen machen«, rief Bouchard. »Los, ihr da, faßt an, wir müssen ihn auf der Stelle verladen. Und ihr anderen sucht, ob ihr unter den Trümmern noch den Rest findet, der an der oberen Kante fehlt. Es müssen Hieroglyphen darauf stehen, versteht ihr? Hieroglyphen – eine Bilderschrift, so wie hier oben auf dem Stein!«

Die Männer zögerten und blickten ihren aufgeregten Führer fragend an.

»Ja, was glotzt ihr so blöde?« fuhr Bouchard sie an. »Wißt ihr Schafsköpfe eigentlich, was ihr hier vor euch habt? Nein? Dann will ich es euch sagen: Das ist eine sogenannte Bilingue, eine zweisprachige Inschrift, in diesem Fall offenbar sogar eine dreisprachige. Ein Dreisprachenstein! Das hier unten ist griechisch, versteht ihr? Das kann man heute noch verstehen, das könnte ich sogar lesen, allerdings bräuchte ich etwas Zeit dafür, denn der Text ist ohne Raum zwischen den einzelnen Worten geschrieben. Und das in der Mitte, das könnte Syrisch sein. Nun stellt euch vor, wenn das einmal eine Stele gewesen ist, die irgendwo stand und eine wichtige Botschaft an die Vorübergehenden enthielt, dann könnte in allen drei Texten dasselbe stehen! Ich vermute, daß in allen drei Texten dasselbe steht. Wißt ihr, was das bedeutet?«

»Nein, Herr Leutnant.«

»Ach, ihr ungebildeten Kerle! Los, ladet den Stein auf, aber vorsichtig, damit die Schrift nicht noch mehr zerstört wird. Er muß sofort zur Gelehrtenkommission nach Kairo! Das ist vielleicht der Schlüssel zu allen Geheimnissen des alten Ägypten! Der Schlüssel zur Entzifferung einer Schrift, die seit Jahrtausenden kein Mensch mehr gelesen hat, der heiligen Zeichen des alten Ägypten – der Hieroglyphen!«

Erster TeilDER DREISPRACHENSTEIN

1

»Jean-François!«

Durch das ehrwürdige Haus in der Rue de la Bodousquerie hallte die Stimme eines jungen Mannes. »Jean-François, wo steckst du?«

Jacques-Joseph Champollion, inzwischen ein schlanker, feingliedriger junger Mann von 21 Jahren, war soeben, eine Zeitung unter dem Arm, aus der Stadt heimgekehrt und stürmte die Treppe zum ersten Stock empor. »Jean-François!«

»Hier bin ich«, rief es aus dem Kaminzimmer im Erdgeschoß. »Was gibt es denn?«

Jacques-Joseph war bereits wieder am Fuße der Treppe angelangt, wedelte mit der Zeitung und riß dabei seinen achtjährigen Bruder fast um. »Das mußt du lesen! Der ›Courrier d’Egypte‹, das Mitteilungsblatt der französischen Kommission in Kairo.«

»Ist etwas passiert? Hat man Bonaparte ermordet?«

»Nein. Hier, es steht gleich auf der ersten Seite: Unsere Truppen haben bei Bauarbeiten in einem kleinen Ort im Nildelta – er heißt Rosette – einen Dreisprachenstein gefunden.«

»Einen – was?«

»Eine alte Stele aus der Pharaonenzeit. Setz dich und lies!«

Die Brüder ließen sich am Fuß der Treppe nieder.

»Der Stein – oder die Stele – trägt drei Inschriften«, erklärte der Ältere, »und aus der dritten geht hervor, daß in allen dreien derselbe Text steht. Sie ist in Altgriechisch verfaßt, während die beiden anderen aus ägyptischen Schriftzeichen bestehen. Das heißt, wir besitzen erstmals einen hieroglyphischen Text mit paralleler griechischer Übersetzung. Das ist eine wissenschaftliche Sensation!«

»Man kann die Hieroglyphen übersetzen? Sind das denn Buchstaben? Ich denke, es sind heilige Symbole.«

»Aber irgend etwas müssen sie doch symbolisieren! Und das liegt uns jetzt auf griechisch vor. Es muß nur zurückübersetzt werden. Dann kann man die Hieroglyphen wieder lesen. Das erste Mal seit fast zweitausend Jahren!«

Der Achtjährige warf skeptisch die Lippen auf. »Ich verstehe nichts davon, aber etwas sagt mir, daß es so einfach nicht sein wird.«

Auch später im Kaminzimmer, als Jacques Champollion mit seinen Söhnen und der zwölfjährigen Marie auf das Abendessen wartete, das die Mutter und die beiden älteren Schwestern in der Küche zubereiteten, hatten die Brüder nur ein Thema: den ominösen Stein.

»Was meinst du«, fragte Jean-François, »ob du eine Abschrift bekommen kannst? Ich bin ganz verrückt danach, diese Hieroglyphen zu sehen.«

»Papa, was sind Hieroglyphen?« fragte Marie.

»Nichts für Mädchen«, knurrte der Vater, dem das Thema Ägypten auf die Nerven ging. Seit mehr als anderthalb Jahren war es zum alles beherrschenden Gegenstand im Leben seiner Söhne aufgestiegen. Damals hatte ein entfernter Verwandter, ein Hauptmann in Bonapartes 32. Linien-Regiment, das sich gerade auf den Ägypten-Feldzug vorbereitete, Jacques-Joseph in Aussicht gestellt, er könne im Troß der Wissenschaftler an dem Abenteuer teilnehmen.

Wie ein Zauberwort war der Name des fernen, jahrhundertelang von kaum einem Europäer betretenen Nillandes in das alte Haus gedrungen und hatte beide Brüder in fieberhafte Aktivitäten gestürzt: Der eine betrieb aufwendige Reisevorbereitungen, der andere nahm mit all seiner Phantasie daran teil. Nur hatte der Hauptmann seinen Einfluß augenscheinlich gewaltig überschätzt. Jedenfalls war Ende April 1798 eine Nachricht eingetroffen, die Jacques-Joseph so bitter enttäuschte, daß er tagelang mit niemandem reden wollte. Man sei bereits nach Toulon abmarschiert, von wo aus sich die Armee einschiffen werde, meldete der Hauptmann in dürren Worten. Es würde mit dem Platz im Troß nun leider doch nichts werden. Jacques-Joseph möge sich das nicht allzusehr zu Herzen nehmen, schrieb er, immerhin sei das ganze Unternehmen ja auch nicht ungefährlich, und wer wolle schon für eine Ruinenbesichtigung sein Leben aufs Spiel setzen? Jener Brief war das letzte Lebenszeichen, das die Champollions von ihrem Verwandten erhielten. Er war einer der wenigen Franzosen, die in der Schlacht bei den Pyramiden fielen, als das stolze Heer der Mamelucken, mit Säbeln und Lanzen bewaffnet, vor die Mündungen europäischer Kanonen und Gewehre ritt und dort jämmerlich verblutete.

Im Kaminzimmer pflegte die Familie stets das Abendessen einzunehmen, wenn der Vater seinen Laden geschlossen hatte und aus der Stadt heimgekommen war. Jacques Champollion saß bereits am Tisch vor einem Krug Rotwein. Es kam seit einiger Zeit immer öfter vor, daß er nach dem ersten Krug einen zweiten und gelegentlich sogar einen dritten trank. Jeanne Champollion strafte ihren Mann deswegen mit mißbilligenden Bemerkungen. Da er seine Frau liebte und keinen Streit mit ihr anzetteln wollte, verfiel er gelegentlich auf ein Ausweichmanöver: Er trank daheim, wo er beobachtet wurde, etwas weniger, entkorkte aber statt dessen die eine oder andere Flasche bereits in seinem Laden.

Und warum trank Jacques Champollion? Nun, zum einen, weil es ihm schmeckte. Aber das war nicht der eigentliche Grund für seine wachsende Neigung, die Tage im Zustand wohliger Dauerbenebelung zu verbringen. Er kam einfach mit seinem Jüngsten nicht zurecht. Nicht, daß Jean-François seinem Vater Anlaß zu Klagen bot, ihm nicht gehorchte oder Widerworte gab – da hätte sich der vierschrötige Mann schon zu helfen gewußt. Aber je älter der Junge wurde, desto mehr irritierte er seinen Vater; er schien ihm vollends aus der Art geschlagen – kurz: Er war ihm unheimlich. Und in der Tat war Jean-François ein ungewöhnliches Kind, absonderlich genug, um einen einfachen, rechtschaffenen Buchhändler allmählich aus der Fassung zu bringen.

Das begann schon bei seinem Äußeren. Der Sohn hatte die schwarzen Haare des Vaters und die dunkelbraunen Augen der Mutter. Ihm wuchs eine üppige Mähne, und da zudem seine Sympathie von frühester Kindheit an den beiden steinernen Löwen galt, die im Eßzimmer die Kaminkonsole trugen, taufte ihn sein Bruder auf den Kosenamen Lion. »Das paßt: Champol-lion«, hatte der Kleine seinerzeit, da war er vier oder fünf, gelacht, wobei seinem Vater nicht im Traum eingefallen wäre, daß er den Namen bereits buchstabieren konnte. Die Augen des Knaben waren ungewöhnlich groß und blickten so hellwach und überaufmerksam, daß man Angst bekommen mochte, von ihnen aus der Welt herausgesogen zu werden. Zugleich aber konnten sie in manischer Konzentration auf irgendeinen inneren Gegenstand mit höchst aufmerksamem Desinteresse durch einen Menschen hindurchschauen. Und ihre Hornhaut besaß einen Stich ins Gelbe – wie bei einem Orientalen! Auch der pergamentfarbene Teint des Kindes schlug aus der Art, nicht nur jener der Familie, sondern aus der europäischen überhaupt. »Das soll mein Sohn sein?« dachte der Buchhändler oft.

Und wie merkwürdig der Junge sich benahm! Stundenlang beschäftigte er sich mit nichts als sich selbst, ja, es schien ihm geradezu unangenehm zu sein, wenn sich die Eltern ihm näherten. Einmal, es war im Frühsommer 1793, und ein ungeheures Gewitter entlud sich über Figeac, war der zweieinhalbjährige Knabe plötzlich verschwunden. Während draußen der Regen peitschte, ein heftiger Wind ging und Donnerschläge grollten, suchte man überall im Haus vergeblich nach ihm. Schließlich trat Jeanne Champollion voller Sorge in den Regen hinaus, um nachzuschauen, ob er eventuell auf die Straße gelaufen war – da entdeckte sie ihn im Aufscheinen eines Blitzes auf dem Dach! Mit ausgebreiteten Armen, einer Schwalbe gleich, die zum Flug ansetzt – oder wie ein Hohepriester, der die Gestirne anbetet –, hockte das Kind im strömenden Regen und starrte in den blitzdurchzuckten Himmel. »Was hast du denn dort oben gesucht?« fragten ihn die Eltern, nachdem der Vater den bis auf die Haut durchnäßten Winzling ins Haus zurückgebracht hatte. Er habe vom Feuer des Himmels etwas für sich aufzufangen gesucht, lautete die seltsame Anwort.

»Hast du dich denn nicht gefürchtet?«

»Ein wenig«, hatte der Kleine geantwortet und war auf sein Zimmer gelaufen.

Als er fünf Jahre alt war, tauchte er eines Tages, anstatt mit den Nachbarskindern um die Birnbäume hinter dem Haus zu tollen, im Buchladen auf, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Der Vater war eher gerührt als zum Tadeln geneigt, weil er meinte, der Knabe, der sich normalerweise gegen Zärtlichkeiten sträubte, sei ihm aus Zuneigung ins Geschäft nachgelaufen, und weil er überrascht war, daß er allein dahin gefunden hatte – immerhin lag ein Fußweg von einer guten Viertelstunde zwischen der Rue de la Bodousquerie und der Place Basse, wo, zwei Stufen über dem Trottoir, eine mit einer Glocke versehene Tür ins Reich des Buchhändlers führte, in dem es nach dem Holz der Regale und verstaubtem altem Papier roch. Aber der eintretende Knabe kümmerte sich gar nicht um den Vater. Er drehte ein paar prüfende Runden durch die beiden Räume und verschwand schließlich im hinteren, dem Magazin, wo er, als Jacques Champollion etwas später nach ihm sah, von alten Druckschriften und Stichen umgeben, mit dem Rücken an ein Regal gelehnt, saß und malte. Er malte Buchstaben!

»Was machst du da, Lion?« erkundigte sich der Buchhändler.

»Ich löse ein Rätsel.«

»Was für ein Rätsel?«

»Das darf Lion noch nicht verraten.«

Eines Sonntags fragte er seine Mutter, ob er ihr in der Küche Gesellschaft leisten und aus dem Gesangbuch vorlesen dürfe. Jeanne Champollion war eine gottesfürchtige Frau, die ihren Kindern und insbesondere dem Jüngsten viel aus dem frommen Psalter vorlas, so daß sie sein Ansinnen erheiterte, einmal die Rollen zu tauschen. Der Knirps nahm sich das abgegriffene schwarze Buch, schlug es auf und begann vorzutragen, während die Mutter am Herd werkelte und mit halbem Ohr dem Singsang lauschte, ohne weiter auf seine Worte zu achten. Was sich alles in so einem Kinderkopf festsetzen kann! dachte sie.

In der Tat zog sich der Vortrag beträchtlich in die Länge. Jeanne Champollion begann sich in jenem Augenblick zu wundern und genauer zuzuhören, als ihr Mann die Küche betrat. Sein Blick fiel auf den Jungen, der, ohne aufzusehen, weiterlas.

»Was machst du da, Lion?« fragte er.

»Ich lese Mama aus dem Gesangbuch vor«, antwortete der Kleine.

»Lion hat ein gutes Gedächtnis«, sagte die Mutter.

Einer unbestimmten Ahnung folgend, trat Jacques Champollion hinter den Jungen, deutete auf den Anfang eines Psalms und forderte ihn auf: »Lies mir doch bitte einmal diesen Satz vor!«

»Aber das ist doch Unsinn«, mischte sich seine Frau ein, »wie soll denn der Junge …«

»Wie gütig ist Gott zu den Redlichen, zu allen, die lauteren Herzens sind«, las Jean-François, ein wenig unbeholfen zwar und etwas holprig bei »lauteren«, aber trotzdem flüssig.

Der Vater blätterte verwirrt ein paar Seiten um und befahl: »Und jetzt diese Stelle!«

»Seinem Grimme schuf er offene Bahn, da war keine Schonung mehr vor dem Tod. Und er schlug alle Erstgeburt in Ägypten«, las Jean-François.

Ging das mit rechten Dingen zu? Nein, das konnte nicht sein! Als ob es noch eines Beweises bedurfte, blätterte der Buchhändler hektisch weiter. »Und nun«, sagte er mit bebender Stimme, »lies das hier.«

Der Junge gehorchte. »Preise den Herrn, meine Seele! Mein Gott, wie bist du überaus groß! Gekleidet bist du in Hoheit und Würde, wie ein Mantel umhüllt dich das Licht. Den Himmel hast du ausgespannt wie ein Zelt, deine Wohnung errichtet über den Wassern. Die Wolken erschufest du dir zum Wagen … Hört ihr eigentlich noch zu?« fragte er aufblickend.

Die Eltern starrten den Knaben an wie eine Erscheinung.

»Wieso kannst du lesen?« fragte der Vater ihn schließlich. »Ich meine: seit wann? Und wer hat es dir beigebracht?«

»Das habe ich mir selbst beigebracht, mit den alten Büchern in deinem Laden«, erwiderte der Junge.

Die Mutter klatschte in die Hände. »Aber das ist ja großartig«, rief sie und gab ihm einen Kuß. »Mein kleines Genie! Du wirst bestimmt einmal ein großer Gelehrter. Jacques, ist das nicht wunderbar? Lion kann lesen!«

Der Buchhändler teilte ihre Begeisterung nicht und verließ mit finsterer Miene die Küche.

Erregt berichtete er seinem ältesten Sohn von dem Vorfall. Jacques-Joseph zählte damals achtzehn Jahre und galt in der ganzen Stadt als überaus befähigter junger Mann mit großer Zukunft. Mit vierzehn hatte er sein Abitur abgelegt; kurz darauf wurde er am Städtischen Korrespondenzbüro angestellt. Während der Revolutionswirren, als überall im Land die Guillotinen ihr blutiges Werk verrichteten, hatte der Buchhändler einem befreundeten, von den Jakobinern verfolgten Benediktiner, Kanonikus Seycey, in seinem Haus Asyl gewährt. Dieser Seycey gab Jacques-Joseph Privatunterricht in Philosophie, Geschichte und den alten Sprachen. Für den Flüchtling, der das Haus nicht verlassen durfte, wenn er seinen Kopf behalten wollte, waren die abendlichen Lehrstunden eine willkommene Ablenkung, und der lernbegierige älteste Champollion-Sproß war froh über den Wissenszuwachs inmitten der bildungsfeindlichen Revolutionszeit, denn alle Schulen waren geschlossen worden. Nach dem Sturz der Jakobinerdiktatur und der Hinrichtung ihrer Führer im Juli 1794 blieb Jacques-Joseph allein auf seinem Posten im städtischen Korrespondenzbüro. Noch keine sechzehn Jahre alt, war er mit der Verwahrung sämtlicher Akten der Distriktverwaltung betraut, er besaß die Schlüsselgewalt über das Stadtarchiv, und über seinen Tisch gingen Gesetze, Urteilssprüche, Urkunden, Paßgenehmigungen, amtliche Drucke, offizielle Briefe, Denkschriften und Befehle. Die Stadtväter spendeten Jacques-Joseph höchstes Lob und ernannten ihn zum Sekretär. So avancierte der junge Bursche zum begehrten Verwaltungsexperten, und diese frühe Karriere war ein Grund, warum er auf die Lernerfolge seines Bruders nicht mit ähnlich abergläubischem Entsetzen reagierte wie der Vater.

»Ich habe Jean-François das Lesen nicht beigebracht«, erklärte Jacques-Joseph.

»Dann war es Seycey«, murmelte der Buchhändler.

»Seycey hat uns im Sommer 94 verlassen, da war Lion drei Jahre alt.«

»Aber er kann es sich doch nicht selbst beigebracht haben!«

»Offenbar doch. Er ist ein rechtes Wunderkind.«

»Wunderkind? Ich denke vielmehr, mein Lieber, daß du hinter der Sache steckst!«

»Ich habe ihm ein wenig geholfen«, gab Jacques-Joseph nun zu. »Aber wirklich nur ein wenig – nur, wenn er mich etwas Konkretes gefragt hat. Du weißt doch, wie es um meine Zeit bestellt ist. Meistens schläft er schon, wenn ich heimkomme. Nein, im Grunde hat er allein herausgefunden, was die einzelnen Buchstaben unterscheidet und was sie bedeuten. Wie oft hat er in deinem Laden gesessen und Seite für Seite abgeschrieben. Er sollte bald mit gezielten Studien beginnen.«

»Mit fünf Jahren!«

»Warum nicht. Er braucht Unterricht, damit sein Talent in feste Bahnen gelenkt wird. Ich bin zu beschäftigt, um das allein zu leisten, denn er lernt rasend schnell. Er liest sogar schon Homer und Vergil …« Jacques-Joseph wollte noch hinzufügen »im Original«, doch der Vater hatte sich von ihm abgewendet. Er eilte zur Tür, rief durch den Flur »Jean-François, komm sofort zu mir!«, griff sich Homers »Ilias« vom Bücherbord und wartete auf das Erscheinen seines Jüngsten. Als der, etwas erschrocken ob des barschen Tones, das Zimmer betrat, hielt ihm sein Vater das Buch vor die Nase und schlug eine beliebige Seite auf. »Dein Bruder behauptet, du kannst auch das lesen. Na los«, kommandierte er, »lies vor!«

Der Junge blickte abwechselnd auf das Buch und das vor Aufregung dunkelrot angelaufene Gesicht seines Vaters. Der Text war zweisprachig gedruckt, links das griechische Original, rechts die französische Übersetzung. Jean-François holte tief Luft und las, sehr langsam, aber mit klarer Artikulation: »Thebai, Aigyptos Stadt, wo reich sind die Häuser an Schätzen, hundert hat sie der Tor, und es ziehn, zweihundert aus jedem, rüstige Männer zum Streit mit Rossen daher und Geschirren.«

Jacques Champollion verstand kein Wort, denn sein Sohn rezitierte den Originaltext (wodurch dem Vater übrigens verborgen blieb, daß er blindlings die Stelle in Homers Epos aufgeschlagen hatte, wo von Ägypten die Rede ist).

»Was war das?« fragte Jacques Champollion.

Jacques-Joseph lachte. »Das war Orginaltext. Ich sage doch, er muß studieren.«

Der Junge sprach altgriechisch!

Fassungslos starrte der Vater auf seinen Jüngsten, der den Blick aus seinen dunklen Augen mit der befremdlich gelbstichigen Hornhaut erwiderte und dabei strahlte, als wolle er fragen: Siehst du, was ich alles kann? Warum lobst du mich nicht? Aber die Fähigkeiten des Fünfjährigen waren zuviel für den schlichten Verstand des Buchhändlers. »Es ist gut«, murmelte er, »du kannst auf dein Zimmer gehen.« Dann legte Jacques Champollion das Buch aus der Hand, stieg in den Keller und holte sich Wein.

Damals bemächtigte sich seiner die fixe Idee, der alte Zauberer Jacqou habe das Kind in die Familie hineingehext. Seltsamerweise erinnerte sich der Buchhändler auch in diesem Moment nicht an dessen geheimnisvolle Prophezeiung. Jedenfalls war er außerstande, Jean-François’ Begabung als vom Himmel verliehen zu erkennen. Ihm erschien sie wie ein Werk des Leibhaftigen.

Das also war der Grund, warum Jacques Champollion dem Wein so übermäßig zusprach.

Dem heranwachsenden Wunderknaben blieb die väterliche Aversion verborgen, weil dieser sie gleichsam täglich hinunterspülte. Der Vater war etwas wunderlich, meistens leicht beschwipst, und die Mutter grämte sich darüber – so lagen die familiären Dinge nun einmal.

An jenem Abend, da sein teuflisch begabter Jüngster und sein Ältester, der anerkannte städtische Verwaltungsexperte, über die Bedeutung des zu Rosette entdeckten Dreisprachensteins debattierten, saß das Familienoberhaupt also am Tisch, nahm tiefe Züge aus dem Weinglas und sah seine Söhne sich angeregt unterhalten, ohne daß er ihre Worte wahrnahm. Die Frau und die älteren Töchter trugen das Abendessen auf. Es gab Gemüsesuppe, Rinderbraten, Käse, Brot und Obst – die Champollions waren keine armen Leute. Jeanne entstammte einer Kaufmannsfamilie und hatte eine gute Mitgift in die Ehe gebracht, von der das Paar unter anderem das Haus, ein großes Stück der umliegenden Obstgärten und das Interieur des Geschäftes gekauft hatte. Die Mutter sprach das Tischgebet.

Der Grad der jeweiligen Andacht fiel bei solchen Gelegenheiten verschieden aus. Jacques-Joseph war ein Kind der Aufklärung und überzeugter Atheist. Jean-François las zwar leidenschaftlich gern in der Bibel, aber er tat dies einzig seines glühenden Interesses an alten Völkern wegen; hätte man ihn gefragt, ob er an Gott glaube, hätte der Knabe wohl in seiner altklugen Art geantwortet, er bedürfe dieser Hypothese nicht. Der Vater war eher abergläubisch als gläubig, aber Jeanne Champollion bestand auf den kleinen alltäglichen Ritualen, und zwar völlig unbeeindruckt von den politischen Zeitläuften. Daß die Revolution Gott per Dekret abgeschafft hatte, nahm sie ebensowenig zur Kenntnis wie das Gerede der Nachbarn über Gottes angebliche Rache an den jakobinischen Frevlern, als es anno 1794 nun deren Köpfe waren, die auf dem Schafott rollten.

Das Gespräch bei Tisch drehte sich um einen Brief, der am Morgen angekommen war. Ein Oheim der Mutter betrieb in Grenoble ein florierendes Engrosgeschäft, das Handelshaus Rif. Dieser Oheim schrieb nun, ihm seien die außergewöhnlichen Talente des ältesten Champollion-Sohnes zu Ohren gekommen, so daß er diesem eine führende Position in seinem Hause anzubieten gedenke, sofern er die Neigung verspüre, an den Alpenrand umzusiedeln und sich Handelsgeschäften zu widmen.

Und ob er solche Neigungen verspürte! Seit seiner gescheiterten Ägyptenexpedition hatte sich Jacques-Joseph geschworen, die erste beste Gelegenheit zu nutzen, um dem Provinznest Figeac den Rücken zu kehren. Grenoble war nicht Paris, aber immerhin eine Departmentshauptstadt mit 30 000 Einwohnern, mit einer Universität, gelehrten Gesellschaften, Bibliotheken, einem Theater, Kaffeehäusern, kurzum: eine Stadt, die lebte.

»Denkst du darüber nach, ob du das Angebot annehmen wirst?« fragte Jeanne Champollion.

»Da gibt es nichts nachzudenken. Ich gehe nach Grenoble.«

Für Jean-François war dieser Entschluß ein Schock. Der Bruder mehr als zweihundert Meilen entfernt! Mit wem sollte er sich unterhalten, wer würde ihn unterrichten? Er hatte keine Lust, mit den ungehobelten Nachbarskindern zu spielen, denen er so weit voraus war, wie sie aller Wahrscheinlichkeit nach zeit ihres Lebens nie kommen würden. Er mochte auch das alte Haus nicht mehr, dessen dunkle Winkel seiner kindlichen Phantasie soviel Anlaß zum Träumen geboten hatten. Die kleine Stadt und ihre Umgebung kannte er hinreichend, und noch besser kannte er das Sortiment im väterlichen Laden, das seinen Neigungen ohnehin selten entsprach.

»Ich habe keinen Hunger mehr«, sagte Jean-François und stand auf. »Verzeiht, es geht mir nicht gut.« Mit hängenden Schultern verließ er die Runde.

»Um Himmels willen«, flehte er den Bruder an, als der etwas später zu ihm ins Zimmer kam, »nimm mich mit nach Grenoble, ich halte es hier allein nicht aus! Ich halte es hier überhaupt nicht mehr aus!«

Jacques-Joseph setzte sich zu ihm und strich dem Bruder über die Löwenmähne. »Beruhige dich«, sagte er, »sobald ich dort halbwegs Fuß gefaßt habe, hole ich dich nach.«

Die Augen des Jüngeren strahlten auf. »Versprichst du es mir?«

»Ich verspreche es.«

»Würdest du es auch schwören?«

Jacques-Joseph lachte. »Ich schwöre es. Ich laß dich hier nicht verkümmern. Aus dir soll bestimmt etwas Besonderes werden; schon deswegen mußt du Figeac verlassen.«

Sie schwiegen. Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden. Das Halbdunkel des Zimmers im ersten Stock wurde von zwei dreiarmigen Kerzenleuchtern erhellt. Einer warf sein Licht über verstreute Handschriften, die vorwiegend mit hebräischen Buchstaben bedeckt waren – nach dem Altgriechischen und Lateinischen war Hebräisch die nächste Sprache, die Jean-François’ Interesse auf sich gezogen hatte. Eine hebräische Bibel lag auf dem Tisch, daneben der Talmud sowie die – auf lateinisch verfaßten – Schriften des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus, der im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt und die Eroberung Judäas durch die Römer miterlebt hatte. An der Wand neben dem Tisch lehnten mehrere flache Pappfiguren, jede etwa von der Größe eines Kindes. Sie stellten historische Persönlichkeiten dar, Griechen und Römer, von Alkibiades bis Antonius. Jean-François hatte sie gebastelt und bemalt, als er sieben war und die Parallelbiographien antiker Helden des griechischen Schriftstellers Plutarch las. Auf der Rückseite jeder Figur waren Geburts- und Todesdatum verzeichnet. Nun mochte er die Gefährten früherer Zeit nicht wegwerfen.

»Hast du Herodot gelesen?« fragte Jean-François.

»Ja sicher«, erwiderte sein Bruder, »wie kommst du jetzt darauf?«

»Glaubst du, daß an den Pyramiden tatsächlich registriert stand, wieviel Knoblauch die Arbeiter bei ihrem Bau gegessen haben, wie Herodot schreibt? Ich denke, es handelt sich um Königsgräber; ein König läßt doch nicht zu, daß solche Dinge auf seine Pyramide geschrieben werden.«

»Da dürftest du recht haben«, bestätigte Jacques-Joseph, »aber das würde bedeuten, daß die Priester Herodot bewußt etwas Falsches erzählt haben.«

»Ja, so wie man neugierige Fremde, die ihre Nase überall hineinstecken, wohl mitunter an derselben herumführt. Vielleicht wollten die Priester einfach nicht, daß ein Ausländer erfährt, was dort geschrieben steht. Sie haben Herodot ja auch die Fabel aufgetischt, dem Pharao Cheops sei der Bau seiner Pyramide so teuer zu stehen gekommen, daß er zuletzt sogar seine Tochter in ein Hurenhaus schicken mußte, damit sie Geld dazuverdiene. Das habe ich noch nicht mal geglaubt, als ich noch ein Knirps war.«

»Über diese Stelle bin ich auch immer gestolpert.«

»Sag mal« – Jean-François zupfte den Älteren am Ärmel – , »was passiert eigentlich in einem Hurenhaus?«

»Wie?« Jacques-Joseph wurde verlegen. »Na ja, dort verkaufen Frauen ihren Körper – an Männer.«

»Und was tun die Männer dann?«

»Sie vergnügen sich.«

»Mit dem Körper der Frauen?«

»Ja.«

»Sie fassen sie überall an und so?«

Jacques-Joseph nickte.

»So wie es Ovid beschreibt?«

Der Ältere mußte schmunzeln. Einem Knaben, der die antiken Schriftsteller las, war wohl kaum etwas vorzumachen.

»Ovid hast du also auch schon gelesen?«

»Seine ›Liebeskunst‹ stand bei Vater im Laden. Und die ›Metamorphosen‹. Die sind aber nicht so spannend. – Hast du selbst eigentlich schon …«

»Was?« fragte Jacques-Joseph und runzelte die Stirn.

»… ich meine nicht in einem Hurenhaus, soviel ich weiß, gibt es hier in Figeac keins, aber Mädchen gibt es …«

»Das sind Dinge, die man für sich behält und nicht einmal seinem Bruder erzählt.«

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Und du meinst, ich werde später ein berühmter Mann?« unterbrach Jean-François die Stille und sah den Bruder schelmisch von der Seite an. »Hast du auch eine Idee, wodurch ich berühmt werde?«

»Das wird sich finden«, entgegnete dieser mit ernster Miene.

Am nächsten Morgen unterbreitete Jacques-Joseph seinen Eltern den Vorschlag, daß er den Bruder nach Grenoble nachholen werde, sobald er dort Wohnung, Auskommen und eine angemessene Schule für Jean-François gefunden habe. Jeanne Champollion war zwar betrübt, als sie von diesen Plänen hörte, aber ihr Gatte befürwortete sie mit Entschiedenheit.

Wenige Tage später reiste Jacques-Joseph ab. Es sollte mehr als ein Jahr vergehen, bis er sein Versprechen wahrmachte. An einem sonnigen Junitag des Jahres 1801 bestieg ein überglücklicher Jean-François mit drei Koffern, zwei voller Bücher und Aufzeichnungen, einem mit Wäsche, die Postkutsche. Sein Vater küßte ihn verstohlen auf beide Wangen, leicht säuerlichen Weingeruch in der Nase des Jungen zurücklassend, und die Schwestern winkten und wünschten ihm viel Glück. Jeanne Champollion aber drückte den Halbwüchsigen lange an ihre Brust und bedeckte sein Gesicht mit Küssen – ganz als ob sie ahnte, daß sie ihren Jüngsten nie wiedersehen würde.

2

Clifford Calderby, der zweite Baron des Namens Ravenglass, hatte seine Fassung wiedererlangt, seit sich die Fehlschläge des französischen Expeditionskorps in Ägypten häuften. Die Dienerschaft des hageren, schon früh ergrauten Adligen, vor dessen stechendem Blick sogar die Hunde kuschten, registrierte die stete Abnahme seiner Wutanfälle nach der morgendlichen Zeitungslektüre mit stiller Genugtuung. Allen Angestellten von Calderby Castle steckte noch der Schreck jenes Julitages 1798 in den Knochen, als die Nachricht von der Landung der französischen Armee in Ägypten eingetroffen war. Brüllend und tobend war Ravenglass an jenem Tag durch das Schloß gerannt, gräßliche Verwünschungen gegen Admiral Nelson ausstoßend, weil dessen im Mittelmeer kreuzende Flotte den Feind nach Afrika hatte durchschlüpfen lassen, er hatte ein Hausmädchen geschlagen und das Frühstück, das es ihm brachte, auf den Fußboden des Schlafzimmers geworfen, er hatte im Laufe der folgenden Wochen einen Koch und einen Diener wegen irgendwelcher Kleinigkeiten entlassen und eines Morgens den Globus im Arbeitszimmer zerschmettert. Erst als Nelson Anfang August die französische Flotte bei Abukir vernichtet und damit die in Ägypten stehenden Truppen des Generals Bonaparte von jeglichem Nachschub abgeschnitten hatte, begann die Wut des Barons etwas abzuebben.

Ravenglass war ein glühender Patriot und vor allem Feind des ruchlosen Frankreichs. »Eisenschädel« nannten ihn die jungen Assessoren im Foreign Office heimlich, und in dieser Namensgebung hielten Respektlosigkeit und Bewunderung mindestens das Gleichgewicht. Ravenglass war einem halben Dutzend britischer Außenminister, den derzeit amtierenden Robert Jenkinson Lord Hawkesbury eingeschlossen, als Berater unentbehrlich geworden und hatte sie alle überlebt. Das Geschlecht der Calderbys stammte von der Isle of Man im Irischen Meer. Aufs Festland waren sie vor zwei Generationen übergesiedelt, in die ewig nebelverhangene Provinz Cumberland, ein seit Urzeiten zwischen Schotten und Engländern hartnäckig umkämpftes Gebiet. Noch 1745 hatten es im Solde der Franzosen stehende Hochlandrebellen gewagt, Cumberland anzugreifen, doch bei Culloden schlug sie der Sohn des britischen Königs vernichtend. An jenem ruhmvollen 27. April 1746 empfing der junge Infanterie-Obrist George Calderby auf dem Schlachtfeld als Lohn seiner Tapferkeit den Rang eines Barons Ravenglass. Dieser Ritterschlag auf des Vaters Schultern erfüllte den zweiten Baron – er kam drei Jahre nach der Schlacht zur Welt – seit jeher mit Stolz.

Das Familienwappen mit den drei Harnischen forderte von jedem Betrachter: Kniefall vor England, Verachtung für Irland, Tritte gegen Schottland. Der Baron hätte dem Wappen gern einen vierten Aspekt hinzugefügt, denn so inbrünstig, wie er England liebte, so haßte er Frankreich, den unruhigen kontinentalen Nebenbuhler mit seinen Frivolitäten, seinem königsmörderischen Pöbel, seinen gottlosen Ideen – und seiner Armee unter dem jungen General Bonaparte, diesem korsischen Plebejer, dessen Schlachtenruhm seit fünf Jahren durch halb Europa hallte.

Die Wut des cholerischen Barons auf die Franzosen hatte aber noch einen weiteren, durchaus sublimen Grund. Ravenglass, der früh seine Frau verloren hatte – sie war an den Pocken gestorben – und kinderlos geblieben war, besaß neben der Jagd, die er eifrig betrieb, und seiner Tätigkeit in der Frankreich-Abteilung des Foreign Office nur eine einzige Leidenschaft: Er sammelte ägyptische Altertümer. Das war ein außergewöhnlicher und schwer zu bedienender Spleen, denn das sagenumwobene einstige Pharaonenreich befand sich formell in der Hand der Türken. Seit den Kreuzzügen hatte kein abendländischer Soldat mehr ägyptischen Boden betreten. Zwar plädierte Ravenglass im Foreign Office notorisch für eine Invasion, weil das zwischen zwei Meeren gelegene Nilland von Natur aus bestimmt sei, Afrika und Asien mit Europa zu verbinden, denn das eine Meer sei die Pforte zum Orient, das andere die zum Okzident, und England könne mit einer Besetzung jenes Nadelöhrs seine Handelswege sichern und ausbauen, doch bislang hatte der Baron bei seinen wechselnden Ministern nie Gehör gefunden. Schweigend und unerschlossen lag sein Traumland, so schweigend und unerschlossen wie die gewaltigen Altertümer, die es barg und die Ravenglass’ Phantasie beschäftigten, seit er als Kind in den Schriften antiker Autoren von ihnen gelesen hatte.

In einem eigens dafür hergerichteten Kabinett seines Landsitzes hortete der Baron Papyri, Skulpturenfragmente, bemalte Fayenceplättchen, Ostraka, mit Hieroglyphen bedeckte Kalksteinsplitter – allerlei Artefakte eben, die ihm entweder der britische Konsul, dem die Passion des Barons einen guten Nebenverdienst bescherte, aus Kairo zukommen ließ, die er in Kuriositätenkabinetten aufstöberte oder gelegentlich Orientreisenden, einer mithin überaus seltenen Spezies, abzuhandeln verstand. Ravenglass konnte die Liebenswürdigkeit selbst sein, wenn es darum ging, etwa eine kleine Osiris-Statuette in seinen Besitz überwechseln zu lassen.

Seit längerem überlegte er, ob er nicht selbst einmal das Nilland bereisen sollte, aber im Grunde haßte er das Reisen (und der Mann verstand zu hassen). Allein die Kutschfahrten von seinem Landsitz nach London, wo er am Grosvenor Place, am Westrand von Queen’s Garden, eine großzügige Wohnung besaß, waren ihm zuwider. Immerhin dauerte eine Fahrt vier Tage. Und wie weit entfernt lag Afrika! Er würde sich über mehrere Wochen einem schwankenden Schiff anvertrauen müssen, aber Ravenglass hatte eine ganz und gar unbritische Aversion gegen Wasser, Häfen und Schiffe, ja, man könnte sagen, er haßte sogar das Meer. Außerdem war man, wie Ravenglass wußte, in Ägypten ohne militärisches Geleit seines Lebens nicht sonderlich sicher. Die Mamelucken-Beis, die eigentlichen Herrscher des Landes, lieferten sich nicht nur fortwährend Scharmützel mit den türkischen Besatzungstruppen, sondern sie drangsalierten auch die Bevölkerung in einem Maße, das europäischen Vorstellungen von Zivilisation und Staatlichkeit aufs ärgste zuwiderlief. Reisende berichteten von Sklaverei und Tyrannei, von Chaos und Verwahrlosung, von Straßenkämpfen, Entführungen, Erpressungen, Prügelstrafen, kurzum: In diesem Lande herrschten Mord, Totschlag und Willkür. Und nicht nur die Beis, auch der im Elend lebende einheimische Pöbel bedrohten jeden Reisenden. Würde der Anblick der Pyramiden, vom dem der Baron träumte, seit er lesen konnte, diese Gefahren aufwiegen? Was aber, wenn er im Kerker eines auf Lösegeld erpichten Beis verschwände, wo sich verrohte Turbanköpfe die Zeit damit vertrieben, ihren Gefangenen das Fleisch von den Fußsohlen zu peitschen?

Aber dann waren auf einmal die Franzosen in Ägypten gelandet, und zwar nicht nur mit ihrer Armee, sondern mit einer ganzen Schar von Wissenschaftlern im Troß. Nun plünderten sie sein Ägypten! In Kairo hatten sie eigens dafür ein Institut gegründet, wie Ravenglass in den Zeitungen lesen mußte. Im September 1799 hatte der »Courrier d’Egypte« gemeldet, daß Soldaten bei Schanzarbeiten auf einen dreisprachig beschrifteten Stein gestoßen waren, von dem sich die Gelehrten Aufschluß über die Hieroglyphen versprachen, die seit Jahrhunderten von keinem Menschen mehr gelesen werden konnten und in denen sich angeblich alle Weisheiten des Pharaonenvolks verbargen. Die Vermutung des Finders, eines subalternen Offiziers, bei dem Stein handele es sich um einen wissenschaftlich wertvollen Fund, hatte sich unter den Augen der Gelehrten bestätigt. Der altgriechische Text im unteren Drittel des Stelenfragments war umgehend übersetzt worden. Er erwies sich als eine Priesterschrift aus der Spätzeit des altägyptischen Reiches, vom Anfang des 2. Jahrhunderts vor Christus, deren Schlußzeilen lauteten: »Das Dekret soll auf eine Stele aus hartem Stein geschrieben werden: in heiligen Zeichen, in volkstümlichen Zeichen und in griechischen Zeichen.« Der Schlüssel zur versunkenen Sprache der Pharaonen befand sich in der Hand der Franzosen!

Das war es also, was den Franzosenfeind Ravenglass noch extra in Rage brachte.

Aber dann wendete sich das Kriegsglück allmählich zugunsten Englands. Ravenglass mußte seinen Außenminister nicht drängen, er möge im Kabinett dafür plädieren, das französische Ägyptenkorps nach dem Seesieg auch an Land anzugreifen – das verfügte die Regierung sowieso. Der in Nordostafrika stehende Feind blockierte die Landenge von Suez, einen der Verbindungswege zwischen England und Asien, und bedrohte damit die Interessen in Indien, der Hauptquelle des englischen Reichtums. Es war bekannt geworden, daß dieser General Bonaparte mit dem Gedanken liebäugelte, den Zug Alexanders des Großen nachzuahmen und auf den Subkontinent loszumarschieren. Wofür sich Ravenglass aber einsetzte – und wofür er den anfangs verständnislosen Außenminister Lord Hawkesbury schließlich gewinnen konnte –, das war der Beschluß, der französischen Gelehrtenkommission sämtliche, aber auch wirklich sämtliche ägyptischen Altertümer abzunehmen, vor allem eben jenen Dreisprachenstein.

Im September 1801 traf – endlich! – die Nachricht ein, die französische Armee habe sich den englischen Truppen ergeben und in Kairo die Kapitulationsurkunde unterzeichnet. Damals erhielten alle Bediensteten von Calderby Castle einen Tag Urlaub.

Unter heftigen Protesten hatten die Franzosen ihre Kriegsbeute schließlich herausgeben müssen. Wenn der Baron daran dachte, umspielte ein süffisantes Lächeln seinen Mund. Natürlich war ihm klar, daß die Franzosen Kopien des Steines angefertigt hatten und daß es das Ehrgefühl britischer Offiziere nicht zuließ, den geschlagenen Gegner zur Herausgabe wissenschaftlicher Aufzeichnungen zu zwingen. Der Text war in der Welt, die Experten würden sich auf ihn stürzen und sein Geheimnis zu lüften versuchen, allen voran der Pariser Orientalist Silvestre de Sacy, Frankreichs Koryphäe für alte Sprachen. Das war nicht zu verhindern. Aber der Stein würde im Britischen Museum in London seinen Ehrenplatz erhalten, zum Ruhme der englischen Waffen, als Tabernakel der Wissenschaft, und er, Ravenglass, würde ihn endlich zu Gesicht bekommen. Leider, leider war der Fund viel zu bedeutend, als daß ihm ein Platz in des Barons privater Sammlung beschieden sein könnte.

»Es ist angespannt, Sir«, meldete der Butler.

Ravenglass erhob sich ächzend aus seinem Lesesessel, seinem Lieblingsplatz, wobei das Ächzen nicht von der Bewegung herrührte – der Baron war ein drahtiger Mann, der, wie gesagt, noch regelmäßig zur Jagd ritt –, sondern vom Gedanken an die zu erwartende viertägige Sitzfleischmarter in einer schwankenden Kutsche. Vor der Freitreppe wartete der Sechsspänner. Früher war Ravenglass die Strecke oft geritten, aber irgendwann hatte er beschlossen, daß es sich für einen Gentleman seines Alters nicht mehr schicke, schwitzend in die Hauptstadt einzureiten.

Ravenglass stieg in die Kutsche. Seine Laune besserte sich schlagartig, als er an das Ziel seiner Reise dachte. Er würde den Stein sehen.

3

Silvestre de Sacy hatte schlecht geschlafen. Der berühmte Orientalist schlief schon seit mehreren Tagen miserabel, und er wußte ziemlich genau, warum. Es war dieser verfluchte Stein – vielmehr dessen Kopie, die, von der Ägyptenkommission mit einer der Lithographie verwandten Technik in Originalgröße abgezogen, in seinem Arbeitszimmer lag. Jean Chaptal, der Innenminister, hatte sie ihm gebracht; nicht bringen lassen, nein: Er war höchstpersönlich erschienen. Die Hoffnungen der Nation ruhten auf ihm, auf Silvestre de Sacy, Europas führendem Kopf in Fragen orientalischer Sprachen, hatte Chaptal gesagt; er, Sacy, wisse ja längst, was es mit dem Stein von Rosette auf sich habe, und nun erhalte er – natürlich er, wer sonst? – die erste Kopie des sensationellen Fundes. Die Arbeit der Waffen und des Spatens sei getan, nun müsse die Arbeit des Geistes beginnen. Zwar befinde sich das Original im Besitz des Feindes, aber nur die Grande Nation verfüge über einen Sacy, und der werde die Niederlage auf dem Schlachtfeld in einen Sieg auf dem Felde der Wissenschaft umwandeln, da sei er, Chaptal, ganz sicher. Und der Erste Konsul ebenso. Es sei nämlich der Bürger Bonaparte gewesen, der angeordnet habe, dem Orientalisten umgehend die erste und zugleich die beste Kopie zu bringen, was er, der Innenminister, unbedingt persönlich habe erledigen wollen, denn auch ihm liege die Enträtselung der Sprache des Pharaonenvolkes sehr am Herzen. Schließlich hätten zahlreiche Söhne Frankreichs in Afrika ihr Blut dafür geopfert. Und so weiter.

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