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100 Jahre nach dem Mord an Walther Rathenau – Die Hintergründe des rechten Terrors gegen die erste deutsche Republik. Am 24. Juni 1922 wurde Walther Rathenau, Reichsaußenminister der Weimarer Republik, auf offener Straße erschossen. Kein anderes Ereignis hat die Republik von Weimar stärker erschüttert als die Serie von Anschlägen von 1921 / 1922, die gegen Rathenau und den früheren Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, gegen den ersten deutschen Ministerpräsidenten Philipp Scheidemann und schließlich auch gegen den Publizisten Maximilian Harden verübt wurden. Martin Sabrow geht der Frage nach: Waren die Attentate aufgehetzten Einzeltätern zuzuschreiben, oder steckte hinter ihnen das organisierte Mordkomplott eines Geheimbundes? Der schon von den Zeitgenossen verdächtigten Organisation »Consul« konnte (oder wollte) die deutsche Jusitz keine Schuld nachweisen. Und doch hatte sie offensichtlich alle Fäden in der Hand gehabt. Der Autor deckt die Geschehnisse von damals auf. Er weist die bewusste Rechtsbeugung der konservativ denkenden Justiz nach und erklärt, warum das Ziel der Attentatsserie in der Öffentlichkeit nie vollständig bekannt werden konnte: Sie sollte der geheimgehaltene Auftakt zur deutschen Gegenrevolution werden.
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Martin Sabrow
Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2022
www.wallstein-verlag.de
Umschlagabbildungen: Der Tatort des Anschlags auf Walther Rathenau an der Koenigsallee, Berlin-Grunewald, ullstein bild; Minister Rathenau ermordet. Vossische Zeitung, 24.6.220, ullstein bild;
Portrait Walther Rathenau, 1922.
ISBN (Print) 978-3-8353-5174-5
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4852-3
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4851-6
Einleitung
I. Die Attentatsserie
1. Walther Rathenaus Weg in die Öffentlichkeit
2. Die missachteten Warnsignale
3. Die Geheimorganisation »Consul« (O. C.)
4. Das erste Mordopfer: Matthias Erzberger
5. Der Anschlag auf Walther Rathenau
6. Das Echo auf die Attentate in der Öffentlichkeit
7. Die Ermittlung der Täter
8. Der Überfall auf Maximilian Harden
9. Die Jagd nach den Rathenaumördern
II. Die verdrängte Verschwörung
1. Die Attentate vor dem Leipziger Staatsgerichtshof
2. Der Prozess gegen die Harden-Attentäter
3. Das Gerichtsverfahren gegen die O. C.
4. Die Legende vom aufgelösten Geheimbund
5. Die zentrale Attentatsregie
6. Das verwehte Putschfanal
7. Die O. C. als Fluchthilfeunternehmen
8. Der nationale Schweigekonsens
Der Kopf des Komplotts. Nachwort zur Neuausgabe
Anhang
Abkürzungen
Zitatnachweise
Literaturhinweise
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Personenregister
Jede Generation hat ihre Ereignisse, die sich unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingraben und die kein Zeitgenosse mehr vergisst. Ein solches Ereignis war das Attentat, dem der deutsche Reichsaußenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 in Berlin erlag. Nie vorher und nie nachher stand die erste deutsche Republik leidenschaftlicher gegen ihre Feinde von rechts auf, und mit angehaltenem Atem verfolgte die Nation die Wochen währende Jagd nach den quer durch Deutschland flüchtenden Ministermördern. Die entscheidende Frage aber blieb offen: War Rathenau dem Verbrechen verhetzter Einzeltäter zum Opfer gefallen – oder dem umfassenden Mordkomplott eines paramilitärischen Geheimbundes? Steckte womöglich gar ein einheitliches Ziel hinter der nachgerade unheimlichen Anschlagserie, die binnen elf Monaten erst den früheren Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, dann den ersten deutschen Ministerpräsidenten Philipp Scheidemann und nur Tage nach dem Rathenaumord auch den Publizisten Maximilian Harden traf? Der Verdacht vieler richtete sich gegen die Organisation Consul des 1920 untergetauchten Freikorpsführers Hermann Ehrhardt. Doch in keinem der vielen Attentatsprozesse zeigte sich die deutsche Justiz fähig und willens, den geheimnisvollen Schleier zu lüften, der über dieser rätselhaften Attentatswelle der frühen Weimarer Republik lag. Weil die Beteiligten schwiegen, blieb der Mitwelt verborgen, was der Nachwelt heute die Akten enthüllen: Hinter dem Ministermord stand eine kaltblütige Strategie der deutschen Gegenrevolution – der Plan zum Ehrhardt-Putsch.
Die folgende Darstellung stützt sich auf das Material, das ich 1994 in meiner Dissertation veröffentlicht habe.[1] Es sind dies vor allem Vernehmungs- und Prozessakten, Tagebuchaufzeichnungen, Autobiographien, Presseberichte und private Korrespondenzen. Zusammen ergeben sie das Bild einer republikfeindlichen Verschwörung von 1921/22, die die erste deutsche Demokratie schließlich weniger aus abwehrentschlossener Stärke denn aus ahnungsloser Schwäche überlebte.
I. Die Attentatsserie
Der 24. Juni 1922 war ein regenverhangener Sonnabend. Berlin litt unter den Folgen eines ausgedehnten Tiefdrucksystems, das das Wetter seit Tagen beherrschte und auch an diesem Johannistag noch keinen Gedanken an den nahenden Sommer aufkommen lassen mochte. Um halb elf Uhr morgens kam von Halensee her ein dunkelgraues, viersitziges Kabriolett der Marke NAG die regennasse Koenigsallee heruntergefahren, nur mit einem Chauffeur besetzt und ungeachtet der ungünstigen Witterung ohne Verdeck. Der Wagen hielt vor dem letzten bebauten Grundstück der Villenkolonie Grunewald, dort, wo die Straße schon zur eiszeitlichen Senke des Grunewaldsees und der Krummen Lanke hin abfällt und in dunkle Kieferwälder übergeht. Hier, in der Koenigsallee 65, wohnte seit über zehn Jahren der Industrielle, Schriftsteller und Politiker Walther Rathenau in einem von ihm selbst erbauten Haus, das zu betrachten Josef Prozeller, Berufskraftfahrer in Diensten der AEG und Rathenaus langjähriger Chauffeur, genügend Muße hatte, bevor der Minister zu ihm in den Wagen steigen würde.
Rathenaus von der Straße etwas zurückgesetzte Villa war – obwohl erst wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erbaut – frei von jeder Anleihe an den Zeitgeschmack und ganz in der Formensprache des preußischen Frühklassizismus gehalten. So dokumentierte sie gleichsam einen steinernen Protest gegen die hohle Pathetik der wilhelminischen Stilepoche und drückte wie auch in ihrer Lage am Rande der exklusiven Villenkolonie zugleich die Zugehörigkeit und die Distanz seines Erbauers zur Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs aus. Das Anwesen gehörte einem Mann, der als homo publicus zu den bekanntesten und einflussreichsten Deutschen seiner Zeit zählte und der doch hinter der auffallend schmalen Eingangstür seines Hauses in privater Einsamkeit lebte.
In Rathenaus Wesen verbarg sich ein ungewöhnlicher Reichtum ganz unterschiedlicher Begabungen, in deren Zusammentreffen sich gleichsam Deutschlands besonderer Weg in die Moderne spiegelte. Der 1867 in Berlin geborene Rathenau stammte aus einer verarmten jüdischen Bankiers- und Industriellenfamilie, die mütterlicherseits in Frankfurt am Main und Mainz beheimatet und väterlicherseits schon seit dem 18. Jahrhundert in Berlin ansässig war. Sein Vater Emil Rathenau war Ingenieur und hatte sich mit einer für 75 000 Taler erworbenen Eisengießerei im Norden Berlins selbstständig gemacht. Rathenaus Kindheit wurde von dem Lärm der Gießerei begleitet, bis der Vater das mäßig einträgliche Geschäft wieder veräußerte und als Rentier mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen lebte. Im Jahr 1881 jedoch erwarb Emil Rathenau die Edison-Patente und gründete die Deutsche-Edison-Gesellschaft, die zwei Jahre später den Namen erhielt, unter dem sie kurze Zeit später weltbekannt sein sollte: Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, kurz AEG. Mit ihr begann auch der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der Rathenaus. Walther zog mit seinen Eltern vom Berliner Wedding in das noble Tiergartenviertel und besuchte das »Königliche Wilhelms-Gymnasium«, das seinen Ruf vor allem der großteils adeligen und großbürgerlichen Schülerschaft verdankte.
Der Sohn des AEG-Gründers durchlief eine Ausbildung, die ihn auf eine führende Stellung im Unternehmen seines Vaters vorbereitete. Nach dem Abitur absolvierte Rathenau ein ausgedehntes naturwissenschaftliches Studium in Straßburg, das er mit der Promotion zum Dokter der Philosophie abschloss. Bevor er dann seine fachlichen Kenntnisse an der Technischen Hochschule München mit einem zweijährigen Zusatzstudium in Chemie und Maschinenbau vertiefte, leistete Rathenau seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei den Berliner Gardekürassieren ab. Eine Fotografie aus jener Zeit zeigt ihn im silbernen Kürass seines Regiments, die Haltung gestrafft, den Kopf herrisch zur Seite gewendet und voller Stolz auf seine Zugehörigkeit zu der Kriegerkaste, die in der gesellschaftlichen Wertehierarchie des deutschen Kaiserreichs einen so herausragenden Platz einnahm. Doch der Eindruck trog. Anders als Rathenau es sich erhofft hatte, blieb ihm die Beförderung zum Reserveoffizier verwehrt – weil er Jude war. »In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden«, schrieb Rathenau rückblickend, »gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.«[1] Die traumatisch erlebte Kluft zwischen wirtschaftlicher Elitenzugehörigkeit und sozialer Diskriminierung als Jude begleitete Rathenaus weiteres Leben; das Streben nach ihrer Überwindung prägte sein Handeln und Denken als Unternehmer, als Politiker, als Philosoph, als Kunstfreund. Wenn er den Übertritt zum Christentum auch lediglich ablehnte, weil er »sich als einen Menschen zu empfinden [weigerte], der von der Ablehnung seines Väterglaubens geschäftlich oder sozial profitiert«, so teilte er doch die optimistische Auffassung seiner Zeitgenossen, dass ein Jude in Deutschland durch das Bekenntnis zum Christentum »seine Abstammung zu verdunkeln, seinen Makel zu tilgen, seine bürgerlichen Nachteile zu beseitigen« vermöge.[2] Anders als etwa sein Vetter Max Liebermann, der sich kurz vor seinem Tod 1934 von seinem Glauben an Deutschland lossagte, hat Rathenau nicht einsehen müssen, was dann sein Tod bezeugte: dass diese Hoffnung auf Täuschung beruhte. Seine Lebensspanne umschloss ebenjene Jahrzehnte, in denen die Emanzipation und Integration der jüdisch-deutschen Minderheit so rasant voranschritt, dass ihre völlige Verschmelzung mit der christlich-deutschen Bevölkerungsmehrheit absehbar schien, und gleichzeitig eine erneuerte Judenfeindschaft an Boden gewann, die die fast vollendete Assimilation radikal rückgängig zu machen forderte. Die Gleichzeitigkeit beider Strömungen untergrub die Identität aller Deutschen jüdischer Herkunft, die einerseits die Früchte ihrer erfolgreichen Akkulturation zu ernten begannen und andererseits erfahren mussten, wie wenig die mentale Angleichung und Traditionsaufgabe vor der Blutideologie eines rassistischen Antisemitismus schützte. Die hieraus resultierende Koppelung von Erfolg und Verfolgung, von Anerkennung und Abwertung, von Macht und Ohnmacht erlebte Rathenau stärker und unmittelbarer als andere Juden seiner Generation. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er sich anders als sein Vater nicht mit der Rolle des Unternehmers begnügen sollte, sondern sich bald weit darüber hinaus in Politik und Kultur engagierte.
Vorerst deutete freilich noch wenig auf Rathenaus spätere Karriere hin. Der promovierte Ingenieur spezialisierte sich auf die Elektrochemie und damit auf den, wie er selbst sagte, einzigen Zweig der Elektrizitätsanwendung, »auf den die Unternehmungen meines Vaters noch nicht die Hand gelegt hatten«.[3] Nach einer Lehrzeit als technischer Beamter in einem Unternehmen der Aluminium-Industrie konnte er seine Erfahrungen mit sechsundzwanzig Jahren als Leiter der Elektrochemischen Werke Bitterfeld umsetzen. Dieser Versuch Rathenaus, aus dem Schatten seines Vaters zu treten, endete allerdings mit einem Fehlschlag. Nachdem sich das von ihm favorisierte Verfahren der elektrolytischen Chlor- und Alkaligewinnung als unprofitabel erwiesen hatte, mussten die Bitterfelder Werke 1898 an die Konkurrenz verpachtet werden, um einen Konkurs zu vermeiden.
Sein unternehmerisches Scheitern ließ in Rathenau einen zweiten Zwiespalt zum Vorschein treten, der gleichfalls für sein Leben bestimmend werden sollte: den Gegensatz zwischen homo faber und Ästhet, zwischen Brotberuf und künstlerischer Berufung oder – in seinen Worten – zwischen Zweck- und Mutmensch. Schon als Abiturient habe er hinsichtlich seiner Berufswahl zwischen Naturwissenschaft und Malerei oder Literatur geschwankt, behauptete Rathenau später und beschloss wieder nach seinem Scheitern in Bitterfeld, sich von der Industrie zurückzuziehen, um literarisch zu arbeiten. In diesen Ambitionen steckte mehr als die eskapistische Laune eines beruflich Enttäuschten. Zwei Jahre zuvor hatte er bereits anonym in der regimekritischen Wochenzeitschrift Die Zukunft mit einem Aufsatz »Höre, Israel!« debütiert, dessen aggressiv vorgetragenes Plädoyer für eine vorbehaltlose »Anartung« der deutschen Juden an die »Stammeseigenschaften des Gastlandes«[4] nicht nur wegen seiner fast antisemitisch wirkenden Färbung erhebliches Aufsehen erregt hatte. Mit dem Herausgeber der Zukunft, Maximilian Harden, jedoch war er seither in enger Freundschaft verbunden und wusste sich von ihm als interessanter Autor und anregender Gesprächspartner anerkannt. In der Zukunft erschienen von nun an häufig feuilletonistische Betrachtungen zu den verschiedensten Gegenständen aus Rathenaus Feder, die ihr Verfasser 1902 unter dem Titel »Impressionen« geschlossen nochmals herausgab.
In der Zwischenzeit hatte Rathenau aber auch in seinem »Brotberuf« erste Erfolge verzeichnet: 1899 war er in das Direktorium der AEG berufen worden und dort als Anwalt einer energischen Fusions- und Kartellpolitik hervorgetreten, bevor er 1902 in den Vorstand der Berliner Handels-Gesellschaft, der Hausbank der AEG, wechselte. Dort setzte er seine wirtschaftlichen Konzentrationsbemühungen zugunsten der AEG fort und arbeitete auf eine Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital hin, die ganz im Zeichen eines organisierten Kapitalismus stand. Besonders nachdem sein jüngerer Bruder Erich – in dem der Vater seinen eigentlichen Nachfolger gesehen hatte – 1903 gestorben war, wuchs Rathenau mehr und mehr in die Rolle eines Kronprinzen der AEG hinein und kehrte 1912 – nunmehr als Aufsichtsratspräsident – auch offiziell wieder zur AEG zurück. Bald vereinigte er über achtzig weitere Aufsichtsratsmandate im In- und Ausland auf sich und trug maßgeblich dazu bei, dass die AEG und Siemens bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs die deutsche Elektrizitätsindustrie als Duopol beherrschten.
Rathenaus »Doppelheit«[5] dämpfte dieser geschäftliche Aufstieg indes nicht; sie wurde durch ihn eher noch verstärkt und sollte von ihm später in der Unterscheidung von »Zweck« und »Seele« ontologisch verallgemeinert werden. In mehreren Aufsätzen korrigierte er seinen früheren Appell an die sogenannte borussische Assimilation der Juden, indem er nun die staatliche Zurücksetzung des Judentums und des Bürgertums in Deutschland zu einem Unrecht erklärte, das als Schwäche auf den Staat selbst zurückfalle: »Ich kämpfe gegen das Unrecht, das in Deutschland geschieht, denn ich sehe Schatten aufsteigen, wohin ich mich wende.«[6] In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde Rathenau zu einem bekannten Schriftsteller und Hausautor des S.Fischer Verlages, dessen pointierte Zeitdiagnosen insbesondere in der Deutung der Gegenwart als Zeitalter der Mechanisierung breite Aufmerksamkeit erzielten. An der Oder fand der Schriftsteller und Unternehmer in Schloss Freienwalde einen Sommersitz, der in besonderer Weise geeignet war, persönliche Lebensbedürfnisse und öffentliche Wirkungshoffnungen miteinander zu verbinden. Er kaufte das heruntergekommene Anwesen der preußischen Krone ab, um es mit viel Aufwand im Äußern wie im Innern als »Zeugnis altpreußischer Baukunst« im Stile des Frühklassizismus herzurichten, der ihm auch hier als künstlerisches Ideal und politische Aussage zugleich diente. Obgleich mehr Museum als Wohnhaus, wurde Schloss Freienwalde Rathenaus Refugium in musis. Hier ging er seinen Neigungen als Pastellmaler nach, hier entstanden seine wichtigsten Zeitreflexionen, hier fand seine innere Zerrissenheit den räumlichen Gegenpol zu der mit Berlin verbundenen Zweckexistenz.
Die Politik hingegen nahm in dieser vielschichtigen Biographie vor dem Weltkrieg nur einen untergeordneten Platz ein. Im Lager des Nationalliberalismus stehend, hatte Rathenau zwar schon mit wohlwollender Unterstützung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow tastende Versuche zu einem politischen Aufstieg unternommen und 1907 und 1908 den neuernannten Staatssekretär des Reichskolonialamtes auf zwei längeren Afrikareisen begleitet, die ihm den Ruf eintrugen, ein »kommender Mann« zu sein. Aber Bülows Sturz 1909 zerstörte seine Aussichten, und auch Rathenaus Bemühungen, bei den Reichstagswahlen 1912 als Kandidat der Nationalliberalen aufgestellt zu werden, schlugen fehl. So galt der Mittvierziger am Vorabend des Kriegsausbruchs 1914 denen, die ihn kannten, als so interessant wie unstet. Für viele seiner Kritiker war Rathenau ein »eitler Mensch – und ein sehr innerlicher Mensch«.[7] Andere sahen ihn als »Übergangstyp« aus Naturwissenschaftler, Weltreisendem, Volkswirt und Direktor, seine Bücher »parfümiert voller Bonmots und von der Melancholie des Satten durchweht«[8], und selten waren Stimmen, die Rathenau in seiner Vielseitigkeit anerkannten und mit Stefan Zweig als »ein amphibisches Wesen zwischen Kaufmann und Künstler, Tatmenschen und Denker«[9] würdigten – im Urteil seiner Zeit stellte er nach Musils boshaftem Bonmot vor allem die »Vereinigung von Kohlenpreis und Seele« vor.
Auch in dieser Hinsicht bedeutete der Kriegsbeginn 1914 eine Zäsur. Durch ihn erhielt Rathenau endlich eine nationale Aufgabe zugewiesen, gerade weil er von dem nationalen Kriegstaumel der Augusttage nicht angesteckt worden war, sondern seinem Tagebuch »tiefe Bedrückung über das Willkürliche der Ursachen, gedämpfte Hoffnung« anvertraut hatte.[10] Von Denken und Berufserfahrung her war er dazu prädestiniert, schneller als andere eine entscheidende Schwäche der deutschen Kriegsvorbereitung zu erkennen und der militärischen Führung vor Augen zu stellen: Wenn wider Erwarten der schnelle Sieg der Mittelmächte gegen die englisch-französisch-russische Allianz ausbleiben sollte, war Deutschland von der Zufuhr kriegswichtiger Rohstoffe abgeschnitten. In einer Denkschrift an den preußischen Kriegsminister von Falkenhayn schlug Rathenau eilends die Errichtung eines »Rohmaterialamtes« zur zentralen Bewirtschaft kriegswichtiger Güter vor und erreichte, dass im preußischen Kriegsministerium eine eigene Kriegsrohstoffabteilung errichtet wurde. An ihre Spitze wurde Rathenau selbst berufen. Von einem Moment zum anderen schienen Rathenaus vielfältige Begabungen in einer einzigen Berufung zum Dienst an der Nation zusammenzufließen, erlebte der zwischen »Brotberuf« und Künstlertum, zwischen borussischem Ideal und jüdischer Herkunft Zerrissene die Versöhnung seiner gespaltenen »Doppelnatur«.
Als Rathenau das Amt acht Monate später seinem Nachfolger übergab, hatte er eine in verschiedene Referate und Außenstellen gegliederte Behörde geschaffen, die schon kurz nach ihrer Gründung mehr als einhundert Mitarbeiter besaß und über die Errichtung von Kriegswirtschaftsgesellschaften zur Beschaffung und einzelner Rohstoffe tief in den deutschen Wirtschaftskreislauf eingriff. Der Umstand, dass es ein jüdischer Zivilist und zudem der höchste Repräsentant eines der führenden deutschen Unternehmen war, der mit der staatlichen Beaufsichtigung der privaten Industrie ein gemischtwirtschaftliches Element in die Volkswirtschaft eingeführt hatte, schuf Rathenau neue Gegner. Wohl gab es anerkennende Stellungnahmen des Reichskanzlers wie der liberalen Publizistik, die Rathenaus Leistung in der Schaffung eines »wirtschaftlichen Generalstabes« hervorhoben. Doch sie konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Misstrauen gegen ihn wuchs, je länger der Krieg dauerte und je ferner der Sieg rückte. Dass er als Privatmann und als Jude unaufgefordert dem Staat einen Dienst geleistet habe, werde ihm in Deutschland nicht verziehen, schrieb Rathenau selbst[11] und fühlte sich »aus der bürgerlichen Gemeinschaft so gut wie ausgestoßen, von allen Behörden geächtet«.[12] Zu seiner Verbitterung mochte beigetragen haben, dass nach dem Ausscheiden aus der Kriegsrohstoffabteilung das frei gewordene Amt des Staatssekretärs im Reichsschatzamt nicht ihm, sondern Karl Helfferich angeboten wurde. Rathenau hingegen, nach dem Tod seines Vaters im selben Jahr mit dem schmückenden, aber für die interne Machtverteilung bedeutungslosen Titel eines Präsidenten der AEG geehrt, erhielt im kaiserlichen Deutschland kein politisches Amt mehr. Stattdessen bot er zeitweilig Erich Ludendorff seinen Rat an, der bis 1916 Generalstabschef an der Ostfront war und Interesse an einer Denkschrift des AEG-Präsidenten über die deutschen Kriegsziele gezeigt hatte. Rathenau erblickte in Ludendorff die Verkörperung eines Mannes, »der uns, wo nicht zum Siege, so doch zu einem ehrenvollen Frieden führen konnte«[13], und diente ihm nach dessen Aufstieg in die Oberste Heeresleitung mit Vorschlägen zu einer rücksichtslosen Kräftemobilisierung im Sinne des »Hindenburg-Programms«, die auch den Masseneinsatz belgischer und polnischer Zwangsarbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie anregten. Als Rathenau sich gegen Ludendorffs Plan zur Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges aussprach, zerbrach die Verbindung allerdings wieder.
Damit waren Rathenaus Fäden zur politischen Macht bis zum Kriegsende abgeschnitten. Außer mit gelegentlichen Auftritten in Berliner Vereinigungen wie der Deutschen Gesellschaft 1914 und der Mittwoch-Gesellschaft konnte er fortan nur im Amt des politischen Schriftstellers öffentlichen Einfluss geltend machen. Hellsichtig standen ihm in seiner Zurückgezogenheit die Menetekel der kommenden Katastrophe vor Augen, die er nach eigener Aussage schon bei Beginn des wahnwitzigen Völkerringens vorausgesehen und Gleichgesinnten wie Bülow anvertraut hatte: »Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor zieht. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.«[14] Seine Veröffentlichungen und Denkschriften versuchten nun hinter dem ihm sicher scheinenden Zusammenbruch der Mittelmächte erste Konturen eines Neuaufbaus auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zu ziehen. Er propagierte – wenngleich nicht sehr deutlich – einen »Volksstaat« als »die Verkörperung des sittlichen und tätigen Gemeinschaftswillens«, der einer sinnlosen Ressourcenvergeudung infolge des unternehmerischen Konkurrenzkampfes und der Verschwendungssucht von Verbrauchern ein Ende machen würde. Ihm schwebte eine Organisation der Volkswirtschaft nach Berufs- und Gewerbeverbänden unter radikaler Beschneidung des Erbrechts vor, in die seine Erfahrungen bei der Kriegsrohstofforganisierung einflossen. Diese Überlegungen trugen ihm nun den zusätzlichen Verdacht ein, Großkapitalist und Sozialist zugleich zu sein und den gewerblichen Mittelstand dem Ruin zu überantworten.
Den Tiefpunkt seines öffentlichen Ansehens erreichte Rathenau, als er Anfang Oktober 1918 das auf Ludendorffs Betreiben an die Alliierten abgesandte Waffenstillstandsersuchen öffentlich als überstürzt kritisierte, weil es Deutschland seinen Gegnern in den kommenden Friedensverhandlungen auf Gnade oder Ungnade ausliefere: »Der Schritt war übereilt. Wir alle wollen Frieden […]. Nun hat man sich hinreißen lassen, im unreifen Augenblick, im unreifen Entschluß. Nicht im Weichen muß man die Verhandlungen beginnen, sondern zuerst die Front befestigen. […] Die Antwort wird kommen. Sie wird unbefriedigend sein; mehr als das: zurückweisend, demütigend, überfordernd. […] Die nationale Verteidigung, die Erhebung des Volkes muß eingeleitet, ein Verteidigungsamt errichtet werden. […] Einer erneuten Front werden andere Bedingungen geboten als einer ermüdeten. Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.«[15] Es war eine vielleicht richtige Überlegung, aber vom falschen Mann und zur falschen Zeit. Wohl sagte Rathenau die Reaktion der Alliierten exakt voraus, doch Deutschland war kriegsmüde. Es ertrug keine Durchhalteappelle mehr, sondern wollte ein Ende. Im Reichskabinett erntete Rathenau, obwohl sein Vorstoß sich mit den Intentionen des neuen Reichskanzlers Max von Baden deckte, einmütige Ablehnung. Selbst Ludendorff fand, eine levée en masse würde mehr zerstören, als man vertragen könne.[16] Für Rathenau selbst wirkte sich der Aufruf verheerend aus. Statt in entscheidender Stunde vielleicht selbst an die Spitze der nationalen Verteidigung berufen zu werden, galt er, der zu Beginn nicht die nationale Kriegsbegeisterung geteilt hatte, nun am Ende als Kriegsverlängerer, den die Not und Friedenssehnsucht des Volkes unempfindlich lasse. Die Weltbühne verwahrte sich dagegen, »daß aus einer Grunewald-Villa heraus einem Volk, das fünfzig Monate lang diese ungeheuern Opfer gebracht hat, mit künstlich hären gemachter Stimme die billige Mahnung zugeschleudert wird, zum Schutze der Kriegsgewinnler immer weiter sein Blut zu vergießen«[17]. In anderem Licht erschien jetzt auch Rathenaus – durch den Kriegsausgang ohnedies entwertete – Sorge um die Kriegsrohstoffversorgung.
Die inneren und äußeren Widersprüche seines Lebens waren nur mehr dazu angetan, ihn weiter zu isolieren. In der von ihm prognostizierten und publizistisch vorgedachten Umwälzung vom November 1918 spielte Rathenau keine Rolle; nicht einmal in dem am 9. November begründeten »Politischen Rat der Geistigen Arbeiter«, in dem sich die Demokraten und Pazifisten unter Berlins intellektueller Elite zusammenfanden, war seine Mitgliedschaft noch erwünscht. Entmutigt notierte er im Dezember 1918, »eine öffentliche Wirkung muß ich mir versagen, denn das gesättigte Bürgertum verfolgt mich nach wie vor mit seinem Haß wegen vermeintlicher Geschäftsstörung, und die Revolution steht mir als angeblichem Kapitalisten und tatsächlichem Industriellen mit Mißtrauen gegenüber. Die Menschen, die mir vertrauen, sind gering an Zahl und im Lande verstreut.«[18]
Wie sehr sein Ansehen gesunken war, konnte Rathenau in denselben Tagen der republikanischen Presse entnehmen, die ihn zum Jahreswechsel 1918/19 als »Jesus im Frack« verspottete, als »Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratstellen und Philosoph von Kommenden Dingen, Schloßbesitzer und Mehrheitssozialist, erster Ausrufer […] für die nationale Verteidigung und beinahiges Mitglied der revolutionären Sozialisierungskommission, Großkapitalist und Verehrer romantischer Poesie, kurz – der moderne Franziskus v. Assisi, das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands«[19]. In die von der revolutionären Regierung gebildete Sozialisierungskommission wurde er, der sich seit vielen Jahren für eine »Neue Wirtschaft« eingesetzt hatte, nicht berufen und forderte gekränkt vom Reichspräsidenten Rechenschaft: »Wenn […] der neue Volksstaat, für dessen Errichtung ich zeitlebens eintrat, gerade mich ausersieht, um mir ein Mißtrauenszeugnis zu geben, indem er mich aus einer Zahl von Männern streicht, die nicht umhin kommen werden, auch meine Lebensarbeit zu erörtern, so hat außer mir, wie ich glaube, auch die Öffentlichkeit, Anspruch, die Gründe zu erfahren.«[20] Die Antwort erhielt er auf anderem Wege: Als der Weimarer Nationalversammlung der Vorschlag eines Auslandsdeutschen zu Gehör gebracht wurde, Rathenau zum Reichspräsidenten zu wählen, erschütterte wieherndes Gelächter das Hohe Haus, und der Verlachte notierte verbittert, »daß Männlein und Weiblein zum Gruß an einen Deutschen, dessen geistige Arbeit sie kannten oder nicht kannten, sich beseligt auf ihren Sitzen kugelten«.[21]
Wieder zog Rathenau sich auf das Feld der Publizistik zurück, nachdem der von ihm mitgetragene Versuch zur Gründung eines »Demokratischen Volksbundes« missglückt war und auch sein Beitritt zur Deutschen Demokratischen Partei ihm nicht die Rückkehr in das politische Leben geebnet hatte. In rascher Folge erschienen nun Schriften, in denen Rathenau den stecken gebliebenen Novemberumsturz als »Revolution aus Versehen« etikettierte und der jungen Republik den Spiegel der Spießbürgerlichkeit vorhielt. Der Tristesse der republikanischen Realität setzte Rathenau die Idee einer Marktwirtschaft ohne Unternehmer entgegen und entwickelte die Vision einer nationalen Verantwortungsgemeinschaft, in der soziale Klassen, politische Hierarchien und kulturelle Trennlinien gleichermaßen zum Verschwinden gebracht würden. Stärkeres Echo erzielte Rathenau allerdings mit einer historischen Betrachtung über den gestürzten Kaiser, die in psychologisch einfühlsamer Weise Wilhelm II. als Ausdruck einer dem Untergang entgegengehenden Zeit interpretierte. Kritiker hielten ihm freilich vor, dass sich diese Deutung aus dem Munde eines Mannes seltsam ausnehme, der ehedem selbst zur kaiserlichen Umgebung gehört habe, und verbaten sich den »byzantinischen Opportunismus« dieses »immer geölten Diktaphons«: »Neue Anschauungen müssen von neuen Männern vorgetragen werden.«[22]
Rathenau selbst hätte gegen Ende des Jahres 1919 am wenigsten geglaubt, dass er nur gut zwei Jahre später zum Außenminister des Deutschen Reiches berufen werden würde. Vergebens griff er in einer »Apologie« betitelten Rechtfertigungsschrift die gegen ihn kursierenden Vorwürfe auf, »ein entlaufener Banklehrling, ein halbgebildeter Autodidakt« und Dilettant auf 16 Gebieten zu sein.[23] Mit dem Bemühen, die Kluft zwischen Leben und Lehre zu überspielen, die ihn in den Augen seiner Zeitgenossen so unglaubwürdig gemacht hatte, und sich in seinem persönlichen Lebenszuschnitt als anspruchslosen Durchschnittsmenschen hinzustellen, lieferte er seinen Gegnern von links bis rechts nur neue Munition.
Nicht Rathenaus Rechtfertigungsversuche leiteten den Umschwung ein, sondern der Vormarsch der Gegenrevolution und der Zwang der bedrohten Republik, ihre Kräfte zu sammeln. Nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920, mit dem sich die wilhelminischen Eliten mit Ludendorff an der Spitze wieder in den Besitz der 1918 verlorenen Macht hatten setzen wollen, begann sich das öffentliche Urteil über Rathenau allmählich in zwei unterschiedliche Lager zu spalten. In deutschnationalen und antisemitischen Kreisen wurde er von Monat zu Monat stärker zur Inkarnation einer internationalen jüdisch-kapitalistischen Verschwörung gegen Deutschland, wie sich etwa an den Kampagnen von massenwirksamen Gruppierungen wie dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund gegen den »Fremdling aus Judaan« und »Gerichtsvollzieher der Entente«[24] ablesen ließ.
Ebendiese hasserfüllte Agitation von rechts ließ indes Rathenaus Ansehen in republikanischen Kreisen wieder steigen. Im Juni 1920 wurde er – nicht zuletzt auf Drängen der liberalen Presse – in den »Vorläufigen Reichswirtschaftsrat« und in die zweite Sozialisierungskommission berufen. Einen Monat später begleitete Rathenau zusammen mit Hugo Stinnes als Sachverständiger die deutsche Delegation zur Konferenz von Spa, auf der die Höhe der deutschen Reparationsschuld festgelegt werden sollte. Die Konferenz wurde Austragungsort einer folgenreichen Auseinandersetzung um die deutsche Haltung gegenüber den alliierten Siegermächten, in der sich Rathenau und Stinnes gegenüberstanden. Während Stinnes die alliierten Forderungen nach einer Erhöhung der deutschen Kohlelieferungen – selbst um den Preis einer Besetzung oder Bolschewisierung Deutschlands – in schneidender Schärfe ablehnte, empfahl Rathenau die Annahme der Kohleforderungen, um Zeit zu gewinnen und die Brücke für Verhandlungen nicht abzubrechen. »In dieser Stunde wurde die ›Erfüllungspolitik‹ geboren«, äußerte der damalige Reichskanzler Wirth später.[25] In dieser Stunde hatte Rathenau aber auch in Stinnes einen Feind gewonnen, der ihm die Niederlage von Spa nicht verzieh und für seine brüske Haltung gegenüber den Alliierten von der nationalistischen Presse als mannhafter Deutscher gefeiert wurde. Stinnes scheute sich denn auch nicht, Rathenau öffentlich als einen der deutschen Vertreter in Spa anzugreifen, »die aus einer fremdländischen Psyche heraus den deutschen Widerstand gegen unwürdige Zumutungen gebrochen haben«.[26]
Rathenaus politischem Aufstieg taten diese Anwürfe keinen Abbruch mehr. Die von ihm vertretene »Erfüllungspolitik« sah vor, den aus dem Versailler Friedensvertrag erwachsenden Reparationsforderungen der Siegermächte ehrlich nachzukommen, um so mit dem deutschen Wiedergutmachungswillen auch die wirklichkeitsfremde Höhe der alliierten Ansprüche nachzuweisen. Für seine Strategie sprach nicht nur, dass Deutschland im anderen Falle Okkupation und Auflösung drohten. Erste Risse schienen sich auch in der Siegerkoalition abzuzeichnen, in der nur Frankreich darauf setzte, durch völlige Unnachgiebigkeit in der Reparationsfrage Deutschland langfristig als Gegner auszuschalten.
Die Entwicklung der folgenden Monate war freilich dazu angetan, die Verfechter der Erfüllungspolitik ebenso wie ihre Gegner zu entmutigen. Im April 1921 wurde die Reparationsschuld auf 132 Milliarden Goldmark zuzüglich 26 % des jährlichen Exportwertes festgesetzt. Die deutsche Regierung weigerte sich, durch Unterschrift zu akzeptieren, was sie nicht zu leisten vermochte. Daraufhin besetzten die Siegermächte Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort und drohten am 5. Mai mit der Besetzung des Ruhrgebietes, sofern Deutschland nicht binnen einer Woche seine Zahlungsbereitschaft erkläre. Angesichts der aussichtslosen Lage trat die Regierung Fehrenbach zurück. Der neue Reichskanzler Joseph Wirth nahm das Ultimatum der Alliierten an und berief Rathenau als Minister für Wiederaufbau in sein Kabinett. Dieser Regierungswechsel war gleichzeitig ein Richtungswechsel hin zur Erfüllungspolitik, die zudem mit dem neuen französischen Ministerpräsidenten Briand auf einen verständigungsbereiten Verhandlungspartner hoffen konnte.
Tatsächlich erzielte Rathenau schon im Herbst 1921 einen ersten außenpolitischen Erfolg mit seinem französischen Ministerkollegen Loucheur in den Wiesbadener Abkommen, die einen privatwirtschaftlichen Direktausgleich für französische Kriegsgeschädigte vorsahen. Eine gegenüber England angestrebte Umwandlung der vertraglichen Goldmarkzahlungen in Sachlieferungen scheiterte jedoch, und der Völkerbundsentscheid über die Teilung Oberschlesiens im Oktober 1921 ließ die Regierung Wirth und mit ihm Rathenau zurücktreten. Obwohl Rathenau im zweiten Kabinett, das Wirth gleich darauf bildete, nicht vertreten war, verhandelte er bereits Ende des Jahres im Auftrag der Reichsregierung mit den Siegermächten über einen Aufschub für die im Februar fälligen Reparationszahlungen. Auf der Reparationskonferenz von Cannes erreichte er mit britischer Hilfe, dass Deutschland zu einer geplanten Weltwirtschaftskonferenz in Genua als gleichberechtigter Partner eingeladen werden würde. Daraufhin entschloss sich Wirth, das Amt des Außenministers, das er bislang selbst mitübernommen hatte, seinem früheren Wiederaufbauminister als dem Mann anzutragen, der dank seines Ansehens im Ausland am besten die Fäden der internationalen Verständigung unter den 29 nach Genua eingeladenen Staaten zu knüpfen versprach.
Am 31. Januar 1922 wurde Rathenau gegen erheblichen Widerstand aus Politik und Wirtschaft zum Minister des Äußern ernannt. In Frankreich hatte kurz zuvor ein Regierungswechsel den neuen Ministerpräsidenten Poincaré an die Macht gebracht, der die Verständigungsbereitschaft seines Vorgängers für ein Übel hielt. Er setzte gegenüber dem englischen Premier Lloyd George durch, dass die Reparationsfrage in Genua nicht thematisiert werden sollte, woraufhin die USA ihre Teilnahme an der bevorstehenden Konferenz absagten. In Rathenau erweckte diese Entwicklung grundsätzliche Zweifel an einer Fortführung der Erfüllungspolitik, wie er wenige Wochen vor der Abreise nach Genua in einer Kabinettssitzung kundtat. Tatsächlich avancierte das als »Rapallo-Vertrag« in die Geschichte eingegangene Ausgleichsabkommen zwischen Berlin und Moskau zum eigentlichen Hauptereignis von Genua. Es bannte die Gefahr zusätzlicher Reparationsforderungen von russischer Seite und ließ Deutschland mit einem Überraschungscoup als eigenständigen Mitspieler auf die internationale Bühne zurückkehren. Der von Rathenau nur widerstrebend abgeschlossene Vertrag hätte jedoch fast das vorzeitige Ende der Konferenz nach sich gezogen: Er vereiste das so mühsam aufgetaute Verhandlungsklima mit den Alliierten wieder und zerstörte das Fundament der Erfüllungspolitik.
Walther Rathenau auf der internationalen Wirtschaftskonferenz von Genua, 1922
Rathenau hatte zwar auf der letzten Vollsitzung der Genueser Konferenz mit einer großen Rede, die in Petrarcas Ruf »Friede, Friede, Friede« mündete, einen persönlichen Achtungserfolg erzielt und die Delegierten dazu gebracht, sich von ihren Stühlen zu erheben und dem Vertreter Deutschlands zu applaudieren. Aber zu Hause stieß der Rapallo-Vertrag auf erhebliche Kritik. Am 23. Juni holte Rathenaus deutschnationaler Gegenspieler Karl Helfferich im Reichstag zu einem Rundumschlag gegen die »Leidenswege der Politik der Erfüllung aus«: Sie »hat uns […] die furchtbare Entwertung des deutschen Geldes gebracht, hat unseren Mittelstand zermalmt, hat zahllose Menschen und Familien in Not und Elend gebracht, hat zahllose Menschen in Verzweiflung und Selbstmord getrieben, sie hat große wertvolle Teile unseres nationalen Produktionskapitals dem Ausland ausgeliefert, sie hat unsre wirtschaftliche und soziale Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert!« Die vom Deutschen Reich übernommenen Verpflichtungen gegenüber den Siegern, behauptete Helfferich in seiner von tumultuarischen Reaktionen unterbrochenen Rede, seien ein »Verbrechen«; eine Regierung, die dies verantworte, gehöre vor den Staatsgerichtshof.[27]
Helfferichs Angriff ging an Rathenau nicht spurlos vorbei: Noch am selben Abend, als der Minister der Einladung des amerikanischen Botschafters Houghton folgte, um bei einem Essen den deutschen Standpunkt zur Reparationsfrage – insbesondere in Bezug auf die Kohlelieferungen an Frankreich – zu erläutern, bat Rathenau darum, dass auch Stinnes hinzugezogen würde. Er zeigte sich mit ihm einig, dass die deutschen Zahlungen an die Entente in Kürze eingestellt werden müssten und eine endgültige Lösung des Reparationsproblems in den nächsten Monaten bevorstünde. Dieser Schulterschluss mit einem Exponenten im Kampf gegen die Erfüllungspolitik schien Rathenau offenbar bedeutsam genug, um seinen alten Widersacher Stinnes nach dem Essen noch bis zu dessen Hotel Esplanade im Berliner Tiergarten zu begleiten und die Unterredung, unter weiterer Annäherung ihrer Standpunkte, bis tief in die Nacht fortzusetzen. Erst um ein Uhr, nach anderen Quellen sogar erst um vier Uhr morgens, kehrte Rathenau in dieser Nacht nach Hause zurück.
Die verkürzte Nachtruhe war vermutlich dafür verantwortlich, dass Rathenau an diesem Morgen des 24. Juni später als vereinbart ins Auswärtige Amt aufbrach. Als Rathenau schon in der Tür stand, drehte er noch einmal um und notierte an seinem Schreibtisch auf einem Blatt Papier als Überschrift »Gesamtrahmen d. Pol.« und darunter »Unerfüllbar«.[28] Verbarg sich hinter diesen dürren Worten eine grundsätzliche Abwendung von den Grundlagen seiner bisherigen Außenpolitik? Offenbar sann Rathenau jedenfalls über die Zukunft der Erfüllungspolitik nach, als er um 10 Uhr 45 endgültig das Haus verließ, um sich zu einer Prüfung von Konsularanwärtern in das Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße zu begeben.
Wusste Walther Rathenau an diesem Morgen, dass sein Leben bedroht war? Sein Chauffeur sagte später aus, er habe, als Rathenau das Haus verließ, wie auch jeden Tag sonst sorgsam um sich geblickt und sich vergewissert, dass nichts Verdächtiges auf der Koenigsallee zu erkennen war. Auch bewegte sich Rathenau in der Öffentlichkeit durchaus nicht ohne staatlichen Schutz. Schon im Herbst 1921, nach dem Antritt seines ersten Ministeramtes, war er dazu bewogen worden, ständig eine kleine automatische Pistole mit sich zu führen. Durch den Chef der Politischen Abteilung des Berliner Polizeipräsidiums, Bernhard Weiß, wurde Rathenau in dieser Zeit »auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich einen besonderen polizeilichen Schutz gefallen lassen zu müssen«;[1] zwei Zivilpolizisten waren zu seiner ständigen Begleitung abgeordnet. Diesen Personenschutz empfand Rathenau aber als solche Einschränkung seines persönlichen Freiraums, dass er sich seiner nach Möglichkeit zu entledigen trachtete. Ein mit Rathenau befreundeter Journalist erlebte bei seinem letzten Besuch in Rathenaus Haus, wie unwillig der Minister sich polizeiliche Prävention gefallen ließ: »An seinem Zaun riefen mich zwei Polizisten in Zivil an und ließen mich dann durch. […] Ich erzählte ihm […], daß ich froh sei, ihn bewacht zu sehen. ›Oh! die sind bestimmt nicht mehr lange da‹, sagte er ärgerlich, ging zum Telephon, rief das Innenministerium an und befahl, daß man die Wache entferne.«[2] Mindestens einmal nutzte Rathenau allerdings auch die angebotene Überwachung und meldete fremde Eindringlinge in sein Haus (die sich als harmlos herausstellten) der Polizei.
Am Morgen des 24. Juni 1922 allerdings verzichtete Rathenau auf polizeilichen Schutz und ließ sich von niemandem begleiten, als er die Fahrt ins Auswärtige Amt antrat. In einer Pressekonferenz nach dem Tode des Ministers musste Weiß als Leiter der Berliner Politischen Polizei einräumen, dass Rathenau gegen den ihm angebotenen Schutz ablehnend eingestellt gewesen sei, besonders weil dies seine Mutter erschrecken könnte und seine Behörde infolgedessen ihrem Schutzauftrag nur bedingt habe gerecht werden können: »Trotzdem waren seit vielen Wochen zwei besonders tüchtige Kriminalbeamte mit der Beschützung des Ministers beauftragt worden, einer von ihnen begleitete den Minister fast ständig auf seinen Fahrten, obwohl Dr. Rathenau dies immer wieder ablehnte. […] Gerade an dem Mordtage fuhr der Minister unglückseligerweise ohne Begleitung.«[3]
Dieselbe nonchalante Leichtigkeit, die ihn fast schutzlos einem Überfall politischer Fanatiker aussetzte, hatte Rathenau andererseits in den zurückliegenden Monaten geholfen, sich gegen die an Aggressivität und Gehässigkeit kontinuierlich zunehmenden Angriffe seiner Gegner von rechts zu immunisieren. Schon während des Krieges hatte Rathenaus jüdische Abstammung in völkischen Kreisen allemal stärker gewogen als seine angeblichen Verdienste um das Vaterland. Denn »selbst, wenn es so wäre, daß er unser Retter ist«, hieß es 1916 in Kreisen der Jugendbewegung, »eine Schande wär es für das deutsche Volk, daß es ein Semit sein muß«.[4] Die sich verschlechternde Kriegslage verschärfte auch hier die Tonlage. Kritiker der radikalen Rechten sahen durch das »System Rathenau« ganze Gegenden veröden, ganze Städte aussterben, weil ihr Erfinder alle produktiven Kräfte im Interesse seiner Wirtschaftsdiktatur an sich zu ziehen gedenke.
Nach Kriegsende dienten aus dem Zusammenhang gerissene oder entstellte Äußerungen Rathenaus im konservativen und gegenrevolutionären Lager als bequemes Vehikel zur eigenen Entlastung von der Verantwortung für Niederlage und Zusammenbruch. Rathenau wurde so zum klassischen Sündenbock der ihrer Großmachtillusionen beraubten Rechten in Deutschland. Niemand bereitete dieser Entwicklung mehr die Bahn als Erich Ludendorff, der Mann, dem sich Rathenau einst als Berater angeboten hatte, weil er als Einziger in der Lage schien, das Kriegsglück doch noch zu zwingen. Vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstages berief sich der frühere Generalquartiermeister auf Rathenau, um die Verantwortung für die Kriegsniederlage dem Defätismus der Heimat zuzuschreiben: »Ich muß einen Ausspruch Walther Rathenaus wiedergeben, in dem er etwa sagt, an dem Tage, wo der Kaiser als Sieger mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durch das Brandenburger Tor einziehen würde, hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren. Es waren also Strömungen im Volke vorhanden, die nicht die Ansicht der Obersten Heeresleitung vertraten, daß wir auf den Sieg kämpfen müßten, und diesen Strömungen mußten wir Rechnung tragen.«[5] Vergeblich wehrte Rathenau sich gegen die infame Entstellung seines prophetischen Ausspruchs von 1914, den er selbst kurz zuvor in Der Kaiser öffentlich bekanntgemacht hatte. In keiner nationalistischen Schmähschrift sollte fortan die von Ludendorff geprägte Version des »Kaiser-Zitates« fehlen. In der völkischen Verschwörungsagitation amalgamierte sie sich mit einer anderen Äußerung Rathenaus, der vor dem Krieg einmal gesagt hatte, dass »dreihundert Männer, von denen jeder jeden kennt, die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents [leiten]«,[6] zum scheinbaren Nachweis der »überstaatlichen Mächte«, die Deutschland in den Ruin gestürzt hätten.
Die Schmähungen gegen Rathenau steigerten sich zu einer wahren Flut, seitdem er 1921 als Minister in die Reichsregierung aufgerückt war. An jeder Straßenecke verkündeten völkische Klebezettel, dass mit Rathenaus Ernennung das Zeitalter der Judenherrschaft über Deutschland angebrochen sei. Die Berufung Rathenaus zum deutschen Außenminister schließlich mobilisierte nationalistische Gruppierungen und Verbände in kaum gekanntem Maße. In München verabschiedeten gleich mehr als zehn rechtsgerichtete Organisationen eine »Entschließung« gegen die Ernennung Rathenaus, weil »sie ihn nach seiner bisherigen unverantwortlichen Tätigkeit für ungeeignet erachten, die Angelegenheiten des deutschen Volkes nach außen zu vertreten«. In ihre Forderung, »daß auf der Conferenz von Genua […] das deutsche Volk nicht von Repräsentanten des internationalen Finanzgeistes, sondern von deutschen Männern vertreten werde«,[7] stimmten zahlreiche weitere Protestresolutionen ein, mit denen das Auswärtige Amt im Februar 1922 überzogen wurde.
Wenige Wochen nachdem Rathenau Reichsaußenminister geworden war, erschien in der deutschvölkischen Mitteldeutschen Presse ein »Offener Brief an Herrn Dr. Walter Rathenau«, der wie in einem Hohlspiegel alle Hassklischees bündelte, aus denen sich das Feindbild Rathenau in der deutschen Rechten 1922 zusammensetzte: Rathenau sei zum Außenminister nicht von der Mehrheit des deutschen Volkes, sondern von den »Logen der international-jüdischen Freimaurerbünde« berufen worden, an deren Spitze die von Rathenau selbst erwähnten »dreihundert Männer« stünden. Dass er eine furchtbare Gefahr für das deutsche Volk darstelle, zeige seine Arbeit an der Spitze der Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums gegen einen deutschen Sieg, die er mit seiner defätistischen Prophezeiung von 1914 über das Schicksal des Kaisers selbst eingestanden habe. Niemand anders als Rathenau sei verantwortlich für das Aufkommen der verderblichen Kriegsgesellschaften, mit deren Hilfe das deutsche Volk von jüdischem Kapital ausgeplündert wurde. Unumwunden gab der Autor dieses Pamphlets zu erkennen, dass er nach einem fasslichen Erklärungsmodell für die traumatisierende Kriegsniederlage mit all ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen suchte und Rathenau sich für konspirative Verschwörungstheorien gerade anbot: »Denn die Not meines armen Vaterlandes raubt mir den Schlaf […]. In mir stieg ein Verdacht auf. Daß nicht alles so ganz von Schicksals wegen über uns hereingebrochen ist und daß Menschen ihre Hand dabei im Spiele hatten. Ich dachte an Sie.« Rathenaus Aufstieg zum Außenminister konnte diesem Denken nur als Bestätigung dieses Verdachts erscheinen. Weit vor der Konferenz von Genua glaubte der Pamphletist so schon die Gefahr einer von Rathenau vermittelten Übereinkunft zwischen Russland und Deutschland erkennen zu können: »Denn in Rußland ruht die öffentliche Macht in jüdischen Händen. Und Deutschland soll ebenfalls jüdischer Herrschaft unterworfen werden.«[8] Wer einem solchen Weltbild anhing, dem musste der spätere Abschluss des Rapallo-Vertrages tatsächlich als letzte Bestätigung seiner Befürchtungen erscheinen.
In den Monaten vor der Ermordung Rathenaus verdichteten sich folgerichtig die Anzeichen einer wachsenden Gewaltbereitschaft gegen den deutschen Außenminister. Am 9.3.1922 machte der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens das Auswärtige Amt brieflich auf eine Nummer des als Amtsblatt der bayerischen Regierung ausgewiesenen Nabburger Volksboten vom 11.2.1922 aufmerksam, in der unter der Artikelüberschrift »Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber« Rathenau mit antisemitischen Anwürfen rohester Art konfrontiert wurde.[9] Wenige Tage später sah sich das Auswärtige Amt sogar gezwungen, in einer an alle größeren Berliner Tageszeitungen gerichteten Presseerklärung offiziell zu dementieren, dasss Rathenau geäußert habe, »aus ihm spreche der Geist des internationalen Kapitals«.[10] Völkische Publikationen verbreiteten darüber hinaus seit Rathenaus Amtantritt als Außenminister sogar kaum verhüllte Morddrohungen. Eine Hetzschrift des deutschvölkischen Verbandsfunktionärs Alfred Roth schloss mit der sibyllinischen Bemerkung: »Wir harren der ›kommenden Dinge‹, erklären aber mit aller Deutlichkeit, daß in Deutschland für einen Trotzky-Rathenau keine Statt ist. Wir sind zum Äußersten entschlossen und bereit.«[11] Wie sehr sich die politische Mordatmosphäre gegen Rathenau nach dem Eindruck publizistischer Beobachter in den wenigen Monaten seiner Zeit als Chef des Auswärtigen Amtes verdichtet hatte, brachte Kurt Tucholsky in der Weltbühne zum Ausdruck. Zwei Tage vor dem tödlichen Anschlag ließ er in einer »Was wäre, wenn …?« überschriebenen Vision nahenden Unheils einen Minister Opfer eines Umsturzes von rechts werden.[12]
Rathenau täuschte sich über das Risiko, dem er ausgesetzt war, nicht hinweg. Dem Hamburger Bankier Max Warburg teilte er vier Wochen vor seiner Ermordung ungerührt mit, dass er ständig Drohbriefe bekomme.[13] Als er der Witwe des im August 1921 ermordeten Zentrumspolitikers Matthias Erzberger kondolierte, tat er es mit den Worten, dass er selbst das nächste Opfer sein werde.[14] Ganz offensichtlich nahm er gegenüber seiner persönlichen Gefährung eine Haltung ein, in der sich Realismus und Fatalismus in eigentümlicher Mischung paarten. Alfred Kerr, der Nachbar in Grunewald, spazierte nach eigener Erinnerung mit Rathenau wenige Tage vor dem Mord durch die Koenigsallee und drang auf ihn ein: »›Sie sind bedroht. … Sie nehmen die Gefahr zu leicht. … Wie soll man Sie warnen!‹ … Rathenau hielt jetzt, im Gespräch, meine Warnung nicht für falsch. Ich seh’ ihn vor mir: er hob die Hand vom Griff des Kinderwagens und sprach (mit einer Art von lächelnder Unschlüssigkeit in dem sonst wachen Antlitz): ›Vorsicht wäre zwecklos. Das sind Dinge des Schicksals. Ich habe vorhin die drei Kerls nach Hause geschickt, die mich begleiten sollten.‹«[15] Eine duldende Ergebenheit in die Fügungen der Zukunft, ein an Hegel erinnerndes Vertrauen in den Willen der Geschichte stellten auch andere Beobachter an dem Mann fest, der Deutschlands Katastrophe meinte vorausgesehen zu haben und nun der eigenen nicht feige ausweichen wollte, wenn sie ihm denn bestimmt war. Der Bitte eines Freundes, sich vorzusehen, entgegnete er: »Was sein wird, wird sein. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen – vielleicht nicht zu vollenden. Wenn meine Stunde geschlagen hat – und nicht früher –, werde ich genommen werden.«[16] Dieselbe Haltung wahrte Rathenau auch im politischen Rahmen und versicherte nach der Überlieferung von Ernst Lemmer einer Gruppe junger Parteifreunde von der DDP noch kurz vor seinem Tod: Ein Staatsmann »muß – wenn das Schicksal es will – auch zum Märtyrer bereit sein.«[17]
So ist zu erklären, dasss Rathenau selbst konkreten Anschlagswarnungen, die ihn erreichten, keine Rechnung trug und die Fahrt zu seinem Dienstsitz auch an seinem Todestag unter Außerachtlassung von besonderen Vorsichtsregeln antrat. Einen ernst zu nehmenden Hinweis, dass der Minister mit einem Überfall zu rechnen habe, übermittelte beispielsweise der pazifistische Schriftsteller Hellmut von Gerlach. Ihm hatte ein Informant mitgeteilt, dass der Heidelberger Privatdozent Arnold Ruge nach Berlin gekommen sei und »die feste Absicht [habe], Rathenau zu erschießen. Die Waffe dafür hat er bei sich«[18]. Der völkische Fanatiker Ruge, der seine radikalantisemitischen Auffassungen so nachdrücklich propagierte, dass ihm in der Weimarer Republik als einzigem Hochschullehrer aufseiten der Rechten die venia legendi aus politischen Gründen entzogen worden war, hatte tatsächlich den Plan gefasst, sich bei Rathenau als Hausierer einzuschleichen, um den Minister zu erschießen. Trotz eines gegen ihn bestehenden Haftbefehls war er Ende Februar 1922 nach Berlin gekommen. Es gelang ihm nicht, seine Absichten zu verbergen, so dass der Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung Kenntnis erhielt und auf die von Ruge ausgehende Gefahr aufmerksam machen konnte. Umgehend wurden die Pförtner im Außenministerium und in Rathenaus Haus benachrichtigt und mit Steckbrieffotos von Ruge versehen, um dessen Vordringen zu Rathenau nach Möglichkeit zu verhindern. Dennoch vermochte Ruge wenige Wochen später, als Hausierer verkleidet, der dem Minister einen japanischen Leuchter verkaufen wolle, Zutritt zur Villa in der Koenigsallee zu erlangen. Sein dilettantischer Plan scheiterte jedoch schon daran, dass Rathenau gar nicht daheim war: Die Frau seines Dieners drängte den vorgeblichen Händler resolut aus dem Haus und bedeutete ihm, »daß er sich in solchen Angelegenheiten schriftlich an Herrn Dr. wenden solle«.[19]
Daß Rathenau nach seiner Rückkehr aus Genua noch einen anderen Hinweis auf ein geplantes Verbrechen gegen ihn erhalten hatte, erfuhr die Öffentlichkeit erst Jahre später. 1928 schilderte der frühere Reichskanzler Wirth, dass »ein katholischer Priester in das Reichskanzlerhaus kam und mir […] in ernster Form eröffnete, daß das Leben des Ministers Rathenau bedroht sei«.[20] Ein Mann habe ihm gestanden, dass er ausgelost sei, Rathenau zu ermorden. Wirth gab die Warnung seinem Außenminister in einem Gespräch unter vier Augen weiter. »Meine Mitteilung«, so erzählte Wirth, »machte auf Minister Rathenau einen tiefen Eindruck. Bleich und regungslos stand er wohl zwei Minuten vor mir. […] Er kämpfte sichtlich lange mit sich. Plötzlich nahmen sein Gesicht und seine Augen den Ausdruck unendlicher Güte und Milde an. Mit einer Seelenruhe, wie ich sie nie an ihm gesehen hatte […], näherte er sich mir, legte beide Hände auf meine Schultern und sagte: ›Lieber Freund, es ist nichts. Wer sollte mir denn etwas tun?‹ […] Nach einem nochmaligen Betonen der Ernsthaftigkeit der gemachten Mitteilung und der absoluten Notwendigkeit polizeilichen Schutzes verließ er ruhig und gelassen, mit dem Ausdruck eines mir unverständlichen Sichgeborgenfühlens, die Reichskanzlei.«[21] Immerhin musste dieser direkte Hinweis auf eine im Gang befindliche Anschlagsplanung Rathenau so beschäftigt haben, dass er sich mit Nahestehenden darüber aussprach. Lili Deutsch, seine langjährige Vertraute, erinnerte sich später, dass Rathenau ihr gestanden habe, Wirth sei zähneschlotternd zu ihm gekommen und habe ihm von dem Besuch eines katholischen Priesters erzählt, der in der Beichte von einem geplanten Anschlag auf Rathenau erfahren hatte.[22] Doch konnte auch die Attentatswarnung eines katholischen Priesters nicht verhindern, dass Rathenau seine Gefährdung als Minister in einer Republik ignorierte, in der die Gegenrevolution auf dem Vormarsch war und Freikorpssoldaten im Takt der Verse marschierten: »Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!«
Ernster aber hätte Rathenau wohl einen anderen Hinweis über eine terroristische Verschwörung gegen seine Person genommen, die bereits einige Tage vor dem Anschlag bei der Staatsanwaltschaft aktenkundig geworden war – wenn diese Nachricht den Außenminister noch erreicht hätte. Sie kam aus Kassel und stand in unmittelbarer Verbindung mit einem politischen Attentat, das dem ersten Ministerpräsidenten der Republik und nachmaligen Oberbürgermeister von Kassel, Philipp Scheidemann, gegolten hatte. Der politische Einfluss des Sozialdemokraten, der am 9. November 1918 die Republik ausgerufen hatte, war nach seinem Rücktritt als Premier und infolge seiner Gegnerschaft zu Ebert erheblich zurückgegangen. Dennoch blieb er eines der hervorragenden Angriffsziele der nationalistischen Rechten und ihrer Propaganda gegen die Republik. Nach seiner flammenden, aber letztlich wirkungslosen Ablehnung der Versailler Friedensbedingungen als »Philipp mit der verdorrten Hand« verspottet und als eitler Vielredner geschmäht, musste der Politiker dulden, dass die Rechtspresse in ihm die verhasste Republik personifizierte, ihm Selbstsucht, Landesverrat und Korruption vorwarf. Über Jahre hinweg war Scheidemann zermürbendsten Angriffen als »Sozialpatriot« und feiger Drückeberger ausgesetzt, bei denen seine Gegner mit gekauften Zeugen, gefälschten Urkunden und Drohbriefkampagnen arbeiteten, sein Haus beschmierten, seine Wohnung vernagelten und ihn öffentlich der widerrechtlichen Aneignung kaiserlicher Möbel bezichtigten.
Am Pfingstsonntag, dem 4. Juni 1922, unternahm Scheidemann in Begleitung von Tochter und Enkelin einen Ausflug nach Kassel-Wilhelmshöhe, ohne zu bemerken, dass er von zwei Männern verfolgt wurde, seitdem er die Wohnung verlassen und eine aus der Stadt hinausführende Straßenbahn bestiegen hatte. Nachdem er mit seiner Familie etwa eine Stunde durch den Wald spaziert war, trennten sich seine Verfolger. Während sich der eine von ihnen auf einem Parallelweg mit entsicherter Schusswaffe eingriffsbereit verborgen hielt, holte der andere eine kleine, ballartige Gummispritze aus dem Rucksack und lief auf Scheidemann zu. Wie Scheidemanns Tochter später zu Protokoll gab, wurde die Familie unversehens von einem sportlich gekleideten Wanderer eingeholt, der in der linken Hand einen Bergstock trug, die rechte Hand aber in der Tasche verborgen hielt. Sobald er sein ahnungsloses Opfer erreicht hatte, »zog er plötzlich mit der rechten Hand einen roten Spritzball aus Gummi aus der Tasche, richtete diesen, indem er auf der linken Seite an Scheidemann vorüberging, wiederholt gegen dessen Gesicht und drückte los«.[23] Scheidemann sank, von einer später als Blausäure identifizierten Flüssigkeit an Unterkiefer und Nase getroffen, mit Verkrampfungen an Oberkörper und Beinen zu Boden, konnte aber noch seinen Revolver ziehen und einen allerdings ungezielten Schuss abgeben, bevor er für fünfzehn Minuten das Bewusstsein verlor. Dennoch verdankte der Oberbürgermeister seiner Geistesgegenwart wohl das Leben, denn die unvermutete Gegenwehr ließ seinen Angreifer eilig die Flucht ergreifen, ohne die tödliche Giftspritze ein zweites Mal auf sein Opfer zu richten. Ein glücklicher Zufall kam Scheidemann zu Hilfe, wie die kriminaltechnische Untersuchung ergab: »Nur dem Umstande, daß die bei der Tat angewandte Blausäure im Freien den Verletzten getroffen hat und an jenem Nachmittag ein starker Luftzug gerade an dem fraglichen Bergabhange herrschte, ist es zu verdanken gewesen, daß eine tödliche Wirkung nicht eingetreten ist.«[24]
Bekanntmachung zum Anschlag auf Philipp Scheidemann am 4. Juni 1922
Das Opfer erholte sich bald von den Folgen eines Überfalls, dessen Urheber unerkannt entkommen konnten und dessen Hintergründe wie Ziele vorerst im Dunkeln blieben. So fand der Vorfall auch nur ein vergleichsweise geringes publizistisches Echo in der republikanischen Presse, während rechtsstehende Zeitungen ihn vor allem auszubeuten trachten, um das Ansehen des sozialdemokratischen Politikers weiter herabzusetzen. Ohne schon Näheres über die Tatumstände zu wissen, fand etwa die Deutsche Tageszeitung, dass »bei ruhiger Betrachtung die Komik bereits überwiegt«, und stellte den Überfall als »Klistierspritzenattentat« hin, während das Verhalten Scheidemanns, der sofort zur Pistole gegriffen habe, nach Ansicht derselben Zeitung als Totschlagsversuch qualifiziert zu werden verdiente.[25] Andere deutschnationale Blätter sprachen von einem harmlosen Unfug, bei dem der ehemalige Ministerpräsident »von einem dummen Jungen mit einer Flüssigkeit, die sich allmählich als Himbeerlimonade zu entpuppen scheint, geringfügig im Nacken gespritzt worden war«.[26] Der Schlesischen Tagespost zufolge hatte nur ein Zufall verhindert, dass Scheidemann für ein »Blutvergießen« in einer angeblich »vielhundertköpfige[n] Menge von Spaziergängern« verantwortlich wurde, woran das Blatt folgende Betrachtung knüpfte: »Wahrhaftig, die rote deutsche Republik kann stolz sein auf ihre Führer! Tapfer ist ja der wackere Scheidemann nie gewesen, das wissen die, die ihn bei den Spartakusunruhen in Berlin gesehen haben. Aber von der weibischen Angst um das eigene behagliche Leben bis zur Veranstaltung von Schießübungen auf harmlose Bürger ist doch ein weiter Schritt«.[27]
Was der Öffentlichkeit verborgen blieb: Es gab triftige Hinweise für den Verdacht, dass der Angriff auf Scheidemann weit größere Dimensionen gehabt hatte, als sein glimpflicher Ausgang vermuten ließ, und womöglich auf die Existenz einer wohlorganisierten und von langer Hand vorbereiteten Verschwörung gegen die Republik schließen lasse. Am 10. Juni 1922, sechs Tage nach dem Überfall auf Scheidemann, erschien auf dem Kasseler Gewerkschaftshaus ein stellungsloser Gärtner namens Theodor Brüdigam aus Frankfurt am Main, der sich dem überfallenen Oberbürgermeister »zwecks Aufdeckung des Attentats zur Verfügung«[28] stellen wollte und zwei Tage später auf dem Kasseler Rathaus unter Anwesenheit eines eigens entsandten Berliner Kriminalpolizisten zu Protokoll gab, er stehe mit einer rechtsstehenden Geheimorganisation in Verbindung, die sich vorgenommen habe, Scheidemann und Rathenau umzubringen. Was der Informant zu berichten hatte, schien allerdings fast zu abenteuerlich, um glaubhaft zu sein: Im April 1921 sei er, ein durch den Krieg entwurzelter Soldat, der in der Revolutionszeit zwischen der Linken und der Rechten hin und her schwankte, über einen Kontaktmann gebeten worden, Informationen über Linksparteien für deutschvölkische Kreise zu sammeln. Daraufhin habe er sich zwei Redakteuren der sozialdemokratischen Volksstimme in Frankfurt gegen entsprechende Bezahlung als Spitzel angeboten und sei mit deren Zustimmung und unter direkter Rückversicherung beim Frankfurter Polizeipräsidenten auf das ihm gemachte Angebot eingegangen. Am 3. Mai 1922 wurde Brüdigam mit einem Empfehlungsschreiben zu einem Mann geschickt, der für einen Drahtzieher in der rechtsradikalen Szene über Frankfurt hinaus galt: Karl Tillessen. Tillessen, dessen Bruder Heinrich als Mörder Matthias Erzbergers steckbrieflich gesucht wurde, behandelte Brüdigam aufgrund der vorgewiesenen Empfehlung gleich vertraulich und deutete seine terroristischen Absichten an, indem er seinem Besucher ein Foto in die Hand gab: »Das ist mein Brüderchen, der hat das erste Schwein gekillt!« Wie Brüdigam erfuhr, gebe es in Deutschland eine von München aus geführte Geheimorganisation, die sich die Befreiung des Vaterlandes von außen- und innenpolitischer Bedrückung zum Ziel gesetzt habe. Karl Tillessen beorderte Brüdigam anschließend nach München zu einem Offizier Alfred Hoffmann, der Stabschef der geheimnisvollen Rechtsorganisation sei. In München angekommen, wurde der von Tillessen geschickte Spitzel in Hoffmanns Wohnung eingeladen, wobei sein Gastgeber beiläufig zu erkennen gab, »daß in diesen Räumen schon allerhand ausgekocht worden sei«.[29] Hoffmann eröffnete dem neuen Mann in knappen Worten, dass die Gruppierung, für die er von nun an arbeite, sich über ganz Deutschland erstrecke und von einem im Verborgenen tätigen Chef geleitet werde, der aus Geheimhaltungsgründen nur »Consul« genannt werde. Nach ihm heiße der geheime Untergrundverband »Organisation Consul« oder kurz »O. C.« und arbeite auf den Sturz der Reichsregierung hin. Er habe sich zu diesem Zweck die Ermordung prominenter Vertreter des Weimarer Systems vorgenommen, »um möglicherweise einen Umsturz von links hervorzurufen, damit es […] der Organisation C möglich wäre, ihrerseits dann die Militärdiktatur zu errichten«.[30]
Der Verfolgung dieser Strategie diente auch das für Brüdigam vorgesehene Arbeitsfeld, das Hoffmann als die Bespitzelung linksstehender Gruppierungen umschrieb. Tags darauf, am 5. Mai 1922, empfing Brüdigam Geld zur Deckung seiner Unkosten und eine Ansichtskarte des Münchener Marienturms als Erkennungszeichen für eventuell notwendige schriftliche Mitteilungen. Bei dieser Gelegenheit kam Hoffmann auch auf die anstehenden Attentate gegen prominente Politiker zu sprechen und »meinte, nachdem nun Erzberger erledigt sei, kämen vielleicht Walther Rathenau und Scheidemann in Betracht«. Wenn auch Brüdigam aus der Unterhaltung nicht entnehmen konnte, dass schon ein fester Mordplan bestand, meinte er doch aus verschiedenen Beobachtungen der nächsten Tage schließen zu müssen, »daß hier etwas im Werke sei«. Die O. C. schickte ihn in der folgenden Zeit auf Reisen nach Frankfurt und Berlin, wo er kleinere Kurieraufträge erledigte. In Berlin wurde Brüdigam am 27. Mai 1922 befragt, ob er in Kassel das Gewerkschaftshaus kenne und ob ihm Scheidemann bekannt sei. Als er beides bejahte, wurde er beauftragt, einen Berliner Herrn unbekannten Namens nach Kassel »zu begleiten und ihn dort über die Verhältnisse bei den Linksparteien zu orientieren«.[31]
Obwohl immer noch von keinem bestimmten Vorhaben die Rede war, war sich Brüdigam nun sicher, dass ein Anschlag auf Scheidemann unmittelbar bevorstehe, und hielt es für geboten, den Kasseler Oberbürgermeister zu warnen. Er verließ seinen O. C.-Begleiter in Kassel unter einem Vorwand und versuchte noch am selben Tag, vom Gewerkschaftshaus aus mit Scheidemann Verbindung aufzunehmen. Dies aber misslang. Scheidemann erinnerte sich später daran, »daß in der Nacht des 27. Mai aus dem Gewerkschaftshause bei ihm angerufen und er um eine sofortige dringende Unterredung mit einem Fremden gebeten worden sei, daß er aber, da er einen Schabernack seiner Gegner vermutet hätte, den Hörer eingehängt habe«.[32] Obwohl er selbst mit dem Tod rechnen musste, falls sein Verrat in der O. C. bekannt würde, setzte Brüdigam alles daran, um seiner Warnung Gehör zu verschaffen, und benachrichtigte noch am selben Abend das Kasseler Parteisekretariat der SPD sowie am Morgen darauf seine Auftraggeber bei der Frankfurter Volksstimme.
Doch seine Angaben wurden zunächst nicht ernst genug genommen, um ihnen weiter nachzugehen. Erst später stellte sich anhand eines bei der Berliner Polizei zu den Akten genommenen Schreibens heraus, dass Brüdigam seine Beobachtungen über die terroristischen Absichten der O. C. mindestens eine Woche vor dem Überfall auf Scheidemann auch an den Frankfurter Polizeipräsidenten Ehrler weitergegeben hatte. Doch umsonst versuchte Brüdigam seine Warnung damit zu untermauern, »daß ihm auf seine Frage, ob Rathenau daran glauben müsse, geantwortet worden sei: ›Gewiß, aber zuerst muß Scheidemann daran glauben.‹«[33] Erst das Pfingstattentat auf Scheidemann führte den hessischen Untersuchungsbehörden mit einem Schlag vor Augen, wie brisant Brüdigams Mitteilungen in Wirklichkeit waren. Nachdem Brüdigam seine Beschuldigungen am 12. Juni wiederholt hatte, äußerte der zunächst über einen politischen Hintergrund des Attentats skeptische Kasseler Oberstaatsanwalt selbst den »Verdacht, daß es sich bei dem zweifellos ernstgemeinten Anschlag nicht um die Tat eines einzelnen Feindes des Überfallenen, sondern um das Komplott eines Geheimbundes […] handeln könne«[34], und bereitete am 19. Juni 1922 den Antrag auf Haftbefehl gegen drei von Brüdigam des Mordkomplotts beschuldigte O. C.-Funktionäre vor, unter ihnen Alfred Hoffmann und Karl Tillessen.
Diese Maßnahmen hätten geeignet sein können, wenigstens die Ausführung eines neuerlichen Attentats der O. C., diesmal gegen Rathenau, zu verhindern. Aber jetzt schien es der Informant Brüdigam selbst zu sein, der seine eigene Glaubwürdigkeit untergrub – zumindest in den Augen der Strafverfolgungsbehörden. Nachdem er sich nämlich in Kassel hatte vernehmen lassen, kehrte er zwar mit Wissen der Kasseler Staatsanwaltschaft nach Frankfurt zurück und wurde am 14. Juni vorsorglich unter polizeiliche Überwachung gestellt. Schon zwei Tage später erschien er überraschend beim Amtsgericht in Frankfurt, weil er offenbar eine dringende Mitteilung zu machen hatte. Der zuständige Amtsrichter Dr. Thormayer lehnte es jedoch an diesem Freitag wegen Arbeitsüberlastung ab, sich mit Brüdigam näher zu befassen, und bestellte ihn nach einer kurzen Vernehmung für den darauffolgenden Montag wieder zu sich. Vergeblich protestierte der Kasseler Oberstaatsanwalt Dr. Noetzel beim aufsichtführenden Richter am Amtsgericht Frankfurt/Main: »Die Vernehmung und Beeidigung ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Fortführung des Verfahrens in der Attentatssache [Scheidemann, M.S.]. Brüdigam belastet mehrere genau bekannte Personen so erheblich, daß im Falle seiner Beeidigung die Voruntersuchung gegen diese Personen und ihre alsbaldige Verhaftung geboten sein würde.«[35]